Praxeologische Feldforschung - Reichweite, Tragweite, Importanz und Relevanz als Analysekategorien - GH
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supported by Geogr. Helv., 76, 51–63, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-51-2021 © Author(s) 2021. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Praxeologische Feldforschung – Reichweite, Tragweite, Importanz und Relevanz als Analysekategorien Klaus Geiselhart1 , Simon Runkel2 , Susann Schäfer2 , and Benedikt Schmid3 1 Institutfür Geographie, Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, 91058 Erlangen, Deutschland 2 Institut für Geographie, Friedrich-Schiller Universität Jena, 07743 Jena, Deutschland 3 Institut für Umweltsozialwissenschaften und Geographie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 79098 Freiburg, Deutschland Correspondence: Simon Runkel (simon.runkel@uni-jena.de) Received: 15 April 2020 – Revised: 11 January 2021 – Accepted: 25 January 2021 – Published: 12 March 2021 Kurzfassung. This paper develops three analytical categories – range, supporting capacity, exigency/notability – to capture how supra-individual phenomena affect the people studied by empirical research. Researchers face a tension between constructivist and realist perspectives as the examined phenomena are simultaneously social constructs, in the way people perceive and understand them, and social facts in their consequences. Taking a critical perspective on the notion of large social phenomena – popularized by Theodore Schatzki – the paper de- velops an explorative terminology that aims to facilitate practice-oriented field research. Examples of empirical research on transition and degrowth initiatives illustrate how research subjects estimate the range of a pheno- menon by trying to grasp whether they are in or out of its reach; the supportive capacity of a phenomenon by exploring how far it carries certain processes; and they experience the exigency of a phenomenon and ascribe a certain notability to it. Taken together, this terminology grasps the way phenomena are matters of concern, rather than matters of fact, for the research subjects. 1 Einleitung: Empirisches Arbeiten zwischen entsprechenden Handlungen und erneuter Reproduktion der Realismus und Konstruktivismus Verhältnisse. Mit dieser Erkenntnis geraten Forschende aber in ein Di- lemma. Sie müssen erst einmal die Setzungen der Beforsch- Empirische Forschungspraxis spielt für Humangeo- ten auf die ein oder andere Weise akzeptieren. Nicht al- graph*innen eine elementare Rolle beim Verstehen und lein, weil das empirische Interesse eine Anhörung spezifi- Analysieren sozialräumlicher Sachverhalte. Wenn Forschen- scher Sichtweisen, wenn nicht gar deren Reflexion verlangt, de ins Feld gehen, erkennen sie häufig – wie wir es bei sondern auch schon, weil Forschende ihr Untersuchungsfeld eigener Feldforschung erfahren haben –, dass die Beforsch- und die Beforschten beschreiben müssen. Sie dürfen also die ten bestimmte Dinge als gegebene Tatsachen ansehen, die Existenz des Phänomens nicht initial in Frage stellen. Dabei in akademischen Diskursen als sozial konstruiert und kon- können sie sich natürlich der Gemachtheit von sozialen Sach- tingent identifiziert werden. In Interviews mit Beforschten verhalten bewusst sein. Erklären sie aber die Konstruktion wird auf verschiedene Phänomene Bezug genommen, die des besonderen Phänomens, indem sie lediglich dessen Re- diese als Bestandteile ihrer Wirklichkeit ansehen. Dieser produktion beschreiben, dann reifizieren sie damit das Phä- Blick bestimmt schließlich auch die Handlungsdispositionen nomen. Damit akzeptieren Forschende stillschweigend auch der Beforschten und entsprechend die sozialen Verhältnisse, dessen Status als existenten Sachverhalt. Damit nehmen sie die Wissenschaftler*innen analysieren wollen und die aus letztlich zwar eine kritische, aber doch realistische Perspek- wissenschaftlicher Perspektive vielleicht auch kritisier- tive ein. bar erscheinen. Aus einer praxeologischen Perspektive erkennen Forschende einen Kreislauf von Konstruktion, Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
52 K. Geiselhart et al.: Praxeologische Feldforschung – Reichweite, Tragweite, Importanz und Relevanz Deutlich wird dies beispielsweise bei einem Sachverhalt, gewissen Maße individuell handeln können oder sogar eine der trotz umfassender Kritik häufig als gegeben angesehen gewisse agency besitzen. wird: der Markt. Die kritischen Wissenschaften lehnen die Noch deutlicher wird diese Spannung, wenn man sich neoklassische Annahme eines abstrakten, unabhängigen und größeren Zusammenhängen des Sozialen zuwendet. Mit sei- ausgleichenden Marktes ab (Gibson-Graham, 1996, 2006; ner Konzeption der „large social phenomena“ vertritt Theo- Massey, 2012). Im allgemeinen Verständnis wird Markt je- dore Schatzki (2016) eine praktikenontologische Perspekti- doch meist weiterhin als Faktum vorausgesetzt – nicht zu- ve. Er hat sich sehr konkret zu der Herausforderung pra- letzt in akademischen Betrachtungen selbst (Berndt und Boe- xeologischer Forschung geäußert, größere Zusammenhänge ckler, 2009). Ansätze der Diskurs- und Performativitätsfor- menschlichen Tätig-Seins konzeptionell zu fassen. Wie im schung zeigen indes, dass Konzepte bestimmend Einfluss auf Folgenden zu zeigen ist, birgt diese in der humangeogra- Praktiken und Prozesse nehmen und damit wiederum sozia- phischen Forschung zunehmend einflussreiche Konzeption le Phänomene wie das des Marktes bedingen (MacKenzie Schatzkis jedoch einige Probleme. Schatzki definiert „large et al., 2008; Cohen, 2017; Aspers, 2007; Ouma und Bläser social phenomena“ als „spatially extensive, consisting in a 2015). Schauen Forschende aber darauf, wie ein bestimmter far-flung constellation of practices or arrangements“ (Schatz- Sachverhalt durch Mitwirken seiner Teilnehmer*innen per- ki, 2016, 6). Dadurch versucht Schatzki, soziale Phänomene formativ hergestellt wird, so nehmen sie letztlich eine sozial- – wie beispielsweise Märkte – als komplexes Ineinandergrei- konstruktivistische Perspektive ein. Im Mittelpunkt steht die fen einer großen Zahl von Tätigkeitsmustern und materiel- Hervorbringung eines Sachverhaltes, aber dennoch bleibt der len Arrangements zu verstehen. Schatzkis Konzept verbleibt Sachverhalt ein „matters of fact“. Diesen Sachverhalt können dadurch in einer ontologisierenden Deskription des Seins Forschende zwar rekonstruktiv, also in seiner sozialen Her- eines Sachverhaltes und eröffnet damit keinen Zugriff auf vorbringung, beschreiben, doch wird er in deren Beschrei- die Wirkmächtigkeit sozialer Sachverhalte oder Phänomene. bung zwangsläufig verdinglicht. Damit gelingt es nicht, den methodologischen Widerspruch Erfahrungen von „im Feld“ Forschenden haben aber ge- zwischen Realismus und Konstruktivismus zu überwinden. zeigt, dass die Beforschten eigene individuelle Haltungen zu Phänomene sind, so argumentieren wir im Folgenden, beides gängigen, konventionalisierten Vorstellungen eines sie be- zugleich: konstruiert, wie auch real. Sie sind konstruiert in treffenden Sachverhaltes haben. Vielleicht haben Forschende ihrer Wesenhaftigkeit und real in ihren Auswirkungen. Als auch gesehen, wie Beforschte versuchen auf ihre ganz eige- Alternative werden wir mit Verweis auf Bruno Latours Un- ne Art und Weise ihre individuellen Vorstellungen in Wert terscheidung zwischen „matters of fact“ und „matters of con- zu setzen, um – im Beispiel zu bleiben – ökonomisch tä- cern“ eine Analytik zur empirischen, praxeologischen Erfor- tig zu sein. Letztlich sehen Forschende sich in dem Dilem- schung von überindividuellen Sachverhalten anbieten. ma, zwischen einem Blick auf die soziale Konstruktion eines Dieser Beitrag gliedert sich wie folgt. Zunächst werden Phänomens und einem Blick auf die Realität seiner Existenz wir in aller Kürze theoretische Ansätze zu sozialen Prakti- entscheiden zu müssen. Empirisch Forschende können nun ken umreißen (Kapitel 2.1). In einem nächsten Schritt wer- versuchen, zwischen einem konstruktivistischen und einem den wir darauf aufbauend Schatzkis Begriff der „large so- realistischen Blick zu alternieren, was aber mit erheblichen cial phenomena“ kritisch diskutieren, um ihn dann beispiel- methodischen Schwierigkeiten und Problemen bei der For- haft auf das Phänomen Markt zu beziehen (Kapitel 2.2). Wir mulierung der Ergebnisse einhergeht. werden zeigen, wie in Schatzkis Konzept eine Gefahr der Praxeologische Ansätze nehmen für sich in Anspruch, Di- Reifikation angelegt ist. Schließlich skizzieren wir im drit- chotomien in Frage zu stellen, und wir wollen im Folgenden ten Kapitel erste methodologische Überlegungen, wie mit- untersuchen, ob sie nicht auch eine Lösung für das hier be- tels der Analysekategorien Reichweite, Tragweite, Import- schriebene Problem bereithalten. Mit dem Begriff der Praxis anz und Relevanz ein alternativer Zugang zur Betrachtung lässt sich der Dualismus von individueller Aktivität und so- überindividueller Sachverhalte gelingen kann. Die Analy- zialer Struktur überwinden, indem man nun „überindividuel- sekategorien entwickeln wir entlang empirischer Beispiele le [. . .] ,Muster‘ im fortlaufenden Tätig-Sein von Individuen“ aus alternativwirtschaftlichen Projekten, die versuchen, sich (Geiselhart et al., 2019, 27) identifiziert, welche von Indi- marktförmigen Produktions- und Distributionsverhältnissen viduen mehr oder weniger automatisiert ausgeführt werden. zu entziehen und somit die Grenzräume von „Märkten“ sicht- Dabei ist von großer Bedeutung, wie diese Muster verstanden bar machen. Die anonymisierten Beispiele sind einem in sei- werden. Werden sie ontologisiert, also als kleinste identifi- ner Methodik praxistheoretisch ausgerichteten Forschungs- zierbare Einheiten des Sozialen angesehen, die als ganz spe- projekt entnommen (Schmid, 2020). Sie dienen den metho- zifische Muster existieren, oder werden sie als Rahmungen dologischen Überlegungen in diesem Beitrag lediglich zur von Vielfalt angesehen? Im ersten Fall sind sie den Subjekten Illustration.1 Abschließend sammeln wir in einer Konklusi- vorgängig, werden von diesen lediglich ausgeführt, und Ver- änderungen in den Praktiken ergeben sich nur zufällig durch 1 Nebst Märkten lässt sich die hier vorgeschlagene Kritik und Iteration. Im zweiten Fall ermöglichen Praktiken den Subjek- Analytik auf weitere Sachverhalte beziehen wie beispielsweise auf ten einen gewissen Spielraum, innerhalb dessen sie in einem so unterschiedliche Frage- und Problemstellungen wie die der ge- Geogr. Helv., 76, 51–63, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-51-2021
K. Geiselhart et al.: Praxeologische Feldforschung – Reichweite, Tragweite, Importanz und Relevanz 53 on (Kapitel 4) ausblickhaft verschiedene Überlegungen für Praktiken vorgeschlagen, womit der grundlegend prozessua- zukünftige empirische Untersuchungen und theoretische An- le Charakter gesellschaftlicher Wirklichkeit zu fassen ist. schlussmöglichkeiten. 2.2 Schatzkis Praktikenontologie als Vergleichsfolie 2 Theoretische Rahmung Ein wichtiger Name der jüngeren praxeologischen Theorie- 2.1 Theoretische Hintergründe sozialer Praktiken bildung ist Theodore Schatzki. Er erarbeitete eine spezifische Denkweise, die sich als praktikenontologisch bezeichnen Praxeologische Perspektiven haben in den letzten Jahren lässt, die uns als Vergleichsfolie dienen soll. Schatzki (2003, große Resonanz erfahren, sodass Schatzki, Knorr-Cetina und 2008, 2010) versteht Praktiken als Bündel von Aktivitäten, Savigny von einem „practice turn“ (2001) sprechen. Die Re- im Tun und Sagen („doings and sayings“) durch praktisches de von einem „turn“ überdeckt allerdings die Tatsache, dass Verstehen („practical understandings“), Regeln bzw. Vor- in den vorausgegangenen Jahrzehnten sehr prominent und schriften („rules“), teleo-affektive Strukturen, d. h. leibliche einflussreich praxeologische Theoriebildung betrieben wur- und geistige Ausrichtungen („teleo-affective structures“), so- de, die insbesondere mit Namen wie Bourdieu, Dreyfus, Gid- wie generelles Verstehen („general understandings“). Für dens, Latour, Laclau und Mouffe, Taylor – und eben auch Schatzki stellen Praktiken den zentralen Aspekt des sozia- Schatzki – verbunden ist (für eine Übersicht siehe Geiselhart len Lebens dar. In ihrer Verbundenheit konstituieren sie das et al., 2019). Feld des Sozialen (Schatzki, 1996, 198 ff.). In jüngeren Ar- Im Kern geht es bei praxeologischen Perspektiven dar- beiten ergänzt er dies mit einer (flachen) Ontologie der „site“ um, Strukturen und Akteure – klassische Bezugspunkte un- (Schatzki, 2002, 123 ff.): „[. . .] something occurs in a site terschiedlicher Sozialtheorien – nicht als etwas Erklärendes when it is inherently a part of a context in which it occurs. vorauszusetzen, sondern diese selbst als soziale Vollzugsfor- Site ontologies either locate the social in or identify it with men zu verstehen. Praxeologien, in anderen Worten, legen some site“ (Schatzki, 2002, 138). Damit bezieht seine Praxis- nicht im Vorhinein fest, „aus welchen Struktureigenschaften theorie materielle und immaterielle Entitäten mit ein. Dies oder Handlungsintentionen die Sozialität emergiert“ (Hille- wird durch eine weitere wesentliche Konzeption in seiner brandt 2014, 11). Stattdessen, gehen sie davon aus, dass so- Praxistheorie ergänzt: soziale Ordnungen und Arrangements. ziale Phänomene wie Märkte oder der Staat selbst Produk- Soziale Ordnungen nennt er Ensembles von Entitäten, durch