Dr. Rainer Gross Referat Psychosomatiktagung in Graz am 22.01.2011 Affektive Bekanntschaft mit sich selbst

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Dr. Rainer Gross
          Referat Psychosomatiktagung in Graz am 22.01.2011

                   Affektive Bekanntschaft mit sich selbst

In dieser Arbeit möchte ich Ihnen die psychoanalytische Denkweise, den psychodynamischen
Blick auf uns selbst und unsere Patienten als ein Projekt im Spannungsfeld zwischen
Aufklärung und Romantik vorstellen.
Also schon im ersten Absatz drei große Worte: Aufklärung, Romantik, Psychoanalyse.
Seriöserweise daher einleitend zumindest eine kurze Definition dessen, was ich hier unter
Aufklärung und Romantik ideengeschichtlich verstehe. (Meine ganz persönliche Sicht auf die
Psychoanalyse dann später, hier nur soviel: Psychoanalyse als Theorie-Gebäude und
klinisches Modell beschränkt sich für mich weder auf das Setting von 3 – 4 Stunden pro
Woche liegend noch auf die Mitgliedschaft in einer psychoanalytischen Vereinigung. Ich bitte
also „Psychoanalyse“ oder „psychoanalytisch“ jetzt zu verstehen als einen Zugang, eine
Sichtweise auf uns selbst und die Welt.)

Zur Aufklärung: Der philosophische Siegeszug der Aufklärung begann spätestens im
18. Jahrhundert in Frankreich und England mit einer absoluten Dominanz der Ratio, der
universellen Vernunft: Die Natur und auch die menschliche Natur sollte für die Aufklärer
objektiv erklärbar sein, die Suche nach universell begründbaren Naturgesetzen war der Hebel
zur Kritik und Überwindung aller überkommenen Autoritäten. Das war fast eine „Vernunft-
Religion“ und entwickelte dadurch eine immense säkularisierende Schubkraft für die
Naturwissenschaften, ermöglichte technischen Fortschritt in einem davor ungeahnten
Ausmaß. So brachte die Aufklärung auch eine völlig neue Sicht auf den Menschen selbst, die
Möglichkeiten und Grenzen der Verstandestätigkeit. In diesem Fortschrittsoptimismus wurde
die berühmte Frage Immanuel Kants „Was können wir wissen?“ beantwortet im Sinne von:
Fast alles!

                                                                                          1
Von Kant stammt ja die bis heute berühmteste Antwort auf die Frage: „Was ist Aufklärung?“

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu
bedienen.
                                                                       Kant 1783/2008/S. 9

Kant war bekanntlich aber skeptisch nicht nur bezüglich der Grenzen der menschlichen
Vernunft, sondern auch bezüglich der Bereitschaft der Menschen, sich ihres eigenen
Verstandes zu bedienen: Das berühmte Sapere aude (habe Mut, dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen) war für ihn ein Projekt für wenige:

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen zeitlebens
unmündig bleibt und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern
aufzuwerfen. […] Es ist für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur
Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen…
                                                                       Kant 1783/2008/S. 9

Heute würden wir vielleicht formulieren: Empowerment, speziell „Self-Empowerment“ ist
nicht jedermanns Sache, wird keinem geschenkt, ist anstrengend…

Sigmund Freud sah das 100 Jahre später genauso:
Die wenigsten Kulturmenschen sind fähig, ohne Anlehnung an andere zu existieren oder auch
nur ein selbständiges Urteil zu fällen. Die Autoritätssucht der Menschen kann man sich gar
nicht arg genug vorstellen.
                                                                    Freud, GW VIII, S. 109
                                In: Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie

Wieder hundert Jahre zurück zu Kant: Er betonte auch die Grenzen der Vernunft. Ganz
abgesehen von den äußeren Zwängen und Begrenzungen durch Autoritätshörigkeit des
Menschen sah er besorgt die irrationale Macht der Affekte: Es gäbe ja im Menschen auch das
„Andere“ jenseits der Rationalität:

                                                                                         2
Die Triebe der menschlichen Natur sind die Bewegkräfte des Willens, der Verstand kommt
nur dazu […] Ist etwa eine Leidenschaft besonders stark, so hilft die Verstandestätigkeit
dagegen nur wenig.
                                                              Kant zitiert nach Nitzschke, S. 30
Dies wiederum bestätigt knapp 200 Jahre nach Kant der Hirnforscher Gerhard Roth:

Was uns elementar bestimmt, auf der untersten Ebene, sind unsere Affekte […] Ratio allein,
das kann man gehirnanatomisch zeigen, bewegt überhaupt nichts. Der Apparat, der unsere
Ratio im Gehirn produziert, ist evolutiv so konstruiert, dass er selbst gar nichts bewegen soll.
                                                                                 Roth, G., 2009
                                                     In.: Der Spiegel/Sonderheft Wissen, S. 24

Bleibt nur die Frage sowohl für Kant Anfang des 19. Jahrhunderts als auch für uns Anfang
des 21. Jahrhunderts: Soll uns diese so eingeschränkte Wirkungsmacht der Vernunft mit
Freude oder eher mit Angst erfüllen?

Die Reaktion auf die Dominanz der Vernunft in der Aufklärung kennen wir ja
geistesgeschichtlich als eine „Gegenrevolution des Gefühls“ in der Bewegung der (vor allem
deutschen) Romantik des 19. Jahrhunderts:
Gerade weil die Aufklärung den objektiven Blick von außen verabsolutierte und die Rolle des
Einzelnen eindeutig dem vernünftigen Ganzen unterordnete, begannen sich die sensibelsten
Intellektuellen und Künstler dagegen aufzulehnen [heute: Evidence based, III. Person-
Perspektive]: Dies führte geradezu zu einem Kult des Subjektiven und des Gefühls, erstmals
wurde das Ich fast heilig gesprochen. Laut Isaiah Berlin ermöglichte diese romantische
Denkweise einem einzelnen Menschen erstmals in der Geschichte die Möglichkeit, gegen die
gesamte Welt sich im Recht zu fühlen – wenn er nur mit sich selbst eins wäre, sich selbst
gefunden hätte.
Diese romantische Geisteshaltung prägte zeitweise auch den jungen Goethe (Ich kehre in
mich selbst zurück und finde eine Welt – Goethe/Werther). Die Menschen fühlten sich
unbehaglich in ihrer kalten und von der wissenschaftlichen Aufklärung entzauberten Welt.
Aus psychologischen und auch aus politischen Gründen sollte nun nicht mehr die Welt
erforscht und unterworfen werden, das Interesse zielte vielmehr auf das eigene Selbst, auf die
Seele: Der romantische Dichter Novalis schreibt: Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.
Allerdings ging es ihm nicht nur um Selbstversenkung und Nabelschau. Daher der nächste

