Ein internationales Ziel zur Reduzierung von Ungleichheit
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DOI: 10.35998/VN-2021-0027 Ein internationales Ziel zur Reduzierung von Ungleichheit | Denk Ein internationales Ziel zur Reduzierung von Ungleichheit Am 25. September 2015 kam es zu einem Novum bei den Vereinten Nationen: Zum ersten Mal beschlossen die Mitgliedstaaten, dass es eines Entwicklungsziels zur Reduzierung von Ungleich- heiten bedarf. Wie entstand dieses Ziel, welche widersprüchlichen und umstrittenen Inhalte umfasst es und was sind die daraus resultierenden Herausforderungen? zess offengelegt, in dem nur einige wenige, höchst Dr. des. Albert Denk selektive Ungleichheiten als ungerecht bewertet ist Politischer Soziologe an der wurden. Ludwig-Maximilians-Universität in München. albert.denk@gmx.de Eigenständiges Ziel oder Querschnittsthema? Entscheidend für das spezifische Verständnis von B ekanntlich sieht der Mensch gelegentlich Ungleichheit waren die Verhandlungen zu den den Wald vor lauter Bäumen nicht. Mit dem SDGs, deren heiße Phase auf die Jahre 2013 und Thema Ungleichheit verhält es sich sehr ähn- 2014 zurückzudatieren ist. Zeitgeschichtlich steht lich, denn es dauerte 70 Jahre, bis die Vereinten der diplomatische Sinneswandel in einer Linie mit Nationen einen Fokus darauf legten. Ungleichhei- sozialen Gerechtigkeitsbewegungen wie beispiels- ten sind aber nichts Neues. Hierbei handelt es sich weise dem sogenannten ›Arabischen Frühling‹, der um die In-Vergleich-Setzung von Individuen, Grup- ›Movimiento 15-M‹-Bewegung in Spanien oder der pen sowie Institutionen und eben der Feststellung weltweiten Occupy-Bewegung. Globale Ungleich- unterschiedlicher Möglichkeiten, Positionen sowie heiten offenbarten sich in dieser Zeit im öffentli- Ressourcen. Seit der Gründung der Staatengemein- chen Bewusstsein durch die Folgen der Finanzkrise schaft gab es bereits viele Anzeichen für eine äu- in den Jahren 2007 und 2008, der zunehmenden ßerst ungleiche Weltgesellschaft, bei der empirisch Erderwärmung und der Ungleichverteilung von Le- breit belegt der Wohlstand weniger Menschen auf benschancen. Neben der kontinuierlichen Thema- der Ausbeutung vieler sowie von natürlichen Res- tisierung durch eine kritische Zivilgesellschaft auf sourcen beruht.1 Dieses relationale Verständnis wur- den Straßen wurde der Themenkomplex ungleicher de nun also im Jahr 2015 in der Agenda 2030 für Gesellschaftsverhältnisse durch institutionalisier- nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) mit den Zie- te Gruppen in Form von sogenannten ›wichtigen len für nachhaltige Entwicklung (Sustainable De- Gruppen‹ (›major groups‹) direkt in die Verhandlun- velopment Goals – SDGs), und hier dem Ziel 10 gen zu den SDGs getragen. Zudem befürworteten über weniger Ungleichheiten, thematisch hervorge- Fachleute aus der Wissenschaft ein solches Ziel. hoben.2 Dabei verabschiedeten alle Mitgliedstaaten Beispielhaft hierfür steht die Rede des Wirtschafts die durchaus kryptisch anmutende Zielbeschreibung nobelpreisträgers Joseph Stiglitz, der für eine Fo- »Ungleichheit innerhalb von und zwischen Staaten kussierung auf extreme Ungleichheiten plädierte. 3 zu verringern«. Im Folgenden werden die Verhand- Dennoch blieb es lange Zeit unklar, ob in der lungen zu diesem Ziel nachgezeichnet und der Pro- Agenda 2030 Ungleichheiten als eigenes Ziel inte 1 Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016; Anja Weiß, Soziologie globaler Ungleich- heiten, Berlin 2017; Aram Ziai, Development Discourse and Global History: From Colonialism to the Sustainable Development Goals, New York 2016. Der Autor hat den Text in genderinklusiver Schreibweise verfasst. Aufgrund der besseren Lesbarkeit wurde diese von der Redaktion in eine binäre Schreibweise geändert. 2 UN Dok. A/RES/70/1 v. 25.9.2015. 3 Michael W. Doyle/Joseph E. Stiglitz, Eliminating Extreme Inequality. A Sustainable Development Goal, 2015–2030, Ethics & International Affairs, 28. Jg., 1/2014, S. 5–13. V E R E I N T E N AT I O N E N 6 / 2 0 2 1 243
