Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV

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Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV
28. Jahrgang · Ausgabe März 2021 · www.strassenkreuzer.info   2,20€   davon 1,10 € für den/die Verkäufer/in

                                       Wie gehen Sie
                                      mit Bettlern um?
Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV
Die

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Foto: Wolfgang Gillitzer
                                                                                         curt
                                                                                                                                                                                  Foto: DaviD Häuser

                                                                                                                                                                                                          hungrige Seele
                                                                                         your                                                                                                             muss warten
          Vorankommen                                                                    locals
          ist einfach.

                                                                                                                                                                       cu rt
                                                                                                                                                                                         ei n co
                                                                                                                                                                                                 vi d1
                                                                                                                                                                                        pa nd em 9-
                                                                                                                                                                                                   is
                                                                                                                                                                                        er gu ss ch er
                                                                                                                                                                                                 :
                                                                                                                                                                                                           Liebe Leserinnen, liebe Leser,                                werden, bleiben zu dürfen, auch die hungrige Seele zu
                                                                                                                                                                                       vi el e
                                                                                                                                                                                               au
                                                                                                                                                                                       + foto to re n
                                                                                                                                                                                               gr af en
                                                                                                                                                                                                                                                                         sättigen, bleibt jetzt nur die Tüte. Und dennoch sind es
                                                                                                                                                                                                           jeden Freitagvormittag bildet sich eine lange Schlange vor    so viel mehr Menschen.
                                                                                                                                                                                                           dem Eingang zum Innenhof von Haus Eckstein. 300, 400,         Wer jetzt sagt, da stünden sicherlich welche, die es nicht

                                                                                                                                                             do wn
                                                                                                                                                       19- lo ck
                                                                                                                                                                                                           inzwischen fast 500 Menschen reihen sich ein und warten,      nötig hätten, möge sich prüfen: Wer würde sich ohne Not

                                                                                                                                                      1. co vid
                                                     Auch wenn’s um                                                                                                                                        bis es losgeht. Ab zehn Uhr verteilen Diakonin Ute Kollewe    anstellen? Und sei es aus dem Bedürfnis heraus, einmal

                                                                                                                                              ie zu m
                                                                                                                                         th olog
                                                     Bildung und Soziales                                                                                                                                  und ihr engagiertes Team Ehrenamtlicher „Schlemmer­           in der Woche Leute zu treffen, die man vom Anstehen der

                                                                                                                                          rt -an
                                                     geht, sind wir mit

                                                                                                                                 ein e cu
                                                                                                                                                                                                           tüten“ mit gespendeten Lebensmitteln an die Beharrli­         letzten Woche kennt. Mit einem Geschenk heimgehen zu
                                                     dem Herzen dabei.
                                                                                                                                                                                                           chen. Dieses „Obdachlosenfrühstück to Go“ gibt es seit        können, sich beachtet zu fühlen, das eigene knappe Bud­
                                                                                                                                                                                                           April letzten Jahres. Weil Corona ein Miteinander im Saal     get für anderes zu sparen? Eben.
                                                                                                                                                                                                           unmöglich macht, findet kein sonntägliches Obdachlosen­       „Mal nicht kämpfen müssen“, hatte Ute Kollewe in einem
                                                              Wenn’s um Geld geht            Fast 1.000.000 autoren + Dichter
                                                                                                                                                                                                           frühstück mehr statt. Seit die fünf Innenstadtkirchen vor     Interview mit dem Straßenkreuzer als wichtigen Grund
                                                           s Sparkasse
                                                                                             + FotograFen Der region                                                           curt 20
                                                                                                                                                                               your21                      über 20 Jahren das Angebot starteten, hatte es nie eine       genannt, am Frühstück teilzunehmen. „Jeder darf kommen
                                                                                             in einem curt-Buch aus Der krise.                                                 locals
              sparkasse-nuernberg.de                         Nürnberg                        alles Dazu im magazin + online:                                         www.curt.de / N B G
                                                                                                                                                                                                           solche Zäsur gegeben. Aber nun bildet sich stattdessen        und jeder hat eine andere Bedürftigkeit.“ Das gilt auch fürs
                                                                                                                                                                                                           freitags die Schlange, die in der Nürnberger Altstadt wie     Warten da draußen.
                                                                                                                                                                                                           eine Szene aus dem Mittelalter anmutet, als Armenspei­        Und passt zu unserem Titelthema: Wer bettelt, hat auch
05578_A_strassenkreuzer_Vorankommen_92x132.indd 1                           06.06.16 12:11                                                                                                                 sungen üblich waren.                                          seine Gründe. Sie passen vielleicht nicht in unsere Vor­
                       CULINARTHEATER                                                                                                                                                                      Zum Frühstück füllte sich der Saal regelmäßig mit gut 100     stellung von Arbeit und Leben und Planung, aber sie sind
                       IM TIERGARTEN                                                                                                                                                                       Gästen. Jetzt sind es bis zu fünf Mal so viele, die draußen   dennoch da.
                        DA S O R I G I NA L S E I T 1996                                                                                                                                                   bleiben. Und hatte die Diakonin immer betont, dass es
                                                                                                                                                                                                           an diesen Sonntagen nicht nur ums Essen gehe, sondern         Viel Freude beim Lesen dieser Ausgabe wünschen
                                                                                                                                                                                                           um das wohlige Gefühl auswählen zu dürfen, bedient zu         Ilse Weiß und das Straßenkreuzer-Team
                                                                GESCH
                                                               GUTSCHENK
          »WIR MACHEN                                                 EINE

          THEATER ZUM                                                                                                                                                                                       Titelthema                                                   MOMENTAUFNAHME                    STADTGESCHICHTE

          REINSCHMECKEN!«                                                                                                                                                                                   Wie gehen Sie mit
                                                                                                                                                                                                                                                                         5—Es musste wohl so weit
                                                                                                                                                                                                                                                                         kommen
                                                                                                                                                                                                                                                                         Der Strafentlassene Tobias N.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                           28—Jürgens Platz
                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Nach 30 Jahren zurück aus
                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Indien
          NEUES STÜCK                                                                                                                                                                                       Bettlern um?                                                 erzählt von den Hürden der
                                                                                                                                                                                                                                                                         Wohnungssuche                     30—Was uns bewegt
          »DOLCE VITA … DER SÜDEN IST ÜBERALL …
          MADRID ODER MAILAND, HAUPTSACHE ITALIEN!«                                                                                                                                                                                                                      19—Straßen der Welt               32—Kulturgut
                                                                                                                                                                                                            Bettler gehören auch in Nürnberg zum Stadtbild.
                                                                                                                                                                                                                                                                         SCHR EIBWERKSTATT                 KOPF UND TOPF
                                                                                                                                                                                                            Und wenn sie gehäuft auftreten und sichtbar                  20—Anregende Kunst                34—Unser Preisrätsel und
                                                                                                                                                                                                            „nicht von hier“ sind, spricht man schnell von                                                 Linseneintopf
                                                                                                                                                                                                                                                                         HINTERGRUND
                                                                                                                                                                                                            Bettlerbanden.
                                                                                                                                                                                                                                                                         22—„Es strahlte ein Licht         31—Impressum
                                                                                                                                                                                                            17 ganz persönliche Meinungen von ­Menschen, die             von uns aus“
                                                                                                                                                                                                            sich von Berufs wegen auch mit dem ­Geben und                Seit acht Monaten gehen die
          Noventa GmbH                                                                                                                                                                                                                                                   ­Menschen in Belarus gegen
          Am Tiergarten 8 · 90480 Nürnberg                                                                                                                                                                  Nehmen auseinandersetzen, und eine ­Recherche                 ihre Regierung auf die Straße.
          Tel. 0911 543 01 20 · www.culinartheater.de                                                                                                                                                       zum vermeintlich organisierten Handeln.                       Zwei Aktivisten berichten von
          www.tiergartenrestaurant.de                                                                                                                                                                                                                                     Angst, Gewalt und ihrer Zeit
          Sonderveranstaltungen jederzeit                                                                                                                                                                   Seite 6—19                                                    in Haft
Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV
Tobias N. (30, Name geändert) ist
                                                                                                                                                                                                       Gründungsmitglied der neuen WG
                                                                                                                                                                                                       im „Haus der 2. Chance“, das von der
                                                                                                                                                                                                       Caritas getragen wird. Hier bekommen
                                                                                                                                                                                                       Strafentlassene, die nach der Haft

      Genau mein Bad!
                                                                                                                                                                                                       nicht wissen, wo sie wohnen können,
                                                                                                                                                                                                       eine Bleibe auf Zeit. Das Hauptziel
                                                   Virtuell geplant.
                                                                                                         Sehen Sie Ihr neues Bad live, bevor es eingebaut ist. Mit                                     aller Bewohner lautet: eine eigene
                                                                                                         unserer VR-Brille erhalten Sie einen einzigartigen Raumein-
                                                   Real perfekt umgesetzt.                                                                                                                             Wohnung finden, trotz des ungeraden
                                                                                                         druck – als ob Sie sich bereits darin bewegen. Vereinbaren
                                                                                                         Sie gleich einen Termin mit uns im BROCHIER BADWERK.                                          Lebenslaufs. Ein Sozialarbeiter hilft
                                                                                                         Wir freuen uns auf Sie!.                                                                      jedem wöchentlich zwei Stunden
                                                                                                                                                                                                       dabei. Tobias, der nach der Schule eine
   BROCHIER BADWERK, Marthastraße 55 (Ecke Ostendstraße), Nürnberg                                                                 brochier-badwerk.de                                                 Ausbildung zum Anlagenmechaniker
                                                                                                                                                                                                       gemacht hat, wohnt seit Anfang Juli
 42439_04_Badwerk_AZ_Strassenkreuzer_210x148_RZ.indd 2                                                                                                   10.01.19 11:06
                                                                                                                                                                                                       hier und teilt sich die Wohnung mit

                                                                                                                                                                          www.gillitzer.net
                                                                                         Check In?                                                                                                     zwei Mitbewohnern.

