EIN NEUES VERSTÄNDNIS VON ENTKRIMINALISIERUNG - DROGENPOLITIKREFORM: BERICHT 2016
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
DIE KOMMISSIONSMITGLIEDER KOFI ANNAN ALEXANDER KWASNIEWSKI Vorsitzender der Kofi Annan Foundation und Ehemaliger Präsident von Polen ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ghana LOUISE ARBOUR RICARDO LAGOS Ehemalige UN-Hochkommissarin für Ehemaliger Präsident von Chile Menschenrechte, Kanada PAVEL BÉM OLUSEGUN OBASANJO Ehemaliger Oberbürgermeister von Prag, Ehemaliger Präsident von Nigeria Tschechische Republik RICHARD BRANSON GEORGE PAPANDREOU Unternehmer, Gründer der Virgin Group, Ehemaliger Ministerpräsident von Griechenland Mitbegründer von The Elders, Vereinigtes Königreich FERNANDO HENRIQUE CARDOSO JORGE SAMPAIO Ehemaliger Präsident von Brasilien Ehemaliger Präsident von Portugal MARIA CATTAUI GEORGE SHULTZ Ehemalige Generalsekretärin der Internationalen Ehemaliger Aussenminister, Vereinigte Staaten Handelskammer, Schweiz (Ehrenvorsitz) NICK CLEGG JAVIER SOLANA Ehemaliger stellvertretender Premierminister, Ehemaliger Generalsekretär für die Gemeins- Vereinigtes Königreich ame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union, Spanien RUTH DREIFUSS THORVALD STOLTENBERG Ehemalige Bundespräsidentin und Vorsteherin Ehemaliger Aussenminister und UN- des Eidgenössischen Departements des Innern, Hochkommissar für Flüchtlinge, Norwegen Schweiz (Vorsitz) CESAR GAVIRIA MARIO VARGAS LLOSA Ehemaliger Präsident von Kolumbien Schriftsteller und Intellektueller, Peru ANAND GROVER Ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das PAUL VOLCKER Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Ehemaliger Vorsitzender der Notenbank der Höchstmass an körperlicher und geistiger Ge- Vereinigten Staaten und des Economic Recovery sundheit, Indien Advisory Board, Vereinigte Staaten ASMA JAHANGIR ERNESTO ZEDILLO Ehemalige UN-Sonderberichterstatterin über Ehemaliger Präsident von Mexiko willkürliche, aussergerichtliche und summarische Hinrichtungen, Pakistan MICHEL KAZATCHKINE Ehemaliger Geschäftsführer des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria, Frankreich 4
INHALT VORWORT DER VORSITZENDEN 7 KURZFASSUNG 9 VON DER PROHIBITION ZUR ENTKRIMINALISIERUNG: EINE KURZE BETRACHTUNG DER GESCHICHTE 11 1. DAS SCHEITERN DER PROHIBITION 12 1. Mit strafrechtlichen Massnahmen gegen Drogen: nach eigenen Massstäben gescheitert 13 2. Untergrabung des Rechts auf Privatsphäre 13 3. Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit 15 4. Menschenrechts-verletzungen unter dem internationalen Drogenkontrollregime 16 5. Drogenstrafgesetze und Volksgesundheits-krisen 17 6. Drogenstrafgesetze und ihre Auswirkungen auf überfüllte Gefängnisse 18 7. Drogengesetze als Instrumente sozialer Kontrolle 19 8. Die Konsequenzen eines Strafregistereintrags 19 9. Die Kriminalisierung von Drogenbesitz und Drogenkonsum beenden 20 2. DIE VORTEILE EINER SORGFÄLTIG UMGESETZTEN ENTKRIMINALISIERUNG 21 1. Entkriminalisierung: falsch verstanden und unzulänglich umgesetzt 22 2. Entkriminalisierung und verbesserte Volksgesundheit 22 3. Entkriminalisierung und positive soziale und finanzielle Ergebnisse 24 4. Über bestehende Modelle hinaus: warum der Konsum und Besitz von Drogen nicht bestraft werden sollte 25 3. ÜBER DEN BESITZ HINAUS: ALTERNATIVEN ZUR BESTRAFUNG KLEINER AKTEURE IM DROGENHANDEL 26 1. Dealen im sozialen Umfeld und „User-Dealer“ 28 2. Drogenkuriere 28 3. Drogenbauern und die negativen Folgen der Anbauzerstörungspolitik 29 4. DROGENMÄRKTE REGULIEREN: DER LOGISCHE NÄCHSTE SCHRITT 32 5. EMPFEHLUNGEN 34 6. ERFAHRUNGSBERICHTE 36 REFERENZEN 44 DANKSAGUNGEN 50 WEITERE QUELLEN 51 5
21. Juli 2016: Insassen des Gefängnisses Quezon City in Manila schlafen nachts auf den Stufen 6 einer Treppe. Das Gefängnis, das vor sechzig Jahren für 800 Insassen gebaut wurde, beher- bergt 3’800 Menschen. © Noel Celis/AFP/Getty Images
VORWORT DER VORSITZENDEN Seit der Veröffentlichung des ersten Reports der Weltkom- erhalten, bräuchten aber eigentlich Behandlung und soziale mission 2011 hat die Weltdrogenpolitik einen erheblichen Integration. Ausserdem rechtfertigt die Prohibition die Wandel durchgemacht, und zwar in Bezug auf den öffent- Kriminalisierung von Menschen, die keine Gefahr für andere lichen Diskurs, die wissenschaftlichen Erkenntnisse und darstellen und bestraft jene, die leiden. Sie schränkt zudem die politische Umsetzung. Eine steigende Zahl von Lokal- die wissenschaftliche Erforschung möglicher medizinischer behörden versucht den Cannabismarkt mit verschiedenen Verwendungszwecke illegaler Substanzen ein und erschwert Massnahmen zu regulieren und viele führen Alternativen zur die Verschreibung von Schmerzmitteln und palliativen Me- Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden ein. Ausser- dikamenten. dem werden vermehrt – wenn auch noch nicht genügend – Opioid-Substitutionstherapien und Schadensminderungs- Bei einer so grossflächigen Missachtung von unsinnigen massnahmen wie Nadel- und Spritzenaustauschprogramme, Drogengesetzen untergräbt ein strafrechtlicher Ansatz in überwachte Injektionsräume und Anlaufstellen für Drogen- der Drogenkontrolle die Beziehung zwischen dem Bürger tests eingeführt. Die Regierungen anerkennen die Notwen- und dem Staat tiefgreifend. Leider halten die meisten Re- digkeit für ein gesundheits- und menschenrechtsorientiertes gierungen nach wie vor am Ziel einer „drogenfreien Welt“ Vorgehen. Dieser Wandel ist höchst willkommen. Es findet oder einer „Welt ohne Drogenmissbrauch“ fest, wie sie in offensichtlich eine Drogenpolitikreform statt. den internationalen Drogenabkommen festgeschrieben sind. Diese Zielsetzungen sind naiv und gefährlich. Naiv, Nun ist es aber an der Zeit, ganz grundsätzlich zu hinter- weil die Prohibition bisher nur geringen oder gar keinen fragen, wie Drogen und Drogenkonsumierende in der Einfluss auf den Drogenkonsum hatte, mit einem Anstieg Gesellschaft wahrgenommen werden. Psychoaktive Sub- der Konsumierenden von 2006 bis 2013 von fast 20 Prozent stanzen haben die Menschheit in ihrer Geschichte schon auf 246 Millionen Menschen; gefährlich, weil die Prohibition immer begleitet. Einige sind vielerorts rechtlich akzeptiert, völkerrechtswidrigen Masseninhaftierungen und Hinrich- wie Alkohol und Tabak; andere gelten als Arzneimittel und tungen Vorschub leistet, die Verbreitung von durch Blut werden medizinisch verschrieben und wieder andere, im Zusammenhang mit unerlaubtem Konsum als „Drogen“ bezeichnete, sind unter den internationalen Abkommen verboten. Die grosse Mehrheit der Menschen konsumiert diese Substanzen auf verantwortungsvolle