Ein internationales Ziel zur Reduzierung von Ungleichheit | Denk | Drei Fragen an griert würden. Erst am Ende der elften von 13 Drei Fragen an mehrtägigen Sitzungen wurde das Thema als po- Emma Webb tenzieller Schwerpunkt aufgenommen. In dieser Arbeitsgruppe kam es zu einer Blockbildung von Welchen Beitrag leistet das UN-Freiwilligenprogramm (UNV), Staaten, die ein spezifisches Ziel zur Ungleichheits- um Ungleichheiten zu überwinden? reduzierung forderten und eben jenen, die es zu vermeiden versuchten. Letzterer vereinte Staaten ›Niemanden zurückzulassen‹ ist das Versprechen der Agenda des Globalen Nordens wie Australien, Deutschland, 2030 für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) und die Frankreich, Kanada, die Schweiz, den USA und Freiwilligenarbeit spielt dabei eine entscheidende Rolle. Um das Vereinigte Königreich, während ersterer die Ungleichheiten zu bekämpfen, müssen wir die Fähigkeiten, Talente und das Wissen derjenigen nutzen, die traditionell an Gruppe der 77 (G77) mit China umfassten. Laut den Rand gedrängt wurden. Beim UNV haben wir große dem Ko-Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Macharia Fortschritte dabei gemacht, die Vielfalt der Welt widerzuspie- Kamau stachen allen voran die Stellungnahmen geln: Im Jahr 2020 kamen unsere Freiwilligen aus 168 Län- der brasilianischen Delegation hervor, mit denen dern, 52 Prozent waren Frauen und 84 Prozent stammten aus sie besonders ›leidenschaftliche Plädoyers‹ für die- dem Globalen Süden. Um ein inklusiveres UN-System aufzu- ses Ziel hielten. Dem entgegen wurden die größten bauen, müssen wir noch mehr tun. Mit unserem neuen Ressentiments seitens den USA hinsichtlich einer Freiwilligenprogramm für Flüchtlinge, das wir gemeinsam mit solchen Zielsetzung geäußert.4 Neben den USA for- dem Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen derte etwa auch die Europäische Union (EU), Un- (UNHCR) im Jahr 2020 ins Leben gerufen haben, versuchen wir, gleichheitsaspekte stattdessen als Querschnitt in Barrieren abzubauen und neue Talente in die UN zu bringen. andere Ziele zu integrieren. 5 Bis zum Ende der Verhandlungen versuchten sie, das Themenfeld der Wie geht das UNV auf Menschen mit Behinderungen ein? Ungleichheit insbesondere auf die Ziele zu Armut Das UNV arbeitet mit UN-Partnern zusammen, um die Rechte (SDG 1), Frieden, Gerechtigkeit und starke Instituti- von Menschen mit Behinderungen zu fördern und die Vielfalt onen (SDG 16) oder Partnerschaften zur Errei- der Talente im UN-System zu stärken. Diese Arbeit ist dank der chung der Ziele (SDG 17) aufzuteilen.6 Beide Inte- Unterstützung unserer Finanzierungspartner, darunter auch ressensblöcke einigten sich schließlich auf einen Deutschland, möglich geworden. Im vergangenen Jahr waren Kompromiss. Das Ziel zur Ungleichheitsreduzie- 88 UN-Freiwillige mit Behinderungen im UN-System im Einsatz rung (SDG 10) wurde als Druckmittel benutzt, da- und diese Zahl wird bis Ende des Jahres 2021 noch deutlich mit die G77 mit China im Tausch ebenso einem steigen. Das ist zwar wenig, aber es ist ein Anfang. Wir unterstützen unsere