                                                                                         Ja. Und Heilsarmee!
                                                                                                                                                                                                                                                                „
                                                                  BETREUUNG

                                                                                         Menschliche Not hält sich nicht an Bürozeiten. Die Rezeption
                                                                   VORSORGE              des Sozialwerks der Heilsarmee Nürnberg in der Gostenhofer
                                                                                         Hauptstraße ist deshalb 24 Stunden am Tag besetzt. Jeder Hilfe
  Sie möchten Ihre Vorsorge regeln?                                                      Suchende findet hier ein offenes Ohr und ein Zimmer für die
                                                                                                                                                                                                                                                           Momentaufnahme
  Wir beraten Sie persönlich und                                                         Nacht. Egal übrigens, ob und an welchen Gott er glaubt. – Von

                                                                                                                                                                                                                                             Es musste wohl
  kostenfrei bei Erstellung von                                                          wegen die Heilsarmee will nur missionieren …                                                         Wo sehen Sie die größten Hürden                                                                           Wie ging es mit Ihnen dann weiter?
                                                                   BERATUNG                                                                                                                   bei der Wohnungssuche?                                                                                     Ich war spielsüchtig. Ich habe immer
  › (Vorsorge-) Vollmacht                                                                                                                                                                       Die Schufa halt, da habe ich einen                                                                        mein ganzes Geld verzockt, deswe­
                                                                                         Die Sozialwerk Nürnberg gGmbH ist eine Facheinrichtung
  › Patientenverfügung
  › Betreuungsverfügung
                                                                                         der Wohnungshilfe mit über 90 Mitarbeiter/innen.
                                                                                         Über 220 bedürftige Menschen wohnen hier und lernen,
                                                                                         wieder eigenständig zu leben.
                                                                                                                                                                                                Eintrag. Arbeit habe ich ja jetzt
                                                                                                                                                                                                wieder, als Lagerist in der Nähe            so weit kommen                                                gen auch das mit den Versicherun­
                                                                                                                                                                                                                                                                                                          gen, das konnte ich alles nicht zah­
                                                                                         Mehr Informationen: Tel. 0911 / 28 73-12 01                                                            von Nürnberg, das ist von Vorteil.                                                                       len. Ich habe Kredite aufgenommen,
                                                                   VORTRÄGE              Internet: www.sozialwerk-nuernberg.de                                                                Und wie machen Sie das mit Ihrer                    Tobias N., Strafentlassener                           hab Schulden ohne Ende gemacht.
             BERATUNGSTELEFON

                                                                                                                                                                                                                                                                “
                                                                                                                                                                                              Zeit im Gefängnis?                                                                                       Dann, als ich da drin war in der Zelle,
                   0911 59 05 88 08                                                                                                                                                             Aus dem Lebenslauf lasse ich das                                                                     habe ich viel nachgedacht und habe ge­

                [                                ]                                                                       Sozialwerk                                                             einfach raus. Bei der Arbeit konnte ich                                                            sagt, es ist Schluss: Weiter kann ich nicht
                   Mo bis Fr 9 – 12 Uhr
                                                                                                                                                                                                das auch so hinreden, was in dem einen                                                          mehr sinken, ich betrete nie mehr so eine
                   Di 13 – 16 Uhr                                  SCHULUNG                                              Nürnberg                                                               Jahr war: Da hatte ich halt keine Wohnung,                                                 Spielhalle. Ich habe dann auch gleich danach
                                                                                            Mögen sich die Zeiten ändern,                                                                       wusste nicht wohin, war mal da und mal da. So                                       eine Therapie gemacht für ein halbes Jahr, deshalb
  Die Betreuungsvereine von AWO, Caritas, LiV,                                                       der Auftrag bleibt …                                                                       dreht man das hin.                                                         bin ich da auch weg davon.
  Lebenshilfe, SKF und Stadtmission in Zusammen­                                                                                                                                              Warum waren Sie im Gefängnis?                                       Gratulation!
  arbeit mit der Betreuungsstelle der Stadt Nürnberg.               MAGAZIN                                                                                                                     Das war eigentlich so eine Gesamtstrafe für mehrere Dinge,           Ja, Gottseidank, das ist das Wichtigste, das hat schon mein
                                                                                                                                                                                                die haben sie zusammengefasst: Fahren ohne Versicherungs­            ganzes Leben zerstört. Es musste dann wohl so weit kommen,
                                                                                                                                                                                                schutz, drei Mal, dann Fahren trotz Fahrverbot, mit Alkohol          bis ich’s begreif.
          www.gesetzliche-betreuung-nbg.de                                                                                                                                                      – 0,9 Promille.                                                   Wo sind Sie nach Ihrer Entlassung dann hin?
                                                                                                                                                                                              Haben Sie sich darüber geärgert?                                       Ich war erst ein paar Wochen bei meiner Mutter, aber da konnte

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                                                                                                                                                                                                Ja, total. Das war richtig bescheuert. Eigentlich hätte ich bei      ich nicht bleiben. Wir haben dann im Internet recherchiert und
                                                                                                                                                                                                einem Kumpel schlafen können, aber ich bin heimgefahren. Die         sind auf das Domus (Domus Misericordiae für wohnungslose
                                                                                                                                                                                                Polizei kommt mir entgegen, da wusste ich schon – ciao. Naja,        Männer der Caritas, Anm. d. Red.) gestoßen. Dort ist mir ein
                                                                                                                                                                                                das war noch eine Bewährungsstrafe, fünf Monate. Und die             Platz in der neuen WG angeboten worden. Bis die Wohnung
Den Straßenkreuzer gibt es
auch im Jahres-Abonnement:                                                                                                                                                                      wurde widerrufen, weil ich Termine nicht wahrgenommen habe.          fertig war, war ich dann noch ein paar Wochen zur Überbrü­
elf Ausgaben (eine Doppel­                                                                                                                                                                    Hatten Sie einen Termin für den Haftantritt?                           ckung im Hotel.
ausgabe im ­Sommer) inkl.                                                                                                                                                                       Ja, da bin ich ja nicht hin.                                      Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
­Verpackung und Versand für 45                                                                                                                                                                Und dann sind Sie mitgenommen worden?                                  Dass alles so weitergeht, wie es jetzt ist. Dass ich nie mehr
 Euro/Jahr.
                                                                                                                                                                                                Die Polizei hat bei der Zeitarbeitsfirma angerufen, bei der ich      abrutsche, dass ich stark bleibe und eines nach dem anderen
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 oder 0911 217593-0                                                                                                                                                                             angestellt war. Die haben mich dann angerufen und gesagt, dass       mache und ein gutes Leben führen kann. Davor hatte ich ei­
                                                                                                                                                                                                die Polizei mich sucht. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass         gentlich nie ein Leben. Immer die Schulden im Hinterkopf, die
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men über den Verein allen                                                                                                                                                                       Da haben sie gesagt, dass sie einen Brief für mich haben, den        man halt immer noch mehr in die Spielothek rein, um das alles
Verkäuferinnen und Verkäufern
                                                                                                                                                                                                sie mir persönlich geben wollen. Und ich wusste ja dann schon,       auszuschalten und zu vergessen.
zugute.
                                                                                                                                                                                                dass das ein Haftbefehl war.                                      Interview: Alisa Müller | freie Journalistin
                                                                                                                                                                                                                                                                       Foto: Kilian Reil | kilianreil.com
                                                 Anz_FrankenKids_190x92mm_4c_RZ.indd 1                                                                        11.10.16 11:05

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                M O M E N TAU F N A H M E   5
Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV
Wie
                                     Sie kommen meist aus EU-Ländern im
                                     Osten, werden beobachtet, wenn sie in
                                     Innenstädten aus Kleinbussen steigen,
                                     gehören augenscheinlich irgendwie

gehen
                                     zusammen. Gibt es Bettlerbanden? Diese
                                     Frage stand am Anfang dieser Recherche.
                                     Eine einfache Antwort haben wir nicht
                                     gefunden, aber starke Hinweise, dass sich
                                     hinter den „Banden“ wohl oft Bewohner aus

Sie mit
                                     armen Dörfern verbergen, die ihre Fahrten
                                     nach Deutschland gemeinsam organi-
                                     sieren. Sonst könnten sie sich das Betteln
                                     nicht leisten. Dennoch hält sich das Bild der
                                     Banden mit kriminellen, ausbeuterischen
                                     Strukturen. Die Frage nach ihrer Existenz

Bettlern
                                     und dem Umgang mit ihnen hat schon den
                                     Stadtrat beschäftigt und auch die Polizei.
                                     Doch auch sie kennt kein Autokennzeichen,
                                     keinen Bandenkopf. Kann es sein, dass

                                                                                                                     ✻
                                     das kriminelle Bild hilft, sich von Bettlern

um?  ✻                               „legitim“ abzugrenzen? „Es ist ein Trug-
                                     schluss zu glauben, Menschen würden gerne
                                     ihre Familie verlassen, um in Deutschland                           Man macht das
                                     auf der Straße zu betteln und obdachlos zu
                                     werden“, sagt Radoslav Ganev, Gründer der                           nur, wenn man es
                                     Initiative Romanity im Interview für unsere
                                     Dezemberausgabe 2020. „Solange man
                                                                                                         nötig hat
                                                                                                         Wie ich mit Bettlern umgehe? Unterschiedlich. Die, die
                                     in Deutschland besser aus dem Mülleimer
                                                                                                         mich direkt ansprechen, und sei es für die vermeintliche
                                     leben kann als in Bulgarien, solange braucht                        Fahrkarte nach Neuhaus, haben oft mehr Glück.
                                                                                                             Bei manchen möchte ich nichts geben, weil ich denke,
                                     man sich nicht wundern, dass arme Leute
                                                                                                         es ist organisiert und die Person wird nicht frei darüber
                                     herkommen.“                                                         verfügen können.
                                                                                                             Aber was heißt das schon. Ist nicht jeder organisiert,
                                     Wir spüren dem Thema Betteln nach,
                                                                                                         der es für seinen Lebensunterhalt macht und somit re­
                                     lassen Leute zu Wort kommen,                                        gelmäßig?
                                                                                                             Ich denke, dass man eigentlich nur bettelt, wenn man
                                     die einen Bezug dazu haben und
                                                                                                         es auch nötig hat. Ich würde mich nie hinstellen – weil ich
                                     freuen uns über Ihre Meinung unter                                  zum Glück reichlich zum Leben habe.
                                     redaktion@strassenkreuzer.info
                                                                                                         Thorsten Bach, Koordinator für Wohnungsfragen
                                                                                                         und Obdachlosigkeit der Stadt Nürnberg
                                     Umfrage:
                                     Daniela Ramsauer | daniela-ramsauer.com
                                     Ilse Weiß | strassenkreuzer.info
                                                                                     Foto: Maria Bayer

WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?   6                                                                                                                                     7   WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?
Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV
Foto: David Häuser
                                                                                                                                                                                                                                      ✻
                                                                                                                                                                                                                         Niemand hat es
                                                                                                                                                                                                                         verdient, von Almosen
                                                                                                                                                                                                                         leben zu müssen
                                                                                                                                                                                                                         Jedes Mal, wenn ich eine Frau oder einen Mann bettelnd in
                                                                                                                                                                                                                         der Öffentlichkeit sehe, löst das in mir eine Nachdenklichkeit
                                                                                                                                                                                                                         aus. Diese Menschen geben der sozialen Spaltung in unserer
                                                                                                                                                                                                                         Gesellschaft, ich betone ausdrücklich leider, ein trauriges
                                                                                                                                                                                                                         Gesicht. Ich sage ihnen häufig ein freundliches „Hallo“ oder
                                                                                                                                                                                                                         nehme bewusst kurz Blickkontakt auf. Ich bin der festen
                                                                                                                                                                                                                         Überzeugung, dass wir diesen Menschen auf Augenhöhe und
                                                                                                                                                                                                                         mit Würde begegnen müssen, niemand hat es verdient, von

                                                                      ✻
                                                                                                                                                                                                                         Almosen anderer leben zu müssen. Ich frage mich jedoch
                                                                                                                                                                                                                         auch: Wie kann es geschehen, dass dieser konkrete Mensch
                                                                                                                                                                                                                         in diese Situation geraten konnte? Trotz der vielfältigen Hilfs­

                                     Immer etwas                                                                                                                                                                         angebote für Menschen in Not?
                                                                                                                                                                                                                             Als Gewerkschaft wissen wir, dass wir in einem Land leben,

                                     im Zwiespalt
                                                                                                                                                                      ✻
                                                                                                                                                                                                                         in dem die soziale Spaltung zunimmt, was auch auf unseren
                                                                                                                                                                                                                         Straßen sichtbar ist. Das müsste aber nicht so sein und dafür
                                                                                                                                                                                                                         kämpfen wir auch an verschiedenen Stellen. Ein politisch
                                                                                                                                                                                                                         gewollter wachsender Niedriglohnsektor verursacht eine stei­

                                                                                                                                                     Ich habe das einmal
                                     Da mein Arbeitsplatz mitten in der Stadt ist, komme ich beim
                                                                                                                                                                                                                         gende Erwerbsarmut in Deutschland. Sie ist mit die höchste
                                     Weg zur U-Bahn häufig an Menschen vorbei, die betteln.
                                                                                                                                                                                                                         in ganz Europa. Es kann viele Gründe geben, warum jemand
                                     Meistens gebe ich den Menschen ein paar Münzen. Ich bin

                                                                                                                                                     selbst versucht
                                                                                                                                                                                                                         auf der Straße lebt und betteln muss.
                                     immer etwas im Zwiespalt, bei (nach meiner Einschätzung)
                                                                                                                                                                                                                             Klar ist jedoch: Das Risikopotential, materiell und gesell­
                                     „organisierten“ Bettlern, da ich mir nicht sicher bin, ob sie
                                                                                                                                                                                                                         schaftlich abzurutschen, muss endlich von der Politik mit
                                     das Geld überhaupt selbst behalten dürfen. Grundsätzlich
                                                                                                                                                                                                                         mutigen Entscheidungen verringert werden. Es ist offenbar
                                     denke ich: Menschen, die betteln, sind in Not und brauchen                                                      Ich registriere Bettler und entscheide dann, ob ich was gebe
                                                                                                                                                                                                                         so, dass mehr Arbeit keine Garantie für weniger Armut ist.
                                     Unterstützung.                                                                                                  oder nicht. Wie ich entscheide, das ist eine Mischung aus
                                                                                                                                                                                                                         Höhere Mindestlöhne, armutsfeste Renten, Abschaffung von
                                         Vor dem Studium war ich Krankenschwester und hatte                                                          Bauchgefühl und Lebenserfahrung. Oft werde ich von Teil­
                                                                                                                                                                                                                         ungesicherten Arbeitsverhältnissen und eine wirksame Miet­
                                     in meiner Tätigkeit in der Uniklinik Würzburg auch häufig                                                       nehmern unserer Stadtführungen gefragt, wie sie sich Bett­
                                                                                                                                                                                                                         preisbremse würde auch die Menschen schützen, die mir in
                                     Patient*innen, die „von der Straße kamen“ oder in sehr fi­                                                      lern gegenüber richtig verhalten können. Ob sie Geld oder
                                                                                                                                                                                                                         der Fußgängerzone in Nürnberg begegnen.
                                     nanziell eingeschränkten Verhältnissen gelebt haben. Die                                                        Lebensmittel geben sollen. Ich finde, das muss jeder für sich
                                                                                                                                                                                                                             Als demokratische Gesellschaft dürfen wir niemanden
                                     Gespräche mit den Menschen haben mir immer wieder deut­                                                         entscheiden. Die meisten Menschen betteln nicht, weil sie
                                                                                                                                                                                                                         zurücklassen, jede und jeder hat eine faire Chance verdient,
                                     lich gemacht, wie vielfältig sich Lebensläufe entwickeln und                                                    massiv hungern, sondern weil sie das Geld brauchen – wofür
                                                                                                                                                                                                                         und dafür gibt es keine numerische oder anderweitige Be­
                                     auch in Armut führen können.                                                                                    auch immer. Ich habe selbst fast zehn Jahre auf der Straße
                                                                                                                                                                                                                         grenzung. Solidarität ist der Kitt in unserer Gesellschaft.
                                         Als Hundebesitzerin bin ich außerdem häufig im Kon­                                                         gelebt und viel erlebt. Ganz am Anfang meiner Obdachlo­
                                     takt mit obdachlosen Hundehalter*innen und habe immer                                                           sigkeit habe ich selbst einmal versucht zu betteln – und es
                                                                                                                                                                                                                         Stephan Doll, Geschäftsführer des Deutschen
                                     wieder sehr gute Gespräche geführt und sehr selten auch                                                         ganz schnell wieder aufgegeben. Damals haben mich Punks
                                                                                                                                                                                                                         Gewerkschaftsbunds, Region Mittelfranken
                                     schwierige/fordernde Erfahrungen gemacht.                                                                       unterstützt, ich stand in ihrer Nähe und hab, wie sie, auch
                                         Grundsätzlich bevorzuge ich die Unterstützung von                                                           eine Schale auf den Boden gestellt. Aber bei mir lief nichts.
                                     Menschen, die z.B. den Straßenkreuzer verkaufen. Da gebe                                                        Ich denke der Grund war, ich habe mich so geschämt, dass ich
                                     ich gerne ein bisschen mehr Geld, um das Engagement der                                                         den Kopf immer gesenkt hielt. Die Punks haben gesagt, ich
                                     Menschen zu unterstützen und ihnen die Möglichkeit zu                                                           soll das lieber bleiben lassen. Ich habe später Pfandflaschen
                                     geben, ihr Einkommen etwas aufzustocken.                                                                        gesammelt, Handwerksarbeiten ausgeführt, dann angefangen
                                                                                                                                                     den Straßenkreuzer zu verkaufen. Seit einigen Jahren bin ich
                                     Christiane Paulus, Diplom-Pädagogin, seit 2008                                                                  hier beim Verein angestellt. Eine Wohnung hab ich längst
                                     ­Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrts­verbandes,                                                      auch wieder. Der Sache der Obdachlosen und Armen fühle
                                      Bezirksverband Mittelfranken                                                                                   ich mich weiterhin nahe. Ich engagiere mich dafür, dass jeder
                                                                                                                                                     als Mensch wahrgenommen wird, egal wie er oder sie lebt.

                                                                                                                                                     Klaus Billmeyer, Stadtführer bei „Schicht-Wechsel“,
                                                                                                                                                     ­Verkäufer und Pfandbeauftragter beim Straßenkreuzer e.V.
                                                                                                     Foto: Wolfgang Gillitzer

WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?   8                                                                                                                                                                                   9                           WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?
Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV
✻
                                                                                                    Die Ausübung
Foto: Harald Sippel

                                                                                                    hat Grenzen

                                                                                                                                                          Bettelt
                                                                                                    Auch in Erlangen gibt es Menschen, die versuchen,
                                                                                                    sich mit Betteln (teilweise) ihren Lebensunter­
                                                                                                    halt zu finanzieren. Ich halte es für sehr wichtig,
                                                                                                    Menschen zu helfen, deshalb stehen wir im engen
                                                                                                    Austausch mit Einrichtungen wie der Bahnhofs­
                                                                                                    mission. Die Ausübung des Bettelns hat jedoch
                                                                                                    dort seine Grenzen, wo Bürger*innen durch Ver­
                                                                                                    haltensweisen der Bettler im öffentlichen Raum

                                                                                                                                                          leise!
                                                                                                    bedrängt werden. Insbesondere aggressives oder
                                                                                                    organisiertes Betteln ist nicht möglich und wird
                                                                                                    von den Sicherheitsbehörden verfolgt.

                                                                                                    Dr. Florian Janik (SPD), Sozialwissenschaftler,
                                                                                                    seit 2014 Oberbürgermeister der Stadt Erlangen

                                                                                                                                                          Auf der Suche nach den Banden mit den Bettel-

                                    ✻
                      Die Beschwerden
                                                                                                                                                          schalen landet man schnell in schlammigen
                                                                                                                                                          rumänischen, bulgarischen oder mazedo-
                                                                                                                                                          nischen Dörfern. Und im Rechts- und Wirt-
                                                                                                                                                          schaftsausschuss der Stadt Nürnberg.

                      landen auf meinem
                      Schreibtisch
                      Bei der Stadt Nürnberg gibt es in regelmäßigen Abständen
                      Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern, die sich von bet­
                      telnden Menschen in der Innenstadt belästigt fühlen. Gerade
                                                                                                      ✻
                                                                                         Niemand sollte                                                      H          at er die 50 Cent verdient? Der schmutzver­         das Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung beeinträch­

                                                                                                                                                                                                                                                                                             Abb.: Bettelnde Frau mit Krücken, nach Jacques Callot (commons.wikimedia.org)
                      in der Adventszeit erhalten wir auch ähnliche Rückmeldungen
                      von Besucherinnen und Besuchern des Christkindlesmarkts,                                                                                          schmierte Mann mit dem pockennarbigen               tigen“. Für die organisierte Bettelei kann allerdings Stefan