                                                                                               3
Satz bei Novalis: Wer hier stehen bleibt, gerät nur halb. Der zweite Schritt muss wirksamer
Blick nach außen sein: Selbsttätige Beobachtung der Außenwelt! Also gibt es bereits bei den
Romantikern die Oszillationsbewegung Blick nach innen/Blick nach außen.
Wir sehen die Pendelbewegung zwischen objektiver, universeller Ratio in der Aufklärung und
subjektiver Emotio in der Romantik.
Beide Denkrichtungen, Aufklärung und Romantik, hat Sigmund Freud schon als Gymnasiast
kennengelernt. Er wuchs im Wien des Fin de siècle im Klima eines fast absoluten
Fortschrittsglaubens auf: Der Triumph einer naturwissenschaftlich-positivistischen Weltsicht
hatte immense technische Fortschritte ermöglicht, aber die Menschen fühlten sich entwurzelt
und seelisch heimatlos. Dementsprechend gab es auch im Wien um 1900 sehr mächtige
irrationale Strömungen, gab es auch ein immenses Interesse an den dunkleren Bezirken des
Seelenlebens. Die Intellektuellen waren fasziniert z. B. von den Manipulationsmöglichkeiten
der Hypnose, aber auch von den dramatischen Persönlichkeitsveränderungen in der Hysterie.
Der junge Neurologe Freud erkannte, dass das Projekt Aufklärung, dass die Methoden der
Naturwissenschaften für seine Interessensgebiete noch keine hinlänglichen Erklärungs- und
Behandlungsmodelle bieten konnten. All seine Anstrengungen – und zwar ein Leben lang –
kann man auch beschreiben als Kritik der Aufklärung, als Versuch der Sicherung der
Fundamente der Ratio, als Vernunftkritik in aufklärerischer Absicht: Es ging ihm nicht um
eine Verklärung des Irrationalen, vielmehr um den Versuch, den Ansatz der Aufklärung
konsequent auf sein eigenes Seelenleben und das seiner Patienten anzuwenden: Er versuchte
vernünftig nachzudenken über die so unvernünftig scheinenden Phantasien, Ängste und
Motive des Menschen. Es ging ihm sehr wohl um Aufklärung, aber eben um Aufklärung über
die affektiven und oft unbewussten Motive des Denkens, Fühlens und Handelns jener
Menschen, die sich ihres Verstandes nicht mehr bedienen konnten oder anscheinend oft nicht
bedienen wollten. Spätestens seine Beschäftigung mit Träumen sah er als Beweis für die
absolute   Wirkmächtigkeit   des      Unbewussten   auch   bei   den   intelligentesten   und
„aufgeklärtesten“ Menschen. Seine Methoden und seine Denkweise blieben strikt dem
wissenschaftlichen Modell der Aufklärung verpflichtet, die Gegenstände seines Forschens
aber erschienen den Zeitgenossen hochromantisch und damit auch vielen seiner Kollegen
entsprechend suspekt.
Bis heute bleibt es ja eine immense Kränkung gerade für vernunftbetonte Menschen, dass
auch ihr Ich (in Freuds berühmter Formulierung von 1917) „nicht Herr im eigenen Haus ist“.

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Ein amüsantes Beispiel für ein Bestehen auf diesen „Hausherrenrechten“ des autonomen Ich
(auf höchster intellektueller Ebene) bietet der Neurobiologe und Nobelpreisträger Gerald
Edelman in seiner Autobiographie: Er unterhielt sich mit seinem Freund und ebenfalls
Nobelpreistäger Jacques Monod über Freud. Monod wollte die Psychoanalyse als
„unwissenschaftlich“ wegwischen, Freud sei ein Scharlatan gewesen. Edelman hingegen
betonte Freuds Wichtigkeit als intellektueller Wegbereiter der Neurobiologie. Darauf Monod:
„Ich kenne meine Beweggründe vollständig und bin für meine Handlungen voll
verantwortlich. Sie sind mir alle bewusst!“ Edelman erwidert (wir würden sagen: mit
Verständnis für den Widerstand seines Kollegen): „Jacques, sieh es doch so: Alles, was
Freud sagte, gilt für mich, nichts davon gilt für dich!“ Monod fühlte sich verstanden:
„Genau, lieber Freund!“

Als wissenschaftsgläubigem Aufklärer war diese Macht des Unbewussten auch Freud selbst
durchaus unheimlich, dementsprechend auch seine frühen Größenphantasien einer
vollständigen Aufklärung all dieser Triebkräfte: So schrieb er 1897 an seinen Seelenfreund
Fließ von seinem Wunsch nach „der völligen Bändigung des Unbewussten durch das
Bewusste“.                                               Freud an W. Fliess, 21.09.1897
Wir sehen also schon bei Freud selbst ein lebenslanges Oszillieren zwischen dem Wunsch
nach Bändigung des Unbewussten, nach einer Re-Zentrierung des autonomen rationalen Ich
und demgegenüber der Überzeugung, dass das Seelenleben nicht einheitlich sei und
dementsprechend das Unbewusste auch nicht beliebig beherrschbar und in Dienst zu nehmen
sei.
Jean Laplanche thematisiert 1996 in seinem Aufsatz „Die unvollendete kopernikanische
Revolution in der Psychoanalyse“ diese Pendelbewegung Freuds: In einem berühmten Freud-
Text „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ zeigt er sowohl die zentrierenden als auch die
de-zentrierenden Positionen. Freud beschreibt hier 1917 die heillose Vielfalt des
Seelenlebens:

Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus. Denn diese Seele ist nichts Einfaches, vielmehr eine
Hierarchie von über- und untergeordneten Instanzen, ein Gewirre von Impulsen, die
unabhängig von einander zur Ausführung drängen […] Viele davon einander gegensätzlich
und miteinander unverträglich.
                                                                      Freud, GW XII, S. 9 f.

