Distanzierung plus Annäherung
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IMPULSE Distanzierung plus Annäherung Extremistische Gewalt als „islamisches Problem“, und was hat das mit Überlegenheitsvorstellungen zu tun? MURAT KAYMAN Geboren 1973 in Lübeck, Studium der Seit den Anschlägen am 11. September Rechtswissenschaften in Kiel, anschlie- 2001 in New York sind mittlerweile zwan- ßend als Rechtsanwalt in Lübeck und zig Jahre vergangen. In dieser Zeit ist es Hamburg tätig, 2014 bis 2017 Jurist uns kaum gelungen, das Phänomen der des muslimischen Verbands „Türkisch- extremistischen Gewalt durch Muslime Islamische Union der Anstalt für Religion vollständig und vor allem akkurat zu er- e. V.“ (DITIB), Köln. Nach der Affäre fassen: Die „Islamdebatte“ im öffentlichen um die Spitzeltätigkeit von Imamen in Raum pendelt zwischen einer grundsätz- Deutschland trat er von seinen Ämtern lich religionsskeptischen „Islamkritik“ auf zurück. Er ist Mitbegründer der mehrheitlich nicht muslimischer Seite Alhambra-Gesellschaft, eines Zusam- und einer chronischen Verdrängungshal- menschlusses von Muslimen, die sich tung aufseiten der muslimischen Ver- als Europäer begreifen, und Mitverant- bandsvertreter hin und her. Wir haben wortlicher des Podcasts „Dauernörgler“. uns in dieser öffentlichen Debatte in eine 106 Die Politische Meinung
diskursive Sackgasse manövriert, in der es den, was der Islam vermeintlich nicht ist. uns nicht mehr gelingt, Schlussfolgerun- Und damit als Gegenteil dessen, was Mus- gen zu ziehen, wie ein fruchtbares Zusam- limen zugeschrieben wird und was sie reli- menleben in einer zunehmend vielfältigen giös prägt. und multireligiösen Einwanderungsge- sellschaft aussehen und gestaltet werden kann. UNGLEICHGEWICHTIGES Der islamkritische Diskurs erlebt die VERGLEICHEN Muslime in einer Dauerschleife der Be- kundung, dass Islam Frieden bedeutet und extremistische Anschläge unisla- Dieses Bewusstsein bedient sich im Ge- misch sind. Gleichzeitig ist aber zu beob- wand der öffentlichen und als „islamkri- achten, dass extremistische Attentäter tisch“ apostrophierten Debatte einer nun- ihre Mordtaten ausdrücklich religiös mo- mehr zwanzig Jahre andauernden Praxis tiviert verstanden wissen wollen und die- des ungleichgewichtigen Vergleichs. Mit se auch als Ausdruck einer vermeintlich einer tief verwurzelten, aber nicht immer besonders authentischen Frömmigkeit deutlich ausgesprochenen Selbstwahr- stilisieren. nehmung von der Überlegenheit der west- Die extremistischen Attentäter wer- lich-europäischen Kulturen und der christ- den durch das nicht muslimische Publi- lichen Religion werden ganz unterschied- kum der Nachrichtensendungen so wahr- liche Einzelaspekte der jeweiligen Glau- genommen, wie sie sich selbst insze - bens- und Lebenswelten verglichen, um nieren – als besonders fromme Muslime, letztlich nur das eigene Vorurteil und die den „Mut“ haben, die Dogmen ihrer die daraus resultierende Abwertung zu Religion bis zur letzten, tödlichen Konse- bestätigen. quenz zu exekutieren, wohingegen alle Die differenzierten Facetten jahrhun- anderen Muslime dies aus Schwäche oder dertealter christlicher Theologie mitsamt Bequemlichkeit unterlassen würden. ihren philosophischen Errungenschaften Vor diesem Wahrnehmungshinter- werden verglichen mit den „Fünf Säulen“ grund erstaunt es nicht, dass sich eine – in islamischer Religionspraxis. Und siehe da: einer pluralistischen Gesellschaft anzu- Die Frage nach der intellektuellen Kom- strebende – Atmosphäre der einander plexität der Glaubenswelten ist scheinbar neugierig zugewandten Offenheit letzt- eindeutig beantwortet. Der Horizont hu- lich in ein Grundmisstrauen umgekehrt manistischer Aufklärung wird verglichen hat. Heute und mehr als vor zwanzig Jah- mit dem von nihilistischen Massenmör- ren scheint das Vorurteil, dass „Deutsch“ dern. Und siehe da: Die einen lieben das das Gegenteil von „Muslim“ sei, zu einer Leben, die anderen den Tod. Die Grund- allgemeinen Gewissheit erstarrt. Gerade werte demokratisch-pluralistischer Ge- weil der Islam nahezu ausschließlich sellschaften werden verglichen mit den negativ konnotiert ist und überwiegend Regimen diktatorisch-absolutistischer negative Assoziationen weckt, wird das Despoten. Und siehe da: Die Fremden deutsche „Eigene“ gegenüber diesem mus- dürfen hier all das, was Deutsche in deren limischen „Fremden“ als all das verstan- Heimat nicht dürfen. 107 Nr. 568, Mai/Juni 2021, 66. Jahrgang
