Position beziehen - FÜR MITARBEITENDE - EKKW
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
2–2021 FÜR MITARBEITENDE Foto: medio.tv/Dellit DER AKTIVIST Klimawandel: Fester Stand in luftiger Höhe Position DER THEOLOGE Homosexualität: Kurs- beziehen korrekturen sind nötig
INHALT | EDITORIAL Inhalt Liebe Leserinnen, liebe Leser, THEMA beim Thema Corona gehen die Meinun- Fotos: medio.tv/Schauderna 4 Interview mit Bischöfin Beate Hofmann: gen regelmäßig auseinander. Sind die „Position beziehen, wo die Würde von angeordneten Gegenmaßnahmen zu Menschen missachtet wird” hart oder zu locker? Manche finden die 6 Der Aktivist: Fester Stand in luftiger Höhe Regeln überzogen, andere zu lasch, wie- der andere inkonsequent. Wie soll man 7 Der Bürgermeister: Herzschlag wie ein Kolibri mit den Kindern umgehen? Und den Al- 8 Die Pfarrerin: Asyl in der Gemeinde ten? Werden die Kirchen angemessen behandelt? Man muss in diesen Fragen 9 Der Theologe: Kurskorrekturen sind nötig seinen eigenen Standpunkt finden und 10 Der Sozialarbeiter: Gemeinschaft gibt Halt Position beziehen. Wer schon einmal mit einem Corona-Leugner (ja, die gibt es immer noch!) gesprochen hat, weiß, wie mühsam 11 Die Fachreferentin: „Älterwerden? – und ärgerlich es sein kann, wenn Argumente nicht gehört werden Oh, das betrifft mich ja auch!” wollen, wenn Meinungen – manchmal durch nichts gerechtfertigt 12 Die Lehrerin: „Nicht so nachgiebig” – absolut gesetzt werden. Wenn Dummheit triumphiert. Doch die jetzt schon über ein Jahr andauernde Corona-Krise 13 Der Arzt: Begleiter auf dem letzten Weg ist nur ein besonders krasses Beispiel für die Notwendigkeit, im 14 Die Ruheständlerin: In die Gesellschaft hinaus Leben Position zu beziehen. Denn Haltung ist überall gefragt. In diesem Heft geht es schwerpunktmäßig um Menschen, die 15 Tipps für Streitgespräche: aufgrund ihrer christlichen Überzeugung eine klare Einstellung Wenn Corona die Fronten verhärtet zeigen – im Beruf, im ehrenamtlichen Engagement, im gesell- 16 Gewaltfrei handeln: schaftlichen und politischen Bereich. Vielleicht nicht gleich im Das Potenzial des Dialogs ausreizen heroischen Luther-Gestus „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, sondern eher aus einem inneren Antrieb heraus, der den Glauben an die Entscheidung für das Richtige nicht verleugnet. Mancher feste Standpunkt entsteht im Ringen mit sich selbst, vielleicht LANDESKIRCHE muss man auch Widerstände oder Ängste überwinden. Die folgenden Porträts und Interviews zeigen – für mich teil- 17 Kampagnen in der EKKW weise sehr berührend –, wie Menschen für etwas einstehen, von dem sie überzeugt sind. Das zu lesen tut gut – nicht nur in Co- 18 Berichte von der Online-Synode rona-Zeiten. 21 Evangelische Schulen in Zeiten der Pandemie Lothar Simmank Redakteur blick in die kirche 22 Kirchenführer schnell und einfach basteln 23 ÖKT: „Begegnung und Nähe werden fehlen” 24 Von Personen 25 Abschied vom Klingelbeutel Texte und Fotos aus Indien Kurz bevor Corona die ganze 26 Wechsel in der Blindenseelsorge Welt erfasste, besuchte eine De- 27 Aktionen zur Fastenzeit legation aus Kurhessen Projekte der Ausbildungshilfe in Südin- dien. Daraus ist eine Broschüre mit vielen Fotos und Texten SERVICE über die Hilfsprojekte entstan- den, passend zum 60-jährigen 28 Termine / Kirchenmusik Bestehen der Ausbildungshilfe. 30 Kirche im Radio Kostenlos erhältlich unter T 0561 9378-385 oder Mail: 30 Neu erschienen ausbildungshilfe@ekkw.de www.ausbildungshilfe.de 32 Im Angesicht leerer Kirchen 2 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
UMFRAGE | IMPRESSUM Wo haben Sie zuletzt deutlich Position bezogen? Foto: Blechner/Bildsucht Foto: medio.tv/Schauderna Foto: Peter Beckmann Foto: Klaus Wagner, DW Als unsere Landessynode Im Streit um den Ausbau der Wenn alte, noch intakte Diakonische Arbeit besteht 2011 beschlossen hat, die A49 habe ich mehrfach zum Bäume neben Kirchen oder aus Dienstleistung und An- öffentliche Segnung gleich- Gewaltverzicht aufgerufen. Pfarrhäusern gefällt werden waltschaft. Darum beziehen geschlechtlicher Menschen zu Prostest muss sein, Leiden- sollen, weil man sich ansons- wir als Diakonisches Werk in ermöglichen und dann 2018 schaft, Wut und Auseinan- ten im Herbst um das Laub der Region Kassel deutlich eine Änderung ihres Trauge- dersetzung haben ihr Recht, kümmern müsste, beziehe ich Position, wenn wir Unrecht setzes