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Die Seele bleibt also kompliziert und daher wissenschaftlich schwer zu fassen. Freud warnt
den Leser vor den unbekannten, den fremden Anteilen in seinem eigenen Ich:

Es kommen Impulse, die wie die eines Fremden sind, sodass das Ich sie verleugnet. Das Ich
sagt sich, das ist eine Krankheit, eine fremde Invasion.
                                                                           Freud, GW XII, S. 8 f.

Er beruhigt aber sofort wieder und lädt seine Leser ein, diesen als fremd empfundenen
Anteilen sozusagen eine dauernde Aufenthaltsbewilligung in ihrem Selbst zu gewähren:

Es ist nichts Fremdes in dich gefahren, ein Teil von deinem eigenen Seelenleben hat sich
deiner Kenntnis entzogen.
                                                                           Freud, GW XII, S. 9 f.

Es geht also darum, das als fremd Empfundene anzuerkennen als durchaus eigenen Anteil,
ihm Bürgerrechte in der Seele einzuräumen.
Trotzdem bleibt die „aufklärerische“, heute fast imperialistisch-kolonialistisch anmutende
Haltung Freuds stärker. Daher ist auch das nächste Zitat viel bekannter:

Wo Es war, soll Ich werden!
                                             Freud 1923, „Das Ich und das Es“, GW XIII, S….

Aber es bleibt auch Freuds Einsicht, dass Teile des eigenen Selbst ebenso fremd erscheinen
können wie das Seelenleben einer anderen Person, dass daher aber auch Selbsterkenntnis und
Versuch der Einfühlung in den anderen untrennbar verbunden bleiben:

Alle Akte und Äußerungen, die ich an mir bemerke und nicht mit meinem sonstigen
psychischen Leben zu verknüpfen weiß, müssen beurteilt werden, als ob sie einer anderen
Person angehörten…
                                                       Freud, GW X, S. 268 (Das Unbewusste)

Bereits hier sehen wir die Untrennbarkeit von Analyse des anderen, des Patienten und der
Selbstanalyse: Es gibt kein reines und unberührtes Selbst, es gibt immer die Spuren der

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anderen, der Objekte in uns. Eben dies aber schafft erst die Möglichkeit zur Empathie, zur
Einfühlung in uns selbst und in andere: Der Schlüsselbegriff lautet Identifizierung!

Von der Identifizierung führt ein Weg über die Nachahmung zur Einfühlung, das heißt zum
Verständnis jenes Mechanismus, durch den uns überhaupt eine Stellungnahme zu einem
anderen Seelenleben ermöglicht wird.
                          Freud 1921, GW XIII, S. 121 (Massenpsychologie und Ich-Analyse)

Diese Pendelbewegung zwischen Projektion und Identifikation, zwischen innen und außen
wurde viel später für die Objektbeziehungstheorie und noch viel mehr für die
intersubjektivistische Psychoanalyse entscheidend: Von Anfang an konstituieren nur die
Beziehungen Identitäten, nicht umgekehrt (Vergleiche Phillips, Terrors and Experts, S. 84)
Die Psychoanalytikerin Diana Fuss hat es auf den Punkt gebracht: Identifikation ist der
Umweg durch den anderen, der erst ein Selbst definiert! (Fuss, D.: Identification papers, New
York 1995, S. 2).

Wenn man dies ernst nimmt, kann aber der Psychoanalytiker nicht mehr ein objektiver
Beobachter sein, er wird subjektiv, als Person involviert in die therapeutische Beziehung.
Diese Gegenbewegung in der Psychoanalyse weg vom rationalen Versuch der Bemeisterung
des Unbewussten und hin zur therapeutischen Dyade beginnt spätestens mit Sándor Ferenczi:
Die therapeutische Beziehung wurde zentral, die überragende Stellung der Deutung zur
Veränderung der Persönlichkeit des Patienten wurde relativiert. Anders formuliert: Eine
Bewegung weg von Freuds Priorität des Intrapsychischen hin zum Interpersonellen, von der
One body psychology zur Two body psychology. Carlo Strenger beschrieb [Strenger 1989]
die beiden Pole als die „klassische“ und die „romantische“ Denkrichtung in der
Psychoanalyse.
Diese Entwicklungslinie geht dann von Ferenczi über Balint, die englische „Independent
group“ vor allem mit Winnicott zur heute vorherrschenden Objektbeziehungstheorie.
Die Institutionalisierung der Psychoanalyse vor allem in den USA nach 1938 (nach der
Marginalisierung des kulturkritischen Flügels der analytischen Bewegung mit Reich, Fenichel
etc.) allerdings ging vorerst in die Gegenrichtung: Die Psychoanalyse verstand sich als
Naturwissenschaft, fungierte durchaus auch als Anpassungs-Technologie: Dies führte zwar zu
einer immensen institutionellen Macht in der Psychiatrie und Medizin und für Jahrzehnte
auch zur fast absoluten kulturellen Definitionsmacht und entsprechenden Arroganz, ebenso

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führte es spätestens seit Anfang der Siebzigerjahre zum rasanten Niedergang und heute fast
zur Marginalisierung psychodynamischer Denkweisen nicht nur in der Psychiatrie, sondern
auch in den Geisteswissenschaften.
Auch hier führte eine „romantische Gegenbewegung“ die jüngeren Therapeuten meist aus der
Psychoanalyse oder zumindest aus der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung oft
hinaus in Richtung der damals aufblühenden „humanistischen Psychotherapien“.

