Diplomatie zwischen Karies und Pulpa
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wissenschaft und fortbildung Anatomie und Funktion des Pulpa-Dentin-Komplexes Die Aufgaben der Zahnpulpa Die Zahnpulpa ist ein Bindegewebe im Inneren des Zahns (Abb.1a). Die umge- benden Zahnhartsubstanzen Schmelz, Dentin und Zement schirmen sie von der Mundhöhle ab. Sie beherbergt verschie- dene Zellarten wie Fibroblasten, Immun- Diplomatie zellen und Odontoblasten, wobei letztere eine mechanische und funktionelle Ver- bindung zwischen Pulpa und tubulärem Dentin herstellen (Abb.1b). Zu den ele- zwischen mentaren Funktionen des Pulpa-Dentin- Komplexes gehören die Dentinbildung (formative Funktion), die Versorgung des Gewebes mit Sauerstoff und Nähr- Karies und stoffen (nutritive Funktion), die Reizwahr- nehmung (sensorische Funktion) sowie die Immunabwehr (defensive Funktion). Pulpa Mit ihren Fähigkeiten zur Reparatur und Regeneration liefert die vitale Pulpa eine wichtige Voraussetzung für die langfris- tige Zahnerhaltung [2–4]. So schützt nicht zuletzt die Wahrnehmung mechanischer, Wie weit kann man gehen? thermischer und mikrobiologischer Reize Ein Beitrag von Dr. Lisa Fischer, Prof. Dr. Wolfgang den Zahn vor vielfältigen Schäden. Die Buchalla und Priv.-Doz. Dr. Matthias Widbiller, Erhaltung der Pulpavitalität nimmt daher einen hohen Stellenwert in der modernen Regensburg Zahnmedizin ein. Die eigenen Zähne zu erhalten, ist in der Regel ein gemeinsames Ziel Sensibilität und Vitalität von Patienten und Zahnarzt. Dieses Bestreben zeigt sich auch darin, Die sensorische Funktion der Zahnpulpa dass immer mehr Menschen mit einer höheren Anzahl an eigenen dient dem Schutz des Zahns. Kommt es Zähnen älter werden [1]. Maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt zu einem Reiz, wie beispielsweise durch sind ein gestiegenes Mundgesundheitsbewusstsein sowie tech- Kälte, wird dieser über afferente Fasern nische Fortschritte, die ein minimalinvasives und präzises Vorgehen des N. trigeminus weitergeleitet. Neben ermöglichen. Essenziell für die langfristige Erhaltung der Zähne der Temperaturwahrnehmung steuern ist es jedoch, die Pathologie von Erkrankungen der Hartgewebe die Nerven die Durchblutung im Pulpa- und des Parodonts zu verstehen, diese frühzeitig zu erkennen und gewebe, welche der Versorgung mit ihr Fortschreiten zu verhindern. Individuelle Prophylaxekonzepte Nährstoffen und Sauerstoff sowie der sowie substanzschonende Therapieansätze spielen dabei eine Aufrechterhaltung des Gewebedrucks entscheidende Rolle. Ziel ist einerseits die Schonung von Hartsub- dient. Durch den erhöhten intrapulpalen stanz, wodurch die mechanische Stabilität bewahrt wird, sowie das Druck werden potenzielle Schadstoffe in Erhalten der Pulpavitalität. In der Kariestherapie beeinflussen die den Tubuli hydrostatisch am Eindringen in Entscheidung, wie viel kariös verändertes Gewebe entfernt werden die Pulpakammer gehindert [2]. muss, und der Umgang mit der verbleibenden Substanz die Über- Eine gesunde Pulpa zeigt sich klinisch lebenschancen der Pulpa. Für die erfolgreiche klinische Umsetzung insbesondere durch eine positive Kälte- sind Kenntnisse über die Biologie der Zahnpulpa, den optimalen sensibilität. Dieses zentrale diagnostische Endpunkt der Kariesexkavation und die Wirkungsweisen bioaktiver Kriterium gibt indirekt Information über Werkstoffe zur indirekten Überkappung notwendig. die Funktion afferenter Nervenfasern und lässt somit Rückschlüsse auf die Vitalität zu. 46 BZB März 2021