UN-Partner und UN-Freiwilligen mit Ziel zu Frieden, Gerechtigkeit und starke Institu Behinderungen, um sicherzustellen, dass sie einen gleichbe- tionen (SDG 16), also Rechtsstaatlichkeit und da- rechtigten Zugang zur Arbeit haben und dort gleichberechtigt mit zu Grundelementen westlicher Demokratien, tätig sein können. Dies kann von der Bereitstellung spezieller zustimmten.7 Zusammenfassend unterstreicht dies Büroausstattung bis hin zur Gewährleistung barrierefreier auf Seiten der Staaten der Organisation für wirt- Arbeitsbedingungen reichen. schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einen Charakter des Ungewollten. Gerade Wie fördert UNV den Abbau von Ungleichheiten? diese Gesellschaften sind als überwiegend privile- Die Förderung von Freiwilligenarbeit und die Unterstützung giert im weltgesellschaftlichen Vergleich zu deuten. von Staaten bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Beispielhaft stehen hierfür etwa die Pro-Kopf-Na- Entwicklung (SDGs) durch Freiwilligenarbeit ist eine Priorität turvernutzung, die sehr ungleiche Gewinnvertei- für das UNV. Im Dezember haben wir unseren Bericht über den lung von globalen Wertschöpfungsketten oder die Stand der Freiwilligenarbeit in der Welt 2022 veröffentlicht. Der Bewegungsrechte anhand von Visabestimmungen. Bericht erscheint alle drei Jahre und soll das Verständnis für die Freiwilligenarbeit vertiefen. Er zeigt, wie diese Arbeit den Ländern helfen kann, Frieden und Entwicklung zu erreichen. Kontroversen und Widersprüche Wir hoffen, dass der diesjährige Bericht die politische Diskussi- on und Maßnahmen dazu anregen wird, wie Freiwilligenarbeit Eine kontroverse Debatte im Rahmen des SDG 10 die Integration fördern und Ungleichheiten abbauen kann. drehte sich um die Beschreibung der Betroffenen Emma Webb von Ungleichheit. So wurde zwischen den Begrif- ist die Leiterin der Abteilung für Außenbeziehun- fen ›bedroht‹ und ›marginalisiert‹ abgewogen, die gen und Kommunikation beim UN-Freiwilligen- mit Blick auf die gesamte Agenda zugunsten des programm (UNV) in Bonn. ersteren Begriffs ausfiel. Diese Auswahl muss je- FOTO: PRIVAT doch allen voran im Lichte von ökologischen Ge- fährdungen gedeutet werden. Wohingegen skurri- lerweise keine der beiden Formulierungen in der finalen Version des SDG 10 auftaucht. Gerade der 2 4 4 V E R E I N T E N AT I O N E N 6/2021
Ein internationales Ziel zur Reduzierung von Ungleichheit | Denk Begriff der Marginalisierung hätte jedoch auch gefordert. Diese Formulierungen wurden letzten sein Pendant, die Privilegierung, ins Zentrum der Endes als ein Unterziel (SDG 10.7) verschriftlicht. Debatte gerückt. Doch ein Abbau an Privilegien Mehr Nachhaltigkeit und weniger Ungleichheit be- wird in diesem Ziel nicht adressiert. Darin werden deutet hier folglich eine Intensivierung von Grenz- stattdessen Geringverdienerinnen und -verdiener regimen. oder sogenannte ›Entwicklungsländer‹ benannt so- Daran anschließend stellt sich eine entscheiden- wie in einem Unterziel (SDG 10.2) einige wenige de Frage: Wer spricht hier eigentlich über wen? Da- gruppenbezogene Diskriminierungskategorien her- mit liegt der Fokus auf Aspekten der Repräsenta vorgehoben. Beispielweise handelt es sich hierbei tion im Verhandlungsprozess. Einerseits wurden um die Strukturkategorien Alter, als ›behindert‹ überwiegend jene Personengruppen adressiert, die konstruierte Menschen und Religion. Des Weiteren soll eine Diskriminierung gegenüber binär gedach- ten Geschlechtern reduziert werden, gleichwohl fand Es sind inhärente Widersprüche im die Kategorie sexuelle