Es gab und gibt also Kritik an der Psychoanalyse von zwei Seiten:
Im Sinne der Re-Biologisierung wird der Psychoanalyse seitens der evidence based psychiatry
vorgeworfen, dass sie den wissenschaftlichen Kriterien der Überprüfbarkeit, Falsifizierbarkeit
etc. nicht genügen könne – dass sie niemals Teil des wissenschaftlich-aufklärerischen
Unternehmens gewesen sei und auch niemals sein werde!
Aber auch die gegenteilige Kritik an der Psychoanalyse als „instrumentelle“ und daher
verengte „angewandte Aufklärung“ hat schon Tradition: So wurde und wird den Analytikern
von Seiten vieler Psychotherapeuten vorgeworfen, zu kopflastig zu sein. Sie zwinge ihre
Patienten zum Verbalisieren (oft auch zärtlich „Hirnwichsen“ genannt): Aus diesem
Blickwinkel ist die Analyse zu rational, zu sehr sprachbetont, sie vergesse den Körper,
vergesse das Positive – sie sei insgesamt eindeutig zu wenig romantisch oder: zu sehr der
Aufklärung verpflichtet!

                           Der Fluch der Popularisierung

Der Umgang mit analytischen Konzepten wurde in den letzten Jahrzehnten noch dadurch
heillos kompliziert, dass psychoanalytische Termini in die Alltagssprache eingegangen sind
und von fast allen Menschen inflationär verwendet werden (meist ohne Kenntnis der
Konzepte): Wer hat nicht schon in einer Beziehungsdiskussion der Partnerin vorgeworfen,
dass sie „unbewusst“ aggressiv gegen mich sei (oder schlimmer: dass eine Frau „unbewusst“
Ja meine, auch wenn sie Nein sagt…). Das Unbewusste wurde zu einem kulturellen
Allerweltsbegriff – verbunden mit der Illusion, dass man ja dank Psychoanalyse heute darüber
Bescheid wisse und nun auch diesen Bereich des Seelenlebens (vor allem des Seelenlebens
der anderen), sich zu eigen gemacht habe. Dadurch wurde die narzisstische Kränkung, dass
„das Ich eben nicht Herr im eigenen Haus sei“ entkräftet und die Illusion gestärkt, dass man
sich nun die Schätze dieses Unbewussten dienstbar gemacht habe. (Analytisch formuliert:

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Abwehr bzw. Verleugnung von Abhängigkeit durch Rationalisierung und Halbwissen 
Vergleiche S. Ehrlich [Ehrlich, S. in: Ermann, M. (Hsg.) 2006, S. 120])

Obwohl also        das Wissen darüber, dass „Bewusstheit ein seltenes Attribut unserer
Handlungen sei“ (Cremerius 1986, S. 1) mehrheitsfähig geworden ist, obwohl das
Unbewusste auch in den Neurowissenschaften angekommen ist – der gleiche Begriff meint
hier meist nicht dasselbe! [„Non aware“ bedeutet etwas anderes als „psychodynamisch
unbewusst“.]

Das Schicksal der Popularisierung, der Instrumentalisierung und vor allem Simplifizierung
blieb aber auch den Konzepten der Aufklärung und der Romantik nicht erspart: Unschwer
kann man in vielen heutigen esoterischen Bewegungen (und auch in der Sprache und der
Praxis vieler PsychotherapeutInnen) eine Kümmerform romantischen Denkens mit ihrer
Absolutsetzung des Selbst erkennen: Die Stimme des Bauches, das Hohelied auf die Intuition,
das unschuldige innere Kind – alles auch Metaphern für „seine Majestät das Ich“, das sich nur
durch genügend intensive Selbsterfahrung freisetzen muss von allen Zwängen, um dann sein
Potential auszuschöpfen etc. etc.    Hier geht es dann weniger um psychotherapeutische
Behandlung oder gar Arbeit, es geht um Heilung, um „Heil-Sein“ um den Wunsch nach
Rückkehr ins Paradies (Um Missverständnisse zu vermeiden: Dieser Wunsch lebt in uns allen
und ist natürlich wichtig, vitalisierend und oft auch handlungsleitend – die Absolutsetzung des
Wunsches inklusive der Überzeugung, dass irgendwann der innere Schatz gefunden wird und
dann der Konflikt endlich aufhören möge – diese Überzeugung entspricht nicht der Haltung
einer psychodynamischen Konflikt-Psychologie.) Als Psychoanalytiker sehen wir keinen
„reinen“ innersten Kern des Menschen, kein unverdorbenes und nur gutes wahres Selbst.
Daher neige ich dazu, die betont „positiven“ Definitionen einiger humanistischer
Psychotherapeuten eher als Ausdruck eines Wunsches denn als Realität der Conditio humana
zu begreifen. Ein berühmtes Beispiel dafür finden wir bei Carl Rogers:

Der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner
Persönlichkeit sind von Natur aus positiv, von Grund auf sozial, vorwärts gerichtet, rational
und realistisch…
                                              Rogers 1961, zitiert nach Eva Jaeggi 1998, S. 76

                                                                                             9
Eine solche absolut positiv definierte Subjektivität grenzt für mich an eine Omnipotenz-
Phantasie: Wenn wir nur alle „ganz bei uns selbst“ wären, unsere Mitte, unseren innersten
Kern gefunden hätten etc. etc. – dann können wir unser Selbst „neu-designen“, dann könnten
wir die Kräfte des Unbewussten in Dienst nehmen als unendliche Energiequelle zur
Selbstverwirklichung etc. etc.

Noch viel massiver aber erleben wir das Diktat einer nicht mehr aufklärerischen, sondern nur
mehr „formatierenden“ technokratischen und ökonomischen Vernunft. Adorno und
Horkheimer haben schon 1946 (in „Die Dialektik der Aufklärung“) vor einer solchen
„instrumentellen“ Vernunft gewarnt.

Sie alle kennen die „gedanklichen Textbausteine“, die Plastiksprache in den verwischten
Grenzbereichen zwischen öffentlich und privat, die von dieser instrumentellen Vernunft
zeugt: „Ich sehe das nur sachlich…“ oder: „Wir sollten das ganz emotionslos diskutieren…“
Nicht nur die Psychoanalyse, auch die Neurowissenschaft sagt uns eindeutig, dass es keine
Kognition   ohne     Emotion     gibt.   Daher   sind   die   obigen   Stehsätze   immer   auch
Herrschaftsinstrumente: Wenn ich das nur sachlich sehe, dann muss es mein Gegenüber wohl
emotional sehen, ist leider noch nicht fähig zu einer solch reifen und „objektiven“ Position
wie ich. (Christopher Bollas hat für die Proponenten einer solchen Denkweise den schönen
Ausdruck „Normotiker“ geprägt – als absolutes Gegenteil des Psychotikers: Während der
Psychotiker objektive Außenwelt und subjektive Innenwelt nicht mehr unterscheiden kann,
leugnet der Normotiker für sich selbst und auch für andere schon die Existenz einer
handlungsleitenden subjektiven Innenwelt der Wünsche, Ängste und Phantasien. Winnicott
würde sagen: Solche Menschen seien dann zwar nicht psychisch krank, aber wohl auch nicht
sehr lebendig. Dies wiederum erleichtert ihnen wohl die Herrschaft über sich selbst und leider
oft auch über uns!
Auch dieses Beharren auf der Sachebene kann man interpretieren als Wunsch nach möglichst
absoluter Kontrolle – Kontrolle sowohl über das Selbst als auch über die Welt der beliebig
manipulierbaren Objekte!