wissenschaft und fortbildung abgeschlossen. Darüber hinaus spielt die Apposition von Dentin eine wichtige Rolle in der pulpalen Abwehr, beispielsweise von kariogenen Mikroorganismen. Hier bilden die Odontoblasten reizinduziert soge- nanntes Tertiärdentin und grenzen das Pulpagewebe vom Ort der Schädigung ab (defensive Funktion). Permeabilität Pulpa und Dentin sind strukturell und funktionell eng miteinander verbunden Abb. 1 (a) Histologische Darstellung des Pulpa-Dentin-Komplexes. Dem tubulären Dentin liegt der Odontoblastensaum auf (weißer Stern). Das Bindegewebe der Pulpa ist und als biologische Einheit zu betrach- von Gefäßen (graue Pfeilspitze) und Nervenfasern durchzogen (schwarze Pfeilspitze). ten [6]. Obwohl Dentin selbst keine pul- (b) Darstellung von Odontoblasten im Rasterelektronenmikroskop (Abbildung: Samm- palen Zellkörper enthält, ist es von Odon- lung Prof. Dr. H. Schweikl). Die aneinandergereihten Zellen strecken ihre Fortsätze in die Dentintubuli [40]. toblastenfortsätzen durchzogen und beherbergt somit zelluläre Strukturen [6]. Über die zahlreichen Zellfortsätze in den Wenn eine Sensibilitätsprobe positiv aus- lösbare diagnostische Unsicherheit, die im Tubuli besteht eine enge Kommunikation fällt, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit Einzelfall bedacht werden sollte. zwischen beiden Geweben. Dabei kann auch eine vitale und damit regenerati- das Dentin mit seiner Vielzahl an Tubuli onsfähige Pulpa vor. Entscheidend für Dentinbildung keinesfalls als undurchlässige Substanz die Vitalität des Pulpagewebes ist darü- Dicht nebeneinander angeordnet liegen betrachtet werden. Aufgrund des radia- ber hinaus die regelrechte Durchblutung, die Odontoblasten der Dentinoberfläche len Verlaufs der Dentintubuli finden sich die im Rahmen der Routinediagnostik auf und strecken lange Zellfortsätze diese pulpanah in hoher und peripher in nicht überprüft werden kann. Diese wird (Tomes’sche Fasern) in kleinen Kanälen geringerer Dichte (Abb.2a und b). Die von zahlreichen Arteriolen und Veno- (Dentintubuli) radial bis hin zur Schmelz- Permeabilität des Dentins für Bakterien len aufrechterhalten, die sich im Sinne Dentin-Grenze. Sie sind in der Lage, tubu- oder chemische Reize steigt somit mit zu- eines terminalen Endstromgebiets in läres Dentin zu bilden, indem sie eine Kolla- nehmender Pulpanähe an (Abb.2c) [7]. Je einen verzweigten Gefäßplexus aufglie- genmatrix mit einer Vielzahl von Proteinen näher an der Pulpa eine Noxe wirkt, umso dern. In speziellen Situationen, wie z.B. sezernieren, die anschließend minerali- mehr Zellfortsätze sind direkt betroffen nach einem Zahntrauma, kann die Pulpa siert [5]. Beim unter physiologischen Be- und umso stärker ist die zu erwartende aufgrund temporärer Einschränkungen dingungen produzierten Dentin (formative Reaktion. Jedoch können auch pulpaferne der Reizwahrnehmung vital, aber nicht Funktion) wird zwischen Primärdentin, das Einflüsse histologische Veränderungen in kältesensibel sein. Ähnliches