verabschiedet hat, die wenn es um die Zukunft Position dagegen. Auch wenn wahrnehmen: Wie werden auf die 2017 in Kraft getre- geht. Doch mit friedlichen eine Dohlenkolonie vergrämt Geflüchtete in Erstaufnahme- tene staatliche Gleichstellung Mitteln und im gegenseiti- werden soll, weil die Vögel einrichtungen vor dem Coro- gleichgeschlechtlicher Paare gen Respekt! Es wäre fatal, Reinigungsarbeiten an Kir- na-Virus geschützt? Wie sind bei der Trauung folgt, habe auf die Parole von Aktivisten chen notwendig machen. So die Chancen für Menschen ich so viele wütende Briefe zu hören: „Gewaltlosigkeit ist etwas ärgert mich, zumal ich mit geringem Einkommen und aufgeregte Anrufe be- Waldlosigkeit“. Es führt auch als Umweltbeauftragter von auf dem Wohnungsmarkt? kommen wie zu keinem ande- nicht weiter, wenn Polizei ihr erbosten Naturschützern und Welche Unterstützung erfah- ren Thema. Gerade deshalb Gewaltmonopol nicht nur Behörden auf den Frevel hin- ren Frauen und Kinder in der scheint es mir bis heute nötig, nutzt, sondern demonstrativ gewiesen werde. Da steht in Pandemie? Hier mischen wir zu diesem Thema klar Stel- durchsetzt. Ich bin überzeugt: Zeiten von Fridays for Future uns ein. Position zu beziehen lung zu beziehen und jegliche Wir müssen die Klimaziele unsere christliche Glaubwür- bedeutet für mich, in den Dis- diskriminierenden Äußerun- erreichen. Das ist eine riesi- digkeit auf dem Prüfstand. kurs zu gehen: Hier stehe ich gen und fundamentalistischen ge Aufgabe. Wir schaffen sie Damit die „Bewahrung der – wo stehst du? Lass uns mit- Positionen klar abzulehnen. nicht im Bürgerkriegsmodus, Schöpfung“ nicht zum Lippen- einander reden. Dann können Gern lasse ich mich zu diesem sondern nur, wenn wir unbe- bekenntnis verkommt, muss wir gemeinsam etwas verän- Thema einladen. dingt zusammenhalten. man hier Respekt einfordern. dern. Sabine Kropf-Brandau (57), Helmut Wöllenstein (64), Uwe G. W. Hesse (58), Tamara Morgenroth (52), Pröpstin des Sprengels Hanau Propst des Sprengels Marburg Pfarrer und Beauftragter für Pfarrerin und Geschäftsführe- Umweltfragen der EKKW rin des Diakonischen Werks Region Kassel IMPRESSUM blick in die kirche erscheint sechsmal jährlich und Redaktion: Anschrift: wird an haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen Lothar Simmank (Leitung) Ev. Medienhaus, Heinrich-Wimmer-Straße 4 und Mitarbeiter der Landeskirche kostenlos verteilt. Telefon 0561 9307-127 34131 Kassel-Bad Wilhelmshöhe Olaf Dellit redaktion@blickindiekirche.de Direkt-Abonnement: Telefon 0561 9307-132 www.blickindiekirche.de 12,50 Euro pro Jahr inklusive Zustellkosten Redaktionsbüro / Gestaltung: Lothar Simmank, Olaf Dellit Herausgeber: Anzeigen: Layout-Konzept: Liebchen+Liebchen, Frankfurt am Main Landeskirchenamt der Evangelischen Andrea Langensiepen Herstellung: Bonifatius GmbH, Paderborn Kirche von Kurhessen-Waldeck Telefon 0561 9307-152 Auflage: 17.300 Exemplare Wilhelmshöher Allee 330 Daniela Denzin 34131 Kassel-Bad Wilhelmshöhe Telefon 0561 9307-128 Mehr Informationen über die Evangelische Kirche Fax 0561 9307-155 von Kurhessen-Waldeck unter www.ekkw.de blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021 3
THEMA Interview mit Bischöfin Dr. Beate Hofmann Position beziehen, wo die Würde von Menschen missachtet wird ? In einer zunehmend komplizierten Welt sind klare Haltungen gefragt, auch in der Kirche. Ist es für Sie als Aber die evangelische Kirche sagt nicht einfach: „Nur so darfst du denken oder entscheiden.“ Bischöfin nötig und möglich, immer eindeutig Position zu beziehen? Dr. Beate Hofmann: Manchmal gibt es Situationen, in denen es schnelle, klare ? Strittig wird es oft in politischen Fragen: Sollten sich Pfarrerinnen und Pfarrer überhaupt zu Politik auf der Entscheidungen und Positionen braucht, Kanzel äußern? zum Beispiel bei der Frage: Gratuliere ich Hofmann: Parteipolitik gehört nicht einem frisch gewählten Ministerpräsiden- auf die Kanzel, aber biblische Texte haben ten, der mit einem politischen Tabubruch oft eine politische Dimension, die dürfen von der AfD gewählt wurde? (Anm. d. wir nicht verschweigen. Red.: Thomas Kemmerich, FDP, war vom 5.2. bis 4.3.2020 MP im Freistaat Thürin- gen, in dem der EKKW-Kirchenkreis Schmal- kalden liegt.) Ich habe eine Nacht schlecht ? Ulf Poschardt, Chefredakteur der „Welt“, hat der Kirche kürzlich vor- geworfen, sie reproduziere „mediale geschlafen