Dr. Rainer Gross Referat Psychosomatiktagung in Graz am 22.01.2011 Affektive Bekanntschaft mit sich selbst
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Dr. Rainer Gross Referat Psychosomatiktagung in Graz am 22.01.2011 Affektive Bekanntschaft mit sich selbst In dieser Arbeit möchte ich Ihnen die psychoanalytische Denkweise, den psychodynamischen Blick auf uns selbst und unsere Patienten als ein Projekt im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Romantik vorstellen. Also schon im ersten Absatz drei große Worte: Aufklärung, Romantik, Psychoanalyse. Seriöserweise daher einleitend zumindest eine kurze Definition dessen, was ich hier unter Aufklärung und Romantik ideengeschichtlich verstehe. (Meine ganz persönliche Sicht auf die Psychoanalyse dann später, hier nur soviel: Psychoanalyse als Theorie-Gebäude und klinisches Modell beschränkt sich für mich weder auf das Setting von 3 – 4 Stunden pro Woche liegend noch auf die Mitgliedschaft in einer psychoanalytischen Vereinigung. Ich bitte also „Psychoanalyse“ oder „psychoanalytisch“ jetzt zu verstehen als einen Zugang, eine Sichtweise auf uns selbst und die Welt.) Zur Aufklärung: Der philosophische Siegeszug der Aufklärung begann spätestens im 18. Jahrhundert in Frankreich und England mit einer absoluten Dominanz der Ratio, der universellen Vernunft: Die Natur und auch die menschliche Natur sollte für die Aufklärer objektiv erklärbar sein, die Suche nach universell begründbaren Naturgesetzen war der Hebel zur Kritik und Überwindung aller überkommenen Autoritäten. Das war fast eine „Vernunft- Religion“ und entwickelte dadurch eine immense säkularisierende Schubkraft für die Naturwissenschaften, ermöglichte technischen Fortschritt in einem davor ungeahnten Ausmaß. So brachte die Aufklärung auch eine völlig neue Sicht auf den Menschen selbst, die Möglichkeiten und Grenzen der Verstandestätigkeit. In diesem Fortschrittsoptimismus wurde die berühmte Frage Immanuel Kants „Was können wir wissen?“ beantwortet im Sinne von: Fast alles! 1
Von Kant stammt ja die bis heute berühmteste Antwort auf die Frage: „Was ist Aufklärung?“ Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Kant 1783/2008/S. 9 Kant war bekanntlich aber skeptisch nicht nur bezüglich der Grenzen der menschlichen Vernunft, sondern auch bezüglich der Bereitschaft der Menschen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen: Das berühmte Sapere aude (habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen) war für ihn ein Projekt für wenige: Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen zeitlebens unmündig bleibt und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. […] Es ist für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen… Kant 1783/2008/S. 9 Heute würden wir vielleicht formulieren: Empowerment, speziell „Self-Empowerment“ ist nicht jedermanns Sache, wird keinem geschenkt, ist anstrengend… Sigmund Freud sah das 100 Jahre später genauso: Die wenigsten Kulturmenschen sind fähig, ohne Anlehnung an andere zu existieren oder auch nur ein selbständiges Urteil zu fällen. Die Autoritätssucht der Menschen kann man sich gar nicht arg genug vorstellen. Freud, GW VIII, S. 109 In: Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie Wieder hundert Jahre zurück zu Kant: Er betonte auch die Grenzen der Vernunft. Ganz abgesehen von den äußeren Zwängen und Begrenzungen durch Autoritätshörigkeit des Menschen sah er besorgt die irrationale Macht der Affekte: Es gäbe ja im Menschen auch das „Andere“ jenseits der Rationalität: 2
Die Triebe der menschlichen Natur sind die Bewegkräfte des Willens, der Verstand kommt nur dazu […] Ist etwa eine Leidenschaft besonders stark, so hilft die Verstandestätigkeit dagegen nur wenig. Kant zitiert nach Nitzschke, S. 30 Dies wiederum bestätigt knapp 200 Jahre nach Kant der Hirnforscher Gerhard Roth: Was uns elementar bestimmt, auf der untersten Ebene, sind unsere Affekte […] Ratio allein, das kann man gehirnanatomisch zeigen, bewegt überhaupt nichts. Der Apparat, der unsere Ratio im Gehirn produziert, ist evolutiv so konstruiert, dass er selbst gar nichts bewegen soll. Roth, G., 2009 In.: Der Spiegel/Sonderheft Wissen, S. 24 Bleibt nur die Frage sowohl für Kant Anfang des 19. Jahrhunderts als auch für uns Anfang des 21. Jahrhunderts: Soll uns diese so eingeschränkte Wirkungsmacht der Vernunft mit Freude oder eher mit Angst erfüllen? Die Reaktion auf die Dominanz der Vernunft in der Aufklärung kennen wir ja geistesgeschichtlich als eine „Gegenrevolution des Gefühls“ in der Bewegung der (vor allem deutschen) Romantik des 19. Jahrhunderts: Gerade weil die Aufklärung den objektiven Blick von außen verabsolutierte und die Rolle des Einzelnen eindeutig dem vernünftigen Ganzen unterordnete, begannen sich die sensibelsten Intellektuellen und Künstler dagegen aufzulehnen [heute: Evidence based, III. Person- Perspektive]: Dies führte geradezu zu einem Kult des Subjektiven und des Gefühls, erstmals wurde das Ich fast heilig gesprochen. Laut Isaiah Berlin ermöglichte diese romantische Denkweise einem einzelnen Menschen erstmals in der Geschichte die Möglichkeit, gegen die gesamte Welt sich im Recht zu fühlen – wenn er nur mit sich selbst eins wäre, sich selbst gefunden hätte. Diese romantische Geisteshaltung prägte zeitweise auch den jungen Goethe (Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt – Goethe/Werther). Die Menschen fühlten sich unbehaglich in ihrer kalten und von der wissenschaftlichen Aufklärung entzauberten Welt. Aus psychologischen und auch aus politischen Gründen sollte nun nicht mehr die Welt erforscht und unterworfen werden, das Interesse zielte vielmehr auf das eigene Selbst, auf die Seele: Der romantische Dichter Novalis schreibt: Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. Allerdings ging es ihm nicht nur um Selbstversenkung und Nabelschau. Daher der nächste 3