Orientierung keine Erwäh- nung. Trans-, intersexuelle und queer lebende Men- Entwicklungsziel zur Reduzierung von schen existieren in diesem Weltbild der Staatenge- Ungleichheit (SDG 10) erkennbar. meinschaft schlicht nicht. In dutzenden Mitglied- staaten werden Menschen aber gerade aufgrund die- ser Kategorien diskriminiert, gefoltert bis getötet. Nicht weniger bedroht sind Menschen mit Fluchterfahrung. Aber auch diese Kategorie wurde als benachteiligt gelten. Andererseits lag die Ent- nicht als vor Diskriminierung schützenswert einge- scheidungsmacht über die Zielsetzungen ausschließ- stuft. Selbst der Versuch der drei Staaten Bangla- lich in der Hand einer äußerst privilegierten diplo- desch, Mexiko und den Philippinen, diese Diskri- matischen Elite. Dies führte dazu, dass beispiels- minierungskategorie lediglich im Vorwort zu den weise zum ganz großen Teil lediglich Männer aus- SDGs zu platzieren, wurde allen voran von der EU, gehandelt haben, was Geschlechtergerechtigkeit be- aber auch von der afrikanischen und der arabi- deutet. Des Weiteren sind Menschen mit Armuts-, schen Gruppe abgelehnt. 8 Dafür haben die Verein- Flucht- oder Hungererfahrung im diplomatischen ten Nationen die ortsbindende Kategorie der ›Her- Dienst nahezu komplett abwesend. Doch gerade in kunft‹ und die, gerade im deutschen Kontext stark diesen Bereichen manifestieren sich globale Un- problematisierte Kategorie der ›Rasse‹ dem Ziel gleichheiten. Noch brisanter wird es hinsichtlich hinzugefügt. Trotz dieser verschiedenen Gruppen- der Repräsentation von zukünftigen Generationen konstruktionen im Unterziel (SDG 10.2) erfasst der und den Rechten der Natur. Weil diese sich selbst Indikator dazu nur noch innerstaatliche Einkom- nicht verteidigen können, erfahren sie das höchste mensunterschiede, Geschlecht, Alter und als ›be- Maß an Ausbeutung durch jetzige Generationen. hindert‹ konstruierte Menschen. Am Ende wird Damit sind bereits erste inhärente Widersprüche Diskriminierung also auf diese vier Kategorien re- im Entwicklungsziel zur Reduzierung von Ungleich- duziert. Darüber hinaus kann analog zum Fehlen heit (SDG 10) erkennbar. der Fluchterfahrung eine wandelnde Wahrneh- mung von Migration im Verhandlungsprozess ge- deutet werden. Während zu Beginn das Themen- Drei grundlegende Herausforderungen feld Migration mit Möglichkeiten und hinsichtlich eines Abbaus von Bewegungseinschränkungen dis- Erstens handelt es sich beim SDG 10 noch immer kutiert wurde, haben besonders die europäischen nicht um ein globales Ziel, sondern um ein staat- Staaten ab dem Jahr 2014 eine Regulierung im Sin- lich gedachtes. Obwohl in der Agenda 2030 der ne von ›geordneten‹ und ›sicheren‹ Grenzregimen Leitspruch ›niemanden zurückzulassen‹ propagiert 4 Macharia Kamau/Pamela Chasek/David O’Connor, Transforming Multilateral Diplomacy. The Inside Story of the Sustainable Development Goals, London 2018, S. 184. 5 International Institute for Sustainable Development (IISD), Summary of the Eleventh Session of the UN General Assembly Open Working Group on Sustainable Development Goals, 5.–9. Mai 2014, Earth Negotiations Bulletin, 32/11, Winnipeg 2014, S. 3 und 14. 6 IISD, Summary of the Thirteenth Session of the UN General Assembly Open Working Group on Sustainable Development Goals, 14.–19. Juli 2014, Earth Negotiations Bulletin, 32/13, Winnipeg 2014, S. 12. 7 Macharia Kamau/Pamela Chasek/David O’Connor, Transforming Multilateral Diplomacy. The Inside Story of the Sustainable Development Goals, London 2018, S. 201–203. 8 Felix Dodds/David Donoghue/Jimena Leiva Roesch, Negotiating the Sustainable Development Goals. A Transformational Agenda for an Insecure World, New York 2017, S. 109. V E R E I N T E N AT I O N E N 6 / 2 0 2 1 245