Wir müssen uns heute kritisch die Frage stellen, wie weit psychotherapeutisches Denken –
durchaus ausgehend vom analytischen Grundmodell – auch für die emotionale Zurichtung des
Menschen im 20. Jahrhundert mitverantwortlich war, wie weit Einfühlung und dadurch auch

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Manipulation der Mitmenschen als heute entscheidende „Softskills“ den Spätkapitalismus
mitgeprägt haben [vergleiche Eva Illousz, Eli Zaretsky].
Eli Zaretsky spricht von den Psycho-Techniken als „Samthandschuh über der eisernen Faust
der Disziplinierung“. Dies klingt zugegebenermaßen extrem, aber:
Heute ist die Sprache der „Psychos“ auch in der ökonomischen und politischen Sphäre
durchaus präsent: Alle werden „ernst genommen“, alle sind von irgendwelchen Missständen
„tief betroffen“, alle Entscheidungsträger wollen irgendwann endlich „nicht mehr verdrängen,
sondern wirklich hinsehen“ etc. etc.
Umgekehrt aber diktiert die Sprache und wohl auch das Denken der Ökonomie zunehmend
unseren therapeutischen Bereich: Im Zeitalter des Benchmarking und der permanenten
Dokumentation und Evaluation wird die Frage entscheidend, wer hier effizienter, schneller
und billiger behandelt? [Für Betriebswirte formuliert: Eher das Prinzip „Billigst-Bieter“ als
das     Prinzip    „Best-Bieter“,   am    besten:   „Power-Coaching“      statt   langwieriger
psychodynamischer Therapie.]
Hier muss ein psychodynamisches Denken sich querstellen zum Zeitgeist, der die Ideale der
Rationalität, der effizienten Planung, der Beschleunigung aller Lebensaspekte und dadurch
den Anpassungsdruck vorantreibt.

Allerdings sollte eine solche kritische Haltung nicht prinzipiell die Bereitschaft zur
Überprüfung unseres analytischen Handelns von außen ausschließen, ebenso wenig den
Versuch, möglichst viele Konzepte aus dem psychoanalytischen Theorie-Gebäude
interdisziplinär zu vergleichen, dadurch auch abzusichern – oder aber eben kritisch zu
überarbeiten.
Das folgende Basismodell der Objektbeziehungen möchte ich Ihnen vorstellen, weil es
(soweit ich es überblicken kann) sowohl mit den Ergebnissen der Neurowissenschaften als
auch der Bindungsforschung gut kompatibel ist, weil es aber auch eine Komopromiss-
Möglichkeit zwischen der Absolutsetzung des Intrapsychischen und des Interpersonellen
darstellt – also zwischen der „klassischen“ und der „romantischen“ Position.

A) Laut Otto Kernberg ist unser Seelenleben aufgebaut aus „Molekülen“. Diese besehen
      jeweils aus einer Selbstrepräsentanz und einer Objektrepräsentanz, verbunden durch einen
      Affekt.

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Die beiden großen Entwicklungsaufgaben bestehen

   1.     in der einigermaßen verlässlichen Trennung von psychischer Innenwelt und
          Außenwelt bzw. von Selbst- und Objektrepräsentanzen (psychiatrisch
          bezeichnet man dies als Erreichen der Realitätsprüfung). Repräsentanzen
          bedeutet: Es handelt sich hier um innere Bilder! Unsere Selbstrepräsentanz,
          unser inneres Bild von uns selbst ist nicht gleich dem Selbst, wie es zum
          Beispiel die anderen erleben, umgekehrt ist auch die Objektrepräsentanz – so
          zum Beispiel mein inneres Bild meiner Mutter, meines Vaters – nicht gleich
          dem realen Objekt in der Außenwelt. Dies ist für uns TherapeutInnen eine
          völlig banale und klare Unterscheidung – für sehr viele unserer PatientInnen
          aber ist die Differenz zwischen ihren inneren Bildern (z. B. des Partners) und
          dem realen Objekt erst in der Therapie erstmals und schmerzlich erkennbar:
          Schmerzlich deshalb, weil dies ja immer bedeutet, dass unsere Kontrolle über
          das Objekt unvollkommen bleiben muss, dass alle unsere Objekte auch von uns
          unabhängige Subjekte sind!
   2.     Die zweite Entwicklungs-Aufgabe besteht im Erreichen einigermaßen
          kohärenter Selbst- und Objektrepräsentanzen, also im Aushalten der
          notwendigen Ambivalenz, des gleichzeitigen Bestehens positiver und negativer
          Anteile von Selbst- und Objektrepräsentanzen. [Sehr auffällig, auch sozial
          auffällig wird dies für uns besonders dann, wenn es nicht ausreichend gelingt:
          So z. B. bei Borderline-Persönlichkeits-Organisation] Entscheidend beim
          Kernberg-Konzept: Es kann keine kohärenten Objektrepräsentanzen geben
          ohne einigermaßen kohärente Selbstrepräsentanz und umgekehrt! Wer also
          wesentliche Anteile seines Selbst nicht bewusst als zum eigenen Seelenleben
          gehörig anerkennen kann, dem wird dies auch mit den Objekten nicht gelingen.
          Diese bleiben dann „nur gut“ bzw. „nur böse“ mit der Folge der
          unausweichlichen Schaukelbewegung zwischen Idealisierung und Entwertung.
          Die entscheidende Bewegung ist hier nicht mehr wie bei Freud vertikal
          zwischen bewusst/unbewusst bzw. Verdrängung/Rückkehr des Verdrängten
          sondern horizontal: Die nichtbewusstseinsfähigen, verleugneten, dissoziierten
          Ich-Anteile sollten zugänglich werden, ein realistischeres inneres Bild der
          eigenen Person ermöglichen und erst dadurch auch einen adäquateren Umgang

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mit den Objekten ermöglichen. Es gibt also nicht das Eine ohne das Andere:
              Erst eine bessere affektive Bekanntschaft mit uns selbst ermöglicht uns
              erfolgreichere „realistischere“ Objektbeziehungen et vice versa!