Weise. Es gibt aber auch jene, die Gefahr laufen, ihrer Gesundheit zu schaden und soziale und berufliche Schwierigkeiten zu bekommen. Die Illegalität der Drogen setzt die Konsumie- renden aber viel grösseren Risiken aus: Sie müssen sich auf einen kriminellen Markt einlassen – der sie abhängig machen und den grösstmöglichen Profit einfahren will – und riskieren repressive Massnahmen. Diese Kombination von rechtswidrigem Angebot und Kriminalisierung ist besonders grausam und entwürdigend für Menschen, die abhängig geworden sind, und für jene, die sich Drogen als Selbstme- dikation für körperliche oder seelische Leiden zuführen. Die Prohibition macht Gesellschaften und Regierungen blind für die zahlreichen Gründe, warum Drogen entweder kont- rolliert oder problematisch konsumiert werden. Dies trägt dazu bei, dass Drogenkonsumierende verstärkt diskriminiert Rowena Camacho, 24, sitzt in einer überfüllten Zelle im Navotas Be- und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Sie zirksgefängnis, Manila, Philippinen, wegen eines Drogendeliktes eine werden als unwürdig betrachtet, Verständnis und Hilfe zu zweijährige Freiheitsstrafe ab. © Paula Bronstein/Getty Images 7
übertragenen Viren begünstigt, Drogenkonsumierende und Solange die Drogen als ein zu bekämpfendes Übel gese- Dealer Menschenrechtsverletzungen aussetzt und zu den hen werden, werden sie in kriminellen Händen sein. Weil weltweit jährlich 200’000 Drogentoten beiträgt. Landesre- Drogen schädlich sein können, müssen sie von pflichtbe- gierungen müssen sich dringend aus den Zwängen dieses wussten Regierungen, die für das Wohlergehen ihrer Bürger veralteten und auf Strafe ausgerichteten Rahmens befreien. verantwortlich sind, reguliert werden. Es müssen Modelle mit regulierter Produktion und regulierten Märkten getestet Wir müssen aber klar definieren, was mit Kriminalisierung werden. Die Erfahrungen müssen wissenschaftlich begleitet gemeint ist. Es stimmt, viele Lokalbehörden und Landesre- und die Resultate öffentlich gemacht werden. Die Staaten gierungen haben Alternativen zu Bestrafungen eingeführt, müssen ihre volle Verantwortung wahrnehmen und die Dro- strafrechtliche Massnahmen gegen Drogenkonsumierende gen dem organisierten Verbrechen entreissen. Es ist Zeit, abgeschafft und mit administrativen Sanktionen wie Bussen die Kontrolle zu übernehmen. ersetzt, oftmals kombiniert mit medizinischen Behandlun- gen und sozialen Massnahmen. Und trotzdem gehen diese Ruth Dreifuss Alternativen nicht weit genug. In diesem Bericht fordert die Ehemalige Bundespräsidentin und Vorsteherin des Eidge- Weltkommission die Aufhebung sämtlicher bestrafenden nössischen Departements des Innern Reaktionen auf Drogenbesitz und -konsum. Die gewaltlose Beteiligung an Drogenproduktion und Drogenhandel muss ebenfalls überdacht werden, wenn sie aus einer prekären wirtschaftlichen Lage und sozialen Randständigkeit heraus geschieht. Alternativen zur Bestrafung und die Unter- stützung von verwahrlosten Gemeinschaften sind Wege, Einzelne und ganze Gemeinschaften aus der Gewalt des organisierten Verbrechens zu befreien, neue wirtschaftliche Perspektiven zu eröffnen und die Rechte und Würde aller zu respektieren. Dieser Bericht baut auf den bisher von uns veröffentlichten auf. Er beleuchtet die Schäden, die die Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden angerichtet hat, und untersucht die Alternativen. Er begrüsst die Schritte in Richtung einer vernünftigeren und menschlicheren Politik, die von vielen Staaten rund um den Globus unternommen werden, und er zeigt auf, dass die nationalen und internationalen Drogen- kontrollregimes noch weitergehend reformiert werden müs- sen. Die Weltkommission für Drogenpolitik ruft nicht nur die Regierungen und die Vereinten Nationen, sondern auch die Öffentlichkeit dazu auf, Drogenkonsumierende neu wahr- zunehmen und sich von Vorurteilen zu befreien. Menschen, die Drogen konsumieren, müssen als gleichgestellte und verantwortungsvolle Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden unter vollständiger Achtung ihrer Menschenrechte und Würde. 8
KURZFASSUNG Jahr für Jahr konsumieren Hunderte von Millionen Menschen Die Weltkommission glaubt, dass für die illegale Drogen. Viele zum Vergnügen, andere zur Schmerz- Aufrechterhaltung der Menschenwürde und linderung und wieder andere aus traditionellen, kulturellen Rechtsstaatlichkeit der Besitz von kleinen Mengen oder religiösen Gründen. Obschon der Drogenkonsum weit- und/oder der Konsum überhaupt nicht bestraft verbreitet und friedfertig ist, kriminalisieren die Regierungen werden darf.2 rund um den Globus oft jene, die illegale Substanzen konsu- mieren und/oder besitzen. Sie klammern sich an die falsche Zusätzlich zur Entkriminalisierung des Drogenbesitzes für den Hoffnung, dass mit dieser Strategie Drogenhandel und -kon- Eigenbedarf müssen Regierungen alternative Bestrafungen sum gestoppt werden können, wenn zusätzlich Produktion einführen für viele kleine Akteure im Drogenhandel, wie jene, und Handel bekämpft werden. die unter Freunden dealen, Pflanzen illegal anbauen oder Die Schäden, die durch das strafrechtliche Vorgehen gegen Drogen transportieren. Viele dieser Menschen sind fried- Drogen entstehen, sind so gravierend und umfangreich, dass fertige Mitspieler und handeln, um ihrer schwerwiegenden sie nicht oft genug betont werden können. Täglich werden sozioökonomischen Randständigkeit zu entkommen. Diese im Namen der Drogenkontrolle Menschenrechtsverletzun- Menschen zu bestrafen ist ungerecht und bewirkt höchstens, gen begangen – von der Todesstrafe und aussergericht- dass sich ihre Situation noch weiter verschlimmert. lichen Hinrichtungen bis hin zu unmenschlichen und er- zwungenen Behandlungen. Gleichzeitig lösen die strengen Drogenkonsumierende nicht länger zu kriminalisieren und Drogengesetze in der Volksgesundheit Krisen wie HIV- und kleinen Akteuren mit angemessenen Massnahmen zu be- Hepatitis-C-Epidemien aus. In zahlreichen Ländern haben gegnen, sind wichtige Schritte, um die illegalen Drogen- die Drogengesetze zudem zu massiv überfüllten Gefängnis- märkte durch eine vernünftige Regulierung unter Kontrolle sen geführt. Diese erheblichen Schäden durch strafrechtliche zu bringen. Erst dann kann die fortschreitende Zerstörung Massnahmen gegen Drogen und Drogenkonsum untergra- der Gesellschaft durch die Drogenprohibition nachhaltig ge- ben die Menschenwürde und die Rechtsstaatlichkeit auf mindert werden. grundlegende Weise und zerstören die Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung. Der Drogenkonsum ist und war schon immer auf der gan- zen Welt ein