te fortwährenden menschlichen Tätig-seins sind (sozial kon- welche sich soziales Leben dynamisch entfaltet (Schatzki, struiert), gleichzeitig aber auch auf dieses Tätig-sein einwir- 2002, 38). Gemeint sind damit in seinem Vokabular Arran- ken (real in ihren Auswirkungen). gements von Menschen, Artefakten, Organismen und Din- Praxistheorien zielen somit darauf ab, zum einen eine Al- gen, die für menschliche Koexistenz charakteristisch sind ternative zum ontologischen Primat einer gesellschaftlichen (ebd.). In solchen Ordnungen verbinden sich Entitäten, tei- Totalität, wie zum Beispiel in der Systemtheorie oder im len Bedeutung und sortieren sich in gegenseitiger Anerken- Funktionalismus zu bieten, und zum anderen auch dem Indi- nung (ebd.). Die sozialen Ordnungen schließen dabei mate- viduum keine sozialontologische Vorrangstellung einzuräu- rielle und immaterielle Arrangements mit ein. Arrangements men wie etwa in der neoklassischen Ökonomik, dem metho- bezeichnen die gegenseitige Lage oder Position von Entitäten dologischen Individualismus (Werlen, 1999, 33) oder dem zueinander (vgl. Löw, 2001), wobei Schatzki (2002, 19) aus- symbolischen Interaktionismus (Schatzki, 1996, 9). Praxis- drücklich darauf hinweist, dass diese Position nicht notwen- theoretische Ansätze verfolgen ein grundlegend prozessua- digerweise ein räumliches Phänomen sein muss. Vielmehr les Verständnis von Wirklichkeit. Soziale Phänomene wer- sei „Position“ ein „abstract term denoting where an entity den in ihrer geschichtlichen Bedingtheit und Genese verstan- fits in a nexus“ (ebd.). Schatzkis – zuweilen sehr komplexes den und damit als kontingenter, gleichzeitig jedoch materiel- und nominalistisches – Vokabular ist für humangeographi- ler Vollzug. Ziel eines praxeologischen Blicks ist es daher sche Perspektiven attraktiv und wurde in diesem Kontext bis- nicht, Praktiken zu fixieren, das heißt sie ontologisch als En- her nicht nur konzeptionell aufgearbeitet (Everts et al., 2011; tität zu etablieren. Epistemologisch lassen sich praxeologi- Schäfer und Everts, 2019), sondern bereits in verschiedenen sche Ansätze folglich als (Versuch einer) Überwindung des empirischen Untersuchungen operationalisiert (Lahr-Kurten, Gegensatzes zwischen konstruktivistischen und essentialisti- 2014; Haubrich, 2015; Maus, 2015). schen Positionen fassen. Stattdessen wird ein Konzept von Schatzkis Theorie hat ihre Stärke darin, dass sie das So- ziale in Begriffe zerlegt, die sich gut operationalisieren las- sellschaftlichen Integration von sozialen Gruppen, der Stadtpla- nung, der Klimawandelanpassung oder der kritischen Geopolitik. In sen. Gleichzeitig – so gesehen eine Schwäche des Ansatzes – religionssoziologischen und -geographischen Untersuchungen tritt besteht dadurch eine Tendenz zum reifikatorischen Umgang das Problem zudem häufig unter dem Stichwort „methodologischer mit diesen Begriffen. Während andere praxeologische An- Agnostizismus“ (vgl. Henkel, 2011) auf, wenn Feldforschende mit sätze Praktiken eher in deren Effekten und Wirkungen (z. B. der von den religiösen Menschen für Realität gehaltenen Glaubens- Disziplinierungen des Selbst) und diese im Hinblick auf Ge- überzeugungen konfrontiert werden. sellschaft, Klasse und/oder soziale Gruppe analysieren, be- https://doi.org/10.5194/gh-76-51-2021 Geogr. Helv., 76, 51–63, 2021
54 K. Geiselhart et al.: Praxeologische Feldforschung – Reichweite, Tragweite, Importanz und Relevanz trachtet Schatzki „soziale Praktiken” als kleinste Einheit des Raumes verstanden wird. Damit hebt diese Definition dar- Sozialen, woraus sich vielfach der Impuls der empirischen auf ab, soziale Phänomene als Entitäten im praxeologischen Identifizierung speist. Das lohnenswerte an Schatzkis Vorge- Denken zu etablieren. Wie wir im Folgenden zeigen, birgt hen ist, dass er soziale Praktiken damit als empirische Analy- Schatzkis nominalistische Definition von „large social phe- sekategorien handhabbar macht und auch Hinweise auf deren nomena“ jedoch die Gefahr, dass Forschende, die sich an die- Einbindung in größere Arrangements bietet. sem Konzept orientieren, in der Empirie die Dynamik und In seinen jüngeren Arbeiten setzt sich Schatzki mit der Multiplizität der Praxis aus dem Blick verlieren. Frage auseinander, wie man mit seiner Theorie größere Zu- sammenhänge des Sozialen denken kann. Er entwickelt den 2.3 Kritik an Schatzkis Konzept der „Large social Begriff der „large social phenomena“ (Schatzki, 2016). Nach phenomena“ eigenen Aussagen reagiert Schatzki damit auf die Kritik, man könne sich mit seiner Praxistheorie nur Mikrophänomenen Dass Schatzki sein Denken als grundsätzlich ontologisches zuwenden. „Some theorists say that practice theory applies Unterfangen ansieht, mag vor dem Hintergrund des Wahr- best – or even only – to small social phenomena“ (Schatz- heitsrelativismus des „cultural turn“ befremdlich anmuten, ki, 2016, 4). Schatzki führt argumentativ Bourdieus sozia- doch tatsächlich ist sein Nominalismus, wie schon erwähnt, le Klassen an. Diese beispielsweise seien große Phänome- insofern zuträglich, als dass er Kategorien vorschlägt, die in ne, denn sie durchdringen und vermischen verschiedene von der empirischen Forschung der Orientierung dienlich sein Bourdieu beschriebene Felder (ebd., 5). Es fehle aber, so sei- können. Im Folgenden argumentieren wir aber, dass dieses ne Auffassung, ein Begriff davon, was große soziale Phä- ontologische Unterfangen Schatzkis an Schlagkraft verliert, nomene allgemein seien. Einen solchen Begriff entwickelt wenn er sich mit dem Begriff der „large social phenome- Schatzki: na“, wie er schreibt, „größeren“ Zusammenhängen des Ge- sellschaftlichen zuwendet. „A social phenomenon is anything that pertains to Zunächst ist fraglich, ob es überhaupt eines spezifischen human coexistence. Because social life transpires praxeologischen Begriffs großer Phänomene bedarf. Unseres as part of the plenum of practices, social pheno- Erachtens nach vermögen es praxeologische Ansätze durch- mena consist in slices, sectors, or sets of featu- aus, sich bedeutenden Dingen bzw. großen Sachen („big is- res of this plenum (of the bundles and constella- sues“) zuzuwenden, so etwa Giddens mit dem Machtbegriff tions that compose it). Social phenomena differ in der Ressourcenverfügbarkeit, Bourdieu mit den Lebensstilen the continuity, density, and spatial-temporal form oder Foucault mit Praktiken der Disziplinierung des Selbst: of the practices, arrangements, bundles, and rela- Damit beschreiben diese Autoren bedeutende Phänomene, tions among practices, arrangements, and bundles die überindividuell starken gesellschaftlichen Einfluss aus- that compose them. Two important features of this üben. Auch sind Praktiken nicht per se „klein“. Die