                                                                                         vor einem Menschen
                      die von auswärts kommen.                                                                                                                          Gesicht, humpelt, auf seine Krücke gestützt,        Heidenblut, der als Hauptkommissar für die Nürnberger In­
                          Fast immer landen die Schreiben auf meinem Schreib­                                                                             zielstrebig heran. Oder die beiden jungen Männer, die be­         nenstadt zuständig ist, kein konkretes Beispiel liefern. Ab
                      tisch. Den Leuten geht es dabei vor allem um aggressives                                                                            schriftete Plastikbecher vor sich aufstellen: Spenden Sie für     und an gingen bei seiner Dienststelle Hinweise ein, etwa dass
                      und bedrängendes Verhalten von Bettlern, das sie als unan­
                      genehm empfinden. Betteln ist im öffentlichen Raum, also
                      zum Beispiel in der Fußgängerzone, zunächst einmal nicht
                                                                                         knien                                                            Bier, Hasch, gute Laune oder Essen! Bettler mit Humor, das
                                                                                                                                                          geht dann wohl doch zu weit. Bettler gehören in Nürnberg
                                                                                                                                                          – wie in vielen anderen Großstädten auch – zum Stadtbild.
                                                                                                                                                                                                                            mehrere Personen beim Einsteigen in ein Fahrzeug beobach­
                                                                                                                                                                                                                            tet wurden. „Natürlich werden wir hellhörig und überprüfen
                                                                                                                                                                                                                            das“, sagt Heidenblut. Doch die Hinweise verlaufen sich oft im
                      verboten –die Konfrontation mit in Not geratenen Menschen          Es gibt eine Gruppe Bettler, denen ich nichts geben mag: die,    Rosen-Bettler, Wertstoffhof-Piraten oder einfach nur die Bet­     Nichts, eine Bettelbande wurde in letzter Zeit nicht gefasst.
                      muss einer Gesellschaft auch zuzumuten sein.                       die knien. Anfangs habe ich versucht, darüber zu diskutieren,    telbande – erscheint ihr Auftreten in der Öffentlichkeit beson­
                          Anders ist es aber dann, wenn Menschen keine Chance ha­        dass niemand vor einem Menschen knien sollte, aber das           ders massiv, werden vermeintliche Bettelgruppen unter wenig
                                                                                                                                                          schmeichelhaften Sammelbegriffen zusammengefasst. Doch            Mit verdrehten Beinen unter w e g s
                      ben, den Bettelnden auszuweichen oder massiv zu Geldspen­          scheiterte oft an Sprach- und Verständnisschwierigkeiten.
                      den aufgefordert werden. In diesen und vor allem in Fällen         Ansonsten versuche ich, wenn ich Zeit habe, mit den Bet­         woher kommen diese Menschen – und warum schnappt man              Auch das Ordnungsamt kontrolliert in Zusammenarbeit mit
                      des bandenmäßigen Bettelns stimmen wir uns regelmäßig mit          telnden ins Gespräch zu kommen. Wenn es passt, weise ich         ihre Anführer nicht? Fragt man bei der Polizei und den zu­        der Polizei, wer und auf welche Art und Weise in der Stadt
                      der Polizei ab, tauschen unsere Erkenntnisse aus und gehen         auf die Angebote des Straßenkreuzers hin. Es gab Menschen,       ständigen Ämtern nach, kommen eher unkonkrete Antworten.          bettelt. „Betteln ist im öffentlichen Raum, also zum Beispiel
                      gezielt gegen diese Fallkonstellationen vor.                       die wir auf diese Weise als Verkäufer gewonnen haben. Mit            „Seit vielen Jahren treten in Nürnberg nicht nur ‚ortsan­     in der Fußgängerzone, zunächst einmal nicht verboten – die
                                                                                         wem ich gerne rede und denen ich gerne gebe, sind Punker.        sässige‘ Bettler auf, sondern regelmäßig auch organisierte,       Konfrontation mit in Not geratenen Menschen muss einer
                      Katrin Kurr, Leiterin des Ordnungsamts der Stadt Nürnberg          Mir gefällt ihre Weigerung, sich ans bürgerliche Konsumleben     zumeist osteuropäische Personengruppen, die immer wieder          Gesellschaft auch zuzumuten sein“, äußert sich Kartin Kurr,
                                                                                         anzupassen. Sie sind meist sehr witzig und selbstironisch und    durch neue Bettelvarianten sowie teilweise auch aggressives       die Leiterin des Ordnungsamts der Stadt Nürnberg dazu (sie­
                                                                                         ihr Leben auf der Straße ist oft eher eine Durchgangsphase.      Verhalten auffallen“, diese Auskunft gibt Kriminalhauptkom­       he auch ihren Beitrag zur Umfrage auf Seite 10). Das „stille
                                                                                                                                                          missar Peter Sandmann von der Pressestelle des Polizeiprä­        Betteln“, zur Abwendung einer persönlichen oder sozialen
                                                                                         Walter Grzesiek, Journalist und                                  sidiums Mittelfranken. Laut Polizei käme es im Umfeld dieser      Notlage, wird im Ballungsraum geduldet. Doch die Grenze
                                                                                         1. Vorstand des Straßenkreuzer e. V.                             Personen „zwangsläufig zu Sicherheitsstörungen beziehungs­        zum Betrugsdelikt ist laut Polizei fließend: Reist ein Perso­
                                                                                                                                                          weise zu straf- oder ordnungsrechtlichen Verfehlungen, die        nenkreis organisiert oder gruppenweise von außerhalb eigens

                      WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?                                10                                                                                                                                      11                                WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?
Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV
Foto: Christine Dierenbach/Presse und Informationsamt Stadt Nürnberg
        zum Betteln an, ist das schon keine persönliche oder soziale
        Notlage mehr. Beim Vortäuschen einer Behinderung liegt
                                                                           überleben. „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich
                                                                           seines eigenen, zu verlassen“, steht in der Allgemeinen Er­
                                                                                                                                                                                                                                                                                                           ✻
                                                                                                                                                                                                                                                                                            Echte Armut kann
                                                                                                                                                                                                                                                                                            uns nicht kalt lassen
        eindeutig eine Straftat vor. „Sowas gibt es schon“, sagt Kom­      klärung der Menschenrechte, die von allen europäischen
        missar Stefan Heidenblut dazu. In der Innenstadt sei mal ein       Staaten unterzeichnet worden ist. Ausnahmen gibt es laut
        Bettler überführt worden, der mit einer verkürzten Krücke          dem UN-Zivilpakt „zum Schutz der nationalen Sicherheit,
        und verdrehten Beinen unterwegs war – obwohl er keine Be­          der öffentlichen Ordnung, der Volksgesundheit (…) oder der
        hinderung oder Verletzung hatte. Bei der Personenkontrolle         Rechte und Freiheiten anderer.“ Dass jemand nicht genug                                                                                                                                                          Betteln hat natürlich verschiedene Dimensionen. Organisierte
        von nicht ortsansässigen Bettlern käme es auch manchmal            Geld hat oder der falschen Nationalität angehört, kann also                                                                                                                                                      Bettelbanden sind ein großes Ärgernis. Gegen dieses Phäno­
        vor, dass die Betroffenen aus demselben Dorf stammen. „Das         kein gültiges Kriterium sein, um ihn der Fußgängerzone zu                                                                                                                                                        men gehen die Polizei und das Ordnungsamt entschieden vor.
        kann eine organisierte Bande sein, aber auch Familien, die         verweisen. Immerhin im Sinne der Volksgesundheit handelten                                                                                                                                                       Die andere Dimension, das Betteln aus echter Armut, kann
        sich zusammentun“, meint Heidenblut.                               die Bettelnden während der Corona-Pandemie: „In der Zeit                                                                                                                                                         uns nicht kalt lassen. Der Unterschied ist für Bürgerinnen und
            Könnte es auch sein, dass hier einfach von armen Men­          des Lockdowns waren die Innenstädte wenig bis gar nicht                                                                                                                                                          Bürger teilweise nur schwer auszumachen. Anstatt Bettlern
        schen die Rede ist, die Geld brauchen? Diese These vertritt        bevölkert“, so das Polizeipräsidium Mittelfranken. Die Nürn­                                                                                                                                                     Geld zu geben, kaufe ich persönlich lieber einen Straßenkreu­
        das Buch „Betteln fordert heraus“, das im österreichischen         berger Polizei bezeichnet gruppenweises oder organisiertes                                                                                                                                                       zer. Das unterstützt den Verkäufer oder die Verkäuferin – und
        Mandelbaum Verlag erschienen ist. Die Autoren begleiten            Betteln als „sozialschädlich“, was wohl dem Punkt „Schutz                                                                                                                                                        hilft, dass das Projekt Straßenkreuzer, das seit 1994 läuft,
        Menschen, die sie beim Betteln in Fußgängerzonen getrof­           der öffentlichen Ordnung“ in der Menschenrechtserklärung                                                                                                                                                         erfolgreich weitergehen kann.
        fen haben, zurück in ihre Heimat. Die Reisen führen in ab­         nahekommt. Deshalb sei in diesem Fall „grundsätzlich der
        geschiedene Dörfer mit Namen wie Pauleasca in Rumänien,            Tatbestand der Ordnungswidrigkeit unzweifelhaft erfüllt“,                                                                                                                                                        Marcus König (CSU), Bankkaufmann,
        Novi Sad in Serbien oder Prilep in Mazedonien. Wenn auch           schreibt die Nürnberger Polizei. Schon im Oktober 2019, da­                                                                                                                                                      seit 2020 Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg
        in verschiedenen Ländern, die Dorfszenerien gleichen sich.         mals noch als Stadtrat, sah Nürnbergs Oberbürgermeister
        Unbefestigte Straßen, vom Regen und Schnee durchweichte            Marcus König in dieser Art des Bettelns „eine Beeinträchti­