und entschieden, ich gratuliere linksliberale oder vermeintlich liberale nicht. ökologische Klischees“, anstatt ihre spirituellen Angebote zu stärken. Wie In anderen Fragen, vor allem in Di- begegnen Sie solchen Vorwürfen? Bischöfin Beate Hofmann befestigt das Schild der Aktion lemmasituationen, gibt es oft keine „ein- Hofmann: Das Statement trennt zum deutige Position“, weil es gute Argumen- Beispiel spirituelle und ökologische An- würdig machen. Wir versuchen, in den Di- te für verschiedene Positionen gibt und liegen voneinander. Der Einsatz für die alog mit jenen zu treten, die uns Vorwürfe weil letztlich jede Entscheidung auch mit Bewahrung der Schöpfung hat aber auch machen oder mit Austritt drohen, um un- Schuld beladen sein kann, zum Beispiel bei eine spirituelle Dimension. Glaube und sere Haltung nachvollziehbar zu machen. Fragen rund um Abtreibung, Präimplanta- soziale Verantwortung gehören für mich So gab es beispielsweise auch in der Dis- tionsdiagnostik oder auch Sterbehilfe. untrennbar zusammen, und da weiß ich kussion um den Dannenröder Forst einige mich in guter Gesellschaft mit den bibli- Briefwechsel. ? In welchen Fragen dürfen Menschen von ihrer evangelischen Kirche schen Texten. ? An welchen Stellen hat sich die Orientierung erwarten? Hofmann: Die Frage ist: Was heißt hier Orientierung? Orientierung heißt für mich: ? Nach kirchlichen Stellungnahmen, zum Beispiel zur Seenotrettung auf dem Mittelmeer, gibt es auch Austritts- Evangelische Kirche von Kurhessen- Waldeck zuletzt öffentlichkeitswirksam positioniert – vielleicht auch gegen den Hilfe bei der Urteilsbildung, aufzeigen, wie drohungen. Wie gehen Sie damit um? Mainstream? hier mögliche Positionen mit christlichen Hofmann: Es schmerzt, aber sich sol- Hofmann: Beim Beitritt zu „United4 Leitlinien und Normen (zum Beispiel der chen Drohungen zu beugen, widerspricht Rescue” (Anm. d. Red.: „Gemeinsam Ret- Gottebenbildlichkeit, den Zehn Geboten, dem prophetischen Amt der Kirche. Es ten” ist ein deutscher Verein zur Rettung der Nächstenliebe) zusammenhängen. würde uns auch erpressbar und unglaub- von Menschen im Mittelmeer, der unter an- 4 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
THEMA „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung” an der Eingangstür im Kasseler Haus der Kirche (siehe auch Seite 17) derem von der EKD unterstützt wird und Diskussionen um Corona zeigen ja immer am Schiff Sea-Watch 4 beteiligt ist), mit »Glaube und wieder auch in Kirchenvorständen, wie der Forderung, dass das Tragen des Da- soziale Verantwortung schwer es ist, unterschiedliche Positionen vidsterns bei Anti-Corona-Demos verboten gehören für mich untrennbar auszuhalten. Hier im Gespräch zu bleiben, wird, bei der Aufnahme von Flüchtlingen aber auch klar Position zu beziehen gegen aus Moria, Lesbos und Lipa, aber auch bei zusammen. Da weiß ich mich Verschwörungstheorien, Demokratiefeind- Themen wie Kirchenasyl, Sterbehilfe und in guter Gesellschaft mit lichkeit, antisemitisches Gedankengut und Sonntagsheiligung. den biblischen Texten.« rechte Parolen kostet Mut, Geduld und Hartnäckigkeit. Ist das „nichts“? ? Der Beitritt der EKKW zur Initiative „Offen für Vielfalt“ ist für viele na- heliegend, „kostet“ aber auch nichts. pulismus und Rechtsextremismus. Die ? Wo sind aus Ihrer Sicht kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ist das nicht ein Beispiel für bloße betroffenen Haupt- und Ehrenamtlichen, herausgefordert, Position zu beziehen? Symbolpolitik? die teilweise auch bedroht worden sind, Hofmann: Dort, wo die Würde von Hofmann: Der Beitritt war eine Reakti- erzählen durchaus davon, was es sie kos- Menschen missachtet wird. ● on auf wachsende Konflikte in Gemeinden tet, Position zu beziehen. Ihnen wollen wir in der Auseinandersetzung mit Rechtspo- als Landeskirche den Rücken stärken. Die Fragen: Lothar Simmank blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021 5
