Zur Besinnung Sterntaler-Kirche - Gunda Mayer - Heliand Bund

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Zur Besinnung Sterntaler-Kirche - Gunda Mayer - Heliand Bund
Zur Besinnung
Sterntaler- Kirche
Gunda Mayer

E       in neues Jahr hat begonnen, ein Zeitpunkt
        der Wünsche, auch der guten - oft genug
        wenig wirksamen - Vorsätze für ein
irgendwie „besseres“ Leben. Merkwürdigerweise
kommt mir dazu ein Märchen in den Sinn.
                                                    dich niemand, du kannst wohl dein Hemd
                                                    weggeben“, und zog das Hemd ab und gab es
                                                    auch noch hin. Und wie es so stand und gar
                                                    nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne
                                                    vom Himmel, und waren lauter blanke Taler;
Märchen sind ja bekanntlich keine Geschichten       und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so
für kleine Kinder sondern setzen Erfahrungen ins    hatte es ein neues an, und das war vom
Bild, die Menschen aller Zeiten machen können:      allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die
Sie erzählen eine allgemein verständliche,          Taler hinein und war reich für sein Lebtag.
anschauliche Geschichte und können damit
                                                    Ein Satz reicht, um das ganze Elend, die absolute
Wesentliches über Lebenswege, Beziehungen,
                                                    Armut, Verlassenheit und Ausweglosigkeit des
Reifungsprozesse und innerseelische Vorgänge
                                                    jungen Menschleins zu umschreiben – als
des Menschen sagen, wenn Auge und Ohr des
                                                    Mädchen hat es nicht nur im Märchen ohnehin
Lesers dafür offen sind. Darum lade ich nun dazu
                                                    oft die Rolle der Schwachen. Ohne Eltern, ohne
ein, mit mir „Die Sterntaler“ mit derart offenen,
                                                    Besitz, ohne Haus, ohne Erbschaft ist es ohne
anderen Augen zu lesen:
                                                    Schutz, ein Bild totaler Hilflosigkeit, so möchte
Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war          man sagen, Spiegel einer Menschheitserfahrung
Vater und Mutter gestorben, und es war so arm,      bis und gerade auch heute, im Leben einzelner
dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu        wie ganzer Völker. Stellen wir uns vor: Familie,
wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu      Freunde, Heim, alles, was Halt gab, ist verloren -
schlafen, und endlich gar nichts mehr als die       gestorben, zerstört; muss sich der Mensch da
Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in      nicht „ganz allein auf der Welt“ fühlen, vor
der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz              Angst vergehen oder / und verzweifeln? Wer
geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm.         Angst hat, dem kann jeder andere Mensch zum
Und weil es so von aller Welt verlassen war,        Feind werden, den er vernichten muss, um zu
ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus     überleben. Die Geschichte lehrt, dass nicht nur
ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der      einzelne Menschen, sondern ganze Völker so in
sprach: „Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so    einen Vernichtungswahn verfallen; Verzweiflung
hungrig.“ Es reichte ihm das ganze Stückchen        und Wut, weil “ja doch alles zugrunde geht“,
Brot und sagte: „Gott segne dir's“, und ging        führen Amokläufern die Hand… Andere gängige
weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und           Reaktionen der Angst: Man schließt sich ein,
sprach: „Es friert mich so an meinem Kopfe,         zieht sich zurück. Scheu vor allen Kontakten, vor
schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.“     allem vor Veränderungen, bestimmt den Alltag –
Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und       es geht nur noch darum, das, was noch geblieben
als es noch eine Weile gegangen war, kam            ist, um jeden Preis zu bewahren, festzuhalten;
wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und      Besitz, Dinge bekommen da überragende
fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da      Bedeutung, aber auch Riten, Traditionen, können
bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von       so zum Halt, ja zum Fetisch werden, auch für
sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und    ganze Gruppen ; wir erleben das in Europa in
es war schon dunkel geworden, da kam noch eins      aktuellen Protestbewegungen gegen Fremde(s).
und bat um ein Hemdlein, und das fromme             Angst lähmt, das Leben ist nicht mehr auf
Mädchen dachte: „Es ist dunkle Nacht, da sieht      Zukunft ausgerichtet, nur Vergangenheit zählt,

Zur Besinnung  HeliandKorrespondenz 1/19                                                           1
Zur Besinnung Sterntaler-Kirche - Gunda Mayer - Heliand Bund
der Mensch verharrt resigniert in einem endlosen     durchbricht: Sterne fallen vom Himmel, Zeichen
Wartestand – kein Advent ist in Sicht. (Mir fällt    für das, was das Mädchen es getan hat. Es hat
da auch manch widersinniges Verhalten von            den Himmel sozusagen auf die Erde geholt, hat
Politkern und Staaten angesichts der drohenden       den Gott mit uns – Immanuel - erfahren und
Klimakatastrophe ein…)                               erfahrbar gemacht durch sein Vertrauen, würde
                                                     die Theologie sagen. Und so ist es, so bleibt es
Ganz anders unser Sterntalerkind: Es geht
                                                     reich für sein Lebtag…
hinaus, in die Welt, begegnet Menschen, hört
deren Hilferufe, und , einfach unfassbar: es         Wenn alle so lebten, zumindest alle
erhört deren Hilferufe, leistet Hilfe –              Christen?
selbstzerstörerisch, lebensbedrohlich, möchte
man meinen, denn es gibt ab, teilt, was es zum       Eine Utopie, gewiss - aber eine, auf die man hin
Leben braucht: mit der Mütze den Schutz – nicht      leben kann, jetzt schon: im Vertrauen auf Gott
nur vor Kälte –, mit der Kleidung: neben Schutz      losgehen, loslassen, teilen: Besitz, auch von
vor Blicken auch die Ansehnlichkeit in der           Lebensnotwendigem wie Wasser, Lebensraum,
Öffentlichkeit. Die, denen es gibt, scheinen in      Lebensrecht - da sind politische Entscheidungen,
ähnlicher Situation: arm, allein, als Kind ebenso    da ist Einflussnahme von uns Christen gefragt.
auf Hilfe angewiesen wie als einsamer Alter.         Und weiter noch: Hinausgehen in die
Unser Märchenkind kann sich offensichtlich           Gesellschaft, in unsere Welt, unsere Umgebung:
einfühlen, solidarisiert sich – ist also, genau      Mit-Teilen von dem Reichtum unseres Glaubens,
genommen, nicht mehr allein, sondern findet          unserer Hoffnung auf den „Ich bin da“ und dafür
Verbündete, die es segnen. Das geht so weit,         den Kopf hinhalten. Himmlische Güter, Sterne
dass es buchstäblich sein letztes Hemd weggibt;      würden wir so sammeln, jetzt schon den
ganz und gar nackt, hüllenlos, ist es ausgeliefert   Himmel, das Reich Gottes, leben.
– das schützende Dunkel wird nicht ewig
                                                     Nicht auszudenken, was eine Sterntaler-Kirche
andauern, der Tag wird kommen und mit ihm die
                                                     ausrichten könnte… Wie mutig, wie freimütig
Blicke bzw. Zugriffe anderer Menschen.
                                                     würde sie die Botschaft von der Liebe Gottes
Wahnwitzig scheint dieses Verhalten – hier rührt     teilen, hinaustragen in die „Welt“ und dafür
das Märchen an Züge des Gleichnisses, sprengt        Besitz und finanzielle Sicherheiten „opfern“, auf
den Rahmen der natürlichen Logik. Absolut            eingefahrene Denk- und Verhaltensmuster, auf
scheint die Schutzlosigkeit des Mädchens – aber      Machtpositionen       und      Bequemlichkeiten
absolut ist sein Vertrauen auf Gott, von dem das     verzichten; wie frei wäre sie da, wie glaubhaft
Märchen spricht; dieses Vertrauen ermutigt zum       auch, weil solidarisch mit den Armen aller Art!
Hinausgehen – woraus und wohin auch immer;           Schutzlos wäre sie da? Feiern wir Christen nicht
diesen „Schatz“ hat das Mädchen behalten, es         Weihnachten den „Gott mit uns“, Immanuel?
gibt und verschenkt im Bewusstsein von Gottes        Wenn ER für uns ist, wer ist dann noch gegen
Segen, setzt alles auf diese Karte, und der          uns? Hat Kirche nicht so angefangen?
Schluss gibt ihm Recht. Er zeigt, dass dieses
Handeln nicht wahnsinnig war, sondern auf die
einzig wahre Macht setzte, die Dunkel, Kälte und
Einsamkeit