ist auch bei während der Zahnentwicklung gebildet der Pulpa bewirken. Als Ursache dafür betagten Patienten zu beobachten, wobei wird, und dem Sekundärdentin, welches wurden bisher weitgehend Flüssigkeitsbe- die Reizwahrnehmung häufig durch einen erst nach dem Zahndurchbruch entsteht, wegungen in den Dentintubuli angesehen, altersbedingt verdickten Dentinmantel er- unterschieden. Dagegen ist die Zahn- welche mutmaßlich von den afferenten schwert ist. Hier besteht eine klinisch nicht schmelzbildung mit dem Zahndurchbruch Neuronen des N. trigeminus detektiert Abb. 2 (a) Hohe Zahl an Tubuli in pulpanahem Dentin. (b) Geringere Tubulidichte in pulpafernem Dentin. (c) Mit abnehmender Dentin- dicke steigt die Permeabilität an. Insbesondere das Ätzen der Dentinoberfläche macht es durchlässig; Abbildung modifiziert aus [42]. BZB März 2021 47
wissenschaft und fortbildung störung der Zahnhartsubstanzen auf Art Sensibilitätsprobe Perkussion Spontan- Vital- schmerz erhaltung häufigem Einwirken von sauren Stoff- wechselprodukten oraler Mikroorganis- Reversible Pulpitis: positiv, ggf. erhöht, negativ nein indiziert initial nicht reizüberdau- men. Hierbei spielen saccharolytische ernd Bakterien eine zentrale Rolle, die als Biofilm auf den Zahnoberflächen haften Reversible Pulpitis: positiv, erhöht, negativ oder nein indiziert mild reizüberdauernd leicht positiv und in der Lage sind, aus fermentierbaren Kohlenhydraten Energie zu gewinnen und Irreversible Pulpitis: erhöht, wärme- negativ oder leicht i.d.R. kontra- ihren Stoffwechsel in saurer Umgebung moderat empfindlich, deutlich leicht positiv indiziert reizüberdauernd aufrechtzuerhalten (Abb.3a). Das Vor- handensein azidogener Mikroorganismen Irreversible Pulpitis: stark erhöht, wärme- stark positiv, massiv kontraindiziert schwer empfindlich, massive berührungs- sowie von Saccharose als bevorzugtes Schmerzempfindung empfindlich Substrat korreliert mit der Entstehung von Karies [11–13]. Zuckerhaltige Er- Tab. 1 Formale Einteilung der Pulpitis [10]. nährung fördert die Vermehrung die- ser Mikroorganismen und bewirkt über und fortgeleitet werden (hydrodyna- Klinische Diagnostik der Pulpitis einen pH-Abfall die Demineralisation der mische Theorie). Mittlerweile geht man Voraussetzung für die erfolgreiche Vital- Schmelzoberfläche [14]. Dabei fördert jedoch davon aus, dass Odontoblasten mit erhaltung ist eine gesunde, regenerations- insbesondere eine häufige und regelmä- Hilfe ihrer Fortsätze lokale Reize (Präpa- fähige Pulpa. Eine präzise und zielführende ßige Nahrungszufuhr von niedermole- ration, Trauma, Säuren, Karies etc.) direkt klinische Diagnostik ist deshalb von gro- kularen Kohlehydraten nicht nur die wahrnehmen können [6,8]. ßer Bedeutung. Produktion organischer Säuren, sondern Die Entzündung der Pulpa ist eine insbesondere auch eine Dysbiose der vie- Reparatur und Regeneration Abwehrreaktion gegen unerwünschte len im Biofilm vorhandenen Bakterien hin Grundsätzlich kann der Verlust von Zahn- Reize, zum Beispiel in Form von Mikro- zu solchen Spezies, die Kohlenhydrate ef- hartsubstanz als irreversibel betrachtet organismen einer Karies [2]. Dabei treten fizient verstoffwechseln und speichern, werden und macht einen restaurativen initial lokale