                                                                                                                                                                                                                                 ✻
                                                                           gung des Sicherheitsempfindens der Nürnbergerinnen und
Könnte es auch sein, dass hier                                             Nürnberger“ und brachte das Thema vor den Rechts-und
                                                                           Wirtschaftsausschuss der Stadt Nürnberg. Das Nürnberger
einfach von armen Menschen
                                                                                                                                                                                                                   51 Verwarnungen
                                                                           Ordnungsamt konnte in einer gemeinsamen Bewertung mit
die Rede ist, die Geld brauchen?                                           der Polizei „keine signifikante Zunahme oder Intensivierung
                                                                           des Bettelns in Nürnberg“ feststellen. Wegen des Lockdowns
        Papphäuser mit „Holzhöfen“, die hierzulande gar nicht als
        solche erkennbar, geschweige denn beheizbar wären. Glaubt
                                                                           ist es Ende 2020 sogar in der Weihnachtszeit, in der sonst
                                                                           nach Angaben der Polizei „osteuropäische Bettler vermehrt                                                                               im Stadtgebiet
                                                                                                                                                                                                                   ausgesprochen
        man dem, was die Menschen erzählen, haben ihre Staaten sie         auftreten“, ruhig geblieben. So bleibt die Frage offen: Warum
        abgeschrieben. Zu entlegen sind die Armutsgegenden, es gibt        sagt keiner, dass es kein Problem mit Bettelbanden gibt?
        keine Verkehrsanbindung von dort zu Orten, wo es Arbeit                „Die Städte versuchen die Bettler zu vertreiben. Mit nebu­
        gibt, staatliche Hilfsgelder würden ohne ersichtliche Erfolge      lösen Argumenten gegen nebulöse Banden“ – so empfinden                                                                                  Bei aggressivem Betteln und entsprechenden Beschwerden
        im Nichts versickern. Die Mitte 20-jährige Narcissa etwa, die      es die Autoren von „Betteln fordert heraus“. Anstatt im Nebel                                                                           wird die Polizei informiert und Hausverbote bei U-Bahnanla­
        ein Reporterteam des TV-Senders Arte gemeinsam mit ihrer           zu stochern, sollten wir uns persönlich auseinandersetzen mit                                                                           gen u.ä. erteilt. Ansonsten erfolgt bei angetroffenen Bettlern

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      ✻
        Schwester in der Münchner Fußgängerzone kennengelernt              dem Thema. Angst, Abscheu, Mitleid, Verständnis oder Rat­                                                                               eine Verwarnung wegen eines Verstoßes nach der Sondernut­
        hat, sagt: „Wir kommen hierher, um für uns ein bisschen Geld       losigkeit – Betteln erzeugt Gefühle bei uns. Oft keine guten.                                                                           zungssatzung der Stadt Fürth. Als Verwarnungsgebühr wird
        zu verdienen. Wir können von nichts leben in Rumänien.“ Also       Doch immerhin die sollten wir uns zumuten.                                                                                                                   das angetroffene und abgenommene Bet­
        reisen Menschen wie Narcissa ins Ausland, nach Deutschland                                                                                                                                                                          telgeld festgesetzt. Für das abgenom­

                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Ich versuche so viel
                                                                           Daniela Ramsauer | Freie Journalistin, daniela-ramsauer.com
        oder Österreich, um dort zu betteln. Sie kaufen sich selbst                                                                                                                                                                           mene Geld werden dem Betroffenen
        eine Bus- oder Bahnfahrkarte oder organisieren die Anfahrt                                                                                                                                                                              vor Ort dann eine Quittung und eine

                                                                                                                                                                                                                                                                                                   zu geben, wie ich kann
                                                                                                                                            Foto: Willi Ebersberger / Stadt Fürth, Presseamt
        gemeinschaftlich mit dem Auto. Narcissas Fahrer aus dem                                                                                                                                                                                 Verwarnung übergeben. Bis jetzt
        rumänischen Dorf Tufano wird für seine Chauffeurdienste be­        Die erwähnte Sendung des TV-Senders Arte können Sie
                                                                           hier ansehen: arte.tv/de/videos/084750-007-A/re-die-bettler-                                                                                                          wurden in diesem Jahr (gemeint ist
        zahlt. 80 Euro pro Weg verlangt er. Es gibt Fahrdienste, die die                                                                                                                                                                        2020, Anm. der Red.) 51 Verwarnun­
        Menschen für weniger Geld nach Deutschland bringen. Doch           aus-der-walachei/
                                                                                                                                                                                                                                                gen im Stadtgebiet ausgesprochen.                  Schon die islamische Lehre schreibt den Muslimen vor, dass
        ihrem Dorfmitbewohner scheinen die Menschen aus Tufano                                                                                                                                                                                  Zugleich werden offensichtlich be­
        mehr zu vertrauen. So sehr, dass sie ihm Einnahmen mitge­          „Betteln fordert heraus.“                                                                                                                                                                                               die Wohlhabenden auf die Armen aufpassen sollten. Im Hei­
                                                                           Johannes Dines, Helmut P. Gaisbauer, Michael König,                                                                                                                  dürftige Menschen auf die Möglich­                 ligen Koran beispielsweise sagt Gott: „..und schilt nicht den
        ben, während sie weiter im Ausland zum Betteln bleiben. „Oft                                                                                                                                                                           keit der Unterstützung in der städti­
        bringe ich ihr Geld nach Hause, sie haben Angst, dass es ihnen     Clemens Sednak& P. Virgil Steindlmüller.                                                                                                                                                                                Bettler“ (Sure 93 Vers 11). Den Muslimen wird damit sinn­
                                                                           Mandelbaum Verlag, Wien 2015. 14,90 Euro                                                                                                                           schen Wärmestube oder in der evang.                  gemäß mitgeteilt: „Falls ein Bettler zu euch kommt, dann
        weggenommen wird“, erzählt der Fahrer dem Arte-Filmteam.                                                                                                                                                                            Bahnhofsmission hingewiesen.
        Könnte das eine Erklärung sein für die „Geldübergaben“, die                                                                                                                                                                                                                                sollt ihr ihm etwas geben und ihn nicht einfach wegschicken.“
        sich vor mysteriösen Lieferwagen in Innenstädten abspielen?                                                                                                                                                                                                                                Wenn ein Tier im Namen Allahs geopfert wird, soll ein Teil des
                                                                                                                                                                                                                                                        Dr. Thomas Jung (SPD),                     Fleisches an die Armen verteilt werden – das lehrt der heilige
                                                                                                                                                                                                                                                         Jurist, seit 2002                         Prophet Mohammad. Diese Stellung nimmt der Islam bezüg­
        Tatbesta n d d e r O rdnu ng s w i dri g ke it
                                                                                                                                                                                                                                                         Oberbürgermeister der                     lich des Umgangs mit Bettelnden ein. Auch meine persönliche
        Die Einreise der Bettelnden erfolgt in der Regel legal und                                                                                                                                                                                       Stadt Fürth
        unspektakulär: Sind sie an der Landesgrenze angekommen,                                                                                                                                                                                                                                    Meinung entspricht dieser Lehre. Wenn ich unterwegs bin und
        zeigen sie ihre Ausweise und fahren rüber. Um sich dann in                                                                                                                                                                                                                                 von einem Bettler angesprochen werde, versuche ich so viel
        den Fußgängerzonen der Großstädte niederzulassen und                                                                                                                                                                                                                                       zu geben, wie ich kann.
        ihr Geld als Bettler zu verdienen. Bei einem vierwöchigen
        Aufenthalt kommen rund 200 bis 300 Euro zusammen. Das                                                                                                                                                                                                                                      Shergil Ahmad Khan, Imam der
        reicht aus, um ein bis zwei Monate an den Armutsorten zu                                                                                                                                                                                                                                   Ahmadiyya Muslim Gemeinde Nürnberg

WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?                                       12                                                                                                                                                                                                                13                                  WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?
Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV
✻
                                                                 Wir haben den
                                                                                                                                                  ✻
                                                                                                                                  Als Sondernutzung
                                                                 Geldmann getroffen!                                              grundsätzlich verboten
                                                                 Es gibt viele Bezeichnungen für Menschen, die in Armut           Es berührt mich immer wieder                             unter bestimmten Umständen ge­
                                                                 leben, am untereren Ende einer unsichtbaren, aber spürba­        sehr, wenn ich Menschen sehe,                            duldet, zum Beispiel wenn es zur
                                                                 ren gesellschaftlichen Skala. Mittellose Menschen, die ihre      die ihren Lebensunterhalt durch                          Abwendung einer persönlichen so­
                                                                 Anonymität verlassen und im öffentlichen Raum Passan­            Betteln oder Stöbern im Müll nach                        zialen Notlage geschieht. Hierbei
                                                                 ten, die auf ihrem Weg zur Arbeit, zu einer Veranstaltung        Pfandflaschen aufbessern müssen.                         handelt es sich häufig um ortsan­
                                                                 oder in ein Geschäft sind, ansprechen, anbetteln oder auch       Jeder sollte über ein Einkommen                          sässige Personen.
                                                                 anschnorren. Dieser Akt des Bettelns gestaltet sich ganz         verfügen, von dem er leben kann.                             Für „organisiertes Betteln“ reist
                                                                 unterschiedlich. Mal voller Demut, mal fordernd, selbstbe­       Wenn ich in den Straßen unterwegs                        meist ein bestimmter Personenkreis
                                                                 wusst und manchmal auch schon fast aggressiv.                    bin, versuche ich aber sehr wohl zu                      organisiert und gruppenweise von
                                                                     Meistens begenet man Bettlenden in den Einkaufs­             unterscheiden, ob jemand hilfsbe­                        außerhalb eigens zum Betteln an.
                                                                 straßen, also dort, wo wir hingehen, um Geld auszugeben          dürftig ist oder ob möglicherweise                       Den bettelnden Personen wird das
                                                                 und wo das Portmonnaie etwas lockerer sitzt. Beim Gang           eine „professionelle“ Bettelorgani­                      Geld von den dahinter stehenden
                                                                 durch eine Einkaufsstraße sind unsere Blicke oft so abge­        sation dahinter steckt. Im ersteren                      „Drückern“ meist sofort wieder ab­
                                                                 stumpft, dass wir die bettelnden Personen schon gar nicht        Fall lade ich Menschen schon mal                         genommen. Dieses Verhalten wird
                                                                 mehr wahrnehmen. Und wenn man die Bettler dann doch              zum Essen ein oder gebe Geld da­                         nicht geduldet und bei einer poli­
                                                                 sieht, legt man ein wenig an Geschwindigkeit zu oder wählt       für. Im Übrigen richtet sich meine                       zeilichen Kontrolle wird der Bettel­
                                                                 einen anderen Weg, um nicht angesprochen zu werden.              Spendenbereitschaft das gesamte                          erlös sichergestellt und mit einer
                                                                 Man flüchtet vor einer Situation, die man als unangenehm         Jahr über an seriöse Organisatio­                        Ordnungswidrigkeitsanzeige an die
                                                                 empfindet. Der arme Mensch, der um ein Almosen bittet,           nen, die Menschen in Not helfen.                         Stadt Nürnberg weitergeleitet.
                                                                 konfrontiert uns mit einem Lebensweg, der gegebenenfalls             Betteln ist nach dem bayeri­
                                                                 auch der eigene hätte sein können. Ein Lebensweg, der in         schen Straßen- und Wegegesetz                            Roman Fertinger,
                                                                 unserer reichen Gesellschaft möglich ist und hingenom­           als Sondernutzung grundsätzlich                          Polizeipräsident Polizeipräsidium
                                                                 men wird.                                                        verboten. Das sogenannte „stille                         Mittelfranken
                                                                     In der Straße, in der ich wohne, gibt es relativ viele       Betteln“ wird seitens der Polizei
                                                                 Bettler. Meistens sind sie im vorderen Teil, da, wo die vielen