Es geht also auch hier um Aufklärung über uns selbst und die Objekte, um ein „emotionales
Wissen“. Daher noch ein „zuschaltbares“ Konzept bezüglich dieser Klammer zwischen
Selbst- und Objektrepräsentanz, dem immer dazugehörigen Affekt:

   B)      Wilfried Bion beschrieb 3 verschiedene Möglichkeiten von „Links“, von
           affektiven Modi der Beziehung zwischen verschiedenen Anteilen des Selbst oder
           der Objekte: Wir können mit uns selbst oder einem anderen verbunden sein durch
           L, H und K – entsprechend Love, Hate und Knowledge. Knowledge allerdings
           bedeutet hier kein Faktenwissen sondern emotionales Wissen, Beziehungswissen,
           Erfahrungswissen. Das Gegenteil von K wäre Minus K; also die Verweigerung
           und Abwehr von Wissen, die Verleugnung der Beziehung. Im Extremfall: Non K.
           Dieser Zustand von Non K stellt sich speziell bei einem Kind ein, das jegliche
           Hoffnung aufgegeben hat, einigermaßen verlässliches emotionales Wissen vor
           allem über seine Eltern zu erlangen (aufgrund von deren widersprüchlichem oder
           überaggressivem Verhalten) und daher jeglichen Versuch, etwas von der Welt zu
           erfahren überhaupt einstellt  Psychose.

Nur intrapsychische „innere Tolerenz“ ermöglicht interpersonelle Toleranz

Wenn psychoanalytische Behandlung Hilfe zur Selbsthilfe bieten soll – welchem Selbst soll
hier geholfen werden? Was sollte das Ziel der Behandlung sein?
Von den zahllosen Definitionen des „Erfolgs“ einer psychoanalytischen Behandlung habe ich
mir eine für meine Argumentation passende ausgewählt, nämlich die Beschreibung der
„seelischen Reife“ von Jean Quinodoz. Für ihn zeigt sich der Erfolg einer psychoanalytischen
Behandlung dadurch, dass

   A) eine Integration des Selbst durch „Rückholung“ bzw. Wiederaneignung abgespaltener
        Ich-Anteile ermöglich wird.

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B) Dies bewirkt dann eine Re-Organisation der Psyche als Folge dieser intrapsychischen
       Integration und
   C) dies wiederum ermöglicht das Aufgeben der Kontrolle bzw. der Illusion der totalen
       Kontrolle sowohl über unsere Objekte als auch über uns selbst.

Schon 1971 beschrieb Helm Stierlin (in seiner damaligen Position zwischen Psychoanalyse
und systemischer Therapie) mehrere Polaritäten, Spannungsbögen in Richtung einer solchen
psychischen Reife, er beschrieb lebenslange „Versöhnungs- und Abgrenzungsarbeit“. Dabei
wichtig die Balance zwischen Augenblick und Dauer, zwischen Differenz und Gleichheit,
zwischen Nähe und Distanz etc. Nur durch diese dauernde „Feineinstellung“, das dauernde
Schaukeln zwischen Individuation durch das Objekt und Individuation gegen das Objekt,
durch diese Bewegung hin zu einem gegenseitigen Anerkennen bleiben Beziehungen offen,
bleibt Bewegung möglich.

Es gäbe dazu noch viele interessante analytische Konzepte, hier nur nochmals die für mich
zentrale These: Eine verbesserte affektive Kenntnis des Selbst ist nicht trennbar von der
Anerkennung der Autonomie des Objekts: Die Spannung zwischen unseren Wünschen nach
möglichst   großer     Autonomie,    aber   eben   auch    nach    möglichst   umfassendem
„Aufgehobensein“ in Beziehungen bleibt, unsere Abhängigkeit von den anderen (und den
Bildern der anderen in uns) kann uns eben dann stärken, „empowern“, wenn sie erkannt und
anerkannt wird.      Letztlich also eine vergrößerte psychische Autonomie gerade durch
Anerkennung der Heteronomie des Selbst!

Psychoanalyse kann und soll also den Menschen gerade mit den „Schamteilen seiner Seele“
(nach Friedrich Nietzsche) bekannt machen. Oder mit Bion formuliert: K sollte eindeutig
größer sein als Minus K. Dann werde ich sicher nicht alle diese Teile meines Selbst lieben –
aber ich kann ihnen in meinem Seelenleben trotzdem politisches Asyl gewähren, kann
sozusagen meine innere Fremdenfeindlichkeit reduzieren. (Die populäre Formulierung „sich
selbst annehmen“ bleibt immer nur teilweise erreichbar: Realistisch aber ist das „Annehmen“
im Sinne von Aushalten der eigenen Durchschnittlichkeit, Bedürftigkeit.)
Dass unser Selbst eine komplizierte Mischung vieler Anteile darstellt, wird beim sogenannten
gebildeten Publikum zusehends mehrheitsfähig: Daher sicher nicht zufällig der große Erfolg
eines populärwissenschaftlichen Buches von Richard David Precht: „Wer bin ich, und wenn
ja – wie viele?“ (Erschienen 2007, Ende 2010 bereits in der 37. Auflage!)

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Der im Jahr 2000 leider viel zu früh verstorbene Theoretiker einer intersubjektiven
Psychoanalyse Stephen Mitchell hat dies in seinem letzten Buch so formuliert:

Jeder von uns ist zu einer bunten seelischen Gemeinschaft geworden [Original: psychic
community]. Eine Person zu sein scheint heute viel komplizierter als je zuvor, es erfordert
sich selbst zu entdecken, aber auch zu formen, sich selbst zu erforschen, aber auch zu
kontrollieren. […] Je gefährdeter wir uns fühlen, desto mehr suchen wir die Kontrolle.
                                                                       Mitchell 2002, S. 24 f.
                                                                            Übersetzung: R. G.

