Digitalisierung der sozialen Sicherheit - Notwendiges Übel oder überfälliger Segen? - Deutsche ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit Notwendiges Übel oder überfälliger Segen?
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit Liebe Leserinnen und Leser, die Mobilität der Arbeitskräfte hat in der Europäischen Union (EU) in den letzten Jahren erfreulich zugenommen. Europa wächst zusammen und das zeigt sich auch auf den Arbeitsmärkten. Von den knapp 18 Millionen Menschen, die im Jahr 2019 innerhalb der EU umgezogen sind, waren gut zehn Millionen erwerbstätig. Damit die Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat nicht zu einem Verlust von Sozialversicherungs- rechten führt, hatte die EU schon früh Maßnahmen ergriffen. So können mobile Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU unter vereinfachten Bedingungen Ansprüche in der Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung geltend machen, wenn sie in einen anderen Mitgliedstaat ziehen. Sie sind durch das europäische Koordinierungsrecht in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht geschützt. Der sozialversicherungsrechtliche Schutz über die europäischen Staatsgrenzen hinweg erfordert einen umfangreichen Austausch zwischen den Trägern der sozialen Sicherheit in den jeweiligen Ländern. Kranken-, Renten- und Unfallversicherung haben mittlerweile über 60 Jahre Erfahrung in der Koor- dinierung der sozialen Sicherheit gesammelt. Der Austausch der notwendigen Daten, Formulare und Abrechnungen beruhte ursprünglich auf Papier, soll aber bald ausschließlich elektronisch erfolgen. Die COVID-19-Pandemie hat diesen Prozess zuletzt weiter beschleunigt. Im Oktober 2021 waren bereits neun Teilnehmerstaaten vollständig an den elektronischen Austausch von Sozialversicherungsdaten in der EU angeschlossen. Andere stehen kurz vor dem Abschluss. Zwischenzeitlich hat die EU-Kommission auch weitere flankierende Initiativen entwickelt, um die Digitalisierung in der Koordinierung der sozialen Sicherheit voranzubringen. Vor einigen Jahren stand die Einführung einer europäischen Sozialversicherungsnummer im Raum; eine interessante, in der Umsetzung aber komplizierte Idee zur Überprüfung des Sozialversicherungsstatus mobiler Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmer. Seitdem wurden eine Reihe weiterer Konzepte und Technologien dis kutiert; immer mit dem Ziel, den Austausch von Informationen der Sozialversicherungsträger unter- einander zu erleichtern, aber auch, um Sozialbetrug vorzubeugen. Nicht zuletzt soll auch den mobilen EU-Bürgerinnen und Bürgern der Zugang zu Informationen der Sozialversicherungsträger und die Kommunikation mit diesen erleichtert werden. Wir geben Ihnen in unserer aktuellen Ausgabe des ed* einen Überblick, wie sich die digitalen Instru mente im Bereich der sozialen Sicherheit ergänzen, aufeinander aufbauen und welche Herausfor- derungen sich für die Sozialversicherungsträger bei der Umsetzung ergeben. Klar sein dürfte, dass eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten sowie die frühe Einbeziehung und Beteiligung aller relevanten Partner auch hier der Schlüssel zum Erfolg ist. Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre! Ihre Ilka Wölfle 2
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit Was lange währt, wird endlich …? Digitale Kommunikation in der Koordinierung der Man entschied sich für eine Koordinierung der Systeme Systeme der sozialen Sicherheit der sozialen Sicherheit. Damit sollte gewährleistet wer- den, dass „mobile“ EU-Bürgerinnen und Bürger ihren Bereits mit der Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizü- Sozialschutz nicht verlieren, wenn sie vorübergehend in gigkeit in den Römischen Verträgen wurde deutlich: Die ein anderes EU-Land reisen, dort arbeiten oder leben. verschiedenen Systeme der sozialen Sicherheit und die Sie können ihre Rentenansprüche mitnehmen, wenn sie Unterschiede bei Leistungsansprüchen in den Mitglied- ihr