                                                                                                                                                                        ✻
                                                                 Geschäfte sind. In den hinteren, eher ruhigeren Teil verirrt
                                                                 sich eher selten ein Bettler. Und doch gab es da einen, der
                                                                 meistens um die selbe Uhrzeit vor dem Bio-Laden stand.
                                                                 Irgendwann kannte ich ihn, die Anonymität war aufgeho­
                                                                 ben, wegsehen ging nicht mehr. Am Anfang gab ich ein paar
                                                                 Cent, später dann ein paar Euro und irgendwann unter­                                    Weil ich es mir
                                                                                                                                                          leisten kann
                                                                 hielten wir uns. Ich nahm mir zehn Minuten Zeit und hörte
                                                                 ihm zu, wie er über sein Leben erzählte. Er ist krank und
                                                                 lebt überwiegend im nahegelegenen Obdachlosenheim.
                                                                     An einem Abend komme ich mit meiner damals fünfjäh­

                                                                                                                                       Foto: Gerd Grimm
                                                                 rigen Tochter vom Schwimmkurs. Der Bettler ist wieder an
                                                                 seinem Stammplatz, wir wechseln ein paar Worte, ich gebe
                                                                 ihm zwei Euro und wir wünschen uns einen schönen Abend.
                                                                 – „Papa, warum hast Du dem Mann Geld gegeben?“ Kinder­
                                                                 fragen sind entwaffnend und verlangen nach einfachen,
                                                                 klaren Antworten: „Weil es dem Mann nicht so gut geht wie
                                                                 uns und er kein Geld hat. Deshalb geben wir ihm einfach
                                                                 ein bisschen ab.“ – „Aha.“ – Als wir wenig später in unserer
                                                                 Wohnung sind, erzählt meine Tochter meiner Frau von der
                                                                 kurzen Begegnung mit ihren eigenen Worten. „Wir haben
                                                                 den Geldmann getroffen und Papa hat ihm was abgegeben.“
                                                                     Geldmann. Nicht Bettler. Ein Wort, das alles auf den
                                                                 Kopf stellt und etwas ganz Wichtiges beinhaltet: Es gibt
                                                                 dem bittenden Menschen ein Stück Würde zurück. Gibt
                                                                 man ein Almosen, so ist da immer ein Gefälle zwischen Ge­                                Ich bewerte Betteln nicht. Ich denke immer, ich gebe etwas,
                                                                 ber und Nehmer. Der „Geldmann“ hingegen hat fast etwas                                   weil ich es mir leisten kann. Es steht mir nicht zu damit ei­
                                                                 von einem Banker. Worte können manchmal sehr wirkungs­                                   nen erzieherischen oder gar für mich erhöhenden Effekt
                                                                 mächtig sein und Denkprozesse in Gang setzen. Gut so.                                    zu erzielen.

                                                                 André Winkel, Pressesprecher                                                             Manuela Bauer, Sozialpädagogin, Leiterin der
                                      Foto: Wolfgang Gillitzer

                                                                 Servicebetrieb Öffentlicher Raum Nürnberg                                                ­Ökumenischen Wärmestube Nürnberg

WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?   14                                                                                               15                                                   WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?
Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV
Foto: Wolfgang Gillitzer

                                                                                                                            ✻
                                                                                                         Organisierte Bettler­
                                                                                                                                                                                                              ✻
                                                                                                                                                                                                      Not macht
                                                                                                         gruppen tauchen im                                                                           erfinderisch
                                                                                                         Stundentakt auf                                                                              Wie ich mit Bettlern umgehe? Offen gesagt: So, wie sie mit
                                                                                                                                                                                                      mir umgehen. Damit meine ich natürlich keine unterwürfige
                                                                                                                                                                                                      Geste oder demütige Ansprache, aber sehr wohl, dass ich
                                                                                                         Die Frage nach dem Umgang mit Bettlern kann ich nicht mit
                                                                                                                                                                                                      von der Art oder Begründung der Bitte angesprochen wer­
                                                                                                         einem Satz beantworten. Es ist ein sensibles Thema, das diffe­
                                                                                                                                                                                                      de. Wenn das der Fall ist, dann gebe ich. Gerne und auch
                                                                                                         renziert betrachtet werden sollte. Ich mache es mal an meiner
                                                                                                                                                                                                      ungeachtet dessen, dass ich durchaus schon die Erfahrung
                                                                                                         beruflichen und privaten Haltung fest.
                                                                                                                                                                                                      machen musste, angelogen worden zu sein. Der Volksmund
                                                                                                             Als Pfarrer in einer Gemeinde habe ich gelegentlich mit
                                                                                                                                                                                                      sagt, „Not macht erfinderisch“. Niemandem steht es zu, über
                                                                                                         Menschen zu tun, die um eine Geldspende bitten. Die Geld­
                                                                                                                                                                                                      echte Not zu urteilen.
                                                                                                         mittel, die ich hier zur Verfügung habe, kommen letztlich
                                                                                                         aus Spenden. Das heißt, ich habe hier die Verantwortung, die
                                                                                                                                                                                                      Thomas Beyer, Professor für Recht in der
                                                                                                         Gelder im Sinn der Spender zu verwenden und das bedeutet:
                                                                                                                                                                                                      Sozialen Arbeit an der TH Nürnberg,
                                                                                                         Um existenzielle Not zu lindern und in prekären Situationen
                                                                                                                                                                                                      Landesvorsitzender der
                                                                                                         zu helfen.
                                                                                                                                                                                                      Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Bayern
                                                                                                             Die Bitten um Unterstützung sind zum Teil plausibel oder
                                                                                                         können sogar belegt werden. Zum Teil aber erlebe ich auch,
                                                                                                         dass Menschen aus organisierten Bettlergruppen im Stun­
                                                                                                         dentakt im Pfarrbüro auftauchen und ausdrücklich Unter­
                                                                                                         stützung in Form von Bargeld möchten. Wofür dieses Geld
                                                                                                         dann verwendet wird, kann niemand mehr nachprüfen und
                                                                                                         nachvollziehen. In unserer Pfarrgemeinde haben wir deshalb
                                                                                                         die klare Regel, dass Menschen in Notsituationen Einkaufs­
                                                                                                         gutscheine für Lebensmittel, Hygieneprodukte usw. erhalten
                                                                                                         können, allerdings nicht für Alkohol und Zigaretten. Bargeld
                                                                                                         geben wir grundsätzlich nicht. Ich sehe mich hier klar in der
                                                                                                         Pflicht den Spendern gegenüber.
                                                                                                             Als Privatperson handhabe ich das auch anders und gebe
                                                                                                         Geld, auch in dem Wissen und auch auf die Gefahr hin, dass

                                            ✻
                                                                                                         dieses Geld eventuell anders verwendet wird, als ich es mir
                                                                                                         wünschen würde. Natürlich möchte ich, dass meine Spende
                                                                                                         dazu beiträgt, existenzielle Not zu lindern, dass ein Mensch

                           So respektvoll wie
                                                                                                         eben das Nötigste zum Leben erhalten kann, hauptsächlich
                                                                                                         Lebensmittel. Andererseits gehört zu einer Spende auch, dass
                                                                                                         sie freiwillig ist und nicht an Bedingungen geknüpft. Meine

                           mit jedem anderen                                                             Freiheit ist es, einem Menschen Geld zu geben oder auch
                                                                                                         nicht. Seine Freiheit ist es dann, dieses Geld so zu verwenden,
                                                                                                         wie er es für richtig hält.
                           Ich gehe – sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern – mit
                           Bettlern so respektvoll um, wie ich es mit jedem anderen Menschen             Andreas Lurz, seit 2007 Pfarrer der Pfarrei Verklärung
                           auch tue. Ein Lächeln, ein Nicken, nette Worte austauschen – all              Christi in Nürnberg, seit 2020 Stadtdekan der Katholischen
                           das kann dem Gegenüber ein gutes Gefühl geben und ihm zeigen,                 Stadtkirche Nürnberg
                           dass er genauso wahrgenommen wird. Klar ist aber auch, dass diese
                           Gesten kein Essen bezahlen. Daher verbinde ich den menschlichen
                           Aspekt – gerade in den kalten Monaten – auch immer wieder mit dem
                           finanziellen und spende Geld. Wovon ich die Spende abhängig ma­
                           che, kann ich dabei gar nicht beantworten. Das ist ein Bauchgefühl,
                           die Situation, vielleicht ein kreativer Spruch – hier ist jedem selbst
                           überlassen, welche Beweggründe er dafür hat, Geld zu geben. Für
                           mich steht fest: Gerade in Zeiten, die von einem alles beherrschen­
                           den Thema dominiert werden, dürfen wir den Blick für die finanziell
                           benachteiligten Menschen nicht verlieren.

                           Christoph Hegen, Leiter NORMA Logistikzentrum Fürth
                                                                                                                                                                           Foto: Wolfgang Gillitzer

                           WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?                                           16                                                                                                                                                              17   WIE GEHEN SIE MIT BETTLERN UM?
Wie gehen Sie mit Bettlern um? - Straßenkreuzer eV
Foto: Antoine Doyen [Getty Images]
Alle Bäder dieser Welt!