Erst durch die Bekanntschaft mit diesen multiplen Selbstanteilen können wir Selbst-
Stigmatisierung zurücknehmen, eben        dadurch aber müssen         wir    Andere   weniger
stigmatisieren, müssen im Idealfall auch Mitmenschen/Objekte weniger beschämen.
Die Heterogenität und Heteronomie des modernen Subjekts bleibt also unheilbar,
unaufhebbar. Aber dies sollte nicht nur Anlass zur Sorge oder Verzweiflung sein. Ein
einigermaßen angstfreies Interesse an unseren individuellen „dunklen Kontinenten“ erleichtert
auch unser soziales Leben.

Etwas simplifiziert könnte man sagen, dass gerade die unbekannten oder aber ungeliebten
Teile unseres Selbst der Selbsthilfe am meisten bedürfen – wenn sie denn vorher als
„Eigenanteile“ anerkannt werden können und nicht (via Projektion) in der Außenwelt
bekämpft und verachtet werden müssen!

In mittelalterlichen Landkarten stand oft über den noch nicht erforschten weißen Flecken
„beyond this point are monsters“. Die Forschungsreisenden stellten dann fest, dass dort keine
Monster lebten, sehr wohl aber fremde Menschen und Stämme. Es sollte zumindest heute
unser politisches Ziel sein, diese anderen Völker nicht zu unterdrücken, sondern (auch
psychisch) ihre anderen, aber gleichberechtigten Lebensweisen anzuerkennen. Dies gilt auch
für unsere „innere Ur-Bevölkerung“.
Aber: Einige weiße Flecken auf unseren mentalen innerpsychischen Landkarten werden
bleiben. Nie werden wir unsere Objekte, nie aber auch uns selbst ganz kennen – nie unsere
Wünsche und Bedürfnisse 1:1 „übersetzen“ können. Es bleibt ein Rest, ein Kern des „Non

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communicado“ (nach Winnicott). Schon jedes Kind macht diese Erfahrung spätestens beim
Erlernen der Sprache:

Denn bei jedem Versuch der Verbalisierung bzw. Symbolisierung einer primärprozesshaften,
körpernahen Erfahrung spüren wir – oft sehr schmerzlich – dass ein Rest unserer
intrapsychischen Erfahrung bleibt, den wir durch Worte nicht interpersonell vermitteln
können! („Spricht die Seele – so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr!
Schiller/Votivtafeln)

Es bleibt also ein „nicht-decodierbarer Rest“ schon beim Versuch, uns selbst (und anderen)
unsere eigene Erfahrung zu vermitteln – umso mehr aber bei unseren Versuchen, die seelische
Bewegung in unseren Objekten zu erahnen. Speziell für jene unserer PatientInnen, die nicht
die gute frühkindliche Erfahrung eines verlässlichen „affect attunement“, einer emotionalen
Feineinstellung der Mutter auf ihr Verhalten machten konnten, führt dies im Extremfall dazu,
dass jeglicher Versuch, eigene Motive oder auch Motive der anderen zu erraten, als
hoffnungslos eingestellt bzw. aktiv verweigert wird! (Entspricht bei Bion dem Link im Sinne
von „Non-K“.)

Jegliche Behandlung im Sinne einer analytischen Grundhaltung muss immer auch ein
Übersetzungsversuch sein, eine Anstrengung, den unübersetzbaren Teil zu verkleinern im
Sinne des „affektiven Bekanntwerdens mit sich selbst – und den Objekten“.

Aber ein Rest bleibt – und ist einer der unvermeidbaren Anlässe zur lebenslangen
Trauerarbeit, in der Analyse zum Durcharbeiten und zur Akzeptanz eines Restbestandes an
Alleinsein – der je nach Persönlichkeitsstruktur und Reifegrad als auch bereichernd oder aber
nur schmerzlich erlebt wird.

Neben dem Beharren auf einem lebenslangen Konflikt – der nie vollständig bereinigt werden
kann – sehe ich diese Übersetzungs-Anstrengung und ihren bestenfalls partiellen Erfolg als
einen der Punkte, in denen sich ein psychodynamischer Ansatz von vielen anderen Therapien
unterscheidet: Auch eine noch so intensive Bekanntschaft mit dem „inneren Kind“ oder dem
„wahren Selbst“ kann diesen Rest nicht auf Null reduzieren!

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All diese unsere Selbstanteile mit ihren zugehörigen Phantasien, Wünschen und Begehren
prägen uns: Sie sind der Grundstock unserer Ressourcen, unserer Resilienz, aber auch unserer
Vulnerabilität in der Beziehung zu uns selbst und zur Welt.

Erst die mühselige Arbeit an der Anerkennung des unübersetzbaren/unzugänglichen
„intrapsychischen Rests“ ermöglicht es den Patienten – und auch uns Analytikern – die
unüberbrückbare Differenz zwischen uns und unseren Objekten anzuerkennen. Erst die
mühsame und immer unvollständig bleibende Bekanntschaft mit dem „inneren Afrika“ kann
primär zur „intrapsychischen Toleranz“ führen, zum „Annehmen“ der durch die analytische
Arbeit erst gezeigten Anteile des Selbst, die wir nicht so sehr schätzen.
Dies aber ist meiner Ansicht nach die beste Voraussetzung für interpersonelle bzw. soziale
Toleranz!