Satz bei Novalis: Wer hier stehen bleibt, gerät nur halb. Der zweite Schritt muss wirksamer Blick nach außen sein: Selbsttätige Beobachtung der Außenwelt! Also gibt es bereits bei den Romantikern die Oszillationsbewegung Blick nach innen/Blick nach außen. Wir sehen die Pendelbewegung zwischen objektiver, universeller Ratio in der Aufklärung und subjektiver Emotio in der Romantik. Beide Denkrichtungen, Aufklärung und Romantik, hat Sigmund Freud schon als Gymnasiast kennengelernt. Er wuchs im Wien des Fin de siècle im Klima eines fast absoluten Fortschrittsglaubens auf: Der Triumph einer naturwissenschaftlich-positivistischen Weltsicht hatte immense technische Fortschritte ermöglicht, aber die Menschen fühlten sich entwurzelt und seelisch heimatlos. Dementsprechend gab es auch im Wien um 1900 sehr mächtige irrationale Strömungen, gab es auch ein immenses Interesse an den dunkleren Bezirken des Seelenlebens. Die Intellektuellen waren fasziniert z. B. von den Manipulationsmöglichkeiten der Hypnose, aber auch von den dramatischen Persönlichkeitsveränderungen in der Hysterie. Der junge Neurologe Freud erkannte, dass das Projekt Aufklärung, dass die Methoden der Naturwissenschaften für seine Interessensgebiete noch keine hinlänglichen Erklärungs- und Behandlungsmodelle bieten konnten. All seine Anstrengungen – und zwar ein Leben lang – kann man auch beschreiben als Kritik der Aufklärung, als Versuch der Sicherung der Fundamente der Ratio, als Vernunftkritik in aufklärerischer Absicht: Es ging ihm nicht um eine Verklärung des Irrationalen, vielmehr um den Versuch, den Ansatz der Aufklärung konsequent auf sein eigenes Seelenleben und das seiner Patienten anzuwenden: Er versuchte vernünftig nachzudenken über die so unvernünftig scheinenden Phantasien, Ängste und Motive des Menschen. Es ging ihm sehr wohl um Aufklärung, aber eben um Aufklärung über die affektiven und oft unbewussten Motive des Denkens, Fühlens und Handelns jener Menschen, die sich ihres Verstandes nicht mehr bedienen konnten oder anscheinend oft nicht bedienen wollten. Spätestens seine Beschäftigung mit Träumen sah er als Beweis für die absolute Wirkmächtigkeit des Unbewussten auch bei den intelligentesten und „aufgeklärtesten“ Menschen. Seine Methoden und seine Denkweise blieben strikt dem wissenschaftlichen Modell der Aufklärung verpflichtet, die Gegenstände seines Forschens aber erschienen den Zeitgenossen hochromantisch und damit auch vielen seiner Kollegen entsprechend suspekt. Bis heute bleibt es ja eine immense Kränkung gerade für vernunftbetonte Menschen, dass auch ihr Ich (in Freuds berühmter Formulierung von 1917) „nicht Herr im eigenen Haus ist“. 4
Ein amüsantes Beispiel für ein Bestehen auf diesen „Hausherrenrechten“ des autonomen Ich (auf höchster intellektueller Ebene) bietet der Neurobiologe und Nobelpreisträger Gerald Edelman in seiner Autobiographie: Er unterhielt sich mit seinem Freund und ebenfalls Nobelpreistäger Jacques Monod über Freud. Monod wollte die Psychoanalyse als „unwissenschaftlich“ wegwischen, Freud sei ein Scharlatan gewesen. Edelman hingegen betonte Freuds Wichtigkeit als intellektueller Wegbereiter der Neurobiologie. Darauf Monod: „Ich kenne meine Beweggründe vollständig und bin für meine Handlungen voll verantwortlich. Sie sind mir alle bewusst!“ Edelman erwidert (wir würden sagen: mit Verständnis für den Widerstand seines Kollegen): „Jacques, sieh es doch so: Alles, was Freud sagte, gilt für mich, nichts davon gilt für dich!“ Monod fühlte sich verstanden: „Genau, lieber Freund!“ Als wissenschaftsgläubigem Aufklärer war diese Macht des Unbewussten auch Freud selbst durchaus unheimlich, dementsprechend auch seine frühen Größenphantasien einer vollständigen Aufklärung all dieser Triebkräfte: So schrieb er 1897 an seinen Seelenfreund Fließ von seinem Wunsch nach „der völligen Bändigung des Unbewussten durch das Bewusste“. Freud an W. Fliess, 21.09.1897 Wir sehen also schon bei Freud selbst ein lebenslanges Oszillieren zwischen dem Wunsch nach Bändigung des Unbewussten, nach einer Re-Zentrierung des autonomen rationalen Ich und demgegenüber der Überzeugung, dass das Seelenleben nicht einheitlich sei und dementsprechend das Unbewusste auch nicht beliebig beherrschbar und in Dienst zu nehmen sei. Jean Laplanche thematisiert 1996 in seinem Aufsatz „Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse“ diese Pendelbewegung Freuds: In einem berühmten Freud- Text „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse“ zeigt er sowohl die zentrierenden als auch die de-zentrierenden Positionen. Freud beschreibt hier 1917 die heillose Vielfalt des Seelenlebens: Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus. Denn diese Seele ist nichts Einfaches, vielmehr eine Hierarchie von über- und untergeordneten Instanzen, ein Gewirre von Impulsen, die unabhängig von einander zur Ausführung drängen […] Viele davon einander gegensätzlich und miteinander unverträglich. Freud, GW XII, S. 9 f. 5