Gastland wieder verlassen, und wenn sie sich in dem staaten können ein Hindernis zur Inanspruchnahme des Gastland aufhalten, können sie auch Leistungen im Krank- Rechts der Freizügigkeit für mobile Arbeitnehmerinnen und heitsfall oder im Falle eines Arbeitsunfalls in Anspruch Arbeitnehmer darstellen. Eine soziale Flankierung erschien nehmen (Sachleistungsaushilfe). notwendig, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in einem gemeinsamen Europäischen Binnenmarkt abzusichern. „Mobile“ EU-Bürgerinnen und Bürger sollen ihren Sozialschutz nicht verlieren, wenn sie in ein anderes EU-Land reisen, dort arbeiten oder leben. BENUTZERERFAHRUNGEN Notwendige ungeplante Regelmäßige Reisen Sich im Vorbereitung Geprüft medizinische medizinische in das Aufenthaltsland der Reise werden Versorgung Versorgung Aufenthaltsland niederlassen erhalten erhalten Außerhalb des Rahmens der ersten Phase des Pilotprojekts Quelle: EU-Kommission 3
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit Nicht nur der Informationsaustausch zwischen den Sozial- versicherungträgern, sondern auch die Nachweise der EU- 1. K ommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich ihres Sozialversiche- Sozialversicherungsträgern rungsschutzes erfolgte ursprünglich auf Papier, auch heute ist dies oft noch so. Mit der fortschreitenden Digitalisierung gibt es jedoch auch Anforderungen zur Einführung des Mit dem europäischen, elektronischen Austausch von elektronischen Austauschs. So sind die Mitgliedstaaten Sozialversicherungsdaten (European Exchange of Social aufgrund der EU-Vorschriften zur Koordinierung der sozia Security Information – EESSI) möchte die EU-Kommission len Sicherheit gehalten, digitale Technologien zu nutzen den Datenaustausch zwischen den Sozialversicherungs und benutzerfreundliche Dienste anzubieten. A rtikel 78 der trägern in der EU, den EFTA-Staaten (Island, Liechten- Verordnung (EG) 883/2004 zur Koordinierung der Systeme stein, Norwegen und die Schweiz) und dem Vereinigten der sozialen Sicherheit sieht vor, dass die M itgliedstaaten Königreich digitalisieren und erleichtern. neue Technologien für den Austausch, den Zugang und die Verarbeitung der für die Anwendung der Verordnung Das EESSI soll einen papierlosen, schnelleren und effi- und der Durchführungsverordnung erforderlichen Daten zienteren Austausch von Daten zwischen verschiedenen verwenden. Die EU möchte aber ganz generell mit neuen Sozialversicherungsträgern und mit nationalen Behörden Regelungen zur Digitalisierung der öffentlichen Verwaltun- ermöglichen, so zum Beispiel die Daten zur Ausstellung gen für eine bessere Informationsvermittlung und verbes- einer PDA1-Bescheinigung. Einzelfälle und Anfragen von serte Dienstleistungen im öffentlichen Sektor, einschließ- Versicherten können schneller bearbeitet und die Laufzeit, lich der Sozialversicherungen, sorgen. Mit ihrem „digitalen d. h. die Berechnung und Auszahlung von Leistungen, Kompass“ hat die EU-Kommission Zielvorstellungen für verkürzt werden. Elektronische Standardverfahren tragen einen erfolgreichen digitalen Wandel Europas bis 2030 for- dazu bei, dass die Vorschriften zur Koordinierung der sozi- muliert, der auch vorsieht, dass alle wichtigen öffentlichen alen Sicherheit ordnungsgemäß angewandt werden. Spezi- Dienste, einschließlich der elektronischen Patientenakte, elle Vorkehrungen stellen sicher, dass die ausgetauschten online verfügbar sein sollen und 80 Prozent der EU-Bürge- Daten korrekt und vollständig sind. rinnen und Bürger die digitale Identität nutzen. Aller Anfang ist schwer … Doch ist es oft schwierig und zeitaufwendig, Lösungen zu finden, die mit den in den Mitgliedstaaten bereits beste- Die „Historie“ des EESSI reicht weit zurück. Es ist eines henden Technologien und den dahinter liegenden Prozes- der umfassendsten und anspruchsvollsten Projekte im sen und Verfahren kompatibel sind. Häufig gestalten sich Bereich der Digitalisierung der Systeme der sozialen Projekte