Teil unserer Gesellschaft. Regierungen führen Um diese umfassenden Schäden zu lindern, müssen Regie- bereits zu lange einen unsinnigen Krieg gegen den Drogen- rungen dringend als Erstes den Besitz von Drogen für den handel und gegen Menschen, die Drogen konsumieren, und Eigengebrauch entkriminalisieren. Entkriminalisieren heisst verhängen unangemessene, ungerechte und vollkommen im Normalfall, dass Drogendelikte, die den Eigengebrauch unnötige Sanktionen. Die Beweislast, die aufzeigt, wie enorm betreffen, aus dem Strafregister gelöscht werden, mit der schädlich Drogenstrafgesetze sind, ist erdrückend. Regierun- Option auf zivilrechtliche Massnahmen, wie eine Busse, oder gen können die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes nicht ganz von einer Ahndung abzusehen.1 Einige Regierungen länger ignorieren. haben diesen Ansatz zwar bereits übernommen, aber nur wenige haben bis heute Massnahmen eingeführt, die für Drogenkonsumierende und die Gesellschaft positive Ergeb- nisse gebracht hätten. Zudem verlassen sich diese Regierun- gen oft auf zivilrechtliche Bestrafungen. Dieser Ansatz geht nicht weit genug. 9
DIE VEREINIGTEN STAATEN UND ÄGYPTEN CHINA, MALAYSIA UND IRAN SCHWEIZ, DEUTSCHLAND, DÄNEMARK, Ägypten ist das erste Land der Welt, das eine heute 1948 führt China als erstes Land die SPANIEN UND DIE NIEDERLANDE illegale Substanz gesetzlich verbietet, indem es Todesstrafe für Drogenverbrechen ein, In den 1980er-Jahren führen einige Cannabis 1884 für illegal erklärt. Von 1887 an gefolgt von Malaysia 1952 und Iran 1959. westeuropäische Staaten, mit den negativen verbieten viele US-Staaten Kokain. Konsequenzen der Kriminalisierung konfrontiert, Schadensminderungsmassnah- men ein. Diese wirken sich nicht nur positiv auf die Drogenkonsumierenden aus, sondern auch auf die Gesellschaft als Ganzes. VEREINTE NATIONEN CHINA, DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH UND DIE Das Einheits-Übereinkommen von 1961 über VEREINIGTEN STAATEN (USA) Suchtstoffe, in der Fassung des Protokolls von China untersagt Opium-Importe durch Handelsab- 1972, verankert und operationalisiert die kommen mit dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Prohibition von Drogen im internationalen Recht. SAUDI-ARABIEN UND VIETNAM Portugal und den USA bis 1903. 1908 verpflichtet sich 1987 führt Saudi-Arabien die China, jeglichen inländischen Opiumkonsum Todesstrafe für Drogenverbrechen ein. innerhalb von zehn Jahren zu stoppen. Vietnam zieht 1999 nach. DIE VEREINIGTEN STAATEN US-Präsident Richard Nixon ruft 1971 DIE INTERNATIONALE OPIUMKONVENTION den „Krieg gegen die Drogen“ aus. VEREINTE NATIONEN China, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, die 1988 legt das Übereinkommen der Niederlande, Persien (Iran), Portugal, Russland, Vereinten Nationen gegen den Siam (Thailand), das Vereinigte Königreich und die illegalen Handel mit Suchtstoffen britischen Überseegebiete (einschliesslich und psychotropen Substanzen die VEREINTE NATIONEN Britisch-Indien) verabschieden 1912 die Bestimmungen und Bestrafungen 1971 wird das Übereinkommen über Internationale Opiumkonvention, um die Kontrolle fest, welche die Mitgliedstaaten in psychotrope Stoffe verabschiedet als über den internationalen Handel mit Opium, ihre nationalen Gesetze aufnehmen Antwort auf die neuen chemischen Morphin, Kokain und Heroin zu erlangen. sollen. Die Ratifizierung dieser Substanzen, was den Handlungsspiel- Konvention markiert den raum des internationalen Prohibitionsre- Höhepunkt der Prohibition als gimes um psychotrope Substanzen globale Antwort auf die Drogen. erweitert. VÖLKERBUND Der Völkerbund ruft den beratenden Ausschuss SINGAPUR zur Bekämpfung des Opiumhandels ins Leben, Singapur führt 1975 die Todesstrafe ein Vorläufer der Suchtstoffkommission der für Drogenverbrechen ein. Vereinten Nationen (CND). DIE NIEDERLANDE GENFER OPIUMKONVENTION 1976 ändern die Niederlande ihre Von 1925 bis 1936 wird der Handel Drogengesetze und führen de facto die mit Cannabis unter die internationale Entkriminalisierung des Cannabisbesitzes und Kontrolle gestellt und der Vorläufer des -handels ein. Internationalen Suchtstoffkontrollamtes (INCB), eines permanenten zentralen Gremiums, wird geschaffen. 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980s 1970 10
VOLLVERSAMMLUNG DER VEREINTEN NATIONEN WELTKOMMISSION FÜR DROGENPOLITIK URUGUAY 1990 hält die Vollversammlung der Vereinten Staatschefs aus der ganzen Welt brechen 2011 das Uruguay genehmigt 2013 als erstes Land Nationen ihre erste Sondertagung zum Thema Tabu und fordern das Ende des „Kriegs gegen die der Welt ein Gesetz, das Cannabis für den Drogen ab. Die zweite findet 1998 statt. Diese Drogen“. Sie präsentieren 2014 fünf mögliche Wege, Freizeitkonsum reguliert. Gegen Ende Sondertagungen dienen dazu, den auf Verboten die Drogenpolitik zu reformieren. 2016 soll der Verkauf anlaufen. basierenden strafrechtlichen Ansatz zur Drogenbekämpfung zu untermauern. Sie gipfeln in dem Versprechen der Mitgliedstaaten, bis 2008 eine „drogenfreie Welt“ zu schaffen. BOLIVIEN JAMAIKA Bolivien steigt 2012 nach einem Disput über Jamaika entkriminalisiert 2015 den Besitz von den traditionellen Konsum von Kokablättern Cannabis für den Eigengebrauch und erlaubt als erstes Land aus dem UN-Einheits- den Besitz von Cannabis für religiöse Zwecke. VEREINTE NATIONEN abkommen aus. Bolivien ratifiziert das Die Vereinten Nationen erstellen ein Programm für Abkommen später wieder mit einem die die internationale Drogenbekämpfung, welches Kokablätter betreffenden Vorbehalt. 1997 das Büro der Vereinten Nationen für Drogenkontrolle und Verbrechensverhütung wird. FONDS, PROGRAMME UND EINRICHTUNGEN DER VEREINTEN NATIONEN Der UN-Generalsekretär ruft die Staaten auf, KOLUMBIEN Alternativen zur Kriminalisierung zu finden. Das Kolumbien entkriminalisiert 2012 den Amt des Hochkommissars für Menschenrechte, Drogenbesitz für den Eigengebrauch UNDP, WHO und UNAIDS veröffentlichen 2015 PORTUGAL UND DIE erneut, nachdem drei Jahre zuvor die und 2016 Dokumente, die die Entkriminalisier- TSCHECHISCHE REPUBLIK Gesetzesänderung wieder rückgängig ung von Drogenkonsum und -besitz empfehlen. 