Die Seele bleibt also kompliziert und daher wissenschaftlich schwer zu fassen. Freud warnt den Leser vor den unbekannten, den fremden Anteilen in seinem eigenen Ich: Es kommen Impulse, die wie die eines Fremden sind, sodass das Ich sie verleugnet. Das Ich sagt sich, das ist eine Krankheit, eine fremde Invasion. Freud, GW XII, S. 8 f. Er beruhigt aber sofort wieder und lädt seine Leser ein, diesen als fremd empfundenen Anteilen sozusagen eine dauernde Aufenthaltsbewilligung in ihrem Selbst zu gewähren: Es ist nichts Fremdes in dich gefahren, ein Teil von deinem eigenen Seelenleben hat sich deiner Kenntnis entzogen. Freud, GW XII, S. 9 f. Es geht also darum, das als fremd Empfundene anzuerkennen als durchaus eigenen Anteil, ihm Bürgerrechte in der Seele einzuräumen. Trotzdem bleibt die „aufklärerische“, heute fast imperialistisch-kolonialistisch anmutende Haltung Freuds stärker. Daher ist auch das nächste Zitat viel bekannter: Wo Es war, soll Ich werden! Freud 1923, „Das Ich und das Es“, GW XIII, S…. Aber es bleibt auch Freuds Einsicht, dass Teile des eigenen Selbst ebenso fremd erscheinen können wie das Seelenleben einer anderen Person, dass daher aber auch Selbsterkenntnis und Versuch der Einfühlung in den anderen untrennbar verbunden bleiben: Alle Akte und Äußerungen, die ich an mir bemerke und nicht mit meinem sonstigen psychischen Leben zu verknüpfen weiß, müssen beurteilt werden, als ob sie einer anderen Person angehörten… Freud, GW X, S. 268 (Das Unbewusste) Bereits hier sehen wir die Untrennbarkeit von Analyse des anderen, des Patienten und der Selbstanalyse: Es gibt kein reines und unberührtes Selbst, es gibt immer die Spuren der 6
anderen, der Objekte in uns. Eben dies aber schafft erst die Möglichkeit zur Empathie, zur Einfühlung in uns selbst und in andere: Der Schlüsselbegriff lautet Identifizierung! Von der Identifizierung führt ein Weg über die Nachahmung zur Einfühlung, das heißt zum Verständnis jenes Mechanismus, durch den uns überhaupt eine Stellungnahme zu einem anderen Seelenleben ermöglicht wird. Freud 1921, GW XIII, S. 121 (Massenpsychologie und Ich-Analyse) Diese Pendelbewegung zwischen Projektion und Identifikation, zwischen innen und außen wurde viel später für die Objektbeziehungstheorie und noch viel mehr für die intersubjektivistische Psychoanalyse entscheidend: Von Anfang an konstituieren nur die Beziehungen Identitäten, nicht umgekehrt (Vergleiche Phillips, Terrors and Experts, S. 84) Die Psychoanalytikerin Diana Fuss hat es auf den Punkt gebracht: Identifikation ist der Umweg durch den anderen, der erst ein Selbst definiert! (Fuss, D.: Identification papers, New York 1995, S. 2). Wenn man dies ernst nimmt, kann aber der Psychoanalytiker nicht mehr ein objektiver Beobachter sein, er wird subjektiv, als Person involviert in die therapeutische Beziehung. Diese Gegenbewegung in der Psychoanalyse weg vom rationalen Versuch der Bemeisterung des Unbewussten und hin zur therapeutischen Dyade beginnt spätestens mit Sándor Ferenczi: Die therapeutische Beziehung wurde zentral, die überragende Stellung der Deutung zur Veränderung der Persönlichkeit des Patienten wurde relativiert. Anders formuliert: Eine Bewegung weg von Freuds Priorität des Intrapsychischen hin zum Interpersonellen, von der One body psychology zur Two body psychology. Carlo Strenger beschrieb [Strenger 1989] die beiden Pole als die „klassische“ und die „romantische“ Denkrichtung in der Psychoanalyse. Diese Entwicklungslinie geht dann von Ferenczi über Balint, die englische „Independent group“ vor allem mit Winnicott zur heute vorherrschenden Objektbeziehungstheorie. Die Institutionalisierung der Psychoanalyse vor allem in den USA nach 1938 (nach der Marginalisierung des kulturkritischen Flügels der analytischen Bewegung mit Reich, Fenichel etc.) allerdings ging vorerst in die Gegenrichtung: Die Psychoanalyse verstand sich als Naturwissenschaft, fungierte durchaus auch als Anpassungs-Technologie: Dies führte zwar zu einer immensen institutionellen Macht in der Psychiatrie und Medizin und für Jahrzehnte auch zur fast absoluten kulturellen Definitionsmacht und entsprechenden Arroganz, ebenso 7