wie ein Wettlauf gegen die Zeit, da der technologi- Sicherheit. War für den Übergang von einem Papier- sche Fortschritt eine Lösung, die gerade noch vielverspre- basierten zu einem elektronischen Austauschsystem chend klang, sehr schnell als überholt erscheinen lassen ursprünglich – und sehr optimistisch – eine Übergangsfrist kann. bis zum 30. April 2012 vorgesehen, wurde diese durch den Beschluss Nr. E4 der Verwaltungskommission für die Ko Auf europäischer Ebene wird an verschiedenen Projek- ordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit „flexibel“ ten der Digitalisierung im Bereich der sozialen Sicherheit verlängert.1 Der Übergang sollte innerhalb von zwei Jahren gearbeitet, die alle Beteiligten umfassen und papierlos ab dem Tag erfolgen, an dem das zentrale EESSI-System funktionieren könnten. Wie sich die einzelnen Elemente entwickelt und erprobt und für die Nutzung bereitgestellt zusammenfügen und wie der jeweilige Stand der Umset- sei, so dass die Teilnehmerstaaten mit der Integration in zung ist, wird im Folgenden erläutert. das Zentralsystem hätten beginnen können. Diese Frist endete am 2. Juli 2019 und ließ sich letztlich auch nicht einhalten. 1 Beschluss Nr. E4 der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 13. März 2014 über die Übergangszeit gemäß Artikel 95 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates. 4
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit Digitalisierung der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit: So spielt alles zusammen Zentrales Digitales Zugangstor EESSI ESSPass Nationale Portale Nationale Prüfer Sozial Sozial Sozial Anwendungen Verifizierungs-APP versicherungs versicherungs versicherungs 4. anstalt anstalt anstalt WALLET Sozialversicherungs ARBEIT INSPEKTOR/IN träger erstellt 6. GEBER/IN / BEAMTER / „VerifiableCredential“ SEBLST 3. BEAMTIN 1. STÄNDIGE Eine Referenz davon wird im Blockchain Entsandter Knoten gespeichert Arbeitnehmer/in Sozialversicherungsträger Arbeitgeber/in / präsentiert das PDA1 teilt die Informationen 5. Sebstständige mit der empfangenden „VerifiableCredential“ beantragen PDA1 Institution über EESSI 2. Entsandter Arbeitnehmer/in lädt Sozialversicherungsträger stellt PDA1 aus das PDA1 herunter „VerifiableCredential“ 7. in ihrer Der Inspektor überprüft die Angaben das PDA1 WALLET des Arbeitnehmers/in zukünftige EU-ID wallet „VerifiableCredential“ EBSI Quelle: EU-Kommission Nach Angabe der Kommission sind mit Stand Oktober die EU-Kommission zu Beginn den Sozialversicherungs 2021 die meisten teilnehmenden Staaten – insgesamt trägern eine Schlüsselsoftware namens RINA zur Verfü- etwa 3000 Sozialversicherungsorganisationen – zumindest gung gestellt. Mit RINA (Reference Implementation for a teilweise an das EESSI angeschlossen und in der Lage, National Application) wurde den zuständigen Sozialver- Daten auszutauschen. Lediglich neun Mitgliedstaaten, da sicherungsbehörden in den Staaten des Europäischen runter Bulgarien, Zypern, Estland, Kroatien, Irland, Lett- Wirtschaftsraums, des Vereinigten Königreichs und der land, Malta, S lowenien, sowie trotz des Austritts aus der Schweiz von der EU-Kommission übergangsweise ein Ins- EU das Vereinigte Königreich sind vollständig angeschlos- trument an die Hand gegeben, um schrittweise die elektro- sen und nutzen das EESSI für alle Anwendungsfälle. Ein nische Kommunikation miteinander einzuführen. RINA wird vollständiger Anschluss aller teilnehmenden Staaten wird von der Mehrheit der teilnehmenden Institutionen genutzt für Mitte 2023 erwartet. und ist eine der zentralen Komponenten des EESSI, die aktuell noch von der EU-Kommission unterstützt wird. … und auch am Ende gibt es noch Stolperfallen Letztes Jahr hatte die EU-Kommission beschlossen, den Um die Daten im elektronischen Austausch entsprechend Support und die Wartung von RINA nicht mehr selbst wei- zu verarbeiten und untereinander zu kommunizieren, hatte terzuführen und mitgeteilt, dass Ende 2021 diese Aufgabe 5