2001 entkriminalisiert Portugal den Besitz von gemacht worden war. Drogen für den Eigengebrauch, indem es ihn zu einem administrativen Vergehen macht. Acht Jahre später überarbeitet die Tschechische Republik das Strafgesetzbuch und entfernt daraus VOLLVERSAMMLUNG DER die strafrechtlichen Folgen für den Besitz von VEREINTEN NATIONEN Drogen für den Eigengebrauch. COLORADO, WASHINGTON, ALASKA, 2016 führt die Vollversammlung die dritte OREGON UND WASHINGTON D.C. Sondertagung zum Weltdrogenproblem (VEREINIGTE STAATEN) durch und sieht sich einer erheblichen Colorado und Washington führen 2012 als Uneinigkeit der Staaten gegenüber, wie erste Jurisdiktionen der Welt rechtlich mit dem Drogenhandel und Drogenkon- regulierte Märkte für den Freizeitkonsum sum umzugehen ist. Mehrere Länder ARGENTINIEN UND MEXIKO von Cannabis ein. In Oregon und Alaska fordern eine Entkriminalisierung und 2009 stuft Argentiniens Oberstes Gericht werden 2014 Wählerinitiativen für einen Regulierung, was im Abschlussdokument die Kriminalisierung des Besitzes für rechtlich regulierten Cannabismarkt jedoch nicht erwähnt ist. den Eigengebrauch als verfassungswid- angenommen, während die Wählerschaft rig ein. Mexiko entkriminalisiert den der US-Hauptstadt Washington D.C. den Drogenbesitz noch im gleichen Jahr. Cannabisbesitz für legal erklärt. KALIFORNIEN UND KANADA Im November 2016 stimmen Kalifornien und einige weitere US-Staaten darüber ab, ob sie einen rechtlich regulierten Cannabismarkt einrichten wollen. 2017 wird Canada als erstes G7-Land eine illegale Droge (Cannabis) auf nationaler Ebene regulieren. 1990 2000 2010s 2010 11
1 DAS SCHEITERN DER PROHIBITION 26. Juni 2015. Kiew, Ukraine, am Weltdrogentag. Aktivisten protestieren gegen Polizeischikanen gegen Drogenkonsumierende. © E.Kryzhanivskyi / Shutterstock.com
1. MIT STRAFRECHTLICHEN wir müssen einsehen, dass die Menschen immer Drogen kon- sumieren werden. Um die genannten Prinzipien hochhalten MASSNAHMEN GEGEN zu können, müssen sämtliche Bestrafungen – strafrechtliche DROGEN: NACH EIGENEN und zivilrechtliche – für den Drogenbesitz zum Eigenkonsum abgeschafft werden. Während einige Staaten die Entkrimina- MASSSTÄBEN GESCHEITERT lisierung bereits eingeführt haben, verlassen sich viele noch Der Konsum von Drogen ist und war schon immer ein Teil immer auf zivilrechtliche Massnahmen gegen Konsumieren- unserer Gesellschaft. Jedes Jahr konsumieren weltweit Hun- de, was im Vergleich zu ihrem Vergehen unverhältnismässig derte von Millionen Menschen illegale Substanzen3 — vie- ist. Für kleine, nicht gewalttätige Akteure im Drogenhandel le von ihnen zum Vergnügen, andere versuchen damit ihre – vor allem jene, die aus wirtschaftlicher Not heraus handeln Schmerzen zu lindern und für wieder andere hat der Kon- – sollten Alternativen zur Bestrafung eingeführt werden. Nur sum eine traditionelle, kulturelle oder religiöse Bedeutung. mit diesen kombinierten Reformen können die weitreichen- Obschon der Drogenkonsum weitverbreitet und friedfertig den Schäden der Drogenstrafgesetze gemindert werden. ist, reagieren die meisten Regierungen auf die Thematik mit strengsten strafrechtlichen Massnahmen. Sie kriminalisieren Menschen, die Drogen konsumieren und/oder besitzen oder die auf den unteren Ebenen im Drogenhandel mitwirken. 2. UNTERGRABUNG DES Diese Politik wurde mit der Unterzeichnung der drei UN-Dro- genabkommen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts RECHTS AUF PRIVATSPHÄRE untermauert (siehe Kasten 1). Sie wird in der unsinnigen Hoff- Das Recht auf Privatsphäre ist ein grundlegendes Menschen- nung betrieben, dass der Drogenkonsum und der Drogen- recht, das in den meisten internationalen Menschenrechts- grosshandel ausgemerzt werden können. Die Unmöglichkeit abkommen verankert ist, einschliesslich der Allgemeinen dieses Unterfangens gilt heute jedoch als erwiesen. Erklärung der Menschenrechte (1948) 11 und des Internatio- nalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (1966).12 Im Jahr 2003 hatten geschätzte 185 Millionen Menschen weltweit zwischen 15 und 64 Jahren (4,7 Prozent der Weltbe- Die Privatsphäre ist der „Grundstein des Respekts für die völkerung) in den letzten 12 Monaten illegale Drogen konsu- persönliche Autonomie und Menschenwürde“.13 Der Staat miert;4 bis 2014 war diese Zahl um 33 Prozent auf 247 Millio- darf nur in das Privatleben einer Person eingreifen, wenn die- nen gestiegen (5,2 Prozent der Weltbevölkerung).5 Die Zahl ser Eingriff verhältnismässig und notwendig ist oder wenn es der Menschen, die von Drogen abhängig waren, „stieg un- einen legitimen Grund gibt, wie beispielsweise den Schutz verhältnismässig stark“ von 27 Millionen im Jahr 2013 auf 29 anderer Personen. Menschen für den Besitz von Drogen zum Millionen im Jahr 2014.1 Gleichzeitig wurde 2014 der höchste Eigengebrauch zu bestrafen, wenn sie damit niemandem je verzeichnete Anbau von Schlafmohn verzeichnet mit welt- schaden, ist weder verhältnismässig noch notwendig. Der weit fast 320’000 Hektaren,7 während die Kokainproduktion Eingriff in die Privatsphäre ist deshalb nie gerechtfertigt. Ein von 2013 bis 2014 um 38 Prozent anstieg.8 solcher Eingriff untergräbt das Recht auf die Privatsphäre, die persönliche Autonomie und die Menschenwürde.14 Natürlich sind verschiedene Faktoren für den Anstieg und die Abnahme des Konsums und die Produktion von Drogen Verschiedene Bundesverfassungsgerichte und oberste Ge- verantwortlich. Offensichtlich sind aber die strafrechtlichen richte rund um den Globus haben entschieden, dass Geset- Ansätze in ihrem Vorhaben gescheitert, den Markt zum Ver- ze, die den Besitz von Drogen verbieten, nicht mit dem Men- schwinden zu bringen. Schlimmer noch, Die Massnahmen schenrecht auf ein Leben in Würde vereinbar sind, welches hatten verheerende gesundheitliche, soziale Konsequenz- als „Respekt für die Autonomie einer Person“ beschrieben en für Menschen, die Drogen konsumieren, für andere Ak- werden kann.15 Als in Mexiko zum Beispiel vier Personen kei- teure im Drogenhandel und für die Allgemeinheit. Täglich ne Lizenz zum Anbau von Cannabis für den Eigengebrauch geschehen im Namen der Drogenkontrolle massive Men- erhielten, entschied das Oberste Gericht 2015, dass ein Sys- schenrechtsverletzungen, von der Todesstrafe9 und ausser- tem, das mit administrativen Hürden den Freizeitkonsum von gerichtlichen Hinrichtungen10 bis hin zu Folter, polizeilicher Cannabis unterbindet, verfassungswidrig sei. Es führte an, Gewalt und unmenschlichen Drogenbehandlungsprogram- dass es sich dabei um einen unverhältnismässigen Eingriff in men. das Prinzip der Menschenwürde und auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit im Speziellen handelte. 16 Eine repressive Drogenpolitik verursacht viel grössere Schä- den als die Drogen an sich. Deshalb sind neue Ansätze ge- Gerichte in Chile, Spanien, Kolumbien und Argentinien ha- fragt, die die Grundsätze der Menschenwürde, das Recht auf ben ebenfalls geurteilt, dass der private Konsum von Drogen die Privatsphäre und die Rechtsstaatlichkeit hochhalten, und nicht vom Staat sanktioniert werden sollte.17 Das chilenische 13