Gewebeveränderungen auf, massiv organische Säuren produzieren Ersatz in vielen Fällen unumgänglich. die sich bei anhaltendem Reiz zunächst und auch unter sauren Bedingungen Nichtsdestotrotz ist der Pulpa-Dentin- auf die Kronenpulpa und schließlich auf Stoffwechsel betreiben können. Komplex bis zu einem gewissen Maß das gesamte Pulpagewebe ausbreiten. zur Regeneration fähig. Kommt es zu Während die Pulpa aus klinischer Sicht Ausprägung kariöser Defekte einem Reiz, zum Beispiel durch bakteri- bislang als Ganzes beurteilt und lediglich Anhand klinischer und radiologischer Ge- elle Stoffwechselprodukte bei einer bis zwischen der reversiblen und irreversi- sichtspunkte differenziert man verschie- ins Dentin reichenden Karies, werden die blen Pulpitis unterschieden wurde, ist dene Formen von der initialen bis hin zur Odontoblasten aktiv und verengen die davon auszugehen, dass es einen fließen- profunden Karies. Initiale Läsionen sind Dentintubuli zunächst durch Ausfällung den Übergang zwischen diesen beiden zum Teil schwer detektierbar und prin- von Kalziumphosphatkristallen (Sklero- Zuständen gibt [9]. Die verschiedenen zipiell reversibel [11]. Dahingegen sind sierung). Im nächsten Schritt bilden sie Entzündungsstadien gehen mit charakte- fortgeschrittene Schäden an Schmelz Reaktionsdentin (Tertiärdentin), welches ristischen klinischen Symptomen einher, und Dentin in der Regel nicht reversi- in seiner tubulären Anatomie dem Primär- was hinsichtlich der Indikationsstellung bel und hinterlassen Kavitäten, die nicht und Sekundärdentin ähnelt [6]. vitalerhaltender Maßnahmen von großer mehr von Biofilm befreit werden können, Bei anhaltenden oder starken Reizen Bedeutung ist (Tab.1). So ist das Regene- sodass hier restaurativ vorgegangen wer- kann die Odontoblastenschicht jedoch zer- rationspotenzial bei ausgeprägter Pulpitis den muss. stört werden, wodurch die Möglichkeit zur gering und eine vitalerhaltende Therapie Eine initialkariöse Läsion beginnt im Bildung von Reaktionsdentin verloren geht. nicht sinnvoll. Zahnschmelz und ist durch eine erhaltene In diesem Fall wandern mesenchymale Oberflächenschicht sowie einen daran Stammzellen des Pulpagewebes an den Lä- angrenzenden Läsionskörper gekenn- Karies sionsort, differenzieren zu odontoblasten- zeichnet. Klinisch zeigt sich die Initial- ähnlichen Zellen und sezernieren Hartge- Der Ursachenkomplex karies als „white spot“ mit einer rauen, oft webe, das als Reparaturdentin bezeichnet Karies ist eine häufig vorkommende Er- weißlich veränderten Oberfläche. Hier- wird [6]. Dieses ist in der Regel frei von krankung, deren Entstehung auf einer von abzugrenzen sind arretierte Läsio- Tubuli und dient als aktiver Reparaturme- Vielzahl unterschiedlicher Faktoren be- nen, die sich durch eingelagerte Substan- chanismus der Pulpa. ruht. Prinzipiell basiert die kariöse Zer- zen bräunlich verfärben („brown spot“). 48 BZB März 2021