Impulse In ihrer gesellschaftlichen Wirkung sind Das dauerhafte Verdrängungsmuster, wo- dies höchst effektive Überlegenheits- nach Islam Frieden bedeutet und es dem- erzählungen, die das Fundament einer nach denklogisch keine muslimischen Ex- pluralistischen, freiheitlichen Gesellschaft tremisten geben könne, ist nicht nur erodieren lassen. Gleichberechtigung und offenkundig abwegig, sondern in seinem Gleichbehandlung werden dadurch zu ei- Duldungseffekt geradezu kontraproduktiv. ner verfassungsrechtlichen Bürde, weil Die an Muslime adressierte Distan- eine unterschwellige Überzeugung exis- zierungserwartung der nicht muslimi- tiert, wonach die deutsche und damit als schen Gesellschaft wird als diskriminie- nicht muslimisch definierte Gesellschaft rende Stigmatisierung begriffen und eben nicht mit Muslimen „gleichwertig“ zurückgewiesen, wodurch sich die gegen sei. Bis hin zu biologistischen Argumenta- Muslime gerichtete Ausgrenzungserfah- tionen ist die Überzeugung in die Gesell- rung zunehmend zu einer von eigenen schaft eingesickert, im Vergleich zu Mus- muslimischen Überlegenheitsvorstellun- limen sei man zivilisatorisch fortschritt- gen flankierten Selbstausgrenzung wan- licher, gesellschaftlich weiter entwickelt, delt. Die muslimischen Vertreter pochen tugendhafter, fleißiger, leistungsfähiger darauf, dass es keine Nähe zu extremis- und klüger. tischen Attentätern gibt, dass das alles Was hat der Islam denn schon ge- nichts mit dem Islam zu tun hat. Ihre bracht, außer dem Schwert und Zerstö- Reak tion auf wiederkehrende Gewalt rung? Das ist in weiten Teilen der Gesell- erschöpft sich in der wiederkehrenden schaft keine offene Frage mehr – obwohl Zurückweisung jeglicher eigenen Verant- seit Jahrzehnten Muslime in diesem Land wortung. leben. Oder gerade deshalb? Diese Phäno- Es ist jedoch von zentraler Bedeutung mene und ihre Bedeutung im Zusammen- für die Zukunft des gesellschaftlichen Zu- hang mit antimuslimischer Gewalt dürfen sammenlebens, dass sich alle Muslime wir nicht als Normalzustand unserer Ge- und mit ihnen eben auch die muslimi- sellschaft hinnehmen. schen Verbände darauf besinnen, welche tatsächlichen Konsequenzen eine solche Haltung in und zu dieser Gesellschaft ANTAGO NIS TI SCHE entfaltet. Denn den extremistischen Kräf- ROLLEN ten ist gemein, dass sie die Erzählung von einer Unvereinbarkeit muslimischen Le- bens mit der Lebensweise der vermeint- Die Problematik einer solchen gesell- lich ethisch und sittlich minderwertigen schaftlichen Entwicklung wird durch nicht muslimischen Gesellschaft propa- die eigenen Überlegenheitserzählungen gieren. Viel wirkungsvoller als jeder noch der muslimischen Gemeinschaften in so problematisch interpretierbare Koran- Deutschland und das Unvermögen ih- vers ist die Etablierung einer solchen anta- rer Verbandsvertreter, die eigene Verant- gonistischen gesellschaftlichen Rollen- wortlichkeit im Kampf gegen religiös verteilung für die Ausgrenzung und Ra- verbrämten Extremismus zu erkennen, dikalisierung von vornehmlich jungen verstärkt. Muslimen. 108 Die Politische Meinung
Distanzierung plus Annäherung, Murat Kayman Die Vorstellung, als Muslim dieser nicht Das sind die Nähe und die Gemeinsam- muslimischen Gesellschaft als Fremder, keit, die die extremistischen Täter durch als Gegenspieler, als Gegner und letztlich ihre Tat zu muslimischen Gemeinschaf- als Feind gegenüberzustehen, ist das Fun- ten herstellen. Es ist diese Schnittmenge, dament, auf dem Gewaltbereitschaft sich die eine Distanzierung erforderlich macht. überhaupt erst entwickeln kann. Nicht die Distanzierung vom Islam oder von Inhalten des Korans. Denn der Weg zur extremistischen Gewalt beginnt nicht MONOLITHISCHE FEINDE? mit einem Koranvers. Er beginnt mit dem, was Muslime in ihren Gemeinschaften dulden – mit unwidersprochenem abwer- Den extremistischen Tätern ist gemein, tendem Glauben, Denken und Reden in dass sie ihre Opfer nicht vornehmlich als muslimischen Gemeinschaften. Einzelpersonen