Ein internationales Ziel zur Reduzierung von Ungleichheit | Denk der entscheidendste Faktor sozialer Mobilität in Das Ziel zur Reduzierung von Ungleichheit (SDG 10) der Weltgesellschaft.10 Dies bedeutet, dass der Das SDG 10 verfolgt das Ziel, Ungleichheit innerhalb von und Glaube an eine faire Leistungsgesellschaft als Le- zwischen Staaten zu verringern. Es umfasst zehn Unterziele, die benslüge im SDG 10 weiter aufrechterhalten wird. mit elf Indikatoren bemessen werden. In den Unterzielen werden Gerade weil die Mehrheit der Weltgesellschaft im folgende Aspekte thematisiert: besonderen Maße in ihrer Bewegung gehindert wird, findet eine zunehmende Polarisierung un- (1) Einkommenswachstum, gleicher Gesellschaftspositionen statt. In der Folge (2) Selbstbestimmung und politische Inklusion, führt das Unterziel zur Migration zum genauen (3) Chancen- und Ergebnisgleichheit, Gegenteil – zu mehr Ungleichheit. (4) Politische Maßnahmen, Zweitens blenden die Mitgliedstaaten in diesem (5) Finanzmärkte und -institutionen, Ziel völlig die Vergangenheit aus. Mit dem SDG 10 (6) Entwicklungsländer in den internationalen Wirtschafts- und wird so getan, als wäre das Ungleichheitsverhältnis Finanzinstitutionen, zwischen Menschen in diesem Moment vom Him- (7) Migrationspolitik, mel gefallen und folglich in seiner Entstehung ge- (8) besondere und differenzierte Behandlung der Entwicklungs- länder, recht. Die offensichtlichste Leerstelle ist die Zäsur durch den Kolonialismus. Im Jahr 1999 wurden (9) Entwicklungszusammenarbeit und Finanzströme sowie durch eine afrikanische Kommission für Wieder- (10) Transaktionskosten für Überweisungen. gutmachung und Rückführung die Entschädi- Die Ziele wurden von allen Mitgliedstaaten verabschiedet und gungszahlungen für die Nachfolgerstaaten der eu- sollen bis zum Jahr 2030 erreicht werden. ropäischen Kolonialmächte auf den Betrag von 777 Billionen US-Dollar beziffert.11 Damit ist le- diglich die finanzielle Ebene beschrieben, während wird, verharren die Vereinten Nationen hierbei auf es zudem neben der symbolischen Ebene – etwa der der Ebene eines staatlichen Containerdenkens. Denn offiziellen Anerkennung der Verbrechen – auch offensichtlich geht es nicht darum, Ungleichheiten noch die mentale Ebene – etwa die Konstruktion schlicht zwischen allen Menschen zu reduzieren. von Über- und Unterlegenheit – zu adressieren gilt. Dieser vermeintlich kleine Unterschied im Titel des Letzteres ist auch in den Zielen für nachhaltige Zieles beinhaltet bereits ganz entscheidende Män- Entwicklung festzustellen. Im SDG 10 wird an gel hinsichtlich einer gleichwertigen Anerkennung zwei Stellen explizit die Gruppe der ›Entwicklungs- jedes Menschen. Einkommen und politische Teil- länder‹ hervorgehoben, während deren Pendant, habe sollen etwa auf einzelstaatlicher Ebene weni- die ›entwickelten‹ Länder, gar nicht herausgestellt ger ungleich gestaltet werden. Jedoch bleiben da- werden. Dies belegt erneut ein äußerst reduziertes mit die extremen weltgesellschaftlichen Ungleich- Verständnis von Ungleichheit als einseitige Angele- verhältnisse unangetastet. In ähnlicher Weise wur- genheit. Zudem wird hier auf kolonial geprägte de dies bereits mit Blick auf die Indikatoren kriti- Begriffe zurückgegriffen, denn mit dem Etikett siert, da sie eine Reduzierung von globalen Un- ›Entwicklungsland‹ wurden ursprünglich in der gleichheiten überhaupt nicht erfassen.9 Daran