wissenschaft und fortbildung Vollständige oder selektive Exkavation Die vollständige Kariesexkavation hat zum Ziel, zerstörtes Dentin sowie bakteriell infiziertes und erweichtes Gewebe voll- ständig zu entfernen, wobei der Endpunkt in einer gesunden Dentinoberfläche zu sehen ist. Mangels zuverlässiger Hilfsmit- tel zur Identifikation bakteriell infizierten Dentins wurden ursprünglich klinische Kriterien für den Exkavationsendpunkt definiert wie das klassische „Sondenklir- ren“ oder die harte Oberfläche der Kavi- tätenwände. Basierend auf der Annahme, dass die Entfernung aller Mikroorganis- men Voraussetzung für die Vitalerhaltung sei, endet die vollständige Kariesexkava- tion bei tiefen Läsionen nicht selten mit einer Eröffnung des Pulpenkavums. Die Exposition der Pulpa am Boden einer kariösen Läsion ist kritisch zu sehen, da bereits von einer entzündlich verän- derten Zahnpulpa auszugehen ist und vorhandene Mikroorganismen direkt in das Pulpagewebe eindringen können. Eine Vermeidung der Eröffnung, die zudem mit der Zerstörung anatomischer Struk- Abb. 3 (a) Brown & Brenn-Färbung von kariös verändertem Dentin. Oberflächlich stellt turen wie dem Odontoblastensaum ein- sich ein Biofilm dar (weißer Stern) und die Bakterien (dunkelrot gefärbt) dringen ent- hergeht, verbessert die Prognose für die lang der Dentintubuli in die Tiefe. (b) Extrahierter Zahn mit pulpanaher Karies. Neben den zerstörten Schmelz- und Dentinarealen ist die erweichte Masse im Zentrum der Vitalerhaltung [15]. Dieses Prinzip, das seit Läsion deutlich erkennbar. Die weiße Linie und der weiße Kasten zeigen die Schnitt- Jahrzehnten erfolgreich im Rahmen der ebene und den in (a) histologisch dargestellten Bereich. zweizeitigen Kariesexkavation zum Einsatz kommt, liegt auch der selektiven Karies- exkavation pulpanaher Karies zugrunde. In diesem Stadium beinhaltet die Thera- bakterielle Toxine, die bis an die Schmelz- Entsprechend empfehlen die Deutsche pie Mundhygieneinstruktionen, eine Dentin-Grenze diffundieren, peritubuläre Gesellschaft für Endodontologie und zahn- Ernährungsoptimierung sowie lokale Präzipitationen (sklerotische Zone) sowie ärztliche Traumatologie (DGET) sowie die Fluoridierungsmaßnahmen. Mit dem die Bildung von Reizdentin initiieren. Deutsche Gesellschaft für Zahnerhaltung reduzierten Konsum niedermolekula- Ein häufiger und intensiver pH-Abfall (DGZ) bei tiefen kariösen Läsionen die rer Kohlenhydrate fällt der Plaque-pH führt letztlich zur Destruktion der Ober- Schmelz- und Dentinkaries in der Periphe- weniger häufig und weniger intensiv, fläche und damit insbesondere im weni- rie vollständig zu entfernen, im pulpanahen sodass der Schmelz seltener und we- ger mineralisierten Dentin zum schnellen Bereich aber erweichtes Dentin zu belas- niger intensiv demineralisiert wird und Voranschreiten der Karies. Mikroorganis- sen, um eine Eröffnung der Pulpa zu ver- längere Intervalle für die Remineralisa- men und ihre Stoffwechselprodukte drin- meiden [16,17]. Diese Vorgehensweise wird tion verbleiben. Infolgedessen können gen in die Dentinkanälchen ein (Zone der als selektive Kariesexkavation bezeichnet. Läsionen arretieren, oberflächennahe Penetration) und die Zone der Demine- Mit der nachfolgenden Restauration wird Porositäten remineralisieren und wei- ralisation dehnt sich ungehindert aus, so- die Nahrungszufuhr für die im Dentin noch tere Entkalkungsvorgänge in der Tiefe lange die Ursachen nicht beseitigt werden vorhandenen saccharolytischen Mikro- (Zone der Demineralisation) verhindert (Abb.3a). Peripher des Läsionszentrums organismen unterbunden, sodass diese werden. Fluoride