wahrnehmen. Die Opfer Die Distanzierungserwartung der stehen je nach Kontext der ausgeübten Ge- nicht muslimischen Öffentlichkeit wird walt stellvertretend für eine Facette der von Muslimen stets missverstanden als eine Gesellschaft, die der Täter angreifen will: Standortbestimmung in einem dualen Ver- Es sind die Andersgläubigen, wenn der Tä- hältnis zwischen muslimischen Gemein- ter in einer Kirche oder Synagoge mordet. schaften und dem extremistischen Täter. Es ist die vermeintlich moralisch degene- In Wirklichkeit ist es jedoch eine Erwar- rierte, hedonistische, nicht muslimische tung, die die Standortbestimmung in ei- Gesellschaft, wenn er in einem Nachtclub nem triangulierten Verhältnis hinterfragt. oder in einem Straßencafé das Feuer eröff- Keine noch so große Distanz der Muslime net. Es ist die aus Sicht des Täters mora- zum extremistischen Täter wird groß ge- lisch verwerfliche Gesellschaft, die sündige nug sein, wird glaubhaft wirken und Ver- Lebensweisen duldet, wenn er ein homo- trauen auf bauen, wenn sich muslimische sexuelles Paar angreift. Es ist letztlich der Vertreter nur dazu äußern, wie weit sie als monolithischer Feind wahrgenommene vom Täter und seiner Gewalt entfernt sind. Gegner, der all diese Laster in sich verei- Die offene Frage bleibt, ob die Entfer- nigt, wenn der Täter – wie am 2. November nung, die Muslime zwischen sich und 2020 in Wien – wahllos durch die Straßen dem extremistischen Täter auf bauen, zieht und vorher erklärt, niemand werde gleichzeitig eine Annäherung an die nicht von nun an ohne Angst auf die Straße ge- muslimische Gesellschaft darstellt. Mo- hen können, weil ihm andere Täter mit der mentan distanzieren sich die muslimi- gleichen Gesinnung nachfolgen werden. schen Verbandsvertreter öffentlich nur Erst die Vorstellung, dass Muslime als vom extremistischen Täter, ohne dass die Fremde in dieser Gesellschaft von Feinden Distanz zur nicht muslimischen Gesell- umringt sind, sich in ihrer vermeintlich schaft dadurch verringert wird. Solange höherwertigeren identitären Wagenburg diese Distanzierung nicht gleichzeitig die verschanzt haben, begünstigt und legiti- Annäherung und Verbindung mit der miert für den Täter die Entscheidung, sich nicht muslimischen Gesellschaft bedeu- nun „mutig“ aus dieser Deckung zu wa- tet, wird sie nicht verstanden oder als ver- gen und auf die Feinde zu schießen. lässlich wahrgenommen werden. 109 Nr. 568, Mai/Juni 2021, 66. Jahrgang
Distanzierung plus Annäherung, Murat Kayman Annäherung und Verbindung bedeutet in spiegelt – aufrechterhalten wird, kann sie diesem Zusammenhang, die hiesige Ge- auf potenzielle extremistische Täter als sellschaft ausdrücklich als eigene wahrzu- Rechtfertigung und Bestätigung wirken, nehmen und sich für sie einzusetzen. Wer diese Gesellschaft als „anderen“, als Geg- die Meinungsfreiheit nach einem Mord- ner und Feind, wahrzunehmen. anschlag in Freitagspredigten relativiert, Und solange wird es Muslimen nicht wer sich zur Gewalt in dieser Gesellschaft gelingen, den Islam als etwas vorzuleben, nur im Kontext der selbst erfahrenen Ge- das einen legitimen und wertvollen Platz walt gegen Muslime äußern kann, wer im- in dieser Gesellschaft hat – ihre Religion mer wieder aktuelle Diskriminierungser- und damit auch sie selbst werden so fahrungen mit der historischen Juden- dauerhaft als fremd, als bedrohlich wahr- verfolgung in Europa und insbesondere in genommen werden. Deutschland gleichsetzt, der signa lisiert in die Öffentlichkeit, dass er das muslimi- sche „Wir“ nicht als Teil des gesamten ge- Welche Überlegenheitserzählungen die beschriebe- nen Probleme verstärken und wie wir alle diesem sellschaftlichen „Wir“ wahrnimmt, son- Phänomen entgegenwirken können, beschreibt dern zwischen einem muslimischen „Wir“ der Autor in seinem Buch Wo der Weg zur Gewalt und einem nicht muslimischen „Ihr“ beginnt. Und was das mit Muslimen zu tun hat (riva Verlag, München), das am 14. September 2021 unter scheidet. Solange diese Distanz – im Buchhandel erscheinen wird. Der obige Text gibt welche nur die selbst erlebte Ausgrenzung Grundgedanken aus diesem Buch wieder. 110 Die Politische Meinung
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