führte es spätestens seit Anfang der Siebzigerjahre zum rasanten Niedergang und heute fast zur Marginalisierung psychodynamischer Denkweisen nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch in den Geisteswissenschaften. Auch hier führte eine „romantische Gegenbewegung“ die jüngeren Therapeuten meist aus der Psychoanalyse oder zumindest aus der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung oft hinaus in Richtung der damals aufblühenden „humanistischen Psychotherapien“. Es gab und gibt also Kritik an der Psychoanalyse von zwei Seiten: Im Sinne der Re-Biologisierung wird der Psychoanalyse seitens der evidence based psychiatry vorgeworfen, dass sie den wissenschaftlichen Kriterien der Überprüfbarkeit, Falsifizierbarkeit etc. nicht genügen könne – dass sie niemals Teil des wissenschaftlich-aufklärerischen Unternehmens gewesen sei und auch niemals sein werde! Aber auch die gegenteilige Kritik an der Psychoanalyse als „instrumentelle“ und daher verengte „angewandte Aufklärung“ hat schon Tradition: So wurde und wird den Analytikern von Seiten vieler Psychotherapeuten vorgeworfen, zu kopflastig zu sein. Sie zwinge ihre Patienten zum Verbalisieren (oft auch zärtlich „Hirnwichsen“ genannt): Aus diesem Blickwinkel ist die Analyse zu rational, zu sehr sprachbetont, sie vergesse den Körper, vergesse das Positive – sie sei insgesamt eindeutig zu wenig romantisch oder: zu sehr der Aufklärung verpflichtet! Der Fluch der Popularisierung Der Umgang mit analytischen Konzepten wurde in den letzten Jahrzehnten noch dadurch heillos kompliziert, dass psychoanalytische Termini in die Alltagssprache eingegangen sind und von fast allen Menschen inflationär verwendet werden (meist ohne Kenntnis der Konzepte): Wer hat nicht schon in einer Beziehungsdiskussion der Partnerin vorgeworfen, dass sie „unbewusst“ aggressiv gegen mich sei (oder schlimmer: dass eine Frau „unbewusst“ Ja meine, auch wenn sie Nein sagt…). Das Unbewusste wurde zu einem kulturellen Allerweltsbegriff – verbunden mit der Illusion, dass man ja dank Psychoanalyse heute darüber Bescheid wisse und nun auch diesen Bereich des Seelenlebens (vor allem des Seelenlebens der anderen), sich zu eigen gemacht habe. Dadurch wurde die narzisstische Kränkung, dass „das Ich eben nicht Herr im eigenen Haus sei“ entkräftet und die Illusion gestärkt, dass man sich nun die Schätze dieses Unbewussten dienstbar gemacht habe. (Analytisch formuliert: 8
Abwehr bzw. Verleugnung von Abhängigkeit durch Rationalisierung und Halbwissen Vergleiche S. Ehrlich [Ehrlich, S. in: Ermann, M. (Hsg.) 2006, S. 120]) Obwohl also das Wissen darüber, dass „Bewusstheit ein seltenes Attribut unserer Handlungen sei“ (Cremerius 1986, S. 1) mehrheitsfähig geworden ist, obwohl das Unbewusste auch in den Neurowissenschaften angekommen ist – der gleiche Begriff meint hier meist nicht dasselbe! [„Non aware“ bedeutet etwas anderes als „psychodynamisch unbewusst“.] Das Schicksal der Popularisierung, der Instrumentalisierung und vor allem Simplifizierung blieb aber auch den Konzepten der Aufklärung und der Romantik nicht erspart: Unschwer kann man in vielen heutigen esoterischen Bewegungen (und auch in der Sprache und der Praxis vieler PsychotherapeutInnen) eine Kümmerform romantischen Denkens mit ihrer Absolutsetzung des Selbst erkennen: Die Stimme des Bauches, das Hohelied auf die Intuition, das unschuldige innere Kind – alles auch Metaphern für „seine Majestät das Ich“, das sich nur durch genügend intensive Selbsterfahrung freisetzen muss von allen Zwängen, um dann sein Potential auszuschöpfen etc. etc. Hier geht es dann weniger um psychotherapeutische Behandlung oder gar Arbeit, es geht um Heilung, um „Heil-Sein“ um den Wunsch nach Rückkehr ins Paradies (Um Missverständnisse zu vermeiden: Dieser Wunsch lebt in uns allen und ist natürlich wichtig, vitalisierend und oft auch handlungsleitend – die Absolutsetzung des Wunsches inklusive der Überzeugung, dass irgendwann der innere Schatz gefunden wird und dann der Konflikt endlich aufhören möge – diese Überzeugung entspricht nicht der Haltung einer psychodynamischen Konflikt-Psychologie.) Als Psychoanalytiker sehen wir keinen „reinen“ innersten Kern des Menschen, kein unverdorbenes und nur gutes wahres Selbst. Daher neige ich dazu, die betont „positiven“ Definitionen einiger humanistischer Psychotherapeuten eher als Ausdruck eines Wunsches denn als Realität der Conditio humana zu begreifen. Ein berühmtes Beispiel dafür finden wir bei Carl Rogers: Der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit sind von Natur aus positiv, von Grund auf sozial, vorwärts gerichtet, rational und realistisch… Rogers 1961, zitiert nach Eva Jaeggi 1998, S. 76 9
Eine solche absolut positiv definierte Subjektivität grenzt für mich an eine Omnipotenz- Phantasie: Wenn wir nur alle „ganz bei uns selbst“ wären, unsere Mitte, unseren innersten Kern gefunden hätten etc. etc. – dann können wir unser Selbst „neu-designen“, dann könnten wir die Kräfte des Unbewussten in Dienst nehmen als unendliche Energiequelle zur Selbstverwirklichung etc. etc. Noch viel massiver aber erleben wir das Diktat einer nicht mehr aufklärerischen, sondern nur mehr „formatierenden“ technokratischen und ökonomischen Vernunft. Adorno und Horkheimer haben schon 1946 (in „Die Dialektik der Aufklärung“) vor einer solchen „instrumentellen“ Vernunft gewarnt. Sie alle kennen die „gedanklichen Textbausteine“, die Plastiksprache in den verwischten Grenzbereichen zwischen öffentlich und privat, die von dieser instrumentellen Vernunft zeugt: „Ich sehe das nur sachlich…“ oder: „Wir sollten das ganz emotionslos diskutieren…“ Nicht nur die Psychoanalyse, auch die Neurowissenschaft sagt uns eindeutig, dass es keine Kognition