KASTEN 1: “INTERNATIONALES DROGENKONTROLLSYSTEM UND STRAFRECHTLICHE MASSNAHMEN BEI DROGENBESITZ Die drei zur Kontrolle der illegalen Drogen ins Leben gerufenen internationalen Abkommen sind: • Das Einheits-Übereinkommen der Vereinten Nationen über Suchtstoffe von 1961 (in der Fassung des Protokolls von 1972) • Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über psychotrope Stoffe von 1971 • Das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den illegalen Handel mit Suchtstoffen und psychotropen Substanzen von 1988 Diese Abkommen verbieten Konsum, Handel, Produktion, Anbau sowie Import und Export bestimmter Drogen, wenn sie nicht für einen medizinischen oder wissenschaftlichen Zweck verwendet werden. Die untenstehende Tabelle führt die wichtigsten Bestimmungen der Abkommen in Bezug auf den Besitz illegaler Drogen auf und zeigt, ob und wie weit von den Bestimmungen abgewichen werden kann. Verpflichtung durch das Abkommen Abweichung von der Verpflichtung 1961 Konvention – “die Pflicht, den Besitz Keine Abweichung möglich, ausser mit nicht zu erlauben” in Bezug auf die im Ab- “gesetzlicher Befugnis” (Artikel 33) kommen aufgeführten Drogen (Artikel 33) 1961 Konvention – “sollen Massnahmen Abhängig von den „verfassungsrecht- einführen, die sicherstellen, dass ... Be- lichen Beschränkungen“ der Mitglied- sitz ... strafbar ist“ (Artikel 36 (1) (a)) staaten (Artikel 36 Paragraph 1. a) Wenn die unter Artikel 36 straffällig ge- wordenen Personen „Drogenabhängige“ sind, kann eine Alternative zu Verurteilung/Bestra- fung angewendet werden (Artikel 36 (1)(b)) 1971 Konvention – “wünschenswert, dass Keine Abweichung möglich, ausser mit die Parteien den Besitz von Substanzen “gesetzlicher Befugnis” (Artikel 5 (3)) nicht zulassen“ in Bezug auf die im Abkom- men definierten Substanzen (Artikel 5 (3)) 1971 Konvention – “jede Partei soll als Abhängig von den „verfassungsrecht- strafbare Handlung bewerten ... was ei- lichen Beschränkungen“ der Mit- nem Gesetz oder einer Regulierung wider- gliedstaaten (Artikel 22 (1) (a)) spricht, die zur Erfüllung des Abkommens verabschiedet wurden” (Artikel 22 (1) (a)) Wenn die unter Artikel 36 straffällig ge- wordenen Personen „Drogenabhängige“ sind, kann eine Alternative zu Verurteilung/Bestra- fung angewendet werden (Artikel 22 (1) (b)) 1988 Konvention – “jede Partei soll die nöti- „Abhängig von Verfassungsgrundsätzen gen Massnahmen ergreifen, um ... den Besitz, und Grundprinzip der Rechtsord- Kauf oder Anbau von Betäubungsmitteln oder nung [der Parteien]“ (Artikel 3 (2)) psychotropen Substanzen für den Eigengebrauch ... in der nationalen Gesetzgebung als straf- Kann eine „Alternative zu Verurteilung oder bare Handlungen aufzunehmen” (Artikel 3 (2)) Bestrafung“ vorsehen (Artikel 3 (4)(d)) 14
Das Scheitern der Prohibition Oberste Gericht hat in einem Fall von Cannabisanbau zum scheinlich keine andere Straftat, die anderen keinen direkten Beispiel festgehalten, dass der Gesetzgeber zu Recht den Ei- und sofortigen Schaden zufügt und die so hart geahndet und gengebrauch von Sanktionen ausgenommen hatte. Das Ge- gleichzeitig so oft begangen wird. richt befand dies übereinstimmend mit dem Recht auf Auto- nomie, welches auch beinhaltet, dass die eigene Gesundheit Die weitverbreitete und andauernde Missachtung der Dro- riskiert werden darf.18 genstrafgesetze stellt die Legitimation der staatlichen Akteu- re wie der Polizei in Frage. Dies vor allem, wenn Drogenstraf- gesetze bei einer kleinen Untergruppierung der Gesellschaft unverhältnismässig hart durchgesetzt werden und die Be- strafungen dabei Arme22 und Minoritäten23 am stärksten trifft. Eine solch ungerechte Anwendung des Gesetzes un- Um die Rechtsstaatlichkeit zu garantieren, muss tergräbt die Prinzipien des Rechtstaates grundlegend – die diese über die blossen Vorschriften hinaus in einem Rechtsgleichheit aller Personen, und dass seine Anwendung grösseren Kontext gesehen werden. Dazu gehört immer gleich, fair und unparteiisch ist24 – und belastet die der breite Zugang zu einer Justiz, welche fair und Beziehung des Staates zu seiner Bevölkerung. die Menschenrechte voll respektierend durch ein stabiles System ausgeführt wird. Ein System, das, Länder, die auf eine Strafandrohung bei Drogenkonsum ver- mit den entsprechenden Schutzbestimmungen, den zichten, verzeichnen erwiesenermassen keinen erheblichen zuständigen Einrichtungen Kompetenzen überträgt. Anstieg des Drogenkonsums.25 Das und die vermehrte Unter- stützung der Entkriminalisierung verschiedener UN-Gremien Büro der Vereinten Nationen für Drogen- sowie regionaler multilateraler Behörden26 lassen zusätzlich und Verbrechensbekämpfung (2016) 27 an den Argumenten für die Durchsetzung der strengen Dro- gengesetze zweifeln. Der schwindende Respekt für die rechtlichen Rahmenbedin- Diese Urteile sind bezeichnend für eine sich verändernde gungen und die Rechtsstaatlichkeit im Allgemeinen hat das Rechtslandschaft, in welcher die Bestrafung von Drogen- Potenzial, das Korruptionsrisiko zu erhöhen und umgekehrt. konsum und -besitz nicht länger mit dem Prinzip der Men- Mit ihrem Entscheid, einen strafrechtlichen Ansatz zu verfol- schenwürde vereinbar ist. Für das Prinzip der Menschenwür- gen, zogen sich die Staaten bewusst aus der Verantwortung de ist es von grundlegender Bedeutung, dass der Staat den und zahlten dafür einen hohen Preis; es entstand ein illegaler Konsum von Drogen – letztlich keine Handlung, die anderen Drogenmarkt mit einem jährlichen Umsatz von 320 Milliarden Schaden zufügt oder deren Rechte beschneidet – nicht als US-Dollar. Er wird von Banden und kriminellen Organisatio- Einmischungsgrund in die Privatsphäre gelten lässt. nen kontrolliert, die sich einen blutigen Machtkampf liefern.28 Die immensen finanziellen Mittel, die der Drogenhandel den kriminellen Organisationen in die Hände spielt, erlaubt es ih- 3. UNTERGRABUNG DER RECHTSSTAATLICHKEIT ANTEIL INHAFTIERTER PERSONEN WEGEN Die Rechtsstaatlichkeit setzt die Bereitschaft der Bürger vor- DROGENBESITZES OHNE HANDELSABSICHT aus, „... die allgemeingültigen Gesetze zu respektieren und nicht gegen sie zu verstossen, auch wenn sie nicht mit ihnen Georgien 43% einverstanden sind.“19 Diese Bereitschaft ist bei den Drogen- Kirgisistan 61% strafgesetzen offensichtlich nicht vorhanden, wie Hunderte Lettland 44% von Millionen Menschen beweisen, die jedes Jahr Drogen Litauen 43% konsumieren.20 Drogenkonsum ist geschlechter-, ethnien-, Polen 55% klassen- und berufsübergreifend, und ein grosser Teil der Russland 72% Gesellschaft betreibt ihn als normale Freizeitbeschäftigung.21 Tadschikistan 16% Das Risiko, dafür ins Gefängnis zu kommen oder einen Straf- Ukraine 67% registereintrag zu erhalten, scheint nur wenige von dem Ver- Usbekistan 21% gehen abzuhalten, einem Vergehen, das im Wesentlichen niemandem anderen schadet. Man könnte sogar sagen, dass die Bestrafung des Drogenbesitzes und/oder -konsums der © Eurasian Harm Reduction Network (EHRN), Sergey Votyagov, 20144 Glaubwürdigkeit des Strafgesetzes schadet. Es gibt wahr- 15