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit den Mitgliedstaaten übergeben wird2. Seitdem versuchen Bürgern doch der Nutzen des elektronischen Datenaus- die Sozialversicherungseinrichtungen in Europa Lösungen tauschs. Dieser trägt zur Optimierung der Fallbearbeitung zu finden, um weiterhin reibungslos kommunizieren zu bei, entlastet die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der können. Einige – unter anderem auch die Sozialversiche- Sozialversicherungsträger und erhöht die Datenqualität. rungsträger in Deutschland – haben ihre eigene Software Übertragungsfehler werden vermieden und die Sicherheits- entwickelt, um RINA ganz oder teilweise zu ersetzen. vorkehrungen im Hinblick auf die ausgetauschten Daten Andere beteiligen sich an einer gemeinsamen öffentlichen helfen bei der Bekämpfung von Fehlern. Standardisierte Beschaffung, um einen neuen Anbieter für RINA zu finden. elektronische Dokumente, die in die jeweilige Sprache übersetzt werden, vereinfachen zudem die mehrsprachige Eine „vorzeitige“ Übergabe könnte insbesondere kleine Kommunikation. Auch die EU-Bürgerinnen und Bürger Sozialversicherungsorganisationen vor Probleme stellen. werden von einem weniger zeitaufwendigen und fehleran- Dies umso mehr, als auch ein gemeinsames europäisches fälligen elektronischen Austausch profitieren. Vergabeverfahren der Teilnehmerstaaten, die die RINA- Software nutzen, für die weitere technische Unterstützung voraussichtlich nicht vor Ende 2022 abgeschlossen sein 2.Kommunikation zwischen würde. Sozialversicherungsträgern Vorteile überwiegen den Aufwand und Bürgern Auch wenn der Aufwand für die Sozialversicherungsträ- Während das EESSI zur Digitalisierung der grenzüber- ger groß war und zum Teil nach wie vor ist, überwiegt in schreitenden Kommunikation zwischen Sozialversiche- einer digitalisierten Welt mit mobilen EU-Bürgerinnen und rungsträgern beitragen soll, betreffen die nachfolgenden digitalen Technologien das Verhältnis der EU-Bürgerinnen 2 Nunmehr hat sie sich zu einer begrenzten Unterstützung für einige Monate über den 31.12.2021 hinaus bereit erklärt, für den Fall von Blockaden oder kritischen Vorfällen, und Bürger zu den Sozialversicherungsträgern und sollen die sich auf das gesamte EESSI-System auswirken. das EESSI ergänzen. Auch wenn der EU-Bürgerinnen und Bürger werden von einem weniger zeitaufwendigen fehleranfälligen Austausch Aufwand groß war profitieren. und zum Teil nach wie vor ist, über- wiegt der Nutzen des elektronischen Datenaustauschs. 6
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit a) E uropäische Sozialversiche- rungsnummer Erschien die Einführung einer europä- ischen Sozialversicherungsnummer Die erste Initiative und die mit ihr verfolgten Ziele für die betraf die Einfüh- Eine erste Initiative betraf die Einfüh- Sozialversicherungsträger zunächst rung einer europäischen Sozialversi- interessant, so warf sie doch eine rung einer europä- cherungsnummer (European Social Security Number – ESSN), die der Reihe grundlegender Fragen auf. Schon ihre „Einbettung“ in die sehr ischen Sozialversi- damalige EU-Kommissionpräsident unterschiedlichen Strukturen der cherungsnummer Jean-Claude Juncker 2017 ankündigt Systeme der sozialen Sicherheit in hatte. den Mitgliedstaaten wäre ein sehr (European Social Alle EU-Bürgerinnen und Bürger komplexes Unterfangen gewesen. Weitere Aspekte, wie die Frage, wer Security Number – sollten eine individuelle Sozialversi- cherungsnummer erhalten, die als die Nummer vergibt, wie Doppelun- gen vermieden werden, wo die Daten ESSN). einheitliches systemübergreifendes gespeichert und wie diese geschützt Ordnungsmerkmal in allen Mitglied- werden, wären zu klären gewesen. In staaten gültig sein sollte. Sie hätte Deutschland hätte zudem geklärt wer- eine eindeutige Identifizierung von den müssen, ob eine solche Samm- Personen und eine schnelle Überprü- lung sensibler Daten unter einem fung des Sozialversicherungsstatus