Ein Psychoanalytiker der „auf der Seite seines Patienten steht“ (inflationär gebraucht, aber
immer noch wichtig…), ein solcher Analytiker wird zwangsläufig seine Patienten auch
ermutigen und „empowern“ zum Widerstand gegen die „Leitwerte“ eines reduzierten Daseins
als Konsument und als „Ich-AG“:
Eine analytische Haltung muss konträr sein zu den fast schon terroristischen Forderungen
nach schnellen Lösungen, nach durchwegs positivem Denken, vor allem nach schnellem
Handeln ohne vorheriges Denken. Wir sollten unseren PatientInnen Möglichkeitsräume und
Denkräume offen halten und Psychotherapie nicht zum Trainingslager zwecks Erlernen
effizienterer Manipulationsstrategien verkümmern lassen. (Stichwort: psychoanalytische
Organisations-Beratung…)
In einer analytisch orientierten Therapie werden wir immer nach den subjektiven und
biographisch begründeten Motiven für eine Auflehnung des Patienten gegen die Gesellschaft
fragen. Wir sollten aber die „Anpassungs-Wünsche“ unserer Patienten genauso im Fokus
behalten, um mit den Patienten gemeinsam eine genauere emotionale Bilanz über die Kosten
dieser Anpassung an Eltern, geliebte Objekte, aber auch an die Arbeitswelt zu ermöglichen.
Oft ist dadurch auch eine Milderung des Über-Ich-Druckes zu erreichen, ein Übergang von
der Über-Ich-geleiteten Persönlichkeit zur eher Ich-geleiteten Lebensweise. Erst dadurch kann
der Wunsch nach perfektem Funktionieren umgewandelt werden in ein Leben des „not
perfect, but good enough“. Dieser Unterschied zwischen Perfektionsdruck und Zufriedenheit
mit dem „hinlänglich gut sein“ aber bedeutet für viele Patienten auch den Unterschied

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zwischen bloßem seelischem Überleben und einem „guten Leben“, einer Verbesserung der
Lebensqualität in Richtung Arbeitsfähigkeit, Liebesfähigkeit und vor allem Genussfähigkeit.

Trotz vieler beeindruckender Verlaufsstudien zum Erfolg von Psychoanalysen und vor allem
psychoanalytischen Therapien können wir Psychoanalytiker nicht beweisen, dass ein „mit
sich selbst bekannt gewordener“ Mensch (sei er nun Patient oder Therapeut) unbedingt
glücklicher ist oder auch nur ein zufriedeneres Leben führt. Ich bin aber überzeugt, dass eine
analytische Therapie sehr vielen Menschen helfen kann, die ungeliebten Anteile ihres Selbst
anzunehmen und dadurch ihre eigene Beschränktheit und Durchschnittlichkeit besser
auszuhalten. Dadurch müssen sie weniger trauern und wüten gegen ein ungerechtes Schicksal
und haben dann mehr seelische Energie übrig zur Bewältigung der lebenslangen
intrapsychischen und interpersonellen Konflikte.
Sie werden sich dabei sicher nicht immer nur gesund oder gar perfekt fühlen. Perfekt im Sinn
von vollkommen, abgeschlossen, widerspruchsfrei ist auch die Theorie nicht, von der ich
Ihnen Bruchstücke versucht habe nahezubringen: Auch hundert Jahre nach Freud gibt es
genug Lücken, Schwächen, Risse, Widersprüche. Wahrscheinlich ist das aber auch gut so:
Eine perfekt funktionierende Theorie-Maschine hätte für mich etwas Bedrohliches im Sinne
der instrumentellen Vernunft.
Nehmen wir also die Lücken, die Risse im Theoriegebäude auch als Chancen, als Öffnungen
nach außen, als Potential zur Erzeugung neuer Unsicherheiten und Fragen. Durch die Risse
können wir in die Welt hinausschauen, kann auch die Außenwelt hoffentlich in unsere
Gedankenwelt hereinleuchten.
Daher ein letztes Zitat nicht von Freud, sondern von einem großen Romantiker:

There is a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in. That’s how the light gets
in.
                                                                      Leonard Cohen, Anthem

Im Idealfall fördert analytische Behandlung das Eindringen dieses Lichtes. Das Licht der
affektiven Aufklärung über sich selbst ermöglicht erst die Bewegung hin zu anderen
Menschen im Sinn der „bezogenen Individuation“.
Voraussetzung für das Erreichen dieses Zieles: Der Patient fühlt sich vom Therapeuten
verstanden und daher „sicher gebunden“.

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Dies aber ist eben nur die Voraussetzung und nicht schon das Ziel der Therapie oder der
Analyse: Dieses Ziel besteht eben darin, dass sich der Patient selbst besser verstehen kann,
dadurch auch die Abhängigkeit vom Therapeuten aufgelöst wird – und sich der Patient nach
Ende der Behandlung im Sinne der „unendlichen Analyse“ selbst helfen kann!

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Literatur

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In: Ermann, M. (Hrsg.): Was Freud noch nicht wusste. Neues über Psychoanalyse, S. 113 –
125

Freud, S.: Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie
Wien 1911 (GW VIII, S. 103 – 115)

Freud, S.: Das Unbewusste
Wien 1913 (GW X, S. 263 – 303)

Freud, S.: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse
Wien 1917 (GW XII, S. 1 – 12)

Freud, S.: Massenpsychologie und Ich-Analyse
Wien 1921 (GW XIII, S. 71 – 162)

Freud, S.: Das Ich und das Es
Wien 1923, (GW XIII, S. 235 – 290)

Gross, R.: Das Bild des Psychoanalytikers/das Bild der Psychoanalyse
In: Texte/Jahrgang 19/Nr. 3/1999
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Laplanche, J.: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse
Frankfurt/Main 1996, Fischer

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Mertens, W.: Wo Es war, soll Emotion werden. Das Unbewusste in der heutigen
Psychoanalyse.
Frankfurt/Main 2006
In: Ermann, M. (Hrsg.): Was Freud noch nicht wusste. Neues über Psychoanalyse, S. 19 – 38

Mitchell, St.: Can love last? The fate of romance over time
New York 2002, Norton

Nitzschke, B.: Aufbruch nach Inner-Afrika. Essays über Sigmund Freud und die Wurzeln der
Psychoanalyse
Göttingen 1998, VandenHoeck und Ruprecht

Phillips, A.: Terrors and experts
London 1995, Faber and Faber

Quinodoz, J.-M.: Die gezähmte Einsamkeit. Trennungsangst in der Psychoanalyse.
Tübingen 2004, Edition diskord

Safranski, R.: Romantik. Eine deutsche Affäre.
München 2007, Hanser-Verlag

Stierlin, H.: Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Eine Dynamik menschlicher
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Strenger, C.: The designed self. Psychoanalysis and contemporary identities.
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International Journal of Psychoanalysis 70, 1989, S. 593 – 610

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