ohne Emotion gibt. Daher sind die obigen Stehsätze immer auch Herrschaftsinstrumente: Wenn ich das nur sachlich sehe, dann muss es mein Gegenüber wohl emotional sehen, ist leider noch nicht fähig zu einer solch reifen und „objektiven“ Position wie ich. (Christopher Bollas hat für die Proponenten einer solchen Denkweise den schönen Ausdruck „Normotiker“ geprägt – als absolutes Gegenteil des Psychotikers: Während der Psychotiker objektive Außenwelt und subjektive Innenwelt nicht mehr unterscheiden kann, leugnet der Normotiker für sich selbst und auch für andere schon die Existenz einer handlungsleitenden subjektiven Innenwelt der Wünsche, Ängste und Phantasien. Winnicott würde sagen: Solche Menschen seien dann zwar nicht psychisch krank, aber wohl auch nicht sehr lebendig. Dies wiederum erleichtert ihnen wohl die Herrschaft über sich selbst und leider oft auch über uns! Auch dieses Beharren auf der Sachebene kann man interpretieren als Wunsch nach möglichst absoluter Kontrolle – Kontrolle sowohl über das Selbst als auch über die Welt der beliebig manipulierbaren Objekte! Wir müssen uns heute kritisch die Frage stellen, wie weit psychotherapeutisches Denken – durchaus ausgehend vom analytischen Grundmodell – auch für die emotionale Zurichtung des Menschen im 20. Jahrhundert mitverantwortlich war, wie weit Einfühlung und dadurch auch 10
Manipulation der Mitmenschen als heute entscheidende „Softskills“ den Spätkapitalismus mitgeprägt haben [vergleiche Eva Illousz, Eli Zaretsky]. Eli Zaretsky spricht von den Psycho-Techniken als „Samthandschuh über der eisernen Faust der Disziplinierung“. Dies klingt zugegebenermaßen extrem, aber: Heute ist die Sprache der „Psychos“ auch in der ökonomischen und politischen Sphäre durchaus präsent: Alle werden „ernst genommen“, alle sind von irgendwelchen Missständen „tief betroffen“, alle Entscheidungsträger wollen irgendwann endlich „nicht mehr verdrängen, sondern wirklich hinsehen“ etc. etc. Umgekehrt aber diktiert die Sprache und wohl auch das Denken der Ökonomie zunehmend unseren therapeutischen Bereich: Im Zeitalter des Benchmarking und der permanenten Dokumentation und Evaluation wird die Frage entscheidend, wer hier effizienter, schneller und billiger behandelt? [Für Betriebswirte formuliert: Eher das Prinzip „Billigst-Bieter“ als das Prinzip „Best-Bieter“, am besten: „Power-Coaching“ statt langwieriger psychodynamischer Therapie.] Hier muss ein psychodynamisches Denken sich querstellen zum Zeitgeist, der die Ideale der Rationalität, der effizienten Planung, der Beschleunigung aller Lebensaspekte und dadurch den Anpassungsdruck vorantreibt. Allerdings sollte eine solche kritische Haltung nicht prinzipiell die Bereitschaft zur Überprüfung unseres analytischen Handelns von außen ausschließen, ebenso wenig den Versuch, möglichst viele Konzepte aus dem psychoanalytischen Theorie-Gebäude interdisziplinär zu vergleichen, dadurch auch abzusichern – oder aber eben kritisch zu überarbeiten. Das folgende Basismodell der Objektbeziehungen möchte ich Ihnen vorstellen, weil es (soweit ich es überblicken kann) sowohl mit den Ergebnissen der Neurowissenschaften als auch der Bindungsforschung gut kompatibel ist, weil es aber auch eine Komopromiss- Möglichkeit zwischen der Absolutsetzung des Intrapsychischen und des Interpersonellen darstellt – also zwischen der „klassischen“ und der „romantischen“ Position. A) Laut Otto Kernberg ist unser Seelenleben aufgebaut aus „Molekülen“. Diese besehen jeweils aus einer Selbstrepräsentanz und einer Objektrepräsentanz, verbunden durch einen Affekt. 11
Die beiden großen Entwicklungsaufgaben bestehen 1. in der einigermaßen verlässlichen Trennung von psychischer Innenwelt und Außenwelt bzw. von Selbst- und Objektrepräsentanzen (psychiatrisch bezeichnet man dies als Erreichen der Realitätsprüfung). Repräsentanzen bedeutet: Es handelt sich hier um innere Bilder! Unsere Selbstrepräsentanz, unser inneres Bild von uns selbst ist nicht gleich dem Selbst, wie es zum Beispiel die anderen erleben, umgekehrt ist auch die Objektrepräsentanz – so zum Beispiel mein inneres Bild meiner Mutter, meines Vaters – nicht gleich dem realen Objekt in der Außenwelt. Dies ist für uns TherapeutInnen eine völlig banale und klare Unterscheidung – für sehr viele unserer PatientInnen aber ist die Differenz zwischen ihren inneren Bildern (z. B. des Partners) und dem realen Objekt erst in der Therapie erstmals und schmerzlich erkennbar: Schmerzlich deshalb, weil dies ja immer bedeutet, dass unsere Kontrolle über das Objekt unvollkommen bleiben muss, dass alle unsere Objekte auch von uns unabhängige Subjekte sind! 2. Die zweite Entwicklungs-Aufgabe besteht im Erreichen einigermaßen kohärenter Selbst- und Objektrepräsentanzen, also im Aushalten der notwendigen Ambivalenz, des gleichzeitigen Bestehens positiver und negativer Anteile von Selbst- und Objektrepräsentanzen. [Sehr auffällig, auch sozial auffällig wird dies für uns besonders dann, wenn es nicht ausreichend gelingt: So z. B. bei Borderline-Persönlichkeits-Organisation] Entscheidend beim Kernberg-Konzept: Es kann keine kohärenten Objektrepräsentanzen geben ohne einigermaßen kohärente Selbstrepräsentanz und umgekehrt! Wer also wesentliche Anteile seines Selbst nicht bewusst als zum eigenen Seelenleben gehörig anerkennen kann, dem wird dies auch mit den Objekten nicht gelingen. Diese bleiben dann „nur gut“ bzw. „nur böse“ mit der Folge der unausweichlichen Schaukelbewegung zwischen Idealisierung und Entwertung. Die entscheidende Bewegung ist hier nicht mehr wie bei Freud vertikal zwischen bewusst/unbewusst bzw. Verdrängung/Rückkehr des Verdrängten sondern horizontal: Die nichtbewusstseinsfähigen, verleugneten, dissoziierten Ich-Anteile sollten zugänglich werden, ein realistischeres inneres Bild der eigenen Person ermöglichen und erst dadurch auch einen adäquateren Umgang 12