Überfülltes Gefängnis in Kalifornien. © HuffingtonPost nen, Behörden im grossen Stil zu korrumpieren, von der Po- 4. MENSCHENRECHTS- lizei bis hoch zu den Gerichten und der Politik.29 Der Einfluss der kriminellen Organisationen ist gut dokumentiert. Sie in- VERLETZUNGEN UNTER filtrieren und korrumpieren Staatsorgane und untergraben DEM INTERNATIONALEN die Rechtsstaatlichkeit. Sie manipulieren zum Beispiel den Gesetzesvollzug und schmieren Beamte in Mexiko30 oder DROGENKONTROLLREGIME finanzieren Präsidentschaftskampagnen in Guinea-Bissau.31 Staaten setzen die Verpflichtungen aus den drei UN-Dro- Die Staaten untergraben die Rechtsstaatlichkeit aber längst genabkommen oft menschenrechtswidrig um. Der abscheu- nicht nur durch die bereits erwähnte ungerechte Anwen- lichste Verstoss ist wohl die Verhängung der Todesstrafe für dung der Drogengesetze. Der unverhältnismässige Fokus kleine Drogendelikte mit Hunderten von Hinrichtungen jähr- der Strafvollzugsbehörden auf die Kontrolle von Drogenkon- lich. Dieser Punkt wird in diesem Bericht noch detaillierter sumierenden hat Opportunitätskosten generiert:32 Es wer- thematisiert. den für Drogendelikte auf den unteren Stufen Ressourcen verbraucht, die dann bei in der Bekämpfung schlimmerer Tötungen sind jedoch nicht nur auf die Todesstrafe zurück- Verbrechen fehlen, wie später noch aufgezeigt wird. Schlim- zuführen, wie die Morde unter Präsident Duterte auf den mer noch, staatliche Akteure operieren im Namen der Dro- Philippinen zeigen. Staatlich sanktionierte Ermordungen von genkontrolle oft ausserhalb der Gesetze, wie das grausame mutmasslichen Drogenkonsumierenden und in den Handel Vorgehen des philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte involvierten Personen, sind keine Seltenheit. Als Thailand attestiert; sein Aufruf an die Gesellschaft, alle in den Drogen- 2003 seinen „Krieg gegen die Drogen“ ausrief, hatte das die handel involvierten Personen zu exekutieren, hat während aussergerichtliche Hinrichtung von fast 2’800 Menschen zur seiner ersten Monate im Amt 2016 zu Tausenden von Mor- Folge. Tausende weitere wurden in Gewahrsam genommen den geführt – darunter mutmasslich zahlreiche aussergericht- und zur „Behandlung“ ihrer Drogenabhängigkeit gezwun- liche Hinrichtungen.33 Ähnliche Vorkommnisse, die den Re- gen.38 Die brasilianische Militärpolizei hat in den Favelas von spekt vor dem Rechtsstaat schwinden lassen: Polizeigewalt Rio de Janeiro von 2010 bis 2013 über 1’200 Tötungen zu gegen Drogenkonsumierende;34 Inhaftierung mutmasslicher verantworten, viele davon geschahen im Namen des „Kriegs Drogendelinquenten ohne Gerichtsverhandlung35 und Inhaf- gegen die Drogen“.39 In einer der Favelas von Rio fand Am- tierung von Menschen ohne fairen Prozess zum Zweck einer nesty International deutliche Hinweise darauf, dass neun von erzwungenen „Drogentherapie“.36 All diese Beispiele weisen zehn Todesfällen aussergerichtliche Hinrichtungen waren auf Menschenrechtsverletzungen hin, die im Namen der Dro- und dass zwischen 2010 und 2013 79 Prozent der Opfer von genstrafgesetze begangen werden. Polizeimorden in Rio de Janeiro schwarz waren und 75 Pro- zent zwischen 15 und 29 Jahre alt.40 Die Verschärfung der Strafverfolgung als Antwort auf die Drogen führt im Normalfall zu noch mehr Gewalt.41 2006 hat 16
Das Scheitern der Prohibition Mexikos Präsident Felipe Calderon hartes militärisches Vor- gehen gegen die Drogenkartelle angekündigt, was zwischen KASTEN 2 – DAS RICHTIGE VERSTÄNDNIS 2006 und 2014 zu geschätzten 160’000 Drogentoten geführt EINES VOLKSGESUNDHEITLICHEN ANSATZES hat, viele in Zusammenhang mit Kartellgewalt und der Milita- risierung der Drogenbekämpfung. Zudem wurden in Mexiko Der Wandel von einem strafrechtlichen Ansatz in über 280‘000 Menschen intern vertrieben42 und mindestens einen volksgesundheitlichen darf nicht bedeuten, 25‘000 sind während des sogenannten Drogenkriegs ver- dass ein repressives Modell durch ein anderes schwunden.43 ersetzt wird. Wie in diesem Bericht aufgezeigt wird, haben eine Anzahl Staaten obligatorische und/ Menschenrechtsverstösse werden ausserdem unter dem oder nicht-evidenzbasierte Drogenbehandlungen Vorwand begangen, den Drogenkonsumierenden zu hel- eingeführt und führen diese im Namen der fen. Viele Staaten erzwingen bis heute „Behandlungen“ in Volksgesundheit durch, obwohl solche Massnahmen obligatorischen geschlossenen Einrichtungen – in welchen diese untergraben. Der umfassende Wandel Drogenkonsumierende ohne fairen Prozess, richterliche muss auf einer Politik aufbauen, die den Besitz Aufsicht oder Rechtsgarantien festgehalten werden –, vor für den Eigengebrauch entkriminalisiert. Ein allem in Südostasien und China.44 Ein solcher Freiheitsent- volksgesundheitlicher Ansatz muss die sozialen, zug verstösst gegen die internationalen Menschenrechtsbe- ökonomischen und ökologischen Bedingungen, stimmungen, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Men- die einem problematischen Drogenkonsum oft schenrechte (1948) und dem Übereinkommen gegen Folter zugrunde liegen, berücksichtigen. Er darf zudem nur und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Massnahmen zur Folge haben, die evidenzbasiert Behandlung oder Strafe (1984) festgehalten sind, und unter- sind und nicht gegen die internationalen gräbt das Recht auf Gesundheit. Menschrechtsstandards verstossen64. Nur so kann die Bedrohung der Volksgesundheit durch Infektionskrankheiten tatsächlich entschärft werden. Es ist meine grosse Hoffnung, dass die Verbesserungen der internationalen Beziehungen mit dem Iran auch verbesserte Menschenrechtsbedingungen mit sich bringen werden. Wohlwissend, dass Drogenkonsumierende werden nicht nur in diesen Zentren unter internationalem Recht die Todesstrafe für gefoltert. Eine Studie, die Polizeipraktiken in Russland unter- Drogenverbrechen untersagt ist, schätze ich den suchte, zeigt, dass die Strafbehörden Gewalt gegen Drogen- Vorstoss des iranischen Parlaments, zumindest konsumierende anwenden, um Geständnisse zu erpressen für einige Drogenstraftaten die obligatorische oder an Informationen über ihre Kontakte zu gelangen. Sie Verhängung der Todesstrafe aufzuheben. wendeten dabei „aussergerichtliche Polizeipraktiken an, um das Alltagsleben der injizierenden Drogenkonsumierenden Zeid Ra’ad Al Hussein, Hoher Kommissar mit Angst und Schrecken [zu durchsetzen]“.51 für Menschenrechte37 Diesen Zentren werden schwerwiegende Misshandlungen ih- 5. DROGENSTRAFGESETZE rer Insassen vorgeworfen, darunter Freiheitsberaubung und Zwangsentzug,45 Folter, schwerer sexueller Missbrauch und UND VOLKSGESUNDHEITS- physische Misshandlungen sowie Zwangsarbeit.46 Zwangs- KRISEN interniert wird oft, wer bei Polizeirazzien positiv auf Drogen getestet wird, unabhängig davon, ob eine Behandlung über- Die Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden hat eine haupt angezeigt ist.47 In einigen Fällen weisen Familienmit- globale HIV- und Hepatitis-C-Pandemie52 ausgelöst. Von den glieder Drogenkonsumierende ein. Es wird geschätzt, dass 16 Millionen Menschen, die weltweit Drogen injizieren, leben in Südostasien und China 235‘000 Menschen gegen ihren rund zwei Drittel mit Hepatitis C und mindestens 13 Prozent Willen festgehalten werden,48 einige von ihnen Kinder.49 Will- mit HIV, viele mit einem erhöhten Tuberkulose-Risiko.53 In kürliche Verhaftungen kommen jedoch nicht nur in dieser einigen Ländern betragen die HIV- und Hepatitis-C-Raten Region vor: Ähnlich grausame und unmenschliche Behand- unter den intravenös Drogenkonsumierenden bis zu 50 res- lungen finden nachweislich auch in Guatemala, Brasilien, pektive 90 Prozent.54 Mexiko, Peru, Indien, Russland, Serbien, Südafrika und den Obschon die Hepatitis-C-Infektion und Tuberkulose heilbar Vereinigten Staaten statt.50 sind und HIV behandelt werden kann, tragen repressive Dro- 17
gengesetze, aber auch Stigmatisierung und Marginalisie- te internationale Drogenkontrollregime, begünstigt nicht rung von Drogenkonsumierenden, dazu bei, dass Behand- nur die Verbreitung von Infektionskrankheiten, sondern hat lungsraten in diesen Bevölkerungsgruppen tief bleiben. Die jährlich Tausende von Todesfällen und das Leiden von Mil- Kriminalisierung von injizierenden Drogenkonsumierenden lionen zu verantworten. Die UN-Drogenkontrollabkommen führt zu risikoreichen Injektionspraktiken, um von Strafver- und übergreifenden nationalen Gesetze haben zum Beispiel folgungsbehörden nicht entdeckt zu werden, und stellt eine mit Verschreibungseinschränkungen für Opiate und andere Hürde zu Angeboten wie Nadel- und Spritzenaustausch- Schmerzmittel dazu beigetragen, dass 5,5 Milliarden Men- programmen (NSP) dar. Zudem verhindern viele Staaten schen auf der ganzen Welt unter eingeschränktem oder dringend benötigte Angebote, indem sie die Abgabe von fehlendem Zugang zu Schmerzmitteln leiden. Der fehlende sauberem Injektionsmaterial und Opioid-Substitutionsthe- Zugang zu diesen Medikamenten verletzt das internationale rapien (OST) gesetzlich unnötig einschränken, obschon Menschenrecht auf den höchstmöglichen Gesundheitsstan- beide Massnahmen erwiesenermassen die HIV- und Hepati- dard.60 tis-C-Verbreitung eindämmen.55 Indem die Regierungen den Fokus unverhältnismässig stark auf die Strafverfolgung legen Über 200’000 Drogentote wurden im Jahr 2014 gezählt. Ein anstatt auf Volksgesundheitsmassnahmen, gefährden sie die Drittel bis die Hälfte davon sind Todesfälle durch Überdo- Gesundheit ihrer Bürger. sis.61 In den Vereinigten Staaten haben die drogenbeding- ten Todesfälle seit 2000 um 137 Prozent zugenommen, mit 47‘055 dokumentierten Todesfällen im Jahr 2014, 61 Prozent davon im Zusammenhang mit Opioiden.62 Angst vor Verhaf- tung und Verurteilung hält Zeugen von Überdosierungen oft davon ab, die Rettungsdienste zu rufen.63 6. DROGENSTRAFGESETZE UND IHRE AUSWIRKUNGEN AUF ÜBERFÜLLTE GEFÄNGNISSE Ehemalige Drogenszene von Casal Ventoso, einem Stadtteil von Der Weltdrogenbericht 2016 des Büros für Drogen- und Lissabon. © Gael Cornier, Archives Associated Press Verbrechensbekämpfung der Vereinten Nationen (UNODC) beziffert die weltweit wegen Drogenverstössen inhaftierten Jüngste Entwicklungen in der Verbreitung von HIV in der Personen mit 18 Prozent.65 Viele von ihnen kommen aus wirt- Region von Osteuropa und Zentralasien (EECA) bestätigen schaftlich benachteiligten Familien. Die Massenverhaftun- die negativen Auswirkungen strenger Drogenstrafgesetze. gen von Drogendelinquenten hat weltweit zu einer Überfül- Während von 2004 bis 2014 das Auftreten von HIV-Infek- lung der Gefängnisse geführt und zu Haftbedingungen, die tionen weltweit um 35 Prozent gesunken ist, haben in der hochgradig gesundheitsschädlich sind. EECA-Region im gleichen Zeitraum die Neuinfektionen um 30 Prozent zugenommen, vor allem durch den intravenösen Zahlreiche Drogengesetze sind für diese Überfüllung mitver- Drogenkonsum.56 Russland ist einer der Hauptverursacher antwortlich. In Brasilien, wo die Auslastung der Gefängnisse dieses Trends, indem es OST verbietet und NSP nicht unter- 2014 bei 157 Prozent lag,66 hat die Gefängnisbevölkerung stützt.57 Diese Politik hat in Russland zu einer HIV/Aids-Epi- seit Beginn des 21. Jahrhunderts exponentiell zugenommen; demie geführt. Offizielle Zahlen für das Jahr 2014 sprechen Änderungen der nationalen Drogengesetze sorgten zwi- von 907‘000 Infizierten. Das entspricht einem Anstieg von 7 schen 2007 und 2010 zu einem Anstieg der Gefängnisaufent- Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Siebenundfünfzig Prozent halte wegen Drogenverbrechen um 62 Prozent.67 Angst vor der neuen HIV-Fälle werden „unsauberen Drogeninjektio- einer Zunahme des Konsums von Methamphetamin liess die nen“ zugeschrieben58 und Hochrechnungen sagen voraus, thailändische Regierung konsequent gegen Konsumieren- dass bis 2020 in Russland 3 Millionen Menschen mit HIV le- de vorgehen, mit fast 196‘000 verhafteten Personen 2012.68 ben könnten.59 Thailändische Gefängnisse sind mit einer 144-prozentigen Auslastung massiv überbevölkert,69 70 Prozent aller Insassen wurden wegen Drogenverbrechen verurteilt.70 Die Kriminalisierung von Drogenkonsumierenden, und ganz Masseninhaftierungen wegen der vorherrschenden Dro- generell das auf strafrechtliche Massnahmen ausgerichte- gengesetze – einschliesslich der zwingenden Verurteilung 18