                                                                                                                                                                                                                                  Warme Mahlzeiten im
                                                                                                                                                                                                                                  Corona-Abstand
                                                                                                                                                                                                                                  In Dortmund versorgen soziale Initiativen Bedürftige im Zelt

                                                                                                                                                                                                                                  A
                                                                                                                                                                                                                                          n einem warmen, trockenen Ort in      für einen warmen Eintopf, Kaffee und Ku­                Soziologe Jean Ziegler kritisiert die
                                                                                                                                                                                                                                          Ruhe essen können – was in den        chen. Vor dem Eingang sind Markierungen                 EU-Flüchtlingspolitik
                                                                                                                                                                                                                                          eigenen vier Wänden selbstver­        auf dem Boden für den nötigen Abstand

                                                                                                       ©DIANA
Stammhaus - Freiligrathstraße 30 - 90482 Nürnberg - Tel. 0911 54 09 262
                                                                                   www.sanitaer-heinze.com            Wohnungslos                                                                                                 ständlich erscheint, ist für Wohnungslose
                                                                                                                                                                                                                                  im Winter oft unerreichbarer Luxus. Und
                                                                                                                                                                                                                                                                                beim Warten angebracht, wer hineinwill,
                                                                                                                                                                                                                                                                                muss seine Hände desinfizieren und die
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        „Ursula von der Leyen
Bäderloft - Sigmundstraße 110 - 90431 Nürnberg - Tel. 0911 300 1130 180
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        gehört vor Gericht“
                                                                                                                      oder kurz davor?                                                                                            wegen der Corona-Pandemie bleiben in
                                                                                                                                                                                                                                  ganz Deutschland auch im Winter viele
                                                                                                                                                                                                                                                                                Temperatur messen lassen. Wer keine
                                                                                                                                                                                                                                                                                Maske hat, bekommt eine. Das Essen ho­                  Der Genfer Soziologe Jean Ziegler hat
                                                                                                                                                                                                                                  soziale Einrichtungen, die ansonsten Es­      len die Besucher an der Theke und setzen                die Flüchtlingspolitik der EU scharf kri­
                                                                                                                      Hilfen für Menschen in Wohnungsnot:                                                                         sen, Beratung und einen Platz zum Auf­        sich an die im Corona-Abstand aufgestell­               tisiert. „Die EU verstößt gegen die Men­
                                                                                                                         – Persönliche Beratung                                                                                   wärmen bieten, geschlossen. In Dortmund       ten Einzeltische. Kaffee, Tee und Wasser                schenrechte, ihre Präsidentin Ursula
                                                                                                                         – Begleitetes Wohnen                                                                                     haben sich die sozialen Vereine, darunter     schenken die ehrenamtlichen Helfer dann                 von der Leyen gehört vor den Interna­
                                                                                                                         – Betreutes Wohnen für Menschen                                                                          die Straßenzeitung bodo, und die Stadt­       am Platz aus. Am ersten Tag im Novem­
   Hilfe für Menschen in seelischen Notlagen                                                                                mit psychischer Erkrankung
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        tionalen Strafgerichtshof in Den Haag“,
                                                                                                                                                                                                                                  verwaltung deshalb zusammengetan und          ber, als das Großzelt den Betrieb aufnahm,              sagt der bekannte Kapitalismus- und
   365 Tage im Jahr. 9:00 – 24:00 Uhr                                                                                    – Begleitetes Wohnen in Pensionen                                                                        eine Winternothilfe auf die Beine gestellt:   war Bernd schon seit sieben Uhr morgens                 Globalisierungskritiker im Interview mit
   Kostenlos und unbürokratisch
                                                                                                                                                                                                                                  Seit Mitte November ist in der Dortmunder     vor Ort und lobte das Hilfsangebot: „Die                der Schweizer Straßenzeitung Surpri­
   Telefon 0911 / 42 48 55-0                                                                                          Beratungszentrum Christine-Kreller-Haus
                                                                                                                      Krellerstraße 3 (1. Stock), 90489 Nürnberg                                                                  Innenstadt ein beheiztes Großzelt aufge­      Leute würden das ohne auch nicht über                   se. Denn die geschlossenen EU-Außen­
   Telefon 0911 / 42 48 55-20 (in russisch)                                                                                                                                                                                       baut, in dem warmes Essen und Getränke        den Winter schaffen. Du kannst nicht den                grenzen machten es den Geflüchteten
                                                                                                                      T. (0911) 37 654-300 / F. (0911) 37 654-291
   Telefon 0911 / 42 48 55-60 (in türkisch)                                                                           wohnungsnot@stadtmission-nuernberg.de                                                                       an Bedürftige ausgegeben werden. Das Ge­      ganzen Tag draußen sein und dich dann                   unmöglich, ihr im Asylrecht verankertes
                                                                                                                      www.stadtmission-nuernberg.de                                                                               lände, das Zelt, ein Toilettenwagen und       zum Essen auf den Parkplatz setzen. Du                  Recht auf Schutz wahrzunehmen: Aus
   Hessestraße 10 · 90443 Nürnberg
                                                                                                                                                                                                                                  ein Sicherheitsdienst wird von der Stadt      musst irgendwann am Tag die Füße warm                   dem Ausland könnten sie kein Asylge­
   www.krisendienst-mittelfranken.de
                                                                                                                                                                                                                                  Dortmund gestellt und finanziert, den         kriegen.“ Alleine am ersten Tag haben rund              such stellen. Die Abschreckungspolitik
                                                                                                                                                                                                                                  Betrieb und die Versorgung stemmen die        560 Menschen das Großzelt in Dortmund                   der geschlossenen Grenzen bezeichnet
                                                                                                                                                                         ®

                                                                                                                                                                                                  Neumühlweg 129
                                                                                                                                                                                                                                  Vereine. Über 200 Ehrenamtliche haben         besucht – ein Zeichen, wie nötig solche                 Ziegler als „politisch völlig ineffizient“
                                                                                                                             topft in               www.                 .de
                                                                                                                                                                                                                                  sich gemeldet, um bei der Essensausga­        Projekte sind. Noch bis Ende März wird
                                                                                                                Abfluss vers
                                                                                                                                                                                                  90449 Nürnberg
                                                                                                                                                                                                  Tel. (0911) 68 93 680                                                                                                                 – wer vor dem Krieg etwa aus Syrien flie­
                                                                                                                          d,  WC ...?
                                                                                                                Küche, Ba                                                                         Fax (0911) 68 42 55             be zu helfen. Morgens gibt es zum Früh­       es aufgebaut bleiben.                                   hen müsse, komme nach Europa, egal wie
                                                                                                                                                   Das Original seit 1972
                                                                                                                                                                                                                                  stück ein fertig gepacktes Lunchpaket mit     Text: Alexandra Gehrhardt, Foto: Sebastian Sellhorst;   schlimm die Zustände in den Lagern auf
                                                                                                                Tag+Nacht Notdienst,
                                                                                                                Hilfe rund um die Uhr!         0911- 68 93 680                                                                   ein paar Broten, Obst und etwas Süßem.        freundlicherweise zur Verfügung gestellt von bodo |
                                                                                                                                                                                                                                                                                bodoev.org
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Lesbos seien. Er fordert von EU-Präsi­
                                                                                                                                                                                                                                  Nachmittags öffnet das Zelt noch einmal                                                               dentin von der Leyen, dass sie den seit
                                                                                                                                        • Rohr-, Abfluss-, Kanal-Reinigung
                                                                                                                                        • 24 Stunden Notdienst                                                                                                                                                                          2016 existierenden Verteilungsplan für
                                                                                                                                        • Hochdruckspülung & -reinigung
                                                                                                                                        • Kanal-TV-Untersuchung
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Geflüchtete durchsetzen müsse. Bislang
                                                                                                                                        • Dichtheitsprüfung entsprechend                                                                                                                                                                weigern sich Staaten wie Polen, Ungarn,
                                                                                                                                          Vorgaben der Stadt/Gemeinde
                                                                                                                                        • Kanal-Rohr-Sanierung
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Rumänien oder Bulgarien, die Ankom­
                                                                                                                                        • Leitungsortung                                                                                                                                                                                menden aufzunehmen. Von der Leyen
                                                                                                                                        • Rückstau-Schutz
                                                                                                                                        • Ratten-Schutzklappe
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        solle deshalb die Zahlungen aus dem
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Kohäsionsfonds der EU an diese Länder
                                                                                                                Mitglied der
                                                                                                                Handwerkskammer                                                                                                                                                                                                         einstellen. In den letzten fünf Jahren
                                                                                                                Nürnberg
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        habe dieser Fonds über 60 Milliarden
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Euro ausgeschüttet. „Würde man jenen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Staaten, die keine Geflüchteten aufneh­
  Schwierige Lebenssituation, geringes Einkommen                                                                                                                                                                                                                                                                                        men wollen, diese Milliarden streichen,
  oder ohne festen Wohnsitz?                                                                                                                                                                                                                                                                                                            kämen sie innerhalb von vierzehn Tagen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        zur Vernunft und wären bereit, den Ver­

 FrauenZimmer                                                                                                   Der Straßenkreuzer
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        teilungsplan umzusetzen.“ Ziegler selbst
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        hat Lesbos besucht und mit Geflüchteten
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        geredet. Diese Begegnungen, die Arbeit
  Tagestreff für Frauen in Notlagen                                                                             in den                                                                                                                                                                                                                  der Hilfsorganisationen und seine Kri­
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        tik an der Abschottungspolitik der EU
  Hessestraße 10 · Nürnberg · Telefon 26 69 56                                                                  Sozialen Medien:
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        beschreibt er in seinem neuen Buch mit
                                                                                                                @strassenkreuzerinfo                                                                                                                                                                                                    dem Titel „Die Schande Europas“.

                                                                          Mit Unterstützung des
                                                                                                                #stranue                                                                                                                                                                                                                Text: Klaus Petrus; freundlicherweise zur Verfügung
              Sozialwerk                                                  Sozialdienstes
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        gestellt von Surprise | surprise.ngo

              Nürnberg                                                    katholischer Frauen
                                                                                                                                                                                                                                  Wärme und Essen mit Abstand – Blick ins Zelt der Winternothilfe.