Prak- plenum, and thus of social phenomena, are density tik des Verkaufens beispielsweise steht in Zusammenhän- and size (others are duration, shape, and qualitati- gen, die weit über das unmittelbare Umfeld ihrer jeweiligen ve complexity). Density is the number of activities, Ausführungen hinausreichen. Die Stärke von Praxistheorien entities, relations, practices, bundles, and constel- liegt gerade darin, empirisch die tatsächliche Institutionali- lations per unit of three dimensional space. As no- sierung einer Praktik, mittels Beobachtung konkreter, prak- ted, greater relational density marks the existence tischer, singulärer Ereignisse, die mit dieser Praktik verbun- of bundles and constellations. Size, meanwhile, is den sind oder durch die sie hervorgebrachten werden, zu be- the small-large spectrum of spatial extension. A schreiben. ,large‘ social phenomenon is one that is spatially Schatzki versucht sich jedoch an einer Ontologie von „lar- extensive, consisting in a far-flung constellation of ge social phenomena“2 . Damit impliziert er unseres Erach- practices or arrangements“ (Schatzki, 2001, 6) tens auch eine Suche nach derartigen Phänomenen. In der Schatzki ist der Ansicht, soziale Phänomene seien Aus- Empirie birgt das die Gefahr, dass die Praktik (bspw. die des schnitte, Sektoren oder Kombinationen von Bestandteilen Verkaufens) aus dem Blickfeld gerät und die Tendenz ent- eines größeren Plenums der Gesamtheit aller Praktiken- steht, das aus ihr resultierende Phänomen (den Markt) zu be- Arrangement-Bündel. Sie hätten eine Dichte, Größe, Dau- schreiben. Dabei entsteht die Gefahr, dass diese Phänomene er, Form und eine qualitative Komplexität bezüglich ihrer 2 Von einer Übersetzung von „large social phenomena“ in große Konstellationen. Das sind alles Beschreibungen, die sozia- soziale Phänomene sehen wir insofern ab, als dass „large“ nur unzu- le Phänomene verdinglichen und implizit dazu auffordern, reichend mit „groß“ übersetzt werden kann. „Large“ kann ebenfalls sie empirisch in diesen Eigenschaften (Dichte, Größe, Form mit umfangreich, weitreichend und reichlich übersetzt werden, so- und Komplexität) abzuschätzen. „Large social phenomena“ dass in diesem Ausdruck in gewisser Hinsicht auch eine (räumliche) werden damit explizit nach deren Größe bemessen, die ganz Ausdehnung mitschwingt. Dieser Konnotation werden wir im Fort- materiell als räumliche Ausdehnung verstanden wird, genau- gang der Argumentation mit den Begriffen Trag- und Reichweite so wie Dichte als Grad der Durchdringung des euklidischen Rechnung tragen. Geogr. Helv., 76, 51–63, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-51-2021
K. Geiselhart et al.: Praxeologische Feldforschung – Reichweite, Tragweite, Importanz und Relevanz 55 (Märkte) von ihrer performativen Herstellung abgekoppelt (Gibson-Graham, 2006). Im praxeologischen Sinne ist ent- werden, um sie als ein großes Prinzip (der Markt) zu reifi- scheidend, was tatsächlich geschieht. Dabei ist alles mul- zieren. Eine praxeologische Analyse müsste aber stattdessen tiskalar, denn von jedem praktischen Geschehen aus lassen danach fragen, ob die Konventionen der Praktiken im lokalen sich vielfältige Bezüge herstellen, oder wie Latour es aus- Kontext so zwingend sind, als dass nicht einzelne Individuen drückt: „Der winzigste Aidsvirus bringt uns vom Geschlecht darin auch Nischen und/oder individuelle Verfahrensweisen zum Unbewußten, von dort nach Afrika, zu Zellkulturen, zur entdecken. DNS, nach San Francisco“ (Latour, 2008, 8). Aber eine „On- Schatzki (2001) hingegen fordert dazu auf, von „large so- tologie“, wenn man es schon so nennen möchte, wird nicht cial phenomena“ auszugehen und diese kausal zu erklären. dadurch „flach“, dass man die Worte „lokal“, „regional“, Denn „the complexity of the action chain nexuses involved „global“ oder „mikro“, „meso“, „makro“ vermeidet; sie soll- requires the provision of overviews“ (ebd., 22). Auch wenn ten nur keineswegs als geographische A priori-Kategorien Schatzki hier keine strenge Form von Kausalität zwingen- angesehen werden. Es spricht nichts dagegen, ein empirisch der, ausschließlicher Wirkungen denkt, sondern unter Kau- auftauchendes Phänomen beispielsweise als „global“ zu be- salität lediglich eine wie auch immer geartete Einflussnahme zeichnen, wenn im Kontext der Untersuchung dadurch ei- versteht, so erinnert das doch an rationalistische oder intel- ne bestimmte Relation ausgedrückt werden kann. Die Ska- lektualistische Bestrebungen, Gesellschaft abzubilden und zu lenbegriffe machen durchaus Sinn, wenn sie nicht als meta- erklären. physische Setzungen der Analyse vorausgehend verstanden Hervorzuheben ist auch, dass Schatzki verschiedenste Ka- werden, sondern in ihrem Verweischarakter auf Erfahrun- tegorien aus ganz unterschiedlichen Theoriedebatten kom- gen gesehen werden, wie z. B. in politischen Prozessen oder biniert, die die Myriaden von kleineren Veränderungen be- in Planungsprozessen die Erfahrung städtischer Bedienste- schreiben sollen, die in ihrer Komplexität die Dynamik des te und Politiker*innen, dass gewisse staatliche Gesetzgebun- Wandels eines „large social phenomena“ letztlich ausma- gen bindenden Charakter haben. Die von Schatzki vorge- chen. Die Zusammenhänge von Handlungsketten („action schlagene Differenzierung von „large versus small“ löst da- chain nexus“) nehmen Gestalt an durch: „feedback“, „dome- mit keineswegs das Skalen-Dilemma, sondern führt stattdes- stication“, „cascades“, „bifurcations“, „governance“, „mo- sen weitgehend unspezifische Kategorien ein, die zudem ein nitoring“, „coordinating devices“, „coordinating discourses“ „larger“ oder „smaller“ assoziieren, wodurch sich im Zwei- und „material infrastructures“. Schatzki (ebd., 18) erläutert: felsfall sogar Größenvergleiche aufdrängen könnten. „Such concepts are needed for giving fuller causal explana- Schatzki betrachtet soziale Phänomene also als Einheiten. tions of the formation, perpetuation, and dissolution of lar- Seine Terminologie suggeriert Abgeschlossenheit und eine ge phenomena“. Auch wenn sein Hauptargument komplexi- gewisse Stabilität, die sich trotz beständigen Wandels ein- tätstheoretischer Natur ist, so bezieht Schatzki mit Diskur- stellt und schließlich auch wieder vergeht. Dies steht im Ge- sen, Artefakten und Governance auch Konzepte aus anderen gensatz zur empirisch feststellbaren Gleichzeitigkeit, Wider- Theoriedebatten mit ein. Auf der einen Seite ist das nach- sprüchlichkeit und Multiplizität von Praxis, in der Phänome- vollziehbar, da in komplexen Systemen tatsächlich multikau- ne in ihren Grenzziehungen und Identitäten immer divers und sale Einflüsse stattfinden und auch intentionale Strategien indeterminiert sind. In diesem Sinne wollen wir im Folgen- und