2                                                      HeliandKorrespondenz 1/19  Zur Besinnung
Zur Besinnung Sterntaler-Kirche - Gunda Mayer - Heliand Bund
Das Thema
Gott „unterwegs“ im Alltag finden
Wie ist es möglich, im Trubel des Alltags tatsächlich mit Gott in Kontakt zu kommen und zu bleiben?
Diese Überlegungen beschäftigten uns beim Jahrestreffen im September 2018 in Bad Driburg. In
diesem Heft greifen wir traditionell das Thema des Jahrestreffens auf, um diejenigen zu informieren,
die nicht teilnehmen konnten.
Die Referentin des ersten Tages, Frau Professorin Agnes Wuckelt, Katholische Hochschule
Paderborn, stellte uns Gottesbegegnungen von Frauen vor, wie sie in der Bibel, vor allem im AT,
überliefert sind.
Am zweiten Tag referierte Frau Dr. Annette Schleinzer, theologische Referentin des Bischofs von
Magdeburg, über Madeleine Delbrêl, „Prophetin und Mystikerin der Straße“. Delbrêl fand
Antworten auf die oben gestellte Frage: eine zeitgemäße, bodenständige Alltagsspiritualität, die auch
uns ansprechen kann.
Beide Referentinnen haben uns Material zur Verfügung gestellt, wofür wir ihnen herzlich danken.
Die Zusammenfassung der Ausführungen von Frau Wuckelt erstellte Mathilde Pirzer-Hartmann, die
von Frau Schleinzer wurde von Christa Herrmann verfasst.
                                                                    Mathilde Pirzer-Hartmann

Frauen – Gotteserfahrungen auf dem Weg
Zusammenfassung des Vortrags von                   erfahren wir auch wenig über die Religiosität
Frau Prof. Dr. Agnes Wuckelt                       von Frauen, über ihre Gottesvorstellungen und
                                                   Gottesbegegnungen.       Diesem      Nichtwissen
Spurensuche:                                       abzuhelfen ist ein Anliegen dieses Tages.
Gott und die Frauen in der Bibel
                                                   Gottesvorstellungen im 2. und 1.
Welche biblischen Frauen kennen wir? Aus dem       Jahrtausend v.Chr.
Alten Testament wurden spontan genannt Eva,
Sara, Hagar, Rebekka, Lea, Mirjam, Judit, Ester,   Der Glaube an den einen Gott Jahwe war nicht
Rut und noch einige; aus dem Neuen Testament       von Anfang an da. Das AT berichtet von
Maria (die Mutter Jesu), Elisabeth, Marta, Maria   verschiedenen Gottheiten und religiösen
(ihre Schwester), Maria Magdalena. Weniger         Praktiken und auch davon, dass Israeliten
bekannt     sind     Frauen,    die    in   der    gleichzeitig mehrere Gottheiten verehrten. Es
Apostelgeschichte vorkommen wie Priska,            brauchte seine Zeit, bis sich der Monotheismus,
Lydia, Junia, Phöbe.                               der Glaube an Jahwe durchgesetzt hatte! Im 2.
                                                   und 1. Jahrtausend war folgendes üblich: Man
Die Referentin überraschte uns mit der Tatsache,   verehrte eine persönliche Gottheit, dazu die
dass im AT 49 Frauen namentlich genannt            Clan-bzw. Stadtgottheit und die Nationalgottheit.
werden, im NT 45. Wobei „namentlich genannt“       Eine Jerusalemerin zum Beispiel verehrte als
nicht heißt, dass sie alle mit ihrem Namen         persönliche Gottheit die Göttin Aschera, auf der
genannt werden, es kann auch heißen Frau von       Ebene der Stadtgottheit den traditionellen
…, Mutter von …, Tochter von …, Schwester          Stadtgott Schalim und als Nationalgott den Gott
des …. Viele dieser Frauen sind „vergessen“, sie   YHWH (Jahwe). Sie konnte ihre private
kommen in den gottesdienstlichen Lesungen          Frömmigkeit in Haus und Familie frei ausüben,
nicht vor, werden im Text ausgelassen. So          an Aschera wandte sie sich zum Beispiel bei
Das Thema  HeliandKorrespondenz 1/19                                                              3
Zur Besinnung Sterntaler-Kirche - Gunda Mayer - Heliand Bund
Kummer, Krankheit, Trauer, Kinderlosigkeit u.a.     Gott als Weisheit (Spr 1,20-33), Gott als
In der Öffentlichkeit war es ihr erlaubt im         Geistkraft (Gen 1 u. ö.), Gott als grünender
Heiligtum bzw. Tempel zu beten, zu tanzen und       Zweig (Sir 24).
die Handtrommel zu schlagen, sie nahm an
Wallfahrtsfesten und Opfermahlzeiten teil und       Gottesbegegnungen von Frauen auf
am einfachen kultischen Dienst an einem             dem Weg in der Bibel
Heiligtum (sog. Qedeschen).
                                                    Gottesbegegnungen        einzelner      Frauen
Göttinnen wurden vor allem von Frauen, aber         erarbeiteten wir anhand kurzer Texte in kleinen
auch von Männern verehrt.                           Gesprächsgruppen.
Beispiele:                                          Sara, die Frau Abrahams. Beim Besuch des
                                                    Herrn (Gott mit zwei Begleitern) bei Abraham
   Anat und Astarte, Fruchtbarkeitsgöttinnen,      wurde ihr trotz ihres hohen Alters ein Sohn
    die aber auch kriegerisch sind;                 verheißen. (Gen 18,9-15 und 21,1f)
   Aschera, die Gattin Els, Mutter aller Götter,   Hagar, Dienerin Saras. Sie floh vor ihrer Herrin
    auch           Partnerin           YHWHs,       in die Wüste. Ein Bote Gottes (oder Gott)
    Fruchtbarkeitsgöttin;                           verhieß ihr den Sohn Ismael. Sie gab dem Boten,
   Isis   (im     nachexilischen  Palästina),      der mit ihr redete einen Namen: „Du bist El Roi,
    dargestellt mit dem Horusknaben auf dem         Gottheit des Hinschauens“. (Gen 16,6b-14)
    Schoß (Gottesmutter Maria!);                    Rebekka, die Lieblingsfrau Jakobs. Sie nahm
   Hathor, die Göttin der Freude, Liebe, Musik     beim Wegzug in die Heimat Jakobs die
    und Tanz;                                       Götterstatuen ihrer Familie (Terafim) mit und
                                                    wurde von ihrem Vater des Diebstahls bezichtigt.
   Ischtar im Strahlenkranz;                       (Gen 31,30f)
   „Himmelskönigin“, wohl Ehrentitel jeder         Mirjam, die Schwester von Mose und Aaron.
    Göttin, (Maria Himmelskönigin!)                 Sie sang und tanzte nach der Rettung am
                                                    Schilfmeer: „Singt dem Herrn, denn er überragt
Der Tempel in Jerusalem und der hierarchisch
                                                    alle. Rosse und Wagen warf er ins Meer“.
geregelte Tempeldienst halfen, den Glauben an
Jahwe als den einen und einzigen Gott               Michal, die erste Frau Davids. Sie verkleidete
durchzusetzen. Ebenso die Verkündigung der          ihr Götterbild, legte es in Davids Bett, täuschte
Propheten.                                          damit die Verfolger, David konnte fliehen.
                                                    (1Sam 19,13 und 2Sam 6,20-23)
Gott wird vor allem als männlicher Gott
dargestellt, aber es gibt auch                      Judit, von ihr handelt ein ganzes Buch. Sie
                                                    rettete (mit Gottes Hilfe) ihr Volk vor den
weibliche Gottesbilder in der Bibel:
                                                    Assyrern, indem sie dem Feldherrn Holofernes
Gott als gebärende Frau (Dtn 32,18 …), als
                                                    den Kopf abschlug.
stillende Mutter (Ps 131 …), als Geburtshelferin
(Ps 22,10 …).                                       Marta aus dem NT, die Schwester des Lazarus.
                                                    Sie erkannte in Jesus den Messias: „Rabbi, ich
Gott kleidet (Gen 3,21 …), Gott erzieht (Jes
                                                    glaube, dass du der Messias bist, der Erwählte
46,3-4 …), Gott tröstet (Offb 21,4).
                                                    Gottes, der in die Welt kommt.“ (Joh 11,21-27)
Gott als Bärenmutter (Hos 13,7f), als
                                                    Priska, Leiterin/Mitarbeiterin der urchristlichen
Haushälterin/Hausfrau (Ps 123,2; Lk 15,8-10),
                                                    Gemeinden in Ephesus, Korinth, Rom. (Apg
als Bäckerin (Mt 13,33, Lk 13,20), als
                                                    18,24-27)
Adlermutter (Ex 19,4 in Zusammenhang mit
Offb 12), als Henne (Ps 17,8; auf Christus          Alle Beispiele handeln von Gottesbegegnungen
bezogen: Mt 23,37; Lk 13,34).                       „auf dem Weg“ (am Weg).