greifen ebenfalls in das bildet sich eine erweichte Masse, die sich keinen Stoffwechsel mehr betreiben und Geschehen ein, indem sie das Gleichge- vorwiegend aus abgestorbenen Mikro- entsprechend keine organischen Säuren wicht von Demineralisation in Richtung organismen, Stoffwechselprodukten und mehr bilden können. Dazu kommt, dass ein Remineralisation verschieben. Bereits proteolysierten organischen Bestandtei- großer Teil dieser Bakterien aufgrund der in diesem Stadium (white spot) können len zusammensetzt (Abb.3b). geänderten Umweltbedingungen abstirbt. BZB März 2021 49
wissenschaft und fortbildung Da die Eröffnung der Pulpa bei pulpafernen kariösen Defekten unwahrscheinlich ist, sollte hier nach wie vor eine vollständige Kariesexkavation erfolgen. Ziel der pulpanahen selektiven Karies- exkavation ist es, die Pulpa vital zu er- halten, indem der Odontoblastensaum intakt belassen wird und die kariogene Aktivität von im Dentin verbliebenen Bakterien nahezu vollständig reduziert wird. Die in vielen Fällen neu gebildete Zahnhartsubstanzbarriere aus Tertiärden- tin schützt die Pulpa zusätzlich vor den eingeschlossenen Mikroorganismen und potenziell schädlichen Bestandteilen der Restaurationswerkstoffe. Zudem kommt es zur Remineralisation der noch weichen pulpanahen Dentinbezirke, insbesondere durch Ionen aus dem Dentinliquor. Die mechanische Stabilität der anschließen- den Restauration wird kontrovers disku- tiert, jedoch zeigt sich immer mehr, dass der Adhäsivverbund in der klinischen Si- tuation nicht eingeschränkt ist [18–20]. Indirekte Überkappung Abb. 4 Selektive Kariesexkavation und indirekte Überkappung an Zahn 24 bei einer 23-jährigen Patientin (Spiegelaufnahmen): (a) Zahn 24 mit einer distalen Approximal- Bleibt das Pulpakavum im Laufe der Exka- karies. (b) Das OPG zeigt ebenfalls eine bis an die Pulpa ausgedehnte distale Approxi- vation geschlossen, können die Reminera- malkaries. (c) Situation nach Legen des Kofferdams und Präparation einer Zugangs- kavität. Das sichtbare Dentin ist hier noch sehr weich. (d) Ansicht nach selektiver lisation des erweichten Dentins sowie die Kariesexkavation unter Fluoreszenzbedingungen (Fluoreszenzunterstützte Kariesex- Bildung von Reizdentin durch bioaktive kavation, FACE, mit SiroInspekt, Dentsply Sirona, Bensheim). In der Peripherie zeigt Werkstoffe unterstützt werden. Im Zuge sich bakterienfreies Dentin (hier sondenhart exkaviert). Pulpanah zeigt das weiche Dentin eine noch starke bakterielle Infektion (rote Fluoreszenz). (e) Die direkte Über- der indirekten Überkappung werden sie kappung mit einer Ca(OH)2-Suspension (Ultracal, Ultradent, Brunnthal) wurde nur pulpanah appliziert und entfalten dort im zentralen, pulpanahen Bereich aufgebracht. Die Teilmatrize liegt hier dem Zahn ihre biologische Wirkung [21]. Neben dem spannungsfrei an und wird vom Kofferdam fixiert. (f) Die Überkappung aus Ca(OH)2 direkten biologischen Aspekt schützen wurde zur Stabilisierung mit einem selbstadhäsiven Flow (Vertise Flow, Kerr, Biberach) vollständig überschichtet und dieses anschließend lichtgehärtet. Zirkulär liegt eine noch sie auch das tubuläre Dentin mit der da- ausreichend breite Zone Dentin und Schmelz frei, um anschließend eine gute Haftung runter liegenden