mit den Objekten ermöglichen. Es gibt also nicht das Eine ohne das Andere: Erst eine bessere affektive Bekanntschaft mit uns selbst ermöglicht uns erfolgreichere „realistischere“ Objektbeziehungen et vice versa! Es geht also auch hier um Aufklärung über uns selbst und die Objekte, um ein „emotionales Wissen“. Daher noch ein „zuschaltbares“ Konzept bezüglich dieser Klammer zwischen Selbst- und Objektrepräsentanz, dem immer dazugehörigen Affekt: B) Wilfried Bion beschrieb 3 verschiedene Möglichkeiten von „Links“, von affektiven Modi der Beziehung zwischen verschiedenen Anteilen des Selbst oder der Objekte: Wir können mit uns selbst oder einem anderen verbunden sein durch L, H und K – entsprechend Love, Hate und Knowledge. Knowledge allerdings bedeutet hier kein Faktenwissen sondern emotionales Wissen, Beziehungswissen, Erfahrungswissen. Das Gegenteil von K wäre Minus K; also die Verweigerung und Abwehr von Wissen, die Verleugnung der Beziehung. Im Extremfall: Non K. Dieser Zustand von Non K stellt sich speziell bei einem Kind ein, das jegliche Hoffnung aufgegeben hat, einigermaßen verlässliches emotionales Wissen vor allem über seine Eltern zu erlangen (aufgrund von deren widersprüchlichem oder überaggressivem Verhalten) und daher jeglichen Versuch, etwas von der Welt zu erfahren überhaupt einstellt Psychose. Nur intrapsychische „innere Tolerenz“ ermöglicht interpersonelle Toleranz Wenn psychoanalytische Behandlung Hilfe zur Selbsthilfe bieten soll – welchem Selbst soll hier geholfen werden? Was sollte das Ziel der Behandlung sein? Von den zahllosen Definitionen des „Erfolgs“ einer psychoanalytischen Behandlung habe ich mir eine für meine Argumentation passende ausgewählt, nämlich die Beschreibung der „seelischen Reife“ von Jean Quinodoz. Für ihn zeigt sich der Erfolg einer psychoanalytischen Behandlung dadurch, dass A) eine Integration des Selbst durch „Rückholung“ bzw. Wiederaneignung abgespaltener Ich-Anteile ermöglich wird. 13
B) Dies bewirkt dann eine Re-Organisation der Psyche als Folge dieser intrapsychischen Integration und C) dies wiederum ermöglicht das Aufgeben der Kontrolle bzw. der Illusion der totalen Kontrolle sowohl über unsere Objekte als auch über uns selbst. Schon 1971 beschrieb Helm Stierlin (in seiner damaligen Position zwischen Psychoanalyse und systemischer Therapie) mehrere Polaritäten, Spannungsbögen in Richtung einer solchen psychischen Reife, er beschrieb lebenslange „Versöhnungs- und Abgrenzungsarbeit“. Dabei wichtig die Balance zwischen Augenblick und Dauer, zwischen Differenz und Gleichheit, zwischen Nähe und Distanz etc. Nur durch diese dauernde „Feineinstellung“, das dauernde Schaukeln zwischen Individuation durch das Objekt und Individuation gegen das Objekt, durch diese Bewegung hin zu einem gegenseitigen Anerkennen bleiben Beziehungen offen, bleibt Bewegung möglich. Es gäbe dazu noch viele interessante analytische Konzepte, hier nur nochmals die für mich zentrale These: Eine verbesserte affektive Kenntnis des Selbst ist nicht trennbar von der Anerkennung der Autonomie des Objekts: Die Spannung zwischen unseren Wünschen nach möglichst großer Autonomie, aber eben auch nach möglichst umfassendem „Aufgehobensein“ in Beziehungen bleibt, unsere Abhängigkeit von den anderen (und den Bildern der anderen in uns) kann uns eben dann stärken, „empowern“, wenn sie erkannt und anerkannt wird. Letztlich also eine vergrößerte psychische Autonomie gerade durch Anerkennung der Heteronomie des Selbst! Psychoanalyse kann und soll also den Menschen gerade mit den „Schamteilen seiner Seele“ (nach Friedrich Nietzsche) bekannt machen. Oder mit Bion formuliert: K sollte eindeutig größer sein als Minus K. Dann werde ich sicher nicht alle diese Teile meines Selbst lieben – aber ich kann ihnen in meinem Seelenleben trotzdem politisches Asyl gewähren, kann sozusagen meine innere Fremdenfeindlichkeit reduzieren. (Die populäre Formulierung „sich selbst annehmen“ bleibt immer nur teilweise erreichbar: Realistisch aber ist das „Annehmen“ im Sinne von Aushalten der eigenen Durchschnittlichkeit, Bedürftigkeit.) Dass unser Selbst eine komplizierte Mischung vieler Anteile darstellt, wird beim sogenannten gebildeten Publikum zusehends mehrheitsfähig: Daher sicher nicht zufällig der große Erfolg eines populärwissenschaftlichen Buches von Richard David Precht: „Wer bin ich, und wenn ja – wie viele?“ (Erschienen 2007, Ende 2010 bereits in der 37. Auflage!) 14