einheitlichen Ordnungskennzeichen über Landesgrenzen hinaus ermög- mit dem „Volkszählungsurteil“ des lichen und dazu beigetragen sollen, Bundesverfassungsgerichts vereinbar Fehler beim Austausch von Daten wäre. Die Richter hatten seinerzeit die zu vermeiden und den Missbrauch Erschließung eines Datenverbundes beim Bezug von Sozialleistungen zu sensibler Daten durch ein einheitli- bekämpfen. ches Personenkennzeichen für unzu- lässig erklärt.3 Aufwand steht außer Verhältnis zum Nutzen Die EU-Kommission hat das Projekt einer ESSN inzwischen verworfen. Die Initiative der EU-Kommission zur Nicht weil das Ziel der Digitalisierung Einführung einer ESSN wurde letztlich im Bereich der Koordinierung der vom Ausschuss für Regulierungskon- sozialen Systeme oder die Bekämp- trolle gestoppt. Der Ausschuss berät fung von Sozialbetrug sich erübrigt als eigenständiges Gremium das hätten. Die EU-Kommission gelangte Kollegium der Kommissionsmitglieder vielmehr zu dem Schluss, dass die und prüft alle von der EU-Kommission ESSN zur Verwirklichung dieser Ziele entworfenen Folgenabschätzungen nicht die wirtschaftlichste Lösung sei und unterstützt bei Evaluierungen und ihre Einführung einen Eingriff in bestehender Rechtsvorschriften. Der private Daten bedeuten würde. Längst Ausschuss kam nach Vorlage der lägen digitale Technologien vor, die Folgenabschätzung zu dem Schluss, eine Verwirklichung der gleichen Ziele dass die Notwendigkeit der Einfüh- effizienter und mit geringem Datenein- rung einer ESSN nicht ausreichend griff ermöglichen. begründet sei und der Aufwand außer Verhältnis zum Nutzen stehe. 3 Siehe Urteil des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 65, 1 (53). 7
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit b) E uropäischer Sozialversicherungspass Wallet“, einer „elektronischen Brieftasche“ digital hinterlegt werden soll, es den zuständigen Akteuren und Arbeitsin- Als Alternative zur ESSN hat die EU-Kommission im März spektoren ermöglichen, den Sozialversicherungsstatus 2021 im Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen sowie Leistungen und Ansprüche mobiler EU-Bürgerinnen Säule sozialer Rechte die Einführung eines Europäischen und Bürger digital in Echtzeit zu überprüfen, sobald diese Sozialversicherungsausweis (European Social Security identifiziert sind. Pass – ESSP) bis 2023 vorgeschlagen. Nach wie vor möchte sie zwei Probleme lösen: Zum einen die eindeutige Die EU-Kommission hat im Juni 2021 einen Vorschlag Identifizierung einer Person und zum anderen die Über- für eine Änderung der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 im prüfung ihres Sozialversicherungsstatus. Sollte die ESSN Hinblick auf die Schaffung eines Rahmens für eine europä- noch beide Aspekte vereinen, wird mit dem ESSP ein ische digitale Identität vorgelegt. Diese soll allen Bürgerin- anderer Weg beschritten. nen und Bürgern in der EU zur Verfügung stehen und sie in die Lage versetzen, sich mit einem Klick auf ihrem Handy Europäische digitale Identität und ID Wallet digital auszuweisen und amtliche Dokumente – unter anderem auch den ESSP – in ihrer ID Wallet in elektroni- Während die Identifizierung einer Person über die europä- scher Form speichern und verwalten zu können. Sie hätten ische digitale Identität (European Digital Identity – EUid) insofern jederzeit die volle Kontrolle über die Daten, die sie erfolgen wird, soll der ESSP, der in einer sogenannten „ID weitergeben. Der ESSP soll es den zuständigen Akteuren und Arbeitsinspektoren ermöglichen, den Sozialversicherungsstatus sowie Leistungen und Ansprüche digital in Echtzeit zu überprüfen. 8