Pulpa vor zelltoxischen des adhäsiv verarbeiteten Füllungskomposits zu gewährleisten. Einflüssen der Restaurationsmaterialien oder Adhäsivsysteme [22–25]. dass der Gewinn einer indirekten Überkap- Milchzähnen wurden sogar Erfolgsquoten Indikation pung mit der Nähe zur Pulpa steigt und von über 90 Prozent beschrieben [21,28]. Die Indikation zur indirekten Überkap- im Zweifelsfall Anwendung finden sollte. Durch den alkalischen pH-Wert wirkt pung als vitalerhaltende Maßnahme hängt, Ca(OH)2 antibakteriell und induziert eine ähnlich wie die Indikation zur selektiven Kalziumhydroxid oberflächliche Entzündung in der Pulpa, Kariesexkavation, von der Nähe zur Pulpa Kalziumhydroxid (Ca(OH)2) wird als Medi- welche Regenerations- oder Reparatur- ab. Eine besondere Herausforderung ist kament der Wahl bei der indirekten Über- prozesse anstößt [30,31]. Der initial hohe dabei die genaue Einschätzung der Pulpa- kappung angesehen, da der klinische Er- pH-Wert bewirkt jedoch oftmals eine nähe. Hierzu gilt es, sowohl klinische fahrungsschatz groß ist und der Erfolg in übermäßige biologische Reaktion der (Durchschimmern, Kavitätentiefe) als einer Vielzahl klinischer Untersuchungen Pulpa, was sich in Defektstellen des gebil- auch radiologische Informationen sowie beschrieben wurde [26–30]. Die Erhaltung deten Dentins, den sogenannten „Tunnel- das Alter des Patienten zu berücksichti- der Pulpavitalität ist laut Studienlage mit defekten“, zeigen kann [10]. Als Nachteile gen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, über 70 Prozent zu erwarten [26,27], bei sind außerdem ein mangelhafter Verbund 50 BZB März 2021
wissenschaft und fortbildung werden und hinsichtlich ihrer praktischen Anwendung optimiert wurden. Sie zeich- nen sich durch kürzere Aushärtezeiten aus (ca. 12 Minuten), enthalten keine ver- färbenden Substanzen, besitzen verbes- serte mechanischen Eigenschaften [39] und sind kostengünstiger. Insgesamt ist die Eignung von Ca(OH)2- Suspension und hydraulischen Kalzium- silikatzementen für die indirekte Überkap- pung in tiefen Kavitäten nachgewiesen. Die Auswahl des geeigneten Werkstoffes sollte situationsbedingt nach zahnmedi- zinischen und ökonomischen Gesichts- punkten erfolgen. So bieten hydraulische Kalziumsilikatzemente insbesondere bei sehr tiefen und ausgedehnten Defekten Abb. 4 (g) Nach der selektiven Schmelzätzung mit Phosphorsäure-Gel und Applikation Vorteile, wohingegen man bei weniger eines kompatiblen Adhäsivsystems (Scotchbond Universal, 3M Espe, Seefeld) wurde im ausgedehnten pulpanahen Defekten zervikalen Bereich eine dünne Schicht Flow (SDR, Dentsply Sirona, Bensheim) druck- los und blasenfrei eingebracht und lichtgehärtet, wodurch die Teilmatrize zusätzlich auch mit guten Erfolgsaussichten auf eine stabilisiert wird. (h) Anschließend wurde eine untere Schicht Nano-Komposit (Filtek Ca(OH)2-Suspension zurückgreifen kann. Supreme XTE, 3M Espe, Seefeld) mit wenig Druck eingebracht und lichtgehärtet, gefolgt von (i) einer Deckschicht aus dem gleichen Material. (j) Situation nach Ausarbeitung und Vorpolitur, vor Entfernung des Kofferdams Zusammenfassung Der Pulpa-Dentin-Komplex ist aufgrund zum Dentin und eine hohe Löslichkeit an- Jahren in der Zahnmedizin verwendet. Sie seiner elementaren Funktionen