handlungstheoretisch beschreibbare Prozesse durchaus den vorschlagen, sich empirisch auftauchenden Phänomenen denkbar sind. Dabei aber scheint Schatzki zu verkennen, dass nicht mittels eines Begriffs wie „large social phenomena“, die Feststellung derartiger Kausalitäten auf der Ereignisebe- sondern mit einer Frage zu nähern, nämlich der, ob es sich ne es nicht erlauben, Emergenzen auf der Phänomen-Ebene bei ihnen um eine große Sache („big issue“) handelt. zu erklären. Schatzki behauptet aber, dass so beispielsweise die Emergenz eines Netzwerks an Global Cities als Rückgrat 3 Ist es eine „große“ Sache? Möglichkeiten der der globalen Finanzmärkte verstanden werden kann (ebd., Analyse überindividueller Sachverhalte 22). Zusammenfassend bleibt eine Terminologie, die ausge- Im praxeologischem Verständnis geht es darum, ein empiri- hend von „large social phenomena“ deren Wandel mittels sches Phänomen in seiner Stellung zwischen Struktur und einer Reihe von Begrifflichkeiten zu ergründen sucht. Dies Handlung zu charakterisieren und somit die Grenzen sei- aber entspricht dem, was Schatzki selbst als skalares Denken ner Konventionalisierung und Institutionalisierung auszulo- kritisiert. Der Analyse sollten keine vorab definierten hier- ten. Hierzu soll zunächst das in der Einleitung formulierte archisch geordneten Kategorien, von Mikro zu Makro oder empirische Dilemma von Konstruktivismus und Objektivis- lokal bis global, bestimmte Charakteristika zu Grunde ge- mus adressiert werden. Zur begrifflichen Bestimmung empi- legt werden (Marston et al., 2005). Demnach bedarf es einer rischer Phänomene orientieren wir uns dabei an Latours Kon- flachen Ontologie, um die Effekte der Naturalisierung der- zept des „Quasi-Objekts“. artiger Skalen-Ontologien zu durchbrechen, beispielsweise die Auffassung, dass Diskurse um das „Globale“ den einzel- nen Menschen als handlungswirksames Subjekt entmachten https://doi.org/10.5194/gh-76-51-2021 Geogr. Helv., 76, 51–63, 2021
56 K. Geiselhart et al.: Praxeologische Feldforschung – Reichweite, Tragweite, Importanz und Relevanz 3.1 Quasi-Objekte: „matters of facts“ und „matters of erkennbar; er scheint zu existieren. In dem er benannt wird, concern“ einen Namen bekommt, tritt er als eine soziale Wirklichkeit in Erscheinung. Die wiederholt gelingende Ausführung be- Latour zufolge ist Praxis durch die Entstehung von Hybriden stimmter Praktiken der Beforschten zeugt schließlich von der charakterisiert. Für die Erklärung eines Phänomens, die im Angemessenheit und Gangbarkeit bzw. Viabilität der Vorstel- gesellschaftlichen Kontext auch als zufriedenstellend wahr- lungen von diesem Sachverhalt, wodurch sich diese Vorstel- genommen wird, reicht weder allein die naturwissenschaft- lungen schließlich etablieren. Durch diese Etablierung aber lich abgesicherte Erklärung dieses Phänomens (Realismus) entsteht die Illusion, dass hinter den diversen Vorstellun- noch die allein kulturwissenschaftliche Erklärung, die die- gen ein geschlossenes, wesenhaftes Objekt („matter of fact“) ses Phänomen als ein Produkt menschlichen Handelns er- steht. Es ist insbesondere die Tatsache, dass es unter einem klärt (Relativismus), aus. Obwohl die Wissenschaft sich ve- bestimmten Namen auftritt, die diese Reifizierung als Ob- hement um die Trennung dieser Perspektiven bemüht, wer- jekt bewirkt. In der Regel bleibt aber unerkannt, dass jede den solche Hybride aus Natur und Kultur alltäglich millio- Einzelvorstellung und jede einzelne darauf bezogene Praktik nenfach hergestellt. Latour bezeichnet derartige Hybriden als das Objekt jeweils nur auf bestimmte Teilaspekte reduziert „Quasi-Objekte“ (Latour, 2008, 70). Quasi-Objekte sind re- und in einer bestimmten Funktion hervorbringt. Diese Teila- al, weil sie zuvor konstruiert wurden. Sie eröffnen zwei Mög- spekte entsprechen der Art und Weise, wie die Beforschten lichkeiten eines kritischen Verständnisses bezüglich der An- von den gegebenen Bedingungen beeinflusst werden („con- gemessenheit der Konstruktion. Die Behandlung von Quasi- cerns“). objekten ist für Sozialwissenschaftler*innen schwierig, denn Für die empirische wissenschaftliche Analyse ist es dem- „auch sie ,sehen doppelt‘. Für die erste Form von Kritik zäh- nach nicht angemessen, die Wesenhaftigkeit von Objekten len die Objekte nicht; sie bilden nur die Leinwand, auf die des sozialen Lebens ergründen zu wollen. Das wäre eine Rei- die Gesellschaft ihren Film projiziert. Für die zweite sind die fizierung des Objekts als „matter of fact“. Vielmehr ist es Objekte jedoch so mächtig, daß sie die menschliche Gesell- sinnvoll für Forschende, eine Vorstellung von den Rändern, schaft gestalten; ausgeblendet wird dabei die gesellschaftli- den Säumen oder den Grenzen sozial als relevant wahrge- che Konstruktion der Wissenschaften, die diese Objekte her- nommener (Quasi-)Objekte zu entwickeln, so wie sie durch vorgebracht haben“ (Latour, 2008, 72 f.). Der Begriff der die Betroffenheit der Beforschten („concerns“) fixiert wer- Quasi-Objekte verweist auf die empirische Notwendigkeit, den. Derartige Grenzziehungen möchten wir im Folgenden zwei Effekte zugleich zu untersuchen: einerseits die kogniti- als Konkretisierung der Reichweite, der Tragweite sowie der ve Vorgängigkeit von Konzepten und andererseits die erleb- Importanz und Relevanz von Phänomenen beschreiben. bare Faktizität der mit diesen Konzepten bezeichneten Phä- Um die Entwicklung der vorgeschlagenen Begriffe zu il- nomene. Praxeologische Konzepte helfen, diese doppelte Be- lustrieren, kehren wir im weiteren Verlauf wiederholt zum wegung empirisch fassbar zu machen. eingangs verwendeten Beispiel des „Marktes“ zurück. An- Die doppelte praxeologische Bewegung von realistischer hand von Vignetten aus der Feldforschung zu Initiativen und und (de)konstruktivistischer Beschreibung lässt sich em- Organisationen, die versuchen sich marktförmigen Praktiken pirisch operationalisieren, solange kein Repräsentationsan- zu entziehen oder diese zu verändern, zeichnen wir die Rän- spruch erhoben wird. Das sich in der Empirie zeigende der, Säume und Grenzen des (Quasi-)Objektes „Markt“ nach. Quasi-Objekt sollte nicht wie ein „matter of fact“, sondern Die anonymisierten Beispiele sind einem in seiner Metho- als „matter of concern“ behandelt werden (Latour, 2004). dik praxistheoretisch ausgerichteten Forschungsprojekt ent- Demnach befragen Forschende einen Sachverhalt daraufhin, nommen, das unter der Fragestellung nach der Rolle zivil- ob und inwiefern ein benennbares Objekt des sozialen Zu- gesellschaftlicher Organisationen in Transformationsprozes- sammenhangs für die Beforschten „eine große Sache“ dar- sen hin zu einer wachstumsunabhängigen Wirtschaft am Bei- stellt, in welchem Maße sie sich auf dieses Objekt