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit Die ID Wallets sollen auf nationalen Systemen beruhen, soweit diese ESSP Pilotprojekt Nach derzeitigen bereits bestehen, und von den Um die Machbarkeit einer digitalen Vorstellungen Mitgliedstaaten innerhalb von zwölf Lösung für einen ESSP zu prüfen, Monaten nach Inkrafttreten des hat die EU-Kommission Anfang 2021 könnte der ESSP Verordnungsvorschlages ausgestellt werden. EU-Bürgerinnen und Bürger ein Pilotprojekt mit dem italienischen „Istituto Nazionale della Previdenza auf der Blockchein würden die ID Wallet im jeweiligen Mit- Sociale“ (INPS), der größten öffent- Technologie gliedstaat erhalten und könnten diese lichen Einrichtung der Sozialversi- auf ihr persönliches Smartphone oder cherung in Italien, gestartet. Neben basieren. ein sonstiges Gerät herunterladen und Italien, das das Pilotprojekt aktiv nutzen. durchführt, sind Österreich, Kroatien, Ungarn, Deutschland, Griechenland, Blockchain Technologie Malta, Polen, Schweden, die Nieder- lande und die Slowakei als beratende Nach derzeitigen Vorstellungen könnte Experten am Projekt beteiligt. der ESSP auf der Blockchain Tech- nologie basieren. Eine Blockchain ist Das Pilotprojekt soll bis 2023 abge- eine technische Lösung, um Daten schlossen sein. Die erste Phase läuft in einer verteilten Infrastruktur ohne bis 2022 und befasst sich mit der zentrale Instanz nachvollziehbar und Digitalisierung des Verfahrens zur manipulationssicher im Konsens zu Ausstellung und Kontrolle des tragba- verwalten.4 Im Gegensatz zur ESSN ren Dokuments PDA1. In der zweiten käme der ESSP damit ohne eine zent- Phase bis 2023 sollen weitere Ele- rale Speicherung von Daten aus. Eine mente, wie die Europäische Kranken- solche Lösung wird durch die euro- versicherungskarte (European Health päische Infrastruktur für Blockchain- Insurance Card – EHIC), erprobt Dienste (European Blockchain Servi- werden. ces Infrastructure – EBSI) entwickelt. EBSI ist eine gemeinsame Initiative Noch viele offenen Fragen der EU-Kommission und der euro- päischen Blockchain-Partnerschaft Die Einführung eines ESSP klingt (European Blockchain Partnership aus Sicht der Sozialversicherungs- – EBP) zur Bereitstellung EU-weiter träger attraktiv, verfolgt dieser doch grenzüberschreitender öffentlicher im Zusammenspiel mit der EUid Dienstleistungen mithilfe der Block- dieselben Ziele wie die ESSN. Neben chain-Technologie. Neben weiteren einer effizienten und betrugssicheren grenzüberschreitenden Diensten, wie Kommunikation der EU-Bürgerinnen zum Beispiel die Beglaubigung von und Bürger mit Sozialversicherungs- Dokumenten oder den Austausch von organisationen, könnte der ESSP die Diplomen, ist der ESSP ein Anwen- Feststellung des Sozialversicherungs- dungsfall der EBSI, an dem derzeit status einer Person sowie die Prüfung gearbeitet wird. von Sozialversicherungsleistungen und -ansprüchen ermöglichen, ohne dabei zu einer zentralen Sammlung sensibler Daten zu führen. EU-Bürge- 4 So Bundesamt für Sicherheit in der Informationstech- rinnen und Bürger hätten nach wie vor nik: BSI – Blockchain & Kryptowährung (bund.de) die Kontrolle über Ihre eigenen Daten, 9
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit Europäisches die per Handy-App oder anderweitig online in Echtzeit verfügbar wären. ßung vom 25. November 2021 weisen die Abgeordneten nicht nur darauf Parlament fordert hin, dass das Europäische Parlament Allerdings basiert das Projekt auf der bereits 2014 einen Legislativvorschlag mehr Ehrgeiz bei noch nicht umgesetzten EUid und für eine ESSN gefordert habe, sondern Inhalt und Zeitplan der ID Wallet. Diese sind zwingende Voraussetzung für die Einführung fordern darüber hinaus die EU-Kom- mission auf, hinsichtlich des Inhalts des Pilotprojekts eines ESSP. Ob sich beides zeitnah und des Zeitplans ehrgeiziger zu sein, umsetzen lässt, scheint jedoch frag- damit bis Ende 2022 ein Legislativvor- zum ESSP. lich, auch wenn die Erfahrungen der schlag zum ESSP vorgelegt werden COVID-19-Pandemie digitalen Lösun- kann.5 gen derzeit einen gewissen „Rücken- wind“ bescheren. Zum Vergleich: Auch unter Datenschutzgesichtspunk- Derzeit profitieren nur rund 60 Prozent ten sind noch Fragen zu klären. So der EU-Bürgerinnen und Bürger von weist der Europäische Datenschutz- der bereits 2014 mit der Verordnung