eine schüt- zusehen, denn Ca(OH)2-Suspensionen setzen während ihres Abbindevorgangs zenswerte Struktur. Durch die enge Bezie- werden im Laufe der Zeit resorbiert. Ab- ebenfalls Kalziumhydroxid frei, das in be- hung zwischen Pulpa und Dentin kann jede bindende Ca(OH)2-Präparate, wie zum schriebener Weise wirkt [32,33]. Dabei Veränderung im Bereich der Zahnhartsub- Beispiel Ca-Salizylat-Zemente (Life Kerr; verläuft die Ionenabgabe langsamer und stanzen eine Reaktion der Pulpa hervorru- Dycal, Dentsply Sirona, Bennsheim), sind kontinuierlicher als bei reinem Ca(OH)2, fen. Nicht das vollständige Entfernen der einfacher zu applizieren, aber zeigen auf- was zu reproduzierbaren Ergebnissen Karies bis hin zu einer möglichen Pulpa- grund ihrer beschränkten Ca(OH)2-Frei- führt und sich klinisch bewährt hat [29,30, eröffnung, sondern ein minimalinvasiver, setzung nur eine geringe Wirksamkeit. Da 33]. Gleichsam üben sie aufgrund der ge- selektiver Exkavationsansatz ist heutzutage eine Ca(OH)2-Supension nicht aushärtet, ringeren Alkalität weniger starke Reize auf das Mittel der Wahl. In Bezug auf die Vital- empfiehlt es sich, diese nach der Applika- die Pulpa aus [34]. Der klinische Erfolg der erhaltung haben sich neben Kalziumhy- tion auf das pulpanahe Dentin mit einem indirekten Überkappung ist bei korrekter droxid die Kalziumsilikatzemente aufgrund erhärtenden Material zu bedecken. Dafür Indikationsstellung mit über 80 Prozent zu ihrer positiven Eigenschaften und guten eignen sich selbstadhäsive Flow-Kompo- erwarten, bei Milchzähnen sogar mit über klinischen Ergebnisse zur indirekten Über- site oder Glasionomerzemente. Auf diese 90 Prozent [21,26–28,33,35]. Hydraulische kappung bewährt. Die abschließende bak- Weise kann die entsprechend notwen- Kalziumsilikatzemente besitzen bioaktive teriendichte Restauration verhindert ein dige Restauration der Kavität direkt im Eigenschaften [36] und weisen eine gute weiteres Eindringen von Mikroorganismen Anschluss durchgeführt werden (Abb. 4). Haftung am Dentin auf, die allerdings ge- oder Substraten und trägt so entscheidend ringer als die Haftung von Glasionomer- zum langfristigen Erhalt der Pulpavitalität Hydraulische Kalziumsilikatzemente zementen ausfällt [37]. Als besondere und des Zahnes bei. Hydraulische Kalziumsilikatzemente wie Nachteile des MTA gelten die sehr lange das klassische Mineraltrioxidaggregat Abbindezeit, der hohe Preis und das Risiko Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. dent. Wolfgang Buchalla (MTA; z.B. ProRoot MTA, Dentsply Sirona, von Zahnverfärbungen durch oxidierende Poliklinik f. Zahnerhaltung und Parodontologie Bensheim), welches aus natürlichen Roh- Metallionen [38]. Deshalb wurden in den Universitätsklinikum Regensburg stoffen gewonnen wird, die chemisch dem vergangenen Jahren zunehmend modi- Franz-Josef-Strauß-Allee 11, 93053 Regensburg Telefon: +49 941 944 6024 im Baugewerbe verwendeten Portland- fizierte Produkte, wie zum Beispiel Bio- wolfgang.buchalla@ukr.de zement ähnlich sind, besitzen bioaktive dentine (Septodont, Niederkassel), ent- Eigenschaften und werden seit den 1990er wickelt, welche chemisch synthetisiert Literatur bei den Verfassern. BZB März 2021 51
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