Das Scheitern der Prohibition wegen kleiner Delikte – haben dunkelhäutige Bevölkerungs- gruppen in den Vereinigten Staaten ausserordentlich hart getroffen. Dreizehn Prozent der US-Bevölkerung sind Afro- amerikaner, sie machen aber sowohl auf Bundes- als auch und Landesebene 40 Prozent der Gefängnisinsassen aus, die Ich glaube, dass sich viele Staaten darüber Gedanken wegen Drogenverbrechen einsitzen. Die lateinamerikanische machen, ob die Ahndung des Freizeitkonsums Gemeinschaft stellt 17 Prozent der US-Bevölkerung, aber 38 verhältnismässig ist. Wollen wir Menschen für Prozent der in Bundesgefängnissen wegen Drogenverbre- fünf, zehn, fünfzehn Jahre wegsperren, die keine chen Inhaftierten.71 grossen Drogendealer sind, sondern eine Substanz konsumieren, die vermutlich nicht gerade gesund ist, Die Kriminalisierung hat ähnlich verheerende Auswirkungen aber nicht allzu viele andere Menschen schädigt? für Frauen. Gefängnisstatistiken zeigen, dass mehr Frauen als Männer wegen Drogenverbrechen inhaftiert sind und Barack Obama, US-Präsident, in einem Interview mit KMBC, Kansas City, 26. Februar 2015 dass in Teilen von Lateinamerika und Südostasien über 70 Prozent der inhaftierten Frauen wegen Drogenverbrechen einschliesslich des Drogenbesitzes im Gefängnis sind.72 In einigen US-Staaten müssen schwangere Frauen, die Drogen konsumieren, eine Verurteilung wegen Schädigung des un- Unter polizeiliche Massnahmen, die der Drogenfahndung geborenen Lebens befürchten.73 Die Inhaftierung von Frauen dienen, fallen die wiederholte Belästigung bestimmter Be- wegen kleinerer Drogendelikte kann für eine Familie tiefgrei- völkerungsgruppen, Leibesvisitationen und der gewaltsame fende Konsequenzen haben, besonders für Kinder, deren El- Zutritt zu Wohnungen und Häusern von Verdächtigen. Sie tern im Gefängnis sind. Drogenkonsumierende Mütter und tragen zudem zur Zerrüttung der Beziehung zwischen dem schwangere Frauen unterlassen es zudem oft, sich Unterstüt- Volk und dem Staat bei, weil die Strafverfolgung als nicht le- zung zu holen, Schadensminderungsangebote zu beanspru- gitim wahrgenommen wird. chen oder Behandlungszentren aufzusuchen, aus Angst, man könnte ihnen die Kinder wegnehmen. 8. DIE KONSEQUENZEN EINES 7. DROGENGESETZE STRAFREGISTEREINTRAGS Die auf Strafverfolgung ausgerichtete Drogenkontrolle hat ALS INSTRUMENTE weltweit zahlreiche Opfer gefordert, von den Anbauern ille- SOZIALER KONTROLLE galer Drogen und kleinen Kurieren bis hin zur Gesellschaft als Ganzes. Es ist aber wichtig, auch die negativen und manch- Der durch die Drogenüberwachung angerichtete Schaden mal weniger offensichtlichen Konsequenzen der Kriminali- trifft nicht nur Drogenkonsumierende und andere am Handel sierung des Drogenbesitzes zu sehen. Es ist immerhin das Beteiligte – sie beeinträchtigt die Gesellschaft als Ganzes. Delikt, das weltweit die Kriminal- und Strafverfolgungsstatis- Die Drogenüberwachung ist geprägt von Rassendiskrimi- tiken anführt. nierung im amerikanischen Strafrechtssystem und von straf- rechtlichen Massnahmen, die in keinem Verhältnis zu den Daten der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen Delikten stehen. Das Anhalten und Durchsuchen von Perso- und Drogensucht (EBDD) aus dem Jahr 2014 zeigen, dass nen, wie es in vielen Staaten praktiziert wird, hat zur Folge, von den fast 1,4 Millionen gemeldeten Drogenverbrechen in dass Menschen ins Strafrechtssystem verstrickt werden, ob Europa78, 82 Prozent Besitz- und Konsum-Delikte waren, der sie Drogen bei sich haben oder nicht. Rest betrifft den Drogenhandel.79 Auf globalem Level macht der Besitz 83 Prozent aller Drogenverbrechen aus.80 Im Vereinigten Königreich fahnden 60 Prozent aller polizei- lichen Durchsuchungen nach Drogen,74 überwiegend nach Ein Strafregistereintrag kann unzählige negative „kollaterale „Kleinmengen für das Strassengeschäft“.75 In den meisten Konsequenzen“ haben, indem er das Anstellungsverhältnis, Fällen werden keine Drogen gefunden.76 Schlimmer noch, die Ausbildung, die Wohnsituation und das Familienleben Schwarze werden sechs mal häufiger kontrolliert und auf beeinträchtigt.81 In den Vereinigten Staaten kann ein Eintrag Drogen untersucht als Weisse und Asiaten doppelt so oft, für ein Drogenvergehen zum Beispiel einen Ausschluss von obwohl der Drogenkonsum unter Weissen höher ist.77 Die- der Geschworenenbank bedeuten, in einigen Staaten auch ses Missverhältnis ist auf der ganzen Welt anzutreffen; Min- das Entziehen des Wahlrechts, die Zwangsräumung der So- derheiten und wirtschaftlich benachteiligte Regionen stehen zialwohnung, die Ablehnung von Finanzhilfe, der Ausschluss besonders oft im Fokus. aus dem Hochschulsystem, der Widerruf oder das Aussetzen 19
des Führerscheins, ein Landesverweis, in bestimmten Fällen die andauernde Trennung von der Familie bei sogenannten „Nicht-Bürgern“, der Ausschluss von bestimmten Arbeits- stellen oder die Verweigerung von Sozialhilfe.82 Im Vereinig- ten Königreich hat eine Studie errechnet, dass ein Cannabis- delikt im Strafregister die Lebenseinkünfte um geschätzte 19 Ich wiederhole mich, aber ich sage es heute noch Prozent schmälern könnte.83 Es gibt zudem Beweise dafür, einmal: Ich bin der Ansicht, dass Drogen viele Leben dass ein erster Kontakt mit dem Strafrechtssystem zu Wie- zerstören, aber falsche Regierungspolitiken haben derholungstaten führen kann. Wenn man das Ausmass der noch viele mehr zerstört. Ein Strafregistereintrag für Polizeiaktionen gegen Drogenbesitzdelikte bedenkt, ist es ein kleines Drogendelikt kann für junge Menschen vertretbar, von einem „Einstiegseffekt“ zu sprechen, der die eine viel grössere Gefährdung ihres Wohlergehens Rückfälligkeit erhöht.84 bedeuten als der gelegentliche Drogenkonsum. Kofi Annan, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen und Vorsitzender der Kofi Annan Foundation, Mitglied der Weltkommission 9. DIE KRIMINALISIERUNG für Drogenpolitik, in einer Rede an der 68. Weltgesundheitsversammlung in Genf, 19. Mai 2015 VON DROGENBESITZ UND DROGENKONSUM BEENDEN Die eben aufgezeigten Schäden einer strafrechtlich ori- entierten Drogenpolitik dienen als Momentaufnahme der globalen Situation. Das weitreichende Leiden, das die Kri- minalisierung von Drogenkonsumierenden und anderen am Handel Beteiligten verursacht hat, kann gar nicht genug be- tont werden. Deshalb müssen Staaten als Erstes eine Politik ansteuern, die gegen Menschen, die Drogen konsumieren, keine Sanktionen vorsieht – weder strafrechtliche noch zivile. Mehrere Staaten haben den Drogenbesitz und/oder Dro- genkonsum entkriminalisiert, aber fast alle greifen auf zivil- rechtliche Sanktionen zurück. So wird der Drogenkonsum weiterhin unnötig als eine gesellschaftlich inakzeptable Handlung eingestuft, die bestraft werden muss. Die Welt- kommission setzt sich für ein Modell der Entkriminalisierung ein, das Drogenkonsumierende nicht bestraft. Staaten, die ihre Drogengesetze erneuern, sollten versuchen, dieses Mo- dell umzusetzen, in Anerkennung ihrer Menschenrechtsver- pflichtungen und der Notwendigkeit, die Menschenwürde und die Rechtsstaatlichkeit hochzuhalten. 20
Sie können auch lesen