an- UN-Charta aus dem Jahr 1945 die ›Treuhandge- schließend fällt auf, dass es einen Indikator zur Be- biete‹ und ›Länder ohne Selbstbestimmung‹ be- messung von Einkommensungleichheit entgegen schrieben. Auch wenn zwischenzeitlich formell die der Zielformulierung nur innerhalb und nicht zwi- meisten Staaten eine politische Unabhängigkeit er- schen Staaten gibt. Noch prägnanter wird diese langt haben, bestehen kolonial geprägte Abhängig- Problemlage hinsichtlich ungleicher Bewegungs- keits- und Ausbeutungsverhältnisse bis heute fort.12 rechte entlang von staatlich institutionalisierten Diese Strukturen bleiben im Abschlussdokument Privilegien. Grenzüberschreitende Migration ist nahezu vollständig ignoriert.13 In den Unterzielen 9 Sakiko Fukuda-Parr, Keeping Out Extreme Inequality From the SDG Agenda – The Politics of Indicators, Global Policy, 10. Jg., 3/2019, S. 61–69; Gillian MacNaughton, Vertical Inequalities. Are the SDGs and Human Rights up to the Challenges?, The International Journal of Human Rights, 21. Jg., 8/2017, S. 1050–1072. 10 Ayelet Shachar, The Birthright Lottery. Citizenship and Global Inequality, Cambridge 2009; Roberto Patricio Korzeniewicz/Timothy Patrick Moran, Unveiling Inequality. A World-historical Perspective, New York 2009. 11 British Broadcasting Corporation (BBC), Africa Trillions Demanded in Slavery Reparations, 20.8.1999, news.bbc.co.uk/2/hi/africa/424984.stm 12 Jason Hickel/Dylan Sullivan/Huzaifa Zoomkawala, Plunder in the Post-Colonial Era. Quantifying Drain from the Global South Through Unequal Exchange, 1960–2018, New Political Economy, 3/2021, S. 1–18. 13 Albert Denk, Dekolonialität – Eine Leerstelle in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, in: Julia Schöneberg/Aram Ziai (Hrsg.), Dekolonisierung der Entwicklungspolitik und Post-Development Alternativen, Baden-Baden 2021. 2 4 6 V E R E I N T E N AT I O N E N 6/2021
Ein internationales Ziel zur Reduzierung von Ungleichheit | Denk wird lediglich darauf hingewiesen, dass eine stär- werden aufgrund von zunehmenden Krisenerfah- kere Einbeziehung von Repräsentantinnen und Re- rungen verschärft. Mit der COVID-19-Pandemie präsentanten der ›Entwicklungsländer‹ in interna- haben sich die weltgesellschaftlichen Ungleichver- tionalen Organisationen (SDG 10.6) sowie eine hältnisse weiter pervertiert. Die zehn reichsten Verringerung der Importzölle (SDG 10.a) ange- Männer der Welt verfügen etwa über ein Vermö- strebt werden. Das Ziel für nachhaltige Entwick- gen von mehr als 1,1 Billionen US-Dollar, knapp lung zur Reduzierung von Ungleichheit spiegelt die Hälfte davon haben sich die Männer seit Febru- letztlich eine koloniale Amnesie der Beteiligten wider. ar 2019 – also trotz der Pandemie – angeeignet. 16 Drittens fehlt es hier an einer systemischen Pers- Während der Großteil der Menschheit in dieser pektive. Weder im SDG 10 noch in der gesamten Zeit ihren Bewegungsradius drastisch einschrän- 35-seitigen Agenda 2030 wird das Wort Kapitalis- ken musste, unternahmen sehr wenige, extrem mus verwendet. Der sogenannte Weltvertrag bein- Wohlhabende Luxusreisen ins Weltall mit verhee- haltet folglich keine einzige Erwähnung der welt- renden Folgen für Mensch und Natur. Die Pande- umfassenden Wirtschafts- und Sozialordnung. Dies mie macht deutlich, wie schnell sich die Extreme ist besonders prägnant erneut mit Blick auf das weiter verschieben. Das Ziel zur Reduzierung von Themenfeld der Ungleichheit, da die gesellschaftli- Ungleichheit wirkt in diesen Zeiten wie ein Blatt chen Verhältnisse eng mit der Art und Weise ver- im Sturm. Solange