THEMA Der Aktivist: Fester Stand in luftiger Höhe Cedric Büchling ist Klimaschützer, Christ und steht beruflich bei Volkswagen am Band A utobahngegner, Christ und Mitar- nem kurzen Besuch im Tannenwäldchen die anstehenden Veränderungen noch beiter am Band bei Volkswagen: zeigt sich, dass das funktioniert: Spazier- stärker positiv begleiteten. Cedric Büchling ist einer, der Po- gänger lesen die Transparente und fragen, Wie so viele Aktivisten der Klima- sition bezieht, wenn es sein muss, auch worum es hier geht. Ein Jogger, der vor- schutzbewegung „Fridays For Future“ (FFF) in sechs Metern Höhe. Die ersten Novem- beiläuft, ruft mit Blick auf das Baumhaus: ist auch Cedric Büchling selten um eine bernächte 2020, in denen das Thermome- „Cooles Ding!“ Zahl oder eine Studie verlegen, um seine ter in den Minusbereich rutschte, hat der Cedric war in früheren Jahren sehr in Argumente zu untermauern. Die Verbin- 24-Jährige in einem Baumhaus im Kasse- der evangelischen Jugendarbeit der Kasse- dung zur Wissenschaft ist es auch, die ihn ler Tannenwäldchen verbracht. Ausgerüs- ler Christuskirche aktiv, hat Konfirmanden- Sätze sagen lässt, die bei FFF so oft nach tet mit zwei Schlafsäcken und einer dicken freizeiten begleitet und sich auch in der Kompromisslosigkeit klingen: „Die Physik Decke, sei das ganz gut gegangen, erzählt Jugendkulturkirche Cross engagiert. „Vor und die Natur machen keine Deals.“ er, nachdem er sich zum Gespräch von der allem der Jugendgottesdienst hat mich an- Aber Cedric sagt, dass Kritik und Kri- hölzernen Plattform abgeseilt hat. gefixt“, erinnert er sich. Es folgte der Frei- tikfähigkeit sehr wichtig seien – deswegen Die Aktion war als Unterstützung für willigendienst bei der Jugendkirche Soest. werde in der Bewegung viel diskutiert, die Baumbesetzer im Dannenröder Forst Der Kontakt zur Evangelischen Jugend denn nur so könne man eine Position be- gedacht, die sich gegen die Teilrodung Kassel besteht bis heute, nicht weit vom ziehen und halten. Eine stabile Haltung ist des Waldes zum Weiterbau der Autobahn Baumhaus ist der Jugendbus als Zeichen für den 24-Jährigen auch im Beruf gefragt, 49 einsetzen. „Es ist unverständlich, dass der Solidarität geparkt. denn er arbeitet – ausgerechnet – in der im Jahr 2020 noch eine neue Autobahn Automobilindustrie, genauer gesagt, bei gebaut wird“, sagt Büchling, der aber ein- Volkswagen in Baunatal. Dort steht der räumt, auch die Interessen der Menschen »Die Physik und die Natur gelernte Mechatroniker in Schichtarbeit zu verstehen, die ohne Autobahn durch am Band. Cedric Büchling sieht das nüch- machen keine Deals.« den starken Verkehr auf der Bundesstraße tern, er sei dort nur eine Nummer. Aber die 3 belastet sind. Arbeit bei VW gebe ihm die Möglichkeit, In einer Chatgruppe seien an die 130 „Die Kirchen haben sich relativ früh auf Augenhöhe mit den Kollegen über die Kinder und Jugendliche, die sich engagier- positioniert“, findet Cedric und erwähnt Klimakrise zu diskutieren. ten, erzählt er, darunter viele Schüler. Sie lobend die Enzyklika „Laudato si“ von Warum könne VW nicht umstellen und wechselten sich im Baumhaus ab, das vor Papst Franziskus, die die Bewahrung der beispielsweise Busse oder E-Bikes bauen, allem auch als Ort für Diskussionen und Schöpfung in den Mittelpunkt stellt. Zu- fragt er. Durch sein Engagement – nicht Informationen dienen soll. Schon bei ei- gleich wünsche er sich, dass die Kirchen zuletzt durch die Ankündigung, das Werk mit FFF lahmzulegen, und das dann doch Klimaktivist Cedric Büchling auf dem Protest-Baumhaus im Kasseler Tannenwäldchen nicht zu tun – sei er im ganzen VW-Werk bekannt geworden. Natürlich würden ihn manche für einen Spinner halten, aber vie- len sei längst klar, dass es so wie bisher nicht weitergehen könne. Der junge Mann will überzeugen, ob im Tannenwäldchen – wo das Baumhaus übrigens nach einigen Tagen von der Stadt Kassel geräumt wurde – oder auch in der eigenen Familie. Seine Mutter, erzählt er, arbeitet bei der IG Metall in Frankfurt. Sie kenne die Fahrtstrecke von Kassel dorthin und sei für den Weiterbau der A49 gewe- sen. Doch er habe sie überzeugen können, dass so ein Bau kein Problem löse, sondern Fotos: medio.tv/Dellit allenfalls verlagere. Inzwischen unterstüt- ze seine Mutter die Protestler im Dannen- röder Forst und backe Energieriegel für die Aktivisten. ● Olaf Dellit 6 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