einstel- spiel Stuttgart in den Jahren 2015–2019 durchgeführt wurde len, sich anpassen und zu dessen Persistenz oder Verände- (Schmid, 2020). Untersucht wurden 24 Organisationen, dar- rung beitragen. Die praxeologische Aufhebung der Subjekt- unter Unternehmen, Vereine und Projekte, die eine explizit Objekt-Dichotomie verlangt eine Betrachtung der gegensei- soziale oder ökologische Zielsetzung, bis hin zur Verände- tigen Ko-Produktion der Beforschten mit dem Objekt (Markt rung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen selbst, ver- und Markteilnehmer*innen). In der Empirie stellt sich für folgen. Ergänzt durch Interviews, war die Forschung primär der*die Forscher*in also die Frage, wie der zu betrachtende ethnographisch ausgerichtet, sodass die im Folgenden ange- Zusammenhang im aktuellen situativen Setting emergiert. führten Vignetten als Zusammenfassung der im Kontext der Wie entstehen oder entstanden im Untersuchungsfeld be- Feldforschung gemachten und dokumentierten Beobachtun- stimmte Vorstellungen von und Umgangsweisen mit dem gen zu lesen sind. Während die darin geschilderten Sachver- fraglichen Phänomen? Erst die Etablierung einer gewissen halte direkt übernommen wurden, wurden die Ausformulie- kommunikativen Verbindlichkeit für bestimmte Aussagen rungen der Beobachtungen dem vorliegenden Artikel ange- über einen Sachverhalt und von entsprechenden darauf be- passt. Aufgrund des rein illustrativen Charakters der Beispie- zogenen Praktiken macht diesen Sachverhalt intersubjektiv le wird an dieser Stelle auf einen separaten Methodenteil ver- Geogr. Helv., 76, 51–63, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-51-2021
K. Geiselhart et al.: Praxeologische Feldforschung – Reichweite, Tragweite, Importanz und Relevanz 57 zichtet. Details zum Forschungsprojekt und seiner Methodo- genehmes Erlebnis oder als eine gelingende Erfahrung (De- logie können nachgelesen werden bei Schmid (2020). wey, 1980[1934]) beschrieben werden kann. Nicht nur die Quasi-Objekte müssen in der Reichwei- te bestimmt werden. Zur erfolgreichen Ausgestaltung einer 3.2 Reichweite Praktik (ökonomische Aktivität) muss deren Reichweite be- Mit Reichweite ist ein Einflussgebiet im Sinne der Aus- stimmt werden, d. h., die Begrenzung oder etwa Eindäm- Wirkung und Aus-Dehnung eines von den Beforschten wahr- mung durch das Quasi-Objekt (Markt) muss schrittweise er- genommenen Sachverhaltes gemeint. Dies kann einerseits fasst und vermessen werden. Dies findet sich in alltagsweltli- von dem*der Forscher*in3 zunächst konkret räumlich ausge- chen Redewendungen der Beforschten wie „Fangen wir erst dehnt gedacht werden und bezeichnet entsprechend das Ge- mal klein an“ oder „Einigen wir uns erstmal auf ein paar biet, in welches der Einfluss eines Phänomens in die Prakti- Grundsätze“. Mit Grund könnte der*die Forscher*in hier ken der Beforschten hineinreicht. Beforschte Personen ver- einen „Boden“ und eine pragmatische Territorialität assozi- suchen demnach die Reichweite der ihre Aktivitäten betref- ieren, von welcher etwas „aus-geht“. Bei gemeinschaftlichen fenden Phänomene (z. B. den Markt) möglichst genau zu Aktivitäten möchten die Beforschten etwas aus-gehen lassen, bestimmen, um sich dann wahlweise innerhalb oder außer- einen Einfluss begründen und möglichst weitreichende Fol- halb der angenommenen Konventionen dieses Phänomens gen zeitigen. Dies kann aber nur gelingen, wenn einschrän- (z. B. Preiskonkurrenz) zu verorten. Innerhalb, wenn es hilf- kende Einflüsse minimiert werden, Beforschte sich also mög- reich erscheint (weil andere Anbieter günstiger anbieten), au- lichst außerhalb der Reichweite ähnlicher schon etablierter ßerhalb aber, wenn beispielsweise Konkurrenz zu mächtig Praktiken – z. B. in ökonomischen Nischen – positionieren. wird, Regularien bestimmte Aktivitäten einschränken oder Es geht um die Erfahrung des Gestaltens und des Entde- bestimmte Praktiken innerhalb der Reichweite des Phäno- ckens als ein Hinausreichen in die Welt. Als ein Erleiden von mens als nicht sinnvoll gelten. Mit Konventionen sind hier- Rückschlägen, ein Experimentieren und schließlich um ei- bei Annahmen, Lehrmeinungen, in gewisser Hinsicht auch ne Freude am praktischen Erfolg. Die abschließende Freu- „common sense“ gemeint, also das, was „man“ denkt bzw. de daran, dass etwas „läuft“ bzw. gelingt, und die Beforsch- was nicht hinterfragt wird. Bei der Reichweitenbestimmung ten schließlich verstanden zu haben glauben, warum das so antizipieren die Beteiligten (Marktteilnehmer*innen) dem- ist, konsolidiert eine Erfahrung (vgl. das „flow“-Erlebnis, Cs- nach die Grenzen des Phänomens und wenden versuchswei- zíkszentmihályi, 2004; Dewey, 1980[1934]). Es vergrößert se Praktiken an, um diese Konstruktion auf ihren realisti- die Wahrnehmung der Reichweite der angewendeten Prakti- schen Gehalt zu prüfen. Gelingt diese Reichweitenfixation ken und kann affektiv als befriedigend und befreiend emp- auf kommunikativer Ebene, dann emergiert das Phänomen funden werden. Dieser Wahrheitseffekt der Bestätigung der für die Beforschten. In der Folge werden die projektierten Selbstwirksamkeit kann sich insbesondere in „communities Vorhaben nun entweder als umsetzbar oder unmöglich durch of practice“ in räumlicher, moralischer, ästhetischer Hinsicht die Beteiligten erkannt. als besondere oder kreative Atmosphäre (z. B. im Sinne einer Entsprechend werden die Beteiligten ihre Praktiken so ge- „industrial atmosphere“ nach Alfred Marshall, vgl. Ravix, stalten, dass sie sich partiell außerhalb bestimmter Konven- 2012) niederschlagen. tionen befinden, ohne dabei aber die Konventionen in Gän- Das Experimentieren mit unterschiedlichen Praktiken ze abzulehnen. Diese Konkretisierung der Reichweite des dient den Beteiligten zur Objektivierung der Grenzen ei- Phänomens eröffnet den Beforschten eine für ihre Aktivi- nes Phänomens, welche im Falle der Reichweite räumliche, tät charakteristische Nische. Diese Nische kann als lustvol- ästhetisch-metaphorische und moralisch-rechtliche Grenzen ler Antrieb erfahren werden und wird oft rückwirkend als sein können. Die Reichweite eines Phänomens ist stets An- Gründungsmythos verklärt, wie z. B. im „Mythos Garage“ lass für vielfältige Spekulationen, derer man eben nur me- (feuilletonistisch dazu vgl. Schmieder, 2014). Angetrieben taphorisch Herr wird. Dies zeigt sich beispielsweise darin, vom Willen, ein Problem zu lösen, kann sich eine Kreati- dass kapitalistische Marktdynamiken gerne mit der Meta- vität des Handelns entfalten (Joas, 1992). Die Übertretung pher der „unsichtbaren Hand“ beschrieben werden. Die Me- einer ursprünglich für gegeben angenommenen Reichweite tapher dient dabei als quasi-magisches Element der Objekti- kann als Pionier-Erfahrung gelten. Es