Der im Jahr 2000 leider viel zu früh verstorbene Theoretiker einer intersubjektiven Psychoanalyse Stephen Mitchell hat dies in seinem letzten Buch so formuliert: Jeder von uns ist zu einer bunten seelischen Gemeinschaft geworden [Original: psychic community]. Eine Person zu sein scheint heute viel komplizierter als je zuvor, es erfordert sich selbst zu entdecken, aber auch zu formen, sich selbst zu erforschen, aber auch zu kontrollieren. […] Je gefährdeter wir uns fühlen, desto mehr suchen wir die Kontrolle. Mitchell 2002, S. 24 f. Übersetzung: R. G. Erst durch die Bekanntschaft mit diesen multiplen Selbstanteilen können wir Selbst- Stigmatisierung zurücknehmen, eben dadurch aber müssen wir Andere weniger stigmatisieren, müssen im Idealfall auch Mitmenschen/Objekte weniger beschämen. Die Heterogenität und Heteronomie des modernen Subjekts bleibt also unheilbar, unaufhebbar. Aber dies sollte nicht nur Anlass zur Sorge oder Verzweiflung sein. Ein einigermaßen angstfreies Interesse an unseren individuellen „dunklen Kontinenten“ erleichtert auch unser soziales Leben. Etwas simplifiziert könnte man sagen, dass gerade die unbekannten oder aber ungeliebten Teile unseres Selbst der Selbsthilfe am meisten bedürfen – wenn sie denn vorher als „Eigenanteile“ anerkannt werden können und nicht (via Projektion) in der Außenwelt bekämpft und verachtet werden müssen! In mittelalterlichen Landkarten stand oft über den noch nicht erforschten weißen Flecken „beyond this point are monsters“. Die Forschungsreisenden stellten dann fest, dass dort keine Monster lebten, sehr wohl aber fremde Menschen und Stämme. Es sollte zumindest heute unser politisches Ziel sein, diese anderen Völker nicht zu unterdrücken, sondern (auch psychisch) ihre anderen, aber gleichberechtigten Lebensweisen anzuerkennen. Dies gilt auch für unsere „innere Ur-Bevölkerung“. Aber: Einige weiße Flecken auf unseren mentalen innerpsychischen Landkarten werden bleiben. Nie werden wir unsere Objekte, nie aber auch uns selbst ganz kennen – nie unsere Wünsche und Bedürfnisse 1:1 „übersetzen“ können. Es bleibt ein Rest, ein Kern des „Non 15
communicado“ (nach Winnicott). Schon jedes Kind macht diese Erfahrung spätestens beim Erlernen der Sprache: Denn bei jedem Versuch der Verbalisierung bzw. Symbolisierung einer primärprozesshaften, körpernahen Erfahrung spüren wir – oft sehr schmerzlich – dass ein Rest unserer intrapsychischen Erfahrung bleibt, den wir durch Worte nicht interpersonell vermitteln können! („Spricht die Seele – so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr! Schiller/Votivtafeln) Es bleibt also ein „nicht-decodierbarer Rest“ schon beim Versuch, uns selbst (und anderen) unsere eigene Erfahrung zu vermitteln – umso mehr aber bei unseren Versuchen, die seelische Bewegung in unseren Objekten zu erahnen. Speziell für jene unserer PatientInnen, die nicht die gute frühkindliche Erfahrung eines verlässlichen „affect attunement“, einer emotionalen Feineinstellung der Mutter auf ihr Verhalten machten konnten, führt dies im Extremfall dazu, dass jeglicher Versuch, eigene Motive oder auch Motive der anderen zu erraten, als hoffnungslos eingestellt bzw. aktiv verweigert wird! (Entspricht bei Bion dem Link im Sinne von „Non-K“.) Jegliche Behandlung im Sinne einer analytischen Grundhaltung muss immer auch ein Übersetzungsversuch sein, eine Anstrengung, den unübersetzbaren Teil zu verkleinern im Sinne des „affektiven Bekanntwerdens mit sich selbst – und den Objekten“. Aber ein Rest bleibt – und ist einer der unvermeidbaren Anlässe zur lebenslangen Trauerarbeit, in der Analyse zum Durcharbeiten und zur Akzeptanz eines Restbestandes an Alleinsein – der je nach Persönlichkeitsstruktur und Reifegrad als auch bereichernd oder aber nur schmerzlich erlebt wird. Neben dem Beharren auf einem lebenslangen Konflikt – der nie vollständig bereinigt werden kann – sehe ich diese Übersetzungs-Anstrengung und ihren bestenfalls partiellen Erfolg als einen der Punkte, in denen sich ein psychodynamischer Ansatz von vielen anderen Therapien unterscheidet: Auch eine noch so intensive Bekanntschaft mit dem „inneren Kind“ oder dem „wahren Selbst“ kann diesen Rest nicht auf Null reduzieren! 16
All diese unsere Selbstanteile mit ihren zugehörigen Phantasien, Wünschen und Begehren prägen uns: Sie sind der Grundstock unserer Ressourcen, unserer Resilienz, aber auch unserer Vulnerabilität in der Beziehung zu uns selbst und zur Welt. Erst die mühselige Arbeit an der Anerkennung des unübersetzbaren/unzugänglichen „intrapsychischen Rests“ ermöglicht es den Patienten – und auch uns Analytikern – die unüberbrückbare Differenz zwischen uns und unseren Objekten anzuerkennen. Erst die mühsame und immer unvollständig bleibende Bekanntschaft mit dem „inneren Afrika“ kann primär zur „intrapsychischen Toleranz“ führen, zum „Annehmen“ der durch die analytische Arbeit erst gezeigten Anteile des Selbst, die wir nicht so sehr schätzen. Dies aber ist meiner Ansicht nach die beste Voraussetzung für interpersonelle bzw. soziale Toleranz! Ein Psychoanalytiker der „auf der Seite seines Patienten steht“ (inflationär gebraucht, aber immer noch wichtig…), ein solcher Analytiker wird zwangsläufig seine Patienten auch ermutigen und „empowern“ zum Widerstand gegen die „Leitwerte“ eines reduzierten Daseins als Konsument und als „Ich-AG“: Eine analytische Haltung muss konträr sein zu den fast schon terroristischen Forderungen nach schnellen Lösungen, nach durchwegs positivem Denken, vor allem nach schnellem Handeln ohne vorheriges Denken. Wir sollten unseren PatientInnen Möglichkeitsräume und Denkräume offen halten und Psychotherapie nicht zum Trainingslager zwecks Erlernen effizienterer Manipulationsstrategien verkümmern lassen. (Stichwort: psychoanalytische Organisations-Beratung…) In einer analytisch orientierten Therapie werden wir immer nach den subjektiven und biographisch begründeten Motiven für eine Auflehnung des Patienten gegen die Gesellschaft fragen. Wir sollten aber die „Anpassungs-Wünsche“ unserer Patienten genauso im Fokus behalten, um mit den Patienten gemeinsam eine genauere emotionale Bilanz über die Kosten dieser Anpassung an Eltern, geliebte Objekte, aber auch an die Arbeitswelt zu ermöglichen. Oft ist dadurch auch eine Milderung des Über-Ich-Druckes zu erreichen, ein Übergang von der Über-Ich-geleiteten Persönlichkeit zur eher Ich-geleiteten Lebensweise. Erst dadurch kann der Wunsch nach perfektem Funktionieren umgewandelt werden in ein Leben des „not perfect, but good enough“. Dieser Unterschied zwischen Perfektionsdruck und Zufriedenheit mit dem „hinlänglich gut sein“ aber bedeutet für viele Patienten auch den Unterschied 17
zwischen bloßem seelischem Überleben und einem „guten Leben“, einer Verbesserung der Lebensqualität in Richtung Arbeitsfähigkeit, Liebesfähigkeit und vor allem Genussfähigkeit. Trotz vieler beeindruckender Verlaufsstudien zum Erfolg von Psychoanalysen und vor allem psychoanalytischen Therapien können wir Psychoanalytiker nicht beweisen, dass ein „mit sich selbst bekannt gewordener“ Mensch (sei er nun Patient oder Therapeut) unbedingt glücklicher ist oder auch nur ein zufriedeneres Leben führt. Ich bin aber überzeugt, dass eine analytische Therapie sehr vielen Menschen helfen kann, die ungeliebten Anteile ihres Selbst anzunehmen und dadurch ihre eigene Beschränktheit und Durchschnittlichkeit besser auszuhalten. Dadurch müssen sie weniger trauern und wüten gegen ein ungerechtes Schicksal und haben dann mehr seelische Energie übrig zur Bewältigung der lebenslangen intrapsychischen und interpersonellen Konflikte. Sie werden sich dabei sicher nicht immer nur gesund oder gar perfekt fühlen. Perfekt im Sinn von vollkommen, abgeschlossen, widerspruchsfrei ist auch die Theorie nicht, von der ich Ihnen Bruchstücke versucht habe nahezubringen: Auch hundert Jahre nach Freud gibt es genug Lücken, Schwächen, Risse, Widersprüche. Wahrscheinlich ist das aber auch gut so: Eine perfekt funktionierende Theorie-Maschine hätte für mich etwas Bedrohliches im Sinne der instrumentellen Vernunft. Nehmen wir also die Lücken, die Risse im Theoriegebäude auch als Chancen, als Öffnungen nach außen, als Potential zur Erzeugung neuer Unsicherheiten und Fragen. Durch die Risse können wir in die Welt hinausschauen, kann auch die Außenwelt hoffentlich in unsere Gedankenwelt hereinleuchten. Daher ein letztes Zitat nicht von Freud, sondern von einem großen Romantiker: There is a crack, a crack in everything. That’s how the light gets in. That’s how the light gets in. Leonard Cohen, Anthem Im Idealfall fördert analytische Behandlung das Eindringen dieses Lichtes. Das Licht der affektiven Aufklärung über sich selbst ermöglicht erst die Bewegung hin zu anderen Menschen im Sinn der „bezogenen Individuation“. Voraussetzung für das Erreichen dieses Zieles: Der Patient fühlt sich vom Therapeuten verstanden und daher „sicher gebunden“. 18
Dies aber ist eben nur die Voraussetzung und nicht schon das Ziel der Therapie oder der Analyse: Dieses Ziel besteht eben darin, dass sich der Patient selbst besser verstehen kann, dadurch auch die Abhängigkeit vom Therapeuten aufgelöst wird – und sich der Patient nach Ende der Behandlung im Sinne der „unendlichen Analyse“ selbst helfen kann! 19
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Mertens, W.: Wo Es war, soll Emotion werden. Das Unbewusste in der heutigen Psychoanalyse. Frankfurt/Main 2006 In: Ermann, M. (Hrsg.): Was Freud noch nicht wusste. Neues über Psychoanalyse, S. 19 – 38 Mitchell, St.: Can love last? The fate of romance over time New York 2002, Norton Nitzschke, B.: Aufbruch nach Inner-Afrika. Essays über Sigmund Freud und die Wurzeln der Psychoanalyse Göttingen 1998, VandenHoeck und Ruprecht Phillips, A.: Terrors and experts London 1995, Faber and Faber Quinodoz, J.-M.: Die gezähmte Einsamkeit. Trennungsangst in der Psychoanalyse. Tübingen 2004, Edition diskord Safranski, R.: Romantik. Eine deutsche Affäre. München 2007, Hanser-Verlag Stierlin, H.: Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Eine Dynamik menschlicher Beziehungen. Frankfurt 1971, Suhrkamp Strenger, C.: The designed self. Psychoanalysis and contemporary identities. New York 2005, Analytic Press Strenger, C.: The classic and the romantic vision in psychoanalysis. International Journal of Psychoanalysis 70, 1989, S. 593 – 610 21
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