THEMA THEMA Der Bürgermeister: Herzschlag wie ein Kolibri Torben Busses Weg vom Kasseler Landes- kirchenamt ins Rathaus von Hofgeismar M inutengenau erinnert sich Tor- Ein Wechsel ben Busse (44), bislang Sach- zwischen zwei Wel- gebietsleiter Informations- und ten steht an, denn Kommunikationstechnik im Kasseler der Kirchenbeamte Landeskirchenamt, an eine ganze Reihe auf Lebenszeit geht Fotos: medio.tv/Simmank von Ereignissen in seinem Leben. Klar, zunächst für sechs den Hochzeitstag oder die Geburtsdaten Jahre in die kom- seiner beiden Kinder hat er parat. Aber munale Verwaltung da ist zum Beispiel auch der 18.2.2019, – und zwar an de- 19:32 Uhr. Eine Virus-Meldung alarmiert ren Spitze. Ein Jahr Busse und sein Team: Im LKA droht der zuvor war das noch Netzwerk-Gau, größerer Schaden für die kein Ziel für Busse, Torben Busse mit seinem Plakat zur Bürgermeister-Wahl 2020 Behörde muss verhindert werden. Oder der 13.3.2020: Über Nacht müs- »Die Chance, Politik ausgerichtet ist und nicht wie in der sen aufgrund des coronabedingten Lock- Kirche am Verkündigungsauftrag, stellt er downs Arbeitsplätze technisch umorgani- sich persönlich ganz anders fest. Inhalte und Strukturen von Verwal- siert werden: „Wir haben 1.200 Leute, die weiterzuentwickeln« tung funktionierten wiederum gleich. bis dahin nur gewohnt waren, im Büro zu Als Bürgermeister will er „Hofgeismar arbeiten, von einem auf den anderen Tag sondern die Entscheidung, als Bürger- voranbringen“. Konkret heißt das für den home-arbeitsfähig gemacht“, sagt der IT- meister zu kandidieren, fiel auf Drängen CDU-Mann, sich für den Neubau von Kita Fachmann nicht ohne Stolz. Nicht zuletzt von Parteifreunden erst Mitte 2020. Und und Stadthalle einzusetzen, für eine fahr- die jahrelang vorbereitete „digitale Akte“ eigentlich war der studierte Diplom-Ver- radfreundliche Stadt, für ein neues Kran- habe diese Umstellung möglich gemacht. waltungswirt bis dahin ganz zufrieden, als kenhaus am Krähenberg sowie ein klares „Wenn man bedenkt, dass viele kirchliche Beamter abgesichert, noch dazu in einem Nein zur Windkraft im Naturpark Habichts- Mitarbeiter vor 15 Jahren noch nicht mal Umfeld, das ihm Spaß macht: „Ich konnte wald zu formulieren. Die zuletzt genannte einen PC hatten, ist das schon ein gewal- mein Hobby zum Beruf machen, weil ich politische Positionierung könnte den Bür- tiger Wandel“, so Busse. mich schon immer für Technik interessiert germeister in Opposition zur Landespolitik Und dann ist da noch der 1.11.2020, habe.“ Jetzt kommt etwas ganz anderes und auch zu kirchlichen Umweltbeauftrag- 18.10 Uhr: Stimmenauszählung bei der auf ihn zu: „Es ist ein Bruch, aber einer, ten bringen, aber damit kann der durchset- Bürgermeisterwahl in Hofgeismar. Torben der die Chance bietet, mich auch persön- zungsstarke Nordhesse leben. Busse ist Kandidat der CDU und tritt ge- lich ganz anders weiterzuentwickeln“, sagt gen den Amtsinhaber an. Die Ergebnisse Busse, der erst vor Kurzem sein 25-jähriges „Henners Traum“ heißt der Film über aus den einzelnen Wahlkreisen trudeln Dienstjubiläum beging. einen Amtsvorgänger Busses, der auf Gut ein. Wird es reichen? Während er zuvor Beberbeck Europas größtes Ferienresort ziemlich gelassen ist – „der Wahlkampf Dass man alle zehn Jahre beruflich entstehen lassen wollte. Der für manche hat mich nicht geschlaucht“ –, lassen ihn etwas anderes tun sollte, ist ein Motto, Kritiker größenwahnsinnige Plan platzte diese Minuten nicht kalt: „Ich hatte einen das zu ihm passt. Aber auch das Eintreten bekanntermaßen. Was hat Henners Partei- Herzschlag wie ein Kolibri“, gesteht Busse für seine Überzeugungen: „Ich mache seit freund Torben Busse aus dieser Geschichte ein. Er geht als Sieger aus der Wahl hervor, 1997 Kommunalpolitik, deswegen ist mir gelernt? „Ich möchte realistische Ziele ver- ist ab Jahresanfang 2021 Bürgermeister das nichts Neues“, sagt Busse, der Frak- folgen“, sagt er, „und den Kontakt zu den der Stadt Hofgeismar mit allen Ortsteilen tionsvorsitzender im Stadtparlament war. Menschen in Hofgeismar nicht verlieren – einschließlich Hümme, wo er mit der Fa- Der Unterschied zur Kirche: Die Personen – offen, transparent und miteinander.“ ● milie wohnt. agieren anders, wenn ihr Handeln an der Lothar Simmank blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021 7