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Zur Besinnung Sterntaler-Kirche - Gunda Mayer - Heliand Bund
Gott wird im Alltag erfahren, in Begebenheiten       Gott hilft denen, die etwas tun.
des Lebens.
                                                     Die Erfahrungen der Frauen können auch für uns
Gott hört die Klagen. Gott handelt: Er schaut        / in unserer Zeit relevant sein.
nach den Menschen, er sucht und findet sie.
                                                                            Mathilde Pirzer-Hartmann
(Erfahrung            der             Hagar).

Begegnung mit Madeleine Delbrêl
Zusammenfassung des Vortrags von kennen, der Priester werden wollte. Eine große
Frau Dr. Schleinzer              Liebe erwachte in ihr, die gleichzeitig ihre
                                                     atheistischen Ansichten ins Wanken brachte. Es
Frau Dr. Annette Schleinzer, die Referentin des      kam schließlich zur Verlobung mit diesem
zweiten Tages, beschäftigt sich seit vielen Jahren   jungen Mann, der allerdings kurz darauf zum
mit Madeleine Delbrêl. Von ihrem Doktorvater,        Militär eingezogen wurde, dort wieder zu seiner
dem späteren Kardinal Karl Lehmann, wurde sie        alten Berufung zurückfand und die Verbindung
angeregt, über Leben und Werk dieser Frau zu         zu Madeleine abrupt und radikal abbrach.
promovieren. Folgenden Rat gab er ihr dabei mit      Madeleine, inzwischen 20 Jahre alt, stürzte
auf den Weg: „Versuchen Sie niemals sie              dadurch in tiefe Einsamkeit und wurde schwer
einzuordnen. Sie war ein Impuls des Heiligen         krank.     Erstaunlicherweise   führte     diese
Geistes für unsere Zeit.“                            Trennungserfahrung sie aber nicht zurück in den
Diesem Impuls hat Frau Schleinzer in ihrem           Atheismus, sondern bewirkte in ihr eine stärkere
Vortrag nachgespürt und das Leben von M.             Auseinandersetzung mit dem christlichen
Delbrêl in drei markante Stationen eingeteilt.       Glauben. Als sie auf Teresa von Avila stößt und
                                                     bei ihr liest, man solle Gott jeden Tag 15
1. Station                                           Minuten Zeit schenken beschließt sie, von nun an
                                                     täglich zu beten. Am 29.03.1924 schreibt sie in
Kindheit und Jugend von Madeleine waren von
                                                     ihren Aufzeichnungen: „Gott hat mich
unterschiedlichsten                 Erfahrungen,
                                                     gefunden“. Von da an hat sie nie mehr an Gott
Lebenswirklichkeiten und Lebensanschauungen
                                                     gezweifelt.
geprägt. Als Kind einer gut bürgerlichen
katholischen Mutter und eines eher exzentrischen     2. Station
und freidenkerischen Vaters, spielte der Glaube
in ihrer Kindheit eine große Rolle. „Wenn ich        Nach dieser Gotteserfahrung vollzog sie eine
einmal groß bin, möchte ich Menschen zu Gott         Lebenswende. Gott war ab da der Mittelpunkt
führen“, so lautete einer ihrer kindlichen           ihres Lebens und sie dachte über einen Eintritt in
Wünsche. Doch als die Familie durch berufliche       den Karmel nach. Ein Priester riet ihr aber,
Veränderungen des Vaters nach Paris umziehen         zunächst für 1 Jahr in einer Pfarrgemeinde aktiv
musste, lernte Madeleine dort durch Teilnahme        tätig zu sein. So wurde sie Pfadfinderin, nahm
und Integration in intellektuell aufgeklärte         wöchentlich an Bibellesungen teil und erhielt
Salons atheistische Strömungen kennen. So sah        daraus den Impuls, sich in sozialen
sie mit 15 Jahren im Glauben an Gott nur noch        Brennpunkten einzusetzen. Schließlich erwuchs
eine Projektion des menschlichen Gehirns, deren      bei ihr daraus die Erkenntnis, nicht in ein Kloster
sie nicht mehr bedurfte. Stattdessen neigte sie      zu gehen, sondern wie die ersten Christen mitten
sich der Philosophie zu und begann später            in der Welt zu wirken, Jesus in der Welt heute
Philosophie zu studieren. Nebenher liebte sie ein    erfahrbar zu machen. „Wir wollen nicht etwas
sehr    ausgelassenes,    tanzwütiges     Leben,     machen“, war ihre Devise, sondern „wir wollen
durchsetzt mit immer wieder tiefen Phasen von        Menschen sein, durch die hindurch Christus
Depression. Doch mit 18 Jahren lernte sie im         wirkt“. Um in den sozialen Brennpunkten
Freundeskreis ihres Vaters einen jungen Mann         professionell wirken zu können, studierte sie

Das Thema  HeliandKorrespondenz 1/19                                                                 5
Zur Besinnung Sterntaler-Kirche - Gunda Mayer - Heliand Bund
Sozialarbeit. 1933 gründet Madeleine mit zwei         So sollte allmählich das ganze Leben in das
weiteren Frauen in der Fabrikstadt Ivry, der          Angesicht Gottes rücken:
ersten kommunistisch regierten französischen
                                                      „O Gott, wenn du doch überall bist, wie kommt
Stadt, eine Wohngemeinschaft inmitten eines
                                                      es dann, dass ich sooft woanders bin?“
Armenviertels. Es wird ‚ein Haus der offenen
                                                      Madeleine wollte in einer Welt, die zu 90% nicht
Tür‘ für die armen, ausgebeuteten Menschen
                                                      mehr an Gott glaubte, missionarisch Kirche sein.
ihrer Umgebung. Madeleine findet durch ihr
                                                      Sie wollte nicht verkündigen, sondern Gott
Wirken auch die Anerkennung der politischen
                                                      aussäen. Dafür aber war es für sie ganz wichtig,
Öffentlichkeit und so wird sie 1946 zur
                                                      dass sie selber zu einer Insel göttlicher
kommunalpolitischen        Mitarbeit        ins
                                                      Anwesenheit wurde. Alles Weitere wollte sie
kommunistisch regierte Rathaus berufen. Sie ist
                                                      Gott überlassen, denn:
der Überzeugung, dass Christen sich sozial und
politisch engagieren und Stellung beziehen            „Missionar sein kann man nur, wenn man dem
müssen, denn auch „wer schweigt, bezieht              Wort Gottes, dem Evangelium, in sich selbst
Stellung“.                                            einen offenen, weiten, herzlichen Empfang
                                                      bereitet hat. Der lebendige Drang dieses Wortes
Ihre berufliche Tätigkeit gibt Madeleine 1946
                                                      geht dahin, Fleisch zu werden, Fleisch zu werden
auf, denn ihre Gemeinschaft ist inzwischen auf
                                                      in uns. Und wenn wir so von ihm bewohnt sind,
18 Frauen angewachsen. So wird sie zur
                                                      dann sind wir geeignet, Missionare zu werden.“
Hausmutter und Oberin dieser Gemeinschaft.
                                                                                    Christa Herrmann
3. Station
Je mehr Madeleine von ihrer Gemeinschaft, von
den caritativen Aufgaben und vom öffentlichen
                                                      Gedankensplitter
Leben gefordert wurde, umso mehr beschäftigte
sie in ihrer 3. Lebensphase die Frage, wie man
                                                      von Madeleine Delbrêl
im Alltag mit all seinen Anforderungen                „Der Gläubige kann sich nicht vorstellen - und er
außerhalb von Klostermauern geistlich leben           denkt nicht mal daran, es sich vorzustellen von
kann. Sie war sich sicher, dass es neben              welchen Ängsten der heutige Mensch in
herausgerufenen Menschen auch Menschen der            wahnsinnigen Steigerungen befallen wird, wenn
Straße gab, zu denen sie sich zählte, die ebenfalls   er sie nicht mit einer allmächtigen Weisheit in
von Gott gerufen waren.                               Zusammenhang bringen kann. Die Angst drückt
                                                      sich selten in Worten aus. Wenn man sich jedoch
Doch wo blieb bei den Menschen der Straße
                                                      bewusst macht, dass sie auch so manche gläubige
Raum und Zeit für Gott und das Gebet? Für
                                                      Christen aus dem Gleichgewicht bringen kann,
Madeleine war das eine Frage der Sehnsucht,
                                                      dann vermag ein wenig Nachdenken und viel
denn wer voller Sehnsucht ist, für den gibt es von
                                                      Liebe erahnen lassen, was in dem Schweigen
morgens bis abends Zeitteilchen, dieser
                                                      mitschwingt, das ein Mensch, der nicht an Gott
Sehnsucht – nach Gott – Raum zu geben: keine
                                                      glaubt, sogar sich selbst gegenüber verborgen
langen Meditationen oder Stundengebete,
                                                      hält...
sondern Zeitteilchen, kurze Augenblicke des
Denkens an Gott, Stoßgebete – Benedikt von            Der Gläubige, ist, auch wenn sein Glaube
Nursia nannte das den „Wandel in Gottes               schwach ist, nie ganz allein, nie ganz ohne
Gegenwart“. Diese Form der Spiritualität wurde        Zuflucht. Der Ungläubige kennt die Einsamkeit
für Madeleine immer wichtiger.                        im Reinzustand, eine geradezu unmenschliche
                                                      Einsamkeit. Er ist der Beziehung beraubt, die am
Dennoch sorgte sie in ihrer Gemeinschaft auch
                                                      allerwesentlichsten zu ihm gehört ... Alles, was
für ein Minimum an spiritueller Struktur. Dazu
                                                      Gott entrissen ist, ist dann dem Tod geweiht.
gehörte die tägliche Teilnahme an der
                                                      Was immer man liebt, man liebt etwas, das
Eucharistiefeier, die tägliche gemeinsame
                                                      sterben muss. Das Leben wird zur Vollendung
Schriftlesung und monatlich ein freier Sonntag.