beauftragte bei der Nutzung der (EU) Nr. 910/2014 über elektronische Blockchain-Technologie auf Beden- Identifizierung und Vertrauensdienste ken hinsichtlich der Einhaltung der für elektronische Transaktionen im Datenschutzgrundverordnung hin, Binnenmarkt eingeführten Möglichkeit zum Beispiel bezüglich der Daten- einer grenzüberschreitenden elektro- übermittlung außerhalb der EU und nischen Identifizierung. der Unmöglichkeit, Einträge in einer Der zeitliche Aspekt scheint auch die 5 Entschließung des Europäischen Parlaments vom Abgeordneten des Ausschusses für 25. November 2021 zur Einführung eines europäischen Sozialversicherungsausweises zur Verbesserung der Beschäftigung und soziale Angelegen- digitalen Durchsetzung von Ansprüchen auf Sozialleis- heiten umzutreiben. In ihrer Entschlie- tungen und einer fairen Mobilität (2021/2620(RSP)). Unter Datenschutzgesichtspunkten sind noch Fragen zu klären. 10
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit Blockchain zu löschen oder zu berichtigen. Er mahnt Viele europäische Sozialversicherungsorganisationen insofern, dass die Blockchain-Technologie möglicherweise stellen bereits relevante Informationen, zum Beispiel zum nicht für alle Anwendungsfälle der EUid geeignet ist und Krankenversicherungsschutz, bei Arbeitslosigkeit oder weitere Schutzvorkehrungen erforderlich seien.6 zur Rente, entsprechend den Anforderungen des SDG online zur Verfügung und arbeiten daran, die genannten Das Projekt eines ESSP befindet sich noch in den Anfän- Verfahren bis 2023 online einzurichten. Insbesondere gen. Inwieweit das Pilotprojekt Erkenntnisse bringen wird, schwierig stellt sich die Umsetzung des Grundsatzes der bleibt abzuwarten. Dies gilt umso mehr, als sich die teil- einmaligen Erfassung (Once-Only-Principle) dar. Durchfüh- nehmenden Mitgliedstaaten, abgesehen von Italien, nur rungsrechtsakte der EU-Kommission mit den technischen als Experten mit Beobachterstatus beteiligen. Ohne aktive Spezifikationen zur Umsetzung des Grundsatzes lassen Teilnahme an der Erprobung der Technik wird die Prüfung auf sich warten. Der Grundsatz der einmaligen Erfassung nationaler Besonderheiten, verfügbarer Kapazitäten und soll eine einmalige Bereitstellung von Daten gewährleistet, bestehender Hindernisse jedoch nur begrenzt aussage die öffentliche Verwaltungen unter Einhaltung von Daten- kräftig sein. schutzbestimmungen wiederverwenden und untereinander austauschen können. c) Zentrales Digitales Zugangstor Ein weiterer Baustein der Digitalisierung der Kommunika- 3. Z usammenspiel der digitalen tion zwischen EU-Bürgerinnen und Bürgern und den Sozi- alversicherungsträgern ist das Zentrale Digitale Zugangs- Kommunikation tor (Single Digital Gateway – SDG). Ziel des SDG ist es, ein einheitliches europäisches Portal für Informationen und Wie nun alle genannten Technologien zur Digitalisierung die digitale Erledigung bestimmter Verwaltungsverfahren in der Koordinierung der Systeme sozialen Sicherheit zusam- der EU zu schaffen. Zudem soll das Portal eine Übersicht menspielen, soll abschließend am Beispiel des tragbaren zu wesentlichen Rechten und Pflichten des Unionsrechts Dokuments PDA1 skizziert werden. enthalten. Die Plattform „Your Europe“ dient als Zugangs- portal des SDG und ist die einheitliche digitale Anlaufstelle Möchte ein Arbeitgeber eine Mitarbeiterin oder einen für EU-Bürgerinnen und Bürger zu den öffentlichen Verwal- Mitarbeiter in einen anderen Mitgliedstaat entsenden, tungen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Träger der wird er über das „Your Europe“-Portal als Anlaufstelle des Sozialversicherungen. SDG zum zuständigen Sozialversicherungsträger geleitet und beantragt eine PDA1-Bescheinigung. Der zuständige Auf gutem Weg, aber noch nicht da Träger stellt diese aus und informiert den Arbeitgeber per E-Mail über die Bereitstellung. Mit dem Sozialversi- Seit Ende 2020 sind die Bürgerportale aller Mitgliedstaa- cherungsträger im Ziel-Mitgliedstaat kommuniziert