THEMA Die Pfarrerin: Asyl in der Gemeinde Frauke Leonhäuser und ihre Gemeinde boten einer Iranerin Unterschlupf G ott ist auf Seite der Armen, der Be- drohten und der Verfolgten. Und wenn Gott das ist, dann sollte es seine Kirche auch sein. So lässt sich die Haltung zusammenfassen, die die Kirchen- gemeinde in Niestetal-Heiligenrode dazu gebracht hat, einer Iranerin für gut ein Jahr Unterschlupf zu gewähren. Es ist ein uralter Brauch, dass Men- schen an heiligen Orten vor Verfolgung geschützt sind – darauf geht die Institu- tion des Kirchenasyls zurück. In Heiligen- rode wandte sich der Sohn einer Iranerin eines Tages an die Kirche. Das Asyl des Sohns, erzählt Pfarrerin Frauke Leonhäu- ser, war längst anerkannt, er hatte sich im Foto: medio.tv/Dellit Iran politisch betätigt. Die Tochter sollte zwangsverheiratet werden. So standen die Chancen für die Mutter, die zudem krank ist, auf Asyl gut. Doch sie war über Frank- reich nach Deutschland eingereist, sodass Ordentlich abgeheftet: Mit einem Kirchenasyl ist auch viel Papierkram verbunden, hat die europäische Regelung griff, nach der Pfarrerin Frauke Leonhäuser, hier vor der Heiligenröder Kirche, festgestellt sie dort ihren Antrag hätte stellen müssen. Bereits einmal war sie mit ihrer Tochter Pfarrhaus die sanitären Anlagen. Regel- zu musste sie von Heiligenrode aus noch nach Frankreich abgeschoben worden, wo mäßig war sie auch im Gottesdienst und mal in die Erstaufnahmeeinrichtung in Gie- sie laut Leonhäuser keine Konktakte hatte, beschäftigte sich intensiv mit dem Chris- ßen, doch auch das liegt nun hinter ihr. während der Sohn hier war. tentum. Schon beim Einzug ins Kirchenasyl Die Chancen auf Asyl stehen offenbar gut. Im Kirchenvorstand sei die Anfrage habe sie eine Bibel in persischer Sprache Für Pfarrerin Leonhäuser sind ein des Sohnes kontrovers und offen debat- dabei gehabt und sich inzwischen zur solches Engagement und der Glauben tiert worden, bevor er schließlich zustimm- Taufe entschlossen. Das hänge auch da- schlicht nicht zu trennen, vielmehr gebe te. Das Ziel: der Frau so lange Schutz zu mit zusammen, dass sie die mit dem Islam er ihr einen festen Standpunkt. „Wir als Kir- bieten, bis sie ihren Antrag in Deutschland gerechtfertigte Unterdrückungspolitik im che müssen bei bestimmten gesellschaftli- stellen kann. Für ein Kirchenasyl gibt es in Iran ablehne. chen Fragen Stellung beziehen“, findet sie. den Landeskirchen genaue Regeln. Unter Das könne auch bedeuten, im Widerspruch anderem werden die Behörden informiert, Regelmäßig kam Besuch zum Staat zu stehen. wissen also stets, wo sich die Personen be- Für sie sei der Blick auf den einzelnen finden – es ist keine Geheimaktion. So gab Für Leonhäuser und die Ehrenamt- Menschen wichtig, nicht auf eine Zahl es Kontakte mit dem Bundesamt für Mig- lichen – unter anderem besuchten fünf oder einen abstrakten Fakt, sagt die Theo- ration und Flüchtlinge, mit einem Rechts- Frauen aus der Gemeinde die Iranerin an login. Nächstenliebe sei die Grundlage, anwalt und mit dem Diakonischen Werk, fünf Tagen der Woche abwechselnd – aber auf der die Kirchengemeinde der Iranerin wo Experten für Kirchenasyl tätig sind. ist das Ziel des Kirchenasyls erreicht: Die eine Chance auf ein sicheres Leben geben Die Iranerin lebte in einem Raum des Frau darf nach langem Hin und Her ihren wollte. Weil Gott auf der Seite der Verfolg- Gemeindehauses und nutzte dort und im Asylantrag nun in Deutschland stellen. Da- ten ist. ● Olaf Dellit 8 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
THEMA Der Theologe: Kurskorrekturen sind nötig Dr. Michael Diener über eine persönliche Umkehr aus evangelisch-biblischer Sicht K urshalten in stürmischen Zeiten“ sonaro denke, die von Angehörigen die- – das ist der Titel seiner Dok- ser Glaubensrichtung wider alle Ver- torarbeit und in gewisser nunft und gegen biblische Werte Weise auch eine Überschrift unterstützt werden. über die letzten fünf Jahre Der aus der Pfalz stam- seines beruflichen Wirkens. mende Pfarrer, nach Quittie- Dabei ist Dr. Michael Die- rung seines leitenden Am- ner (58) aus Kassel nicht tes zurzeit im Sabbatjahr, etwa ein rauer Seemann, ist sich inzwischen sicher, Foto: epd-bild sondern ein frommer Pfar- dass es richtig war, die ei- rer. Trotzdem geriet er als gene Erkenntnis und Ge- Präses des Evangelischen wissenshaltung öffentlich Gnadauer Gemeinschafts- zu machen: „Ich halte eine verbandes, der er von 2009 Umkehr in dieser Position für bis 2020 war, gewissermaßen evangelisch-biblisch geboten. in schwere See. Ich glaube, dass eine ablehnende Der Grund: Er hatte in einer um- Haltung gegenüber homosexuellen strittenen Frage öffentlich Position be- Menschen, die in einer auf Dauer ange- zogen. Weil er für eine offenere Haltung legten Beziehung leben, nicht unter das gegenüber Homosexuellen in Kirchen und Verdikt bestimmter Bibelstellen fallen darf Dr. Michael Diener, bis 2020 Präses des Gemeinden, aber auch für eine Neubewer- und dass wir uns da schuldig gemacht ha- Gnadauer Verbandes tung des Begriffs „Mission“ warb, kam es ben.