                                                                                                                                                           Anz_SeniorenRatg_B62xH93mm_4c.indd 1                  05.02.13 12:40

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         S T R A S S E N D E R W E LT     19
M      ACH MICH … nicht an. Vollende ich
                                                                                                                                                                                                   automatisch. Mach mich stark. Mach
                                                                                                                                                                                            was aus mir. Mach mich nicht nass. Ich
                                                                                                                                                                                                                                          gungsloses Grundeinkommen! Alle, auch
                                                                                                                                                                                                                                          Politiker und Beamte, zahlen ab sofort in
                                                                                                                                                                                                                                          die gesetzliche Sozialversicherung ein, es
                                                                                                                                                                                            mach mich vom Acker, tippe ich in meinen      gibt die 20-Stunden-Woche mit 15 Euro

Anregende Kunst                                                                                                                                                                             PC, sowie ungezählte schräge Gedanken­
                                                                                                                                                                                            splitter.
                                                                                                                                                                                                                                          Mindestlohn, Montag ist ein Feiertag. Für
                                                                                                                                                                                                                                          mich wünsche ich mir ein Haus mit Garten
                                                                                                                                                                                                MACH MICH an der Marienstraße ist         und eine schöne Frau. Und meine Amtszeit
Nürnberg, Marienstraße 6. Da, wo üblicherweise eine Werbung                                                                                  mach mich, ein Werk der Nürn-
                                                                                                                                                                                            mir noch nie aufgefallen. Gut, ich bin sel­   ist auf zwei Legislaturperioden begrenzt.
leuchtet, steht schlicht „mach mich“. Zwei Wörter Kunst im                                                                                   berger Künstlerin Dagmar Buhr,
                                                                                                                                                                                            ten in der Bahnhofsgegend, und vielleicht
öffentlichen Raum. Und sie regen an: zum Denken und Weiter-                                                                                  ist seit 2018 am Ämtergebäude in                                                             Klaus Schwiewagner
                                                                                                                                                                                            gucke ich auch nicht aufmerksam genug.
                                                                                                                                             der Marienstraße 6 zu sehen.
denken – auch die Mitglieder unserer Schreibwerkstatt.
                                                                                                                                                                                                                                          M
                                                                                                                                                                                            Aber hätte ich die Buchstaben bemerkt,               ach mich nicht verrückt, Hans, da
                                                                                                                                             Foto:                                          womöglich hätte ich sie für eine Firmie­
                                                                                                                                             Annette Kradisch | fotodesign-kradisch.de                                                           draußen steht niemand. Die Bäume
                                                                                                                                                                                            rung oder Werbung gehalten.                   werfen Schatten.
                                                                                                                                                                                                Oder hätten sie mich inspiriert?          Nein, da steht doch einer. Nun komm doch
                                                                                                                                                                                                Jetzt, auf einem Foto als Kunstwerk       mal.
                                                                                                                                                                                            betrachtet, sehe ich die zwei Wörter mit      Dann geh’ raus und schau nach!
                                                                                                                                                                                            anderen Augen. Spontan lösen sie keine        Jetzt? Kurz vor Mitternacht?
                                                                                                                                                                                            Welle in mir aus. Aber müssen sie das? Seit   Stimmt, morgen wird anstrengend, lass
                                                                                                                                                                                            wir unsere Schreibaufgabe während des         uns ins Bett gehen.
                                                                                                                                                                                            Lockdowns gestartet haben, verfolgen sie      Okay, wenn du schlafen kannst, wo viel-
                                                                                                                                                                                            mich, weil sie sich von mir nicht fangen      leicht einer ums Haus schleicht?
                                                                                                                                                                                            und in einen Text integrieren lassen wol­     Also gut, einmal schau’ ich, aber dann
                                                                                                                                                                                            len. Sie beschäftigen meinen Geist. Und ist   schleunigst ins Bett.
                                                                                                                                                                                            das nicht ihre Aufgabe?                       Nein, nein, du hast natürlich Recht.
                                                                                                                                                                                                Nach Tagen habe ich meine Sammlung        Halt, Moment, da ist wirklich ein Schatten,
                                                                                                                                                                                            um ein Gedicht von Rainer Maria Rilke,        nein, zwei! Womöglich schleicht sich da
                                                                                                                                                                                            einen Werbespruch und weitere Gedan­          eine Diebesbande an und wartet nur da­
                                                                                                                                                                                            ken von mir ergänzt: Mach mich? Wenn          rauf, dass das Licht ausgeht. Wir gehen
                                                                                                                                                                                            mich jemand „macht“, dann das Leben. Es       jetzt schauen ...
                                                                                                                                                                                            macht mich stark. Ansonsten mache nur         Nimm das Handy mit.
                                                                                                                                                                                            ich mich. Mach mich glücklich!                Im Ernst? Du kommst mit raus, du musst
                                                                                                                                                                                            Martina Tischlinger                           mich doch beschützen!
                                                                                                                                                                                                                                          Ich beschütz’ dich von der Tür aus.

                                                                                                                                                                                                                                          Die Uhr schlägt Mitternacht, Laternen tau­
                                                                                                                                                                                                    Mach mich frei
                                                                                                                                                                                                                                          chen aus dem Dunkel auf, Stimmen erklin­
                                                                                                                                                                                                    Frei von hier
                                                                                                                                                                                                                                          gen: „Happy Birthday to you“!
                                                                                                                                                                                                    Frei von dir
                                                                                                                                                                                                                                          Kommt rein, Klaus, Peter, Werner, Anne,
M     ach mich heute bitte nicht an! Da
      ich zwar lange lag, aber nur wenig
schlief, schaukelte ich mich in fade Ver­
                                             Die Anmache
                                             Mach mich an!
                                             Los, trau dich! Komm’ endlich rüber, sprich
                                                                                              D    a liegt er nun: der Brief von meinem
                                                                                                   Kind ans Christkind. Schön angemalt,
                                                                                              mit Sternchen und einem Tannenbaum,
                                                                                                                                             D    u bist mein Ein und Alles, bei dir kann
                                                                                                                                                  ich so sein, wie ich bin.
                                                                                                                                             Mach mich glücklich, ein Gefühl, das un­
                                                                                                                                                                                                    Die Ketten so schwer
                                                                                                                                                                                                    Sie schneiden tief
                                                                                                                                                                                                    Lös‘ alles auf
                                                                                                                                                                                                                                          Susanne, kommt rein!
                                                                                                                                                                                                                                          Siglinde Reck

gangenheiten, die ich jedoch zu Helden­      mich an! Ich seh´ doch deine verstohlenen        mit Geschenken drunter und einer Krip­         beschreiblich ist, mach mich froh und zu­              Ich hänge so schief
taten interpretierte. Das hätte bestimmt     Blicke, bevor du dich dann verschämt wie­        pe, Baby Jesus, Maria und Josef – sie hat      frieden.                                               Mitten in der Luft
einem Publikum imponiert, wenn es eines      der wegdrehst. Oh bitte, ich wünsche es          sich echt Mühe gegeben. Und mit einem          Auch wenn ich pudelnass vom Regen heim­                Bin ich gefangen                              mach mich an denkt sie
gäbe. Ein paar Kinderwagen-Mütter und        mir so sehr!                                     Wunsch: „Mach’ mich ein bisschen grö­          komme, mach mich trocken und warm,                     Ich denke stets nur                           so alleine wie ich bin
die krückenden Alten traute ich mich nicht   Mach mich an!                                    ßer!“                                          koche mir etwas Gutes, mach mich satt                  „Wäre ich doch gegangen“                      ist das ja gar nix
zu belästigen. Die wenigen einsamen Trin­    Ja, du, genau du! DU da drüben am Tresen,            Ach, wenn ich das könnte! Und wenn –       und müde und decke mich zu.                            Die Gedanken sind frei
ker murmelten vor sich hin, die flatternde   du bist es! Ah, jetzt stehst du auf, jetzt ist   wollte ich das überhaupt?                      Deine Art, so mit mir umzugehen, ist Liebe.            Doch sind sie das wirklich?                   mach mich heut vergnügt
Wasservogelschar wollte auch nicht ver­      es soweit, jetzt kommst du endlich rüber!            Hat meine „Kleine“ nicht genau die         Sie macht mich zuversichtlich, aber auch               Meine hängen an dir                           sagt sie zu ihm ganz nahe
stummen. Sicher, dieses Publikum hätte       Mach mich glücklich!                             richtige Größe?                                nachdenklich.                                          Schon sehr bedenklich.                        und auch schon vertraut
ich mit ein paar Krümeln kaufen können,      Nein, du holst dir nur etwas zu trinken. Oh,         Also nehme ich Papier und Stifte und       Was wird sein – später?                                Johanna Schumm
aber hey, wenn, dann sammle ich für die      wie soll das nur weitergehen? Ich grübele,       fange an zu zeichnen. Ein kleines Jesus­                                                                                                            mach mich jetzt glücklich
                                                                                                                                             Marita Hecker
Aufgetretenen und zahle nicht dafür.         zermartere mir das Hirn,                         kind, vor dem drei große Könige auf die                                                                                                             flüstert sie zu ihm bei ihr
                                                                                                                                                                                                                                                  im kerzenschimmer

                                                                                                                                                                                            M
Winter ohne Kontakte. Hoffentlich bald       mach mich fertig.                                Knie gehen. Und ich schreibe dazu: „Mein                                                            ach mich zum Bundeskanzler von
                                                                                                                                             Mach mich nicht wach
Erinnerung.                                  Ok, es hilft nichts, ich versuch’s, ich nehme    liebstes Herzensauge, Du bist haargenau                                                             Deutschland! Damit ich die Bun­
                                                                                                                                             Ob mich dieses Amt glücklich macht, weiß
                                             das jetzt in die Hand, ich geh’ rüber und        richtig, so, wie Du bist. Wenn ich Dich grö­                                                                                                        mach mich und zwar bald
Jörg Knapp                                                                                                                                   ich noch nicht. Nach meiner Anmeldung          deswehr abschaffen kann, dann wären
                                             mach mich lächerlich.                            ßer machen würde, könnten sich die Ande­                                                                                                            hofft sebastian in der
                                                                                                                                             werde ich aufgerufen: „Zimmer zwei“. Der       50 Milliarden Euro mehr Geld zur Verfü­
                                             „Mach mich nicht so von der Seite an!“ Das       ren nicht mehr vor Dir verneigen.“                                                                                                                  ungeborenheit
                                                                                                                                             Mitarbeiter fragt, was ich möchte. „Eine       gung. Damit könnte ich Wohnungen für
                                             war der einzige Kommentar.                       Elisabeth Heyn                                 Zwei-Zimmer-Wohnung.“ Und er sagt:             Obdachlose bauen und eine Genossen­                   Waldemar Graser
                                             Wie peinlich! Nie mehr!                                                                         „Sie haben Glück, ich habe eine freie für      schaft gründen, damit sich jeder eine Woh­
                                             Ich mach mich auf und davon!                                                                    Sie.“ Ich sage: „Danke! Sie machen mich        nung leisten kann, der nicht viel Geld hat.
                                             Daniela Dietsch                                                                                 glücklich!“                                    Es gäbe Tickets für Bahn und Busse für
                                                                                                                                             Steve Zeuner
                                                                                                                                                                                            einen Euro, außerdem 2000 Euro bedin­

20   S C H R E I B W E R K S TAT T                                                                                                                                                                                                                         S C H R E I B W E R K S TAT T   21
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