der ten in dem übergreifenden EU-Portal gebündelt, so dass zuständige Träger über das EESSI und teilt die entspre- EU-Bürgerinnen und Bürger in allen EU-Sprachen suchen chenden Informationen. Der Arbeitgeber leitet die E-Mail und auf nationale Portale zugreifen können. Bis Ende 2023 an seine Mitarbeiterin, bzw. seinen Mitarbeiter weiter. sollen ausgewählte Verfahren vollständig online nutzbar Über einen darin enthaltenen Link vom Portal des Sozial- sein. Im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozi- versicherungsträgers können diese durch Scannen eines alen Sicherheit sind dies die Beantragung des tragbaren QR-Codes mit dem Träger ihre EUid teilen, die dieser über Dokuments PDA1, die europäische Gesundheitskarte EHIC EBSI prüfen kann. Die Mitarbeiterin, bzw. der Mitarbeiter und die Renten mobiler EU-Bürgerinnen und Bürger. erhält das PDA1 vom zuständigen Sozialversicherungsträ- ger und importiert es in die ID Wallet. Im Falle der Prüfung teilt die Mitarbeiterin, bzw. der Mitarbeiter durch Scannen eines QR Codes die EUid und die PDA1-Bescheinung mit 6 Formelle Bemerkungen des Europäischen Datenschutzbeauftragten zum Vorschlag den jeweiligen Inspektoren, die dies über EBSI prüfen und für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 910/2014 im Hinblick auf die Schaffung eines Rahmens für eine lesbare Informationen erhalten. europäische digitale Identität, S. 3. 11
Deutsche Sozialversicherung Europavertretung Dezember 2021 Digitalisierung der sozialen Sicherheit 4. Ausblick Kontakt Die gesamte Kommunikation der Sozialversicherungsträ- Deutsche Sozialversicherung ger untereinander, der EU-Bürgerinnen und Bürger mit Europavertretung den Sozialversicherungsträgern und gegebenenfalls die Prüfung durch die Arbeitsinspektoren sollen künftig papier- Rue d’Arlon 50 los abgewickelt werden. Nachweise lassen sich in Echtzeit 1000 Brüssel prüfen. Das klingt sehr gut, erfordert aber nicht nur auf Fon: +32 (2) 282 05 50 europäischer Ebene, sondern auch in den Mitgliedstaaten E-Mail: info@dsv-europa.de noch viel Arbeit und erhebliche Investitionen. www.dsv-europa.de Denn so unterschiedlich die Systeme der sozialen Sicher- heit in den Mitgliedstaaten der EU sind, so verschieden sind auch die entsprechenden Verwaltungsstrukturen, die jeweils genutzten digitalen Technologien und die in diesen Impressum Technologien abgebildeten Verwaltungsverfahren. Es bedarf eines langen Atems, um diese EU-weit kompatibel Verantwortlich für den Inhalt: zu machen und einen Austausch von Informationen und Deutsche Sozialversicherung Daten zu ermöglichen. Das hat das EESSI deutlich gezeigt. Europavertretung im Auftrag Auch eine EUid, welche Voraussetzung der Umsetzung der Spitzenverbände der Deutschen des Projektes eines ESSP ist, wird weitere Anpassungen Sozialversicherung in den Mitgliedstaaten erfordern und sich nicht kurzfristig Direktorin: Ilka Wölfle, LL.M. umsetzen lassen. Redaktion: Ilka Wölfle, Eine vollständige Digitalisierung im Bereich der sozialen Ulrich Mohr, Sicherheit und der Koordinierung der Systeme in grenz- Isolde Fastner, übergreifenden Sachverhalten sowie die Umsetzung der Stefani Wolfgarten, mit der Digitalisierung verfolgten Ziele sind notwendig Volker Schmitt und wünschenswert. Erleichterungen, wie eine papierlose Kommunikation werden begrüßt. Gerade im Zusammenwir- Produktion: mails and more – ken der einzelnen Projekte zeigt sich der Effizienzgewinn Service für Dialogmarketing GmbH und das Potential für alle beteiligten Akteure. Doch so wün- schenswert die Umsetzung der Projekte auch ist, es bedarf Grafik/Layout: Naumilkat – Agentur einer strukturierten Herangehensweise, damit diejenigen, für Kommunikation und Design die mit der Umsetzung befasst sind – die Sozialversiche- rungsträger – Schritt halten können. Bildnachweis: Adobe Stock / paper_owl (S. 1), Shutterstock / madpixblue (S. 6), iStockphoto / Lightcome (S. 8), iStockphoto / Feodora Chiosea (S. 10), 12
Sie können auch lesen