“ im evangelikalen Lager zu einer heftigen keine Antwort – und es dauerte Jahre, bis Die ganze Kirchengeschichte sei voll Auseinandersetzung um seine Person. Das er sich selbst gegenüber „ehrlich werden von Kurskorrekturen der christlichen Kir- eigens gegründete „Netzwerk Bibel und konnte“, so Diener im Rückblick. Heute che – „Gott sei Dank“, lächelt Diener. Es Bekenntnis“ unter dem Vorsitz von Ulrich sagt er: „Die Kirche hat einen Auftrag, rechnet es sich als bescheidenen Verdienst Parzany (ebenfalls Kassel) zweifelte Die- auch gleichgeschlechtliche Beziehungen an, für eine differenzierte Wahrnehmung ners Bibeltreue an: Vertrat der Präses mit unter den Segen Gottes zu stellen.“ von Positionen gesorgt zu haben: „Nie- seinen liberalen Ansichten die Haltung mand kann mehr pauschal sagen, dass der strenggläubigen Christen in pietisti- »Niemand kann mehr pau- die Evangelikalen gegen die Homosexu- scher Tradition? Konnte so jemand noch ellen sind.“ „die Frommen im Lande“ repräsentieren? schal sagen, dass Evangelikale Gleichzeitig sieht Diener die Gefahr Hinzu kam, dass Diener 2016 auch Mit- gegen Homosexuelle sind.« des „geistlichen Hochmuts“ bei evangeli- glied im Rat der EKD wurde, was ihm kalen Christen, die dazu neigten, die Welt manche als Verrat an der evangelikalen In einem Präsesbericht bekannte sich in Gläubige und Ungläubige einzuteilen. Bewegung ankreideten. der Theologe 2014 noch zu einer kon- Die evangelische Kirche brauche zwar eine Der Sturm, der damals losbrach und servativen Haltung, forderte aber seinen Form pietistischer Glaubensprägung, aber Diener in seinen Ämtern im Gnadauer Verband dazu auf, andere kirchliche Posi- die sei eben nicht „allein seligmachend“. Verband und der Evangelischen Allianz tionen in dieser Frage zumindest zu respek- In seinem Sabbatjahr, das in die Coro- in Deutschland sehr herausforderte, war tieren. Gleichzeitig löste er als Vorsitzender na-Zeit fällt, wollte Diener mit seiner Frau für ihn damals nicht abzusehen, betont der Allianz mit seinen Worten Unruhe aus. eigentlich nach Neuseeland und Australi- er heute. Seine persönliche Entwicklung Auch sein Eintreten gegen „Islam-Bashing“ en reisen. Aber auch hier musste er neue in der Einschätzung der Homosexualität und für einen konstruktiven Dialog mit An- Ziele finden. Jetzt soll es nach Namibia ge- bezeichnet er als „behutsam und evolutio- gehörigen dieser Religion kam bei konser- hen – ein Land, zu dem er gute Beziehun- när“. Über Jahre habe ihn die Frage umge- vativen Landes- und Freikirchlern sowie gen hat. Und wie geht es danach beruflich trieben, was ein Gott der absoluten Liebe traditionellen Gemeinschaftsvertretern weiter? Alles ist offen. Ein Gemeindepfarr- gegen die verbindliche Treue und Liebe nicht gut an. Das Wort „evangelikal“ ver- amt in der Heimat schließt er nicht aus, zweier gleichgeschlechtlicher Menschen meidet Diener übrigens – der Begriff sei denn: „Ich bin mit Leib und Seele Pfälzer.“ haben könnte. Darauf fand er zunächst „verbrannt“, wenn er an Trump oder Bol- ● Lothar Simmank blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 1–2021 9
THEMA Der Sozialarbeiter: Gemeinschaft gibt Halt Günter Kugler arbeitet in Hanau auch nach den rassistischen Morden weiter für Toleranz Hälfte aller Ha- tig.“ Kugler erzählt nauer Sozialwoh- vom Grillfest im nungen läge in JuZ, bei dem diesem Gebiet, es immer auch so Kugler. Und Schweinefleisch mittendrin in die- gebe. Denn das sem „sehr bunten rege Diskussio- Stadtteil“ steht nen an, die Tole- das JuZ K-Town ranz ermöglichten. (für Kessel-Stadt). Aber die Geschichte des JuZ K-Town ist So vielfältig auch eine, in der diese Toleranz mit bru- wie die Men- talster Gewalt bekämpft wurde, als am schen hier ist 19. Februar 2020 ein rassistischer Täter, auch das Ange- der in der Nähe wohnte, zehn Menschen bot im JuZ. Es ermordete. Viele von ihnen gingen im Ju- gibt Bildungs- gendzentrum ein und aus. Einen hatte angebote wie Günter Kugler kurz vor der Tat als letzten die Berufswege- Besucher im JuZ verabschiedet. Auf dem Assistenz und Heimweg kam der Sozialarbeiter am Tat- die Schülerhilfe ort vorbei und sah dort Menschen liegen, sowie ganz viel Menschen, die er gut kannte. Sport. Neben Fußball und Ca- Gemeinschaft als Stütze und Halt poeira (ein brasi- Foto: medio.tv/Dellit lianischer Kampf- In den Wochen nach der „Horror- tanz) ist es vor nacht“ war das JuZ fast immer voll, denn allem das Boxen, viele hätten die Gemeinschaft gesucht, um in dem die Kes- sich gegenseitig zu stützen. Auch ihm sei Nur fürs Foto mit Händen in den Taschen: Sozialarbeiter Günter Kugler selstädter sportli- es so gegangen, erinnert sich Kugler: „Ich vor dem Jugendzentrum in Hanau-Kesselstadt che Erfolge erzie- konnte anfangs gar nicht alleine sein.