ist das kreative Ele- vierung. Der Wirtschaftswissenschaftler Beckert (2016) hat ment von Praktiken – der Bewegung „outside the box“ –, auf die Kraft von Vorstellungsbildern und Erzählungen im welches im Kontext der „vita activa“ (Arendt, 1981) als an- Marktgeschehen hingewiesen. In rechtlicher Hinsicht kann die Reichweite entweder prohibitiv, also durch Verbote, Ta- 3 Die hier etwas künstlich anmutende Differenzierung zwischen bus, Paternalismus oder permissiv durch Legalisierung ein- Beforschten und dem*der Forscher*in dient dem Verständnis der gehegt (sprichwörtlich: durch den „langen Arm des Geset- drei aufgeworfenen Konzepte. Natürlich ist den Autor*innen be- zes“) oder erweitert werden. wusst, dass auch wissenschaftliche Praktiken eine Koproduktion Gesellschaftlich wird der potentiellen Uferlosigkeit der von Forschenden und Beforschten erzeugen und dass dieser Um- Reichweite eines Phänomens mit institutionalisierten Grenz- stand ebenfalls einer Reflexion bedarf. ziehungen als Einfassung und Umrandung begegnet. Die https://doi.org/10.5194/gh-76-51-2021 Geogr. Helv., 76, 51–63, 2021
58 K. Geiselhart et al.: Praxeologische Feldforschung – Reichweite, Tragweite, Importanz und Relevanz Furcht vor einer ungehinderten, unbemerkten Ausbreitung ternehmen formiert sind, bewegen sich die Prak- eines Phänomens stellte schon immer ein Schreckensszena- tiken der Zusammenarbeit zunächst außerhalb der rio dar, prototypisch verkörpert im berühmten Schmetter- Reichweite des „klassischen“ Marktes. lingseffekt (Lorenz, 1995), der im Prinzip nichts Anderes zum Ausdruck bringt, als die Unmöglichkeit zu einer rationa- An diesem Beispiel sozialökologisch ausgerichteter Un- len Abschätzung der Reichweite von Phänomenen oder des ternehmungen lassen sich Austauschbeziehungen beobach- eigenen Tuns zu kommen. So erklärt sich die Überraschung ten, die nicht auf Äquivalententausch (Praktiken des Tau- von Beforschten („Ich hätte nicht geahnt, dass es einmal so schens), sondern auf freiwilligem Geben, d. h. am intrin- weit kommt“), wenn sie mit unerwarteten Konsequenzen ih- sisch motivierten Mitwirken am Projekt des Anderen und res Tuns konfrontiert werden. Die biologische Metapher der vor allem auf Vertrauen, basieren (Praktiken des Schenkens, „Viralität“ (Sampson, 2012) verkehrt im Zeitalter der globa- Helfens, der Kooperation etc.). Im hier vorgebrachten Bei- len Digitalisierung genau diese Angst in eine Chance jen- spiel positionieren sich die Beforschten bewusst außerhalb seits bestehender Konventionen eines Phänomens, sich an- der Reichweite des „formalen Marktes“. Formell kann das fangs quasi unsichtbar ausbreiten zu können, um dann un- obige Beispiel als ein Übergang vom Äquivalententausch zur vermittelt mit hoher Popularität auf den Plan zu treten. freiwilligen Gabe analysiert werden. Durch die Verschiebung Andererseits haben Beteiligte oft ein erstaunlich deutli- von Praktiken des Tauschens zu Praktiken des Gebens entzie- ches Verständnis über die mögliche Reichweite eines Phä- hen sich die Beforschten der rechtlichen, moralischen, ratio- nomens, die keineswegs auf vorher beschriebenen Auslo- nalen und materiellen Reichweite des Phänomens „Markt“. tungsversuchen einer konkreten Reichweite (z. B. „Markt- Die Protagonisten des Beispiels treten ohne die Bedingungen durchdringung“, „Benchmark-Analyse“) beruhen. Bei den und Unterstützungen rechtlicher Rahmenbedingungen mit- Beforschten kann dann eine Als-ob-Haltung (Beckert, 2016, einander in Beziehung und bewegen sich damit außerhalb 10) festgestellt werden. Beckert (2016, 9) hat dies als „fikti- der Reichweite bürokratischer Praktiken (die in Schatzkis ve Erwartungen“ bezeichnet. Dies ist für Marktkapitalismus Terminologie als Teil des „large social phenomena“-Staats insofern von Bedeutung, als dass es vorkommt, dass Risiken beschrieben werden könnten). Moralisch treten sich die Be- eingegangen werden, die eigentlich nicht kalkulierbar sind. forschten nicht als Dienstleister und Dienstnehmer gegen- Es ist keine bloße Risikofreudigkeit im Sinne eines „Wir über, wobei letzterer mittels Geld seine „Schuld“ vergelten schauen mal, was passiert“, sondern mittels Kalkulation, Ab- könnte, sondern als Teile einer (nicht definierten) Gemein- wägung und Berechnung werden Unsicherheiten (vermeint- schaft, in der Hilfe (statt Arbeit) nach Bedarf und Möglich- lich) eingedämmt. Die prognostizierte Reichweite stellt sich keiten gegeben (statt geleistet) werden (ähnlich beziehen sich hier als „Blase“ („bubbles“) dar, die dann in kritischer Zu- auch Mitglieder von Familienkreisen weitgehend außerhalb spitzung, d. h. in einer Krise, platzen kann (zur Soziologie der Reichweite von Praktiken des Äquivalententausches auf- von bubbles vgl. Tapia, 2004; Goodnight und Green, 2010; einander). Die Beforschten bewegen sich zudem außerhalb Abolafia, 2010). der Marktrationalität des Geldverdienens, indem Teilhabe Anschaulich wird das bisher Gesagte in einem konkreten und Unterstützung gemeinsamer Ziele oder die einfache Tat- empirischen Beispiel aus der Forschung zu alternativwirt- sache des Miteinander-etwas-Machens im Mittelpunkt ste- schaftlichen Praktiken: hen. Zuletzt entziehen sich die Protagonisten der Reichwei- te des Marktes als Mechanismus der Ressourcenallokation. Paul, ein Sozialunternehmer und Tüftler, entwi- Da die Zusammenarbeit finanziell nur schwer hätte vergolten ckelt, konstruiert und vertreibt langlebige, reparier- werden können, ermöglicht erst das Agieren außerhalb der bare und möglichst fair gehandelte Leuchtmittel, praktisch angenommenen Reichweite des Phänomens Markt die dem Wegwerfmodell und der Kostenexternali- die Zusammenarbeit als solche. sierung herkömmlicher Produkte entgegenstehen. Die beobachteten Praktiken finden in einem Grenzbereich Ein weitgehend funktionstüchtiger Prototyp exis- des „klassischen“ Marktes statt und bringen diesen dadurch tiert bereits. Über ein Netzwerk steht er in Kon- in ständige Bewegung. Das Quasi-Objekt des „klassischen takt mit einer Gruppe um Andreas, die sich mit Markts“ dringt der Entwicklung autarker Wohnhäuser auseinan- in die Praktiken alternativwirtschaftlicher Organisationen dersetzt. Paul erkennt in diesem Projekt seine ei- ein. Dies geschieht erratisch, d. h. nicht einem festgelegten genen Interessen wieder. Inspiriert bietet er seine Muster folgend. Dies tritt beispielsweise ein, wenn Organi- Unterstützung an und übernimmt die Installation sationen kurzfristig Liquidität brauchen und sich aus Aus- von Leuchtmitteln beim Prototyp. Im Laufe die- tauschbeziehungen (temporär) zurückziehen, die nicht oder ser Kooperation gibt es weder Verträge noch fin- nur bedingt monetär vermittelt sind. Sie fokussieren dann det ein Austausch von Geld statt. Vielmehr zeich- eher auf solche, die stärker gemäß „klassisch marktförmi- nen sich diese Austauschbeziehungen durch frei- gen“ Tauschlogiken organisiert sind. Somit findet eine Be- williges Geben und Vertrauen aus. Obwohl bei- wegung von Praktiken des Gebens und des freien Kooperie- de Projekte durch Organisationen rechtlich als Un- rens hin zu Praktiken des geldvermittelten Tauschens statt. Geogr. Helv., 76, 51–63, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-51-2021