6                                                           HeliandKorrespondenz 1/19  Das Thema
des Todes. Alles ist vom Nichts und von der           Aus: Annette Schleinzer: Madeleine Debrêl,
Absurdität überflutet.                                Prophetin einer Kirche im Aufbruch
Wenn wir diesen Unheilszustand bei einem
                                                                            
Menschen, der nicht an Gott glaubt, realisieren:
wagen wir es dann noch, aus dem, was er sagt,         „Wir Leute von der Straße“
was er tut, was er sucht, zu schließen, dass die
frohe Botschaft des Evangeliums für ihn               Es gibt Leute, die Gott in eine besondere
überflüssig sei?... Oder müsste der lebendige         Lebensform beruft.
Gott des Evangeliums uns nicht unerträglich
sengen, solange wir seinen Namen nicht laut           Andere gibt es, die lässt er in der Masse, die
unter denen ausrufen, die verzweifelt sind, ohne      zieht er nicht „aus der Welt zurück“.
es zu wissen? Wenn sie sich umdrehen, weil sie        Es sind Leute, die eine gewöhnliche Arbeit
uns Gott rufen hören, dann wäre das für sie der       verrichten, die gewöhnliche Verheiratete oder
Anfang der einzigen guten Nachricht“.                 gewöhnliche Unverheiratete sind. Leute, die
                                                   gewöhnliche Krankheiten und gewöhnliche
                                                      Traueranlässe haben.
„Was noch schwerer wiegt, ist, dass die meisten       Leute, die ein gewöhnliches Haus und
Christen, die zu dieser Gemeinde gehören,             gewöhnliche Kleider haben. Es sind Leute des
innerlich vom Milieu der Nichtchristen getrennt       gewöhnlichen Lebens. Leute, die man auf einer
sind, obwohl sie doch im selben Viertel wohnen        beliebigen Straße antrifft.
oder miteinander arbeiten. Und noch schlimmer
ist es, dass sich viele von ihnen den                 Sie lieben ihre Tür, die sich zur Straße hin öffnet,
Nichtchristen gegenüber oft gleichgültig oder         wie ihre der Welt unsichtbaren Schwestern und
feindselig verhalten. Viele Christen, die nur unter   Brüder die Tür lieben, die sich endgültig hinter
sich leben, haben keine Ahnung, wie das               ihnen geschlossen hat.
Christentum auf Menschen wirkt, die nicht             Wir andern, wir Leute von der Straße, glauben
glauben; das lässt sie einander fremd werden ...      aus aller Kraft, dass diese Straße, diese Welt, auf
Einige Leute, die von den ungläubigen Massen          die Gott uns gesetzt hat, für uns der Ort unserer
bis ins Herz getroffen worden sind, mussten           Heiligkeit ist.
erleben, dass sie früher oder später von der
Pfarrei abgewiesen wurden, in der sie einen           Wir glauben, dass uns hier nichts Nötiges fehlt,
Fremdkörper bildeten. Ihr Rückzug hat die             denn wenn das Nötige fehlte, hätte Gott es uns
Pfarrei um ihre wertvolle Präsenz gebracht, und       schon gegeben….
sie selbst sind dadurch auch ärmer geworden ...       Die Offenbarung des Evangeliums ist Geist und
Die Konvertiten hingegen haben in der Pfarrei         Leben. Es verlangt von dem, der sie empfangen
nicht immer eine Gemeinschaft gefunden, die           will, die Aufmerksamkeit seines Geistes und
voll und ganz auf ihre persönlichen Bedürfnisse       seines Lebens. Wir denken oft, wir müssten ihm
und auf die Bedürfnisse ihrer nichtchristlichen       den „Buchstaben“ unseres Daseins geben: Zeit,
Umgebung, in der sie ja durch ihre Familie und        äußere Einsamkeit, Rückzug. Und wenn unsere
ihre Arbeit weiterhin blieben, eingegangen wäre.      Lebensweise uns daran hindert, dann sind wir
Und wenn es Suchende gab, die gerne mit               schnell dabei zu glauben, das Evangelium sei
Christen gesprochen hätten, so konnten sie in der     nichts für uns – oder höchstens in einer
Pfarrei nicht immer Menschen finden, die ‚ihre        verkürzten oder verfälschten Form. Gern würden
Sprache‘ gesprochen hätten, und so sind sie           wir denen, die die Wüste gewählt haben, die
leeren Herzens wieder gegangen. Solche                Fülle einer Botschaft überlassen, die doch in dem
Vorkommnisse, die überall schon schwer                dichten Gedränge der Welt gelebt und gepredigt
wiegen, werden in einer Bevölkerung, in der es        worden ist.
nur eine verschwindende Minderheit von
Christen gibt, besonders dramatisch.“                 Nun aber sollen alle unsere Lebensweisen das
                                                      Evangelium aufnehmen; alle sind dazu berufen,

Das Thema  HeliandKorrespondenz 1/19                                                                   7
das Wort Jesu ungeteilt und unverfälscht zu          sehen wir es aufleuchten, während wir eine
empfangen. Aber sie können das nur, wenn sie         Straße entlanggehen, unsere Arbeit verrichten,
sich als das, was sie sind, hingeben – als ein       Gemüse schälen, auf eine telefonische
ungeteiltes Leben, als unser eigenes ganzes          Verbindung warten, unsere Böden kehren; sehen
Leben. Sie können es nur, wenn sie ihre              es aufblitzen zwischen zwei Bemerkungen eines
sämtlichen inneren Kräfte zur Verfügung stellen,     Mitmenschen, zwischen zwei Briefen, die zu
mit allem, was sie bewegt, was ihren Geist           schreiben sind, beim Aufwachen und beim
beflügelt.                                           Einschlafen.
Nirgendwo als in unserem Leben, das von              Denn das Wort hat seinen Platz gefunden: ein
morgens bis abends zwischen den Ufern unserer        armes und warmes Menschenherz, das ihm
Häuser, Straßen, Begegnungen dahin strömt, will      Herberge bietet.
Gottes Wort wohnen.
                                                     (Madeleine Delbrêl, Deine Augen in unseren
Nirgendwo als in unserem Geist, der uns durch        Augen. Die Mystik der Leute von der Straße,
unsere Arbeit, Mühsal, Freude, Liebe hindurch        München 2014,81.90£).
zu uns selbst kommen lässt, will Gottes Wort
                                                                         
bleiben.
Der Satz des Herrn, den wir dem Evangelium           Freuden vom Berg herab
während der Frühmesse entrissen haben oder
während der Fahrt in der Metro, oder zwischen        Weil deine Worte, o Gott, nicht dazu da sind,
zwei Haushaltsarbeiten, oder abends im Bett: er           um tatenlos in unseren Büchern zu bleiben,
darf uns genauso wenig verlassen wie uns unser            sondern um uns zu beherrschen und in uns
Leben oder unser Geist verlässt.                          die Welt zu durcheilen,
Dieser Satz will befruchten, verwandeln,                  so gib, dass von diesem Feuer der Freude,
erneuern: den Händedruck, den wir zu geben                das du einst
haben, unser Bemühen, gute Arbeit zu leisten;             auf einem Berg entzündet hast,
die Art, wie wir die Menschen anblicken, die uns          von dieser Belehrung, glücklich zu sein,
begegnen, wie wir gegen unsere Müdigkeit                  Funken uns erreichen und in Brand setzen,
ankämpfen, mit einem Schmerzanfall umgehen,
                                                          uns ermächtigen und überwältigen,
in einer Freude erblühen. Dieser Satz will überall
dort zuhause sein, wo wir zuhause sind. Er will           damit wir, von ihnen angesteckt wie Zunder
überall dort wir selbst sein, wo wir wir selbst           im Stoppelfeld,
sind.                                                     die Straßen der Stadt durchlaufen,
                                                          den Wogen der Menge entlang,
Das Wort des Herrn fordert unsere Achtung;
wenn es in unserem Alltag Pausen gibt, so will es         sie anstecken mit Seligkeit,
ein wenig oder auch viel davon in Beschlag                sie anstecken mit Freude.
nehmen. Es verlangt von uns, dass sich unser
                                                     Denn wir haben wirklich genug
Geist ausschließlich mit ihm beschäftigt und
will, dass er ihm alles opfert, was weniger wert         von all den Ausrufern schlimmer
ist. Es will, dass man über ihm betet und dabei          Neuigkeiten,
vergisst, was im Vergleich zu ihm so wenig               trauriger Nachrichten.
zählt.                                                   Sie machen so viel Lärm,
Wenn unser Tag so voll gestopft ist, dass Pausen         dass sogar dein Wort übertönt wird.
unmöglich sind, wenn unsere Kinder, der Mann,            Lass in ihrem Gedröhn
das Haus, die Arbeit fast alles beanspruchen,            unser Schweigen erklingen,
dann fordert es so viel Glaube von uns und so            bebend von deiner Botschaft.
viel Achtung, dass wir wissen: seine göttliche
Kraft kann ihm stets Raum verschaffen. Dann          Im antlitzlosen Gedränge lass unsere Freude

8                                                         HeliandKorrespondenz 1/19  Das Thema
aufleuchten, die lauter tönt als das Schreien
    der Zeitungsverkäufer,
    überwältigender ist
    als die reglose Trauer der Masse.

    Madeleine Debrêl

Das Thema  HeliandKorrespondenz 1/19               9
Literatur
Sibylle Lewitscharoff und Najem Wali
„Abraham trifft Ibrahim“ Streifzüge durch Bibel
und Koran
Beatrix Albrecht                                        Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung, den Spiegel
                                                        und die Zeit. Heute lebt Najem Wali als Autor
Najem Wali trug, wie er in einem Interview              und Journalist in Berlin. Er veröffentlichte
sagte, jahrelang die Idee mit sich herum, ein           zahlreiche Romane und Erzählungen. Zuletzt
Buch zu schreiben, in welchem er die                    erschien sein Roman „Saras Stunde“ (2018)
Geschichten wichtiger Figuren der Bibel und des         Beide Autoren bedauern, dass viele Gläubige
Korans erzählen wollte, denn seit langem war            nicht wissen, was in der Bibel bzw. im Koran
ihm aufgefallen, dass Judentum, Christentum             wirklich steht. Vom Erzählen kennen sie jedoch
und Islam über Legenden mit demselben Kern              seit ihrer Kindheit viele Geschichten, die sie
verfügen. Alleine wollte er das Buch nicht              irrtümlich den Heiligen Schriften zuschreiben
schreiben, damit es nicht zu einseitig würde.           und die die Traditionen teilweise eher
Zufällig saß er bei einer Einladung während der         beeinflussen als die eigentlichen Texte. Z.B.:
Nibelungen-Festspiele von 2015 an einem Tisch           „Die Frau sei Stellvertreterin des Schaitâns und
neben Frau Lewitscharoff. „Ich saß bei vielem           ähnliche    Sätze    spricht    manchmal     der
Wein, Frau Lewitscharoff bei vielem Wasser.             Volksmund. Aber im Koran finden wir den
Und dann habe ich ihr gesagt, Frau Sibylle              Vorwurf nicht. Im Gegenteil, im Koran musste
Lewitscharoff, jetzt weiß ich, mit wem ich dieses       Âdams arme Frau Hawwâ, weil er der
Buch schreibe. Sie sagte, wovon reden Sie? Da           Verführung des Schaitâns erlegen war, das
habe ich es ihr erzählt, und sie hatte Verständnis      Paradiesverlassen...“ (S.45) Das Anliegen der
für die Idee. Und am nächsten Tag kam sie zu            Autoren ist, die Menschen von der
mir und sagte, wir fangen an.“ (DLF-Kultur              Notwendigkeit, die Texte zu lesen zu überzeugen
09.05.2018)                                             und damit Wissen zu vermitteln und
Sibylle Lewitscharoff ist in Stuttgart geboren und      Aufklärungsarbeit zu leisten.
wuchs als Tochter eines bulgarischen Arztes und         In korrespondierenden Essays, wenn auch mit
einer Deutschen auf. Sie interessierte sich früh        verschiedenen Zugängen zum Text und mit
für Literatur. 1973 ging sie nach Berlin, wo sie        verschiedenen Vermittlungsweisen, betrachten
seitdem lebt. Sie studierte Religionswissenschaft       die beiden Schriftsteller neun Hauptfiguren der
an der Freien Universität. Seit Anfang der 2000er       beiden heiligen Schriften, auf die sie sich
Jahre ist sie als freie Autorin tätig und erhielt für   verständigt haben,       Es sind: Eva/Hawwâ,
ihr    schriftstellerisches     Werk      zahlreiche    Abraham/Ibrahim,       Moses/Mûsa,     Lot/Lût,
Literaturpreise. 2013 wurde sie mit dem Georg-          Hiob/Ayyûb,           Jona/Yûnus,        König
Büchner- Preis ausgezeichnet.                           Salomo/Sulaimân,         Maria/Maryam,      der
Najem Wali ist in Basra zur Welt gekommen.              Teufel/Schaitân.
1980 floh er nach Ausbruch des Irak-Kriegs nach
                                                        Die Leser können die einzelnen Essaypaare in
Deutschland. 1988 schloss er sein Germanistik
                                                        beliebiger Reihenfolge lesen. Sie werden jeweils
Studium in Hamburg ab und begann in Madrid
                                                        mit der nötigen Information aus den Schriften
ein Studium der spanischen Literatur. Er war
                                                        und aus der Exegese zur Figur und deren
lange     Zeit     Kulturkorrespondent       der
                                                        sozialem Kontext versorgt.
bedeutendsten arabischen Tageszeitung Al-Hayat
und schreibt regelmäßig u.a. für die Süddeutsche

10                                                             HeliandKorrespondenz 1/19  Literatur
Sibylle Lewitscharoff fügt mit viel Kreativität       Die Einleitung zum Buch durch Najem Wali ist
gestaltete,       auch       breit       angelegte,   für den Laien eine wichtige Hilfe: Sämtliche
Parallelgeschichten      aus    Gegenwart      und    Prophetengeschichten im Koran haben einen
Vergangenheit hinzu (z.B. eine Kierkegaard            Vorläufer im Alten Testament. Die knappe, nicht
Episode, die nur sie kennt zu Abraham und             kontinuierliche Erzählweise des Korans setzte
Brentanos Vita zu Jona). Sie lässt sich von           voraus, dass Muhammads Publikum die
Assoziationen zu Philosophen, Dichtern und            entsprechenden Geschichten bereits kannte und
Schriftstellern, Malern und Musikern, Theologen       seine Anhänger aus dem Judentum und dem
und Psychologen treiben. Die Sprache erscheint        Christentum     ihr    Wissen     sowie      die
teils ernsthaft, teils kurzweilig ironisch gefärbt.   Überlieferungen mitbrachten. Für sein Ziel, die
Ein Beispiel: “...In ihr sprechen nur Männer.         Arabische Halbinsel mit ihren jüdischen und
Abraham spricht mit Gott, Lot spricht mit seinen      arabischen     Stämmen     und      christlichen
Gästen, aufgebrachte Männer krakeelen vor             Bevölkerungsteilen zu einen und sie dem
seinem Haus, die Engel sprechen zu Lot. Die           Überbringer der Botschaft zu unterwerfen,
Frauen bleiben ohne Stimme und laden in               musste er diese Überlieferungen dem Leben in
bemerkenswerter Stummheit Schuld auf ihr              der arabischen Wüsten anpassen.
Haupt. Insofern sind sie zwar waschechte
                                                      Die Schwerpunkte seiner der Schilderung der
Evastöchter...“ (S.130)
                                                      Hauptfiguren aus muslimischer Sicht liegen bei
                                                      den Koranstellen, die er ausführlich zitiert. Mit
                                                      den Stellen, ihrem Umfeld und den Quellen setzt
                                                      er sich differenziert auseinander.
                                                      Über das Erzählen sagt er: “Und diese
                                                      Geschichten machen den Menschen klar, dass sie
                                                      Schicksalsgefährten sind und dass das Erzählen
                                                      der einzige wirklich Heilige Krieg ist – ein Krieg
                                                      gegen das Vergessen, dass wir Menschen alle
                                                      gleich sind. So wird die Literatur nicht nur ein
                                                      Mittel, um die Welt zu retten, sondern auch ein
                                                      Ort der Verbrüderung und des Friedens.“ (NZZ
                                                      25.11.2015)

                                                       Literatur
                                                       Sibylle Lewitscharoff und Najem Wali:
                                                       „Abraham trifft Ibrahim“ Streifzüge durch
                                                       Bibel und Koran
                                                       Geb. Ausgabe 2018, € 24,00, TB € 14,00
                                                       Suhrkamp Verlag, Berlin

Literatur  HeliandKorrespondenz 1/19                                                                11
Weitere Leseempfehlung
Amir Beitar / Henning Sußebach: „Unter einem Dach“
Jutta Busse
„Unter einem Dach“ ist ein hochaktuelles Buch,     Einmal schreibt Henning über die Ereignisse der
das sicher in einigen Jahrzehnten Zeugnis geben    letzten Tage aus seiner Sicht, dann schreibt
kann für vorbildliches Engagement in einer         Amir, wie er die Familie und Freunde und
drangvollen Epoche unseres Landes. Als 2015        Bekannten seiner Gastgeber erlebt. Neben vielen
zehntausende Flüchtlinge aus Syrien und vielen     anderen Verhaltensweisen und Gepflogenheiten
anderen Ländern nach Deutschland kamen,            der Deutschen kann er nicht begreifen, dass er in
entschließt sich Henning Sußebach nach             diesem angeblich christlichen Land nicht sieht,
reiflicher Überlegung und nach Absprache mit       wann und wo die Menschen beten und dass in
seiner Frau und seinen beiden Kindern einen        seinem Umfeld sonntags niemand in die Kirche
flüchtigen Studenten aus Syrien bei sich           geht, wie er es aus seiner Heimat kennt.
aufzunehmen. Henning ist Journalist bei der
                                                   Das Buch ist anschaulich geschrieben, spannend
Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ und
                                                   und sehr interessant zu lesen. Man kann
bewohnt mit seiner Familie ein Einfamilienhaus
                                                   nachvollziehen, was Henning S. in einem der
in einem Vorort von Hamburg .Er hat sich durch
                                                   letzten Kapitel nach sechs Monaten des
Lesen einschlägiger Literatur und anderweitige
                                                   Zusammenlebens schreibt: Nicht nur Amir hat
Informationen auf den erwarteten Gast
                                                   sich in diesem halben Jahr zwangsläufig
vorbereitet, der seit sechs Monaten in einem
                                                   verändert, auch er selbst und die ganze Familie
Auffanglager in Sachsen lebt und gern vorerst in
                                                   ist in einen ständigen Prozess des Hinterfragens
einer deutschen Familie das deutsche Leben ,
                                                   geraten. Alle mussten sich mit vielen Fragen neu
Sitten und Gebräuche kennenlernen möchte. Die
                                                   auseinandersetzen und den eigenen Standpunkt
Familie macht in ihrem Haus ein Zimmer frei,
                                                   überdenken. Auch ich habe es beim Lesen oft so
das sie mit dem Notwendigen ausstattet, das aber
                                                   empfunden. Wir hören ja seit der großen
zunächst nicht von dem Neuankömmling gefüllt
                                                   „Flüchtlingswelle“ von 2015 durch Presse und
wird, da Amir nur eine Tasche mit Sachen hat.
                                                   Fernsehen meistens, wenn durch die Zugereisten
Alles andere, was er aus der Heimat
                                                   Straftaten begangen werden, so dass man den
mitgenommen hat, ist ihm auf der Flucht
                                                   Eindruck gewinnen könnte, dass mindestens ein
gestohlen worden.
                                                   großer Teil dieser Menschen Kriminelle oder
In den ersten Wochen spricht der syrische Gast     Asoziale sind. In diesem Buch kann man von
nur wenige Sätze deutsch, besucht aber schnell     einem Schicksal erfahren, das einen berührt und
einen    Sprachkurs    und      nimmt     andere   Sympathie weckt. Ein menschliches Schicksal,
Gelegenheiten wahr, um Deutsch zu lernen. Er       wie es sicher in vielfältiger Ausprägung
kommt aus einem Dorf am Euphrat nahe der           tausendfach in unseren Tagen vorkommt. Wir
Stadt Deir ez Zor, wo er an der Universität        alle können nur wünschen, und wo es möglich
Mathematik und Informatik studiert hat. Er hat     ist, unseren Teil dazu beitragen, dass diese
dreizehn Geschwister und kann sich eine Familie    schwierige Integration gelingt.
mit nur zwei Kindern kaum vorstellen. Er ist
gläubiger Moslem, an viele den Alltag
beeinflussende Vorschriften gebunden, so dass es    Literatur
in der Familie Sußebach , die sich sehr bemüht      Amir Beitar / Henning Sußebach:
und geduldig auf ihn einstellt, täglich zu neuen
Überraschungen und Schwierigkeiten kommt.           „Unter einem Dach“
Das Buch schildert in wechselnden Kapiteln die      Geb. Ausgabe 2016, € 19,95
sich allmählich entwickelnde Verständigung.         Rowohlt Verlag

12                                                         HeliandKorrespondenz 1/19  Literatur
Aktuelles
                                         100 Jahre ND
                                         Jubiläumskongress
                                         22. - 27. 4. 2019 in Köln

Der ND, befreundeter oder „Geschwister“-Verband des HELIAND, feiert sein einhundertjähriges
Bestehen und wir als HELIAND sind herzlich eingeladen mitzufeiern!
Höhepunkt ist die eigentliche Geburtstagsfeier am Freitag, 26. April 2019, beginnend mit einem
Festgottesdienst im Kölner Dom.
Der anschließende Festakt im Kölner „Gürzenich“ mündet in einen festlichen Abend mit „After-
Show-Party“ und Tanz.
Begegnung und Austausch prägen die Kongresswoche, die Themen widmen sich Glaube, Kirche,
Gesellschaft und Politik.
Das Programm ist vielfältig mit Kunst und (Live)-Musik, Referaten und Diskussionen, kreativen
Angeboten und Exkursionen, Gottesdiensten und Liturgischer Nacht, Erzählcafé und Poetry-Slam,
Kölschem Humor und Bierprobe.
Interessierte wenden sich bitte an die
ND-Geschäftsstelle
Gabelsbergerstraße 19
50674 Köln
Tel. 0221 177 363 40
info@nd-netz.de
Homepage: www.nd-netz.de
                                                  

Ein fiktiver Brief
Die Kirche befindet sich nach wie vor in einer schwierigen Situation. Die notwendige Strukturreform
beschränkt sich allein auf die Anpassung der Anzahl der Gemeinden an die Anzahl der vorhandenen
Priester. Doch das führt nicht zu einem neuen Aufbruch. Es zeigt sich vielmehr immer deutlicher,
dass Aufbruch und Erneuerung nicht von der Kirchenleitung allein zu erwarten sind, sondern, dass
wir Laien mutiger den Finger in die Wunden legen und um Lösungen mit ringen müssen. Der fiktive
Brief will Anstoß und Anregung dazu sein.                                       Das
Redaktionsteam

Sehr geehrter Herr Erzbischof,                        Wir sehen Sie, unseren Hirten, nur bei
im Sinne und im Auftrag Jesu Christi sind Sie         besonderen, herausragenden Ereignissen wie
der gute Hirte für uns, die Gemeinschaft der          Firmungen, besonderen Patrozinien, Jubiläen und
Glaubenden in Ihrer Diözese. Diesem, unserem          dergleichen. Sie erleben dann volle Kirchen und
Hirten, gilt dieses Schreiben.                        frohe Festtagsstimmung – also satte Weiden.
                                                      Doch das ist nicht die Realität.
Wir möchten mit einer Frage beginnen. Kennen
Sie uns, Ihre Herde, unseren Alltag wirklich?

Aktuelles  HeliandKorrespondenz 1/19                                                             13
Im kirchlichen Alltag haben wir den Eindruck,         Leiter und dem oder der Verwaltungsleitung. Der
dass unsere „Weiden“ – der Glaubensgrund –            Priester, als geistlicher Leiter, kann zwar
immer trockener und kahler werden. Ihre               weiterhin die oberste Dienstaufsicht haben, die
Stellvertreter, die Priester, können in den           fachlichen          Entscheidungen           im
flächenmäßig immer größeren Gemeinden nicht           Verwaltungsbereich obliegen aber dem oder der
mehr so Priester sein, wie sie es von ihrer           Verwaltungsleitung. Bei einer solchen Regelung
Berufung her gerne sein wollten. Heute sind sie       kann der Priester wieder Seelsorger sein, kann
in erster Linie Gemeindeleiter, d. h. Verwalter       die Glaubensnöte und die Zweifel an so manchen
und Sakramentenspender. Die Seelsorge, der            liturgischen Texten und Dogmen in Gesprächen
persönliche         Kontakt         zu         den    erfahren und darauf reagieren. Und er kann
Gemeindemitgliedern, Gespräche über Zweifel,          verlässlicher als das unter den jetzigen
den eigenen Glauben, Krankenbesuche, bleiben          Bedingungen möglich ist, das Evangelium in die
mehr oder weniger auf der Strecke. Darunter           heutige Zeit mit ihren wissenschaftlichen,
leiden nicht nur wir, die Gemeinde, sondern auch      kulturellen Entwicklungen und Erkenntnissen
und vielleicht noch mehr, die Priester, für die Sie   übertragen.
auch Verantwortung haben. Mit zwei Aussagen
                                                      Eine solche Änderung und Neuregelung ist
aus jüngster Zeit wollen wir das belegen.
                                                      möglich und liegt in Ihrer Kompetenz.
In einem Gespräch mit einer Frau, die seit Jahren
                                                      Aus unserer Sicht, von der Basis her, können Sie
in einem großen Pfarrbüro tätig ist, erzählte sie
                                                      nicht nur, sondern Sie müssen handeln.
von einer sie sehr belastenden Situation, wo sie
nicht richtig helfen konnte, und dann wiederholte     Sehr geehrter Herr Erzbischof, prüfen Sie bitte,
sie immer wieder sehr traurig: „wir machen            ob Ihr Bild vom guten Hirten noch kompatibel ist
keine Seelsorge mehr, wir machen nur noch             mit dem guten Hirten, den Jesus Christus nicht
Verwaltung.“                                          nur verkündet, sondern gelebt hat.
Kurz darauf fand zufällig ein Gespräch mit            In diesem Sinne grüßen Sie
einem priesterlichen Gemeindeleiter statt. Anlass
war     eine     falsche,    bzw.    unterlassene     besorgte Christen Ihrer Diözese
Bekanntmachung. Da gestand der junge Priester,
dass er vor einigen Wochen in einer tiefen            Dieser Brief erhebt keinen Anspruch auf
Sinnkrise war. Eine Verwaltungsvorschrift nach        Urheberrecht. Er kann von jedem unterzeichnet
der anderen hätten ihn vom Ordinariat erreicht.       und ganz oder teilweise übernommen werden.
Er hätte sich gefragt, ob er das auf Dauer will                           
und ob sein Berufsbild nicht ein anderes gewesen
wäre. Ein älterer Priester hätte ihm mit dem Rat                      Inkonsequent
geholfen, solche Briefe vom Ordinariat häufiger
mal dem Papierkorb zu überlassen. Aber ist das                   Frag hundert Katholiken
eine Lösung?                                                      was das wichtigste ist
                                                                      in der Kirche.
Wir fragen Sie: sehen Sie diese Situation der
                                                                  Sie werden antworten:
hungrigen, verstreuten Herden und sehen Sie die
                                                                        die Messe.
Not der Priester, die nicht so Hirte sein können,
wie es ihren Vorstellungen und ihrer Berufung
                                                                 Frag hundert Katholiken
entspricht? Wenn Sie es sehen, warum handeln
                                                                  was das wichtigste ist
Sie nicht? Fehlen Ihnen Lösungsmöglichkeiten?
                                                                       in der Messe.
Wir können Ihnen helfen.
                                                                  Sie werden antworten:
Wir schlagen vor und erwarten, dass unsere                            die Wandlung.
großen Gemeinden, Seelsorgeeinheiten oder wie
immer sie genannt werden, von einer                               Sag hundert Katholiken
Doppelspitze geleitet werden, dem geistlichen                      dass das wichtigste in

14                                                           HeliandKorrespondenz 1/19  Aktuelles
der Kirche die Wandlung ist.
           Sie werden empört sein.
            Nein, alles soll bleiben
                  wie es ist!

                Lothar Zenetti

Aktuelles  HeliandKorrespondenz 1/19   15
Aus unserer Geschichte

16               HeliandKorrespondenz 1/19  Aus unserer Geschichte
Vor 15 Jahren, 2003, hatte unser Jahrestreffen in   Imperialismus und Kolonialismus waren damit
Freising das Thema: „Gott einen Ort sichern-        verbunden….
Heliand heute“ (ähnlich dem diesjährigen            Mission, besser Sendung, geht von Gott aus, der
Jahrestreffen in Bad Driburg). „Assurer un lieu     Jesu Christi Antlitz trug, er der Gesandte
a`Dieu“ – Madeleine Delbrêl hat es vorgelebt.       schlechthin…ruft andere in die Sendung, er gibt
Auch wir wollten herausfinden, wie wir in einer     Anteil an seiner Mission. Der biblische Ursprung
Zeit, in der „Gott lautlos überflüssig wird“,       ist eindeutig, aber wie kann man den Begriff
unsere Alltagsspiritualität neu beleben können.     heute verwenden? Bischof Wanke sagte:
Fast 100 Heliandfrauen und einige mutige            „Mission heißt für mich schlicht: Das
Männer fanden den Weg nach Freising, angereist      weitersagen, was für mich selbst geistlicher
vom Norden, Osten, Westen, Süden und sogar          Lebensreichtum       geworden        ist.   Und
aus Holland. Auf dem Domberg in Freising,           Evangelisieren meint: Dies auf die Quelle
bezogen wir Quartier, auf geschichtsträchtigem      zurückführen, die diesen Reichtum immer neu
Boden mit einer christlichen Tradition, die bis     speist, auf das Evangelium, letztlich auf Jesus
ins 8.Jahrhundert zurückreicht.                     Christus selbst und meine Lebensgemeinschaft
                                                    mit ihm.“
Eine unserer Referentinnen damals war Dr.
Gabriela      Grunden.     Ihr    Thema      war:   Und Spiritualität meint „Leben aus dem Geist
„Missionarische Spiritualität“. Sie begann so:      Jesu“ (Rahner) oder „Verwirklichung des
„Von Franziskus erzählt man sich folgende           Glaubens         unter       den        konkreten
Geschichte: Eines Tages schlug er einem jungen      Lebensbedingungen“ (Zulehner). Wir benötigen
Mönch vor: Wir wollen in die Stadt gehen und        eine „bilinguale Sprache“ in der christlichen
dort den Leuten predigen. So machten sie sich       Spiritualität. Bilingual, weil sie sowohl die
auf den Weg nach Assisi, und sie gingen dort        Sprache der Bibel und ihrer Symbolik als auch
durch die Straßen und über den Marktplatz und       die Sprache der Zeit zu sprechen vermag. Von
unterhielten sich über geistliche Dinge. Erst als   missionarischer Spiritualität zu reden bedeutet
sie wieder auf dem Weg nachhause waren, rief        folglich, sich zweisprachig auszurichten und zu
der junge Mönch erschrocken aus: Vater              lernen.
Franziskus, jetzt haben wir glatt vergessen, den    Missionarische Spiritualität hat nichts zu tun mit
Leuten zu predigen! Nein, antwortete Franziskus     äußerlich bleibenden Riten. Gottes Gegenwart ist
lächelnd, wir haben die ganze Zeit nichts anderes   nicht gebunden an unsere Kraftanstrengungen.
getan. Wir wurden beobachtet, einige Leute          Sie ereignet sich im Aufstand der Herzen für
hörten Brocken unseres Gesprächs, unser             Gott mitten in der Welt. Genau das hatte
Gestikulieren und all unser Tun wurden gesehen.     Franziskus begriffen. Darum kann er behaupten,
So haben wir gepredigt. Denn, fügte er hinzu:       dass es überhaupt nichts nützt, wenn einer
Merk dir, mein Sohn, es hat keinen Sinn             hingeht, um zu predigen, wenn er nicht schon
hinzugehen, um zu predigen, wenn man nicht          durch sein Gehen selber, also durch sein ganz
schon durch das Gehen predigt.“ Missionarische      banales Alltagsleben predigt.
Spiritualität auf den Punkt gebracht? Oder          Genau das hat Jahrhunderte später Madeleine
heilige Naivität, wie sie einem Franziskus zu       Delbrêl erfahren, wenn sie schreibt: „Das Wort
eigen war?...                                       Gottes trägt man nicht in einem Köfferchen bis
Frau Grunden: „Vor wenigen Jahren war der           zum Ende der Welt. Man trägt es in sich, man
Begriff „Mission“ besetzt mit „jemanden             nimmt es in sich mit auf den Weg. Man lässt es
bevormunden“, …war der Inbegriff von                bis auf den Grund sinken, bis zu dem Dreh- und
Intoleranz. Heute hat sich die Situation            Angelpunkt, in dem sich unser ganzes Selbst
verändert.                                          dreht. Missionar sein kann man nur, wenn man
Der Missbrauch des Begriffs „Mission“ im Laufe      dem Wort Gottes, dem Evangelium, in sich
der Geschichte ist offenkundig, missionarische      selbst einen offenen, weiten, herzlichen Empfang
Tätigkeit zeigte sich als schöpfungsverachtende     bereitet hat.“
Zerstörungskraft, Kulturen wurden vernichtet.