die Vereinten Nationen die Re- woben sind, wie wir arbeiten, denken, konsumie- lationalität von Ungleichheit nicht wahrnehmen ren und produzieren. Kurz gesagt, sozial-ökolo- und adressieren, werden sie auch weiterhin auf sol- gische Ungleichheiten sind zutiefst kapitalistisch che Krisen keine adäquaten Antworten liefern. Der geprägt.14 In der Agenda 2030 wird das gegenwär- Ruf nach Gleichheit ist kein neuer und ideenge- tige globale Finanz- und Handelsregime als alter- schichtlich allen voran eurozentristisch geprägt. nativlos dargestellt. Lediglich in einem Unterziel Beispiele sind etwa die Thesen der Aufklärung (SDG 10.5) fordert die Staatengemeinschaft eine oder der Französischen Revolution. Doch was da- verbesserte Regulierung von Finanzmärkten und mals schon galt, gilt heute noch immer: Das Stre- -institutionen. Hierbei wird auf Indikatoren der fi- ben nach mehr Gleichheit muss zum Abbau von nanziellen Solidität zurückgegriffen, sodass keine Privilegien führen und dabei alle Menschen ein- grundsätzliche Neuausrichtung, sondern stattdes- schließen. Geschieht dies nicht, dient es lediglich sen mehr Zuverlässigkeit im bestehenden System dem Erhalt einer Vormachtstellung Weniger. gefordert wird. Auch in diesem Punkt erscheint eine Lebenslüge offensichtlich. Die Vereinten Nationen manifestieren mit diesem Ziel den Glauben an ei- nen gerechten Tauschhandel und den freien Markt. English Abstract Dabei werden globale Ungleichverhältnisse bei- Albert Denk spielsweise mit Blick auf die Ausbeutung von Roh- An International Goal to Reduce Inequality pp. 243–247 stoffen und einer geopolitischen wie vergeschlecht- lichten Arbeitsteilung als gegeben anerkannt und A novelty occurred at the United Nations on 25 September 2015: For the aufrechterhalten.15 first time, member states decided that there was a need for a sustainable development goal to reduce inequalities (SDG 10). This paper looks at the genesis of this goal, its contradictory and controversial content, and the Festhalten am Status quo challenges it poses. The ten sub-goals are a highly selective grouping of a few inequality issues that leave out some obvious aspects. Striking omissions are an equal recognition of all people, the ongoing reprocessing Der Reformbedarf auf der Ebene der Vereinten Na- of historical contexts, as well as addressing the structural inequalities tionen erstreckt sich von der gleichwertigen Aner- embedded in the global trade and financial regime. kennung aller Menschen, der fortlaufenden Aufar- beitung von historischen Zusammenhängen bis Keywords: Armutsbekämpfung, Diskriminierung, Entwicklungsziele /SDGs, zur Adressierung, der im globalen Handels- und Migration, UN-Reform, poverty reduction, discrimination, development goals / Finanzregime eingelagerten strukturellen Ungleich- SDGs, migration, UN reform heiten. Die Herausforderungen sind enorm und 14 Alberto Acosta/Ulrich Brand, Radikale Alternativen. Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann, München 2018; Ulrich Brand/Markus Wissen, Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München 2017. 15 Jakob Graf et al., Abhängigkeit im 21. Jahrhundert. Globale Stoffströme und internationale Arbeitsteilung, PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 50. Jg., 198/2020, S. 11–32. 16 Oxfam Deutschland, Das Ungleichheitsvirus. Wie die Corona-Pandemie soziale Ungleichheit verschärft und warum wir unsere Wirtschaft gerechter gestalten müssen, Berlin 2021, S. 4. V E R E I N T E N AT I O N E N 6 / 2 0 2 1 247
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