K. Geiselhart et al.: Praxeologische Feldforschung – Reichweite, Tragweite, Importanz und Relevanz 59 Gleichzeitig reichen zentrale Praktiken einiger alternativ- beispielsweise um Führungsaufgaben oder die Übernahme wirtschaftlicher Organisationen, wie beispielsweise Reparie- einer vereidigten Tätigkeit (Verfassungsschwur, hippokrati- ren, Selbstmachen oder Teilen (von Wissen, Artefakten etc.), scher Eid etc.). Die Tragweite von Phänomenen des Lebens in maßgeblich durch Praktiken „marktförmigen“ Produzie- und des Tods zeigen sich in Praktiken der Geburts- oder Ster- rens, Konsumierens und Tauschens vermittelte Räume hin- behilfe oder in Praktiken der Unfallvermeidung. Mittels die- ein. Beispielsweise spiegelt sich die zunehmende Verbrei- ser extremen oder alltagsweltlich hervorgehobenen Prakti- tung von Praktiken des Reparierens – insbesondere im Rah- ken wird die transformative Wirkmächtigkeit der Tragwei- men sog. Repaircafés und Offenen Werkstätten – in der Ver- te besonders deutlich. Ähnlich gilt dies z. B. für Praktiken schiebung, Modifikation und Adaption globaler Wertschöp- der Investition von Wagniskapital, was ggf. – metaphorisch fungsketten wie beispielsweise im Falle des (modular kon- schon als vermeintlich metaphysische Tragweite angedeutet struierten) Fairphones wider. Auch Praktiken des Spendens – durch „business angels“ abgemildert werden kann. (expendere: auszahlen, ausgeben) ermöglichen das Ausbre- Bei der Tragweite geht es ferner um praktische Sinnstif- chen aus Konventionen dessen, was als „klassische Markt- tung. Praktisch ist diese Sinnstiftung, da sie auf ein Ziel förmigkeit“ angenommen wird. Diese bringen in zweiter In- hin ausrichtet und als teleo-affektive Orientierung dient. stanz aber neue Quasi-Objekte hervor, wie beispielsweise die Dies kann ein Gedanke sein, der „trägt“, oder eine Absicht, Spendenmärkte der humanitären Hilfe (Silk, 2004). die sich auf eine „Leuchtturm-Initiative“ ausrichtet, die mit Mit der Analysekategorie Reichweite können Forschen- Praktiken in Verbindung steht. Dazu eine allegorische Erläu- de also danach fragen, wie die Beforschten die materiel- terung: Um im Winter an das andere Ufer eines zugefrorenen len, diskursiven und moralischen Grenzen eines Phänomens Sees zu kommen, ohne diesen zu umrunden, muss die Dich- bestimmen und gestalten. Anstatt also Markt als gegebe- te der Eisdecke geprüft werden. Zur Feststellung der Trag- nes und damit verdinglichtes Phänomen anzunehmen, richtet weite (im Bild: eines zugefrorenen Sees) muss die Tragfä- sich der hier vorgeschlagene Blick darauf, wie weit die mit higkeit (im Bild: die Eisdecke) eines Ziels (im Bild: an das dem Phänomen Markt assoziierten Praktiken des geldver- andere Ufer kommen, ohne den See zu umrunden) bestimmt mittelten Äquivalententausches in die konkreten empirischen werden. Nun lässt sich beobachten, wie die Beforschten die Zusammenhänge hineinreichen. Ebenso kann von Interesse Tragweite eines Phänomens abschätzen. Scheint es ein ge- sein, alternativen Formen des wirtschaftlichen Miteinander- fährliches Spiel zu sein, wagen sie sich nicht zu weit raus in-Beziehung-Tretens zu folgen und zu untersuchen, wie oder zeigen sich mutig, „fassen sich ein Herz“ und beken- weit die Praktiken des Teilens, Schenkens, Helfens in weite- nen sich zur Offenheit des Ausgangs. Zweifel, Unschlüssig- re soziale Zusammenhänge hinausreichen. Damit werden die keit und Unglauben gefährden die Tragweite eines Vorha- Grenzen und Säume von Quasi-Objekten als „matter for con- bens. In der Forschungspraxis stellt sich folglich die Frage, cern“ sichtbar, ohne diese als „matter of fact“ festzuschrei- ob Modelle oder Interpretationen für die Beteiligten tragen. ben. Entscheidend ist dabei, was von den Beforschten als „funda- mental“, „solide“ oder „profund“ angesehen wird. Konzep- 3.3 Tragweite te, Pläne und Interpretationen werden auf ihre Tragfähigkeit hin „abgeklopft“. Dies gilt ebenso, wenn beispielsweise die Unter Tragweite wird eine Perspektive auf die folgenreiche Tragweite des „Marktes“ angezweifelt wird. „Markttauglich- Auswirkung von Praktiken verstanden. Dabei stellt sich für keit“ beschreibt die Fixation der Tragweite eines Produkts den*die Forscher*in die Frage, was das Phänomen den Be- oder Prototypen. forschten abverlangt und wie weit es sie trägt, wenn sie sich Die Tragweite ist ein wichtiges Motiv in narrativen Prak- darauf einlassen. Ebenfalls aber auch bezüglich der Rezipro- tiken, die alternativwirtschaftliche Organisationen begleiten zität, d. h., es stellt sich die Frage, was es für Andere bedeu- und motivieren, wie beispielsweise im Ausspruch „think glo- tet, wenn sich jemand auf ein Phänomen einlässt (z. B. die bal, act local“ zu vernehmen ist. Der (an konkreten Orten Übernahme einer verantwortungsvollen Aufgabe, eine neue stattfindenden) Ausführung von Praktiken wird eine große berufliche Position). Solche Phänomene tangieren dabei die Tragweite im Sinne einer Auswirkung zugeschrieben, die Sphäre der Moral und Ethik (Leitfrage: Welche Verantwor- diese auf als global angenommene Phänomene (z. B. Klima- tung trägt man für andere Personen, Tiere und die Umwelt?) wandel, Biodiversität, Hungersnöte etc.) hat. Tragweite kann und der Politik (Leitfrage: Welche Verantwortung ist man be- auch die teils widersprüchliche Spannung zwischen Dezen- reit zu übernehmen und zu tragen?). tralisierung, Regionalisierung, Lokalisierung auf der einen Die Tragweite eines Phänomens lässt sich ferner als ihre Seite und der Adressierung globaler Problemstellungen auf transformative Wirkmächtigkeit beschreiben. Erfordert das der anderen Seite beleuchten. Praktiken der Selbstversorgung Phänomen eine Veränderung oder Verwandlung der Betei- erlauben es beispielsweise, sich von öffentlichen Infrastruk- ligten? Dies wird insbesondere deutlich, wenn in bestimm- turen unabhängig(er) zu machen. Meist geht es dabei um Mi- te Aufgaben „hineingewachsen“ werden muss oder erwar- nimierung der mit der Versorgung verbundenen Kosten, d. h. tet wird, dass eine Persönlichkeitsentwicklung für die Über- einer Abgrenzung von geldbasierten Austauschpraktiken, für nahme bestimmter Aufgaben erwartet wird. Hierbei geht es https://doi.org/10.5194/gh-76-51-2021 Geogr. Helv., 76, 51–63, 2021
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