“ Ei- len. Entscheidend ne dreistellige Zahl an Jugendlichen sei B is zu 15 Etagen hoch schrauben sich ist aber die pädagogische Begleitung, so- durch die Morde traumatisiert, schätzt er. die Wohnblocks in den Himmel und dass die jungen Menschen zu stärkeren Für sie und alle anderen wollten sie im JuZ es ist sofort klar: Hier wohnen sehr Persönlichkeiten heranreifen können. Das Ansprechpartner sein. Doch dann kam mit viele Menschen auf engem Raum. Die fla- gelte gerade für Mädchen, die hier boxen Corona eine zweites Unglück, denn von chen Gebäude des Jugendzentrums über- – egal aus welcher Kultur sie stammen. heute auf morgen war die Anlaufstelle sieht man da fast. Am frühen Morgen ste- „Die blühen richtig auf“, sagt Kugler. geschlossen, und nur wenig war möglich. hen zwei junge Männer an der Ecke, reden Jeder und jede kann kommen, das ist Eine angespannte Lage: Jugendliche und rauchen. Auf der Frage nach dem Sozi- der Grundsatz beim Boxen und im gesam- hätten es in ihren Wohnungen nicht aus- alarbeiter antworten sie mit ausgesuchter ten JuZ. „Du bist okay, ich bin okay“, so gehalten und sich im Freien getroffen. Das Höflichkeit, sie hätten „den Günter“ heute fasst es Kugler zusammen. Menschen zu- habe bisweilen die Polizei auf den Plan ge- noch nicht gesehen, würden aber Bescheid sammenbringen, offen sein für alle – darin rufen. Die doppelte Katastrophe erschwert geben, wenn er kommt. sieht der 57-Jährige die christlichen Werte die Arbeit in K-Town, doch Günter Kugler „Der Günter", das ist Günter Kugler, verwirklicht, auf die er sich beruft. Spätes- macht in keiner Sekunde den Eindruck, seit 1999 Sozialarbeiter hier in Hanau- tens, wenn Ehemalige sich ehrenamtlich als könne er das JuZ und die Idee aufge- Kesselstadt, einem Gebiet mit einer „ho- engagieren, sieht er die Erfolge der Arbeit. ben, dass es ein Platz für jeden Menschen hen sozialen Benachteiligung“, wie er es Zugleich wüssten die Jugendlichen, bleibt, der kommen will. So wie für die ausdrückt. Hohe Arbeitslosigkeit, Drogen- dass dies eine kirchliche Einrichtung ist. beiden höflichen Jugendlichen an diesem probleme, viele Alleinerziehende und Al- Es werde auch über Glauben gesprochen: Morgen. ● te, viele mit ausländischen Wurzeln. Die „Vielen Jugendlichen ist Religion wich- Olaf Dellit 10 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
THEMA Die Fachreferentin: „Älterwerden? – Oh, das betrifft mich ja auch!“ Annegret Zander macht sich stark für Menschen in der zweiten Lebenshälfte »Die Zukunftsvorstellungen der Kirche beziehen die ältere Bevölkerung viel zu wenig ein. Dabei geht es um unsere eigene Zukunft.« Foto: medio.tv/Dellit Rentenalter – grau- Altern – ein hochpolitisches Thema haarige Masse der Annegret Zander machte und macht einstigen „Baby- sich dafür stark, das Modell der in den Boomer“ ist über 1960er-Jahren entwickelten kirchlichen 60 Jahre alt. Pfarre- Altenarbeit zu verabschieden, das sich Pfarrerin Annegret Zander (54) von der landeskirchlichen „Fach- rin Zander erkannte, allerdings als erstaunlich fest verankert, stelle Zweite Lebenshälfte“ übernimmt im April eine Gemeinde- was für ein Schatz wenn auch in vielen Fällen überlebt er- pfarrstelle; die Arbeit der Fachstelle geht weiter diese „silberne Kir- weist. Statt für feste Gruppen und Kreise che“ war, welch seien die heutigen Alten mehr für gemein- S ie sei da zunächst einfach „hinein- inspirierende ältere Menschen ihr begeg- same Prozesse zu begeistern, sie wollten geraten“ – vor 17 Jahren, durch ei- neten, von denen sie „mindestens ebenso nicht betreut werden, sondern selbst ge- ne Elternzeitvertretung, erinnert sich viel“ lernte wie diese in den angebotenen stalten. Derzeit, coronabedingt, bestehe Annegret Zander. Hinein in die Arbeit Fortbildungen. Spannend sei das gewesen, die Gefahr, die Älteren und Hochaltrigen mit Älteren, für Ältere, und so