Aus unserer Geschichte  HeliandKorrespondenz 1/19                                                 17
Wichtige Gedanken aus dem Referat von                 und bestehen aus Bleiplatten, die insgesamt fast
Gabriela   Grunden  wurden von    mir                 600 Tonnen wiegen. Es gab also eine Menge zu
zusammengefasst.                                      sehen. Unser Führer, ein Steinmetz der
                                                      Dombauhütte, ließ die spannende Baugeschichte
                                   Gertrud Singer
                                                      des Doms lebendig werden und vermittelte völlig
                                                      neue Ansichten über ein Bauwerk, das schon
Wir über uns                                          einige Jahrhunderte die Silhouette der Stadt
                                                      prägt. Noch älter waren die romanischen
                                                      Kirchen, die wir am Freitag erkundeten: St.
Termine                                               Maria in Lyskirchen, St. Maria im Kapitol, St.
                                                      Cäcilien (also das Schnütgen-Museum), St.
Zentrale Veranstaltungen                              Aposteln und abends St. Andreas bei einem
17.- 19. Mai 2019 Frühjahrsfrauen in Dresden          Gottesdienst. Was für ein Gegensatz zwischen
(Anreise ab 15. Mai möglich)                          dem      grandiosen      Dom       mit    seinen
                                                      überwältigenden Besuchermassen und den
26. – 29. September 2019 Jahrestreffen im St.         großartigen, aber deutlich stilleren romanischen
Bonifatiuskloster in Hünfeld (nahe Fulda)             Basiliken. Hier konnte man in aller Ruhe auf
29. September – 4. Oktober 2019 Ferien in             Spurensuche gehen, Stimmungen nachspüren
Gemeinschaft im Bonifatiuskloster in Hünfeld          und intensive Gespräche führen.

25. – 27. Oktober 2019 Generationen im
Gespräch in der Jugendherberge Wiesbaden
Regionale Veranstaltungen
23. März 2019 Diözese Rottenburg/Stuttgart,
Diözesantag in Stuttgart, Thema: „Wir können’s
auch mit Stock“. Gruppenarbeit mit erfahrenen
Leiterinnen
3. – 11. Juli 2019 Diözese Rottenburg/Stuttgart,
Ferien in Gemeinschaft in Schloss Hersberg bei
Immenstadt am Bodensee. Gäste aus anderen
Diözesen sind herzlich willkommen.

Berichte
Rheintöchter in der Karibik?
37° im Schatten, am Ufer murmelten die Wogen,
und als Dreingabe erschien eine spektakuläre
Mondfinsternis am nachtklaren Himmel. Dabei
mussten die Rheintöchter für so viel karibisches      Foto: Roswitha Löser
Feeling nur nach Köln reisen. Denn vom 25. bis
29. Juli 2018 präsentierte sich die Stadt von ihrer   Die Reise galt jedoch nicht nur den vielen Kölner
hochsommerlichen Seite. Das absolute Highlight        Gotteshäusern, sondern auch der Gemeinschaft.
(157,38 Meter) war der Dom, dem wir uns am            Dazu haben wir ein Format entwickelt, das in
Samstag widmeten. Am Vormittag gab es eine            Köln seinen Probelauf hatte. Die „Kernreise“
Führung auf seinem Dach, dessen Gebälk nicht          ging von Freitag bis Sonntag, besonders
aus Holz besteht, sondern eine beeindruckende         reiselustige Rheintöchter trafen aber schon am
Eisenkonstruktion aus dem 19. Jahrhundert ist.        frühen     Mittwochabend      ein,   um     mehr
Die Dachflächen umfassen mehr als 12.000 m²           gemeinsame Zeit miteinander zu verbringen.

18                                                        HeliandKorrespondenz 1/19  Wir über uns
Außerdem hatten wir Frauen aus der Gegend in       Freiburg“ in einem entzückenden Lokal zum
und um Köln informiert und sie zum Dombesuch       Mittagessen ein. Anschließend erinnerte eine
am Samstag eingeladen. Auf diese Weise kam         Diashow an die vergangenen gemeinsam
eine bunte Truppe aus Rheintöchtern, Heliand-      verbrachten Tage, besonders an das große
Frauen und Frauen, die am Heliand Interesse        Treffen auf dem Mont Ste. Odile im Elsass.
gezeigt hatten, zusammen. Es wurden neue           Barbara trug noch zusätzliche Eindrücke von
Verbindungen geknüpft, alte Beziehungen            ihrem diesjährigen Besuch in Reims bei, wo zwei
aufpoliert, Meinungen, Erkenntnisse und            Steinplatten in französischer und deutscher
Adressen ausgetauscht und viele Eindrücke          Sprache vor der Kathedrale an den
gesammelt. Zufrieden und ein bisschen              Versöhnungsgottesdienst mit Erzbischof Marty,
verschwitzt traten wir am Sonntag unsere           Charles de Gaulle und Konrad Adenauer
Heimreise an, im Gepäck ein neues Reiseziel.       erinnern, der hier am 8. Juli 1962 stattgefunden
Nein, nicht die Karibik. Die Rheintöchter tun      hatte. - Odile in Vertretung ihrer Gruppe verband
sich mit den Frühjahrsfrauen zusammen und          mit ihrem Dank den Wunsch, dass wir Frauen
fahren im Mai 2019 nach Dresden.                   uns unseres Einsatzes in Gesellschaft und Kirche
                        Dr. Cornelia Schneider     immer mehr bewusst werden und dafür eine
                                                   angemessene Wertschätzung einfordern. - Das
Deutsch-französisches Treffen                      Wetter trug das Seinige zum Gelingen des Tages
in Freiburg am 22. September 2018                  bei. Einer der französischen Teilnehmer hat ein
                                                   kleines     Video      gezaubert,     das    unter
Die Heliandgruppe Freiburg organisiert, wie        https://youtu.be/ngIgQTP56OE            aufgerufen
schon mehrfach berichtet, seit 2002 jährlich ein   werden kann. Am Schluss versammelten wir uns
Treffen mit Mitgliedern der ACF (Action            im Chor der Konviktskirche zu einer kurzen
Catholique des Femmes) aus dem Elsass,             Andacht, bei der wir gemeinsam und
abwechselnd diesseits und jenseits des Rheins.     abwechselnd in deutscher und französischer
Vertreterinnen der Kfd und Mitglieder des ND,      Sprache beteten. – Bei der Frage, wie es mit den
nehmen inzwischen ebenfalls daran teil, so dass    Treffen weitergehen soll, da wir alle älter und
sich     immer    zwischen     25    und      40   weniger mobil werden, wurde entschieden, dass
Teilnehmer/Innen, jeweils fokussiert auf ein       wir uns jährlich ohne großes Programm zu einem
Thema, einfinden. Diese Treffen haben sich als     Freundschaftsmittagessen       abwechselnd      in
wichtig und auch heilsam erwiesen. Gerade          Strasbourg bzw. Freiburg treffen wollen. Die
2013, im Jahr des 50jährigen Jubiläums des         persönlichen Freundschaften können auf diese
Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages,      Weise weitergepflegt und auch durch
wurde beim Treffen auf dem Mont St. Odile          Neuzugänge erweitert werden. Hoffen wir, dass
offenbar, wie tief gerade bei der älteren          wir sie noch eine Weile pflegen können!
Generation der Elsässer Verletzungen durch die
deutsche Besatzung immer noch nachwirken.                                             Johanna Pölzl
Nach       Aussagen      der      französischen
Teilnehmerinnen waren und sind diese               Ferien in Gemeinschaft vom 23. – 30.
Begegnungen sehr wichtig und haben zu einer
                                                   September 2018 in Bad Driburg
echten Versöhnung mit ihren deutschen
Nachbarn geführt, zu der die gemeinsame            In diesem Jahr waren wir nach sehr langer Zeit
christliche Spiritualität nicht unwesentlich       einmal wieder im Hotel Erika Stratmann, das
beigetragen hat. Wir von diesseits des Rheins      direkt am Gräflichen Kurpark und unweit vom
erleben diese Treffen dankbar als Bereicherung     Zentrum gelegen ist, untergebracht. Bad Driburg
und Zeichen einer aufrichtigen Freundschaft auf    befindet sich im Eggegebirge und ist das einzige
beiden Seiten. - Am 22. September feierten wir     Privatheilbad Deutschlands. Am Sonntagabend
nun in Freiburg mit dem 15. Treffen ein kleines    stellten uns Gerda Lohölter und Helga Holtrup
Jubiläum. Nach Museumsbesuch mit kleinem           das von ihnen für uns ausgewählte
Orgelkonzert fanden wir uns mit 26                 Ferienprogramm vor. Gleich am nächsten
Teilnehmer/Innen „über den Dächern von             Morgen machten wir uns auf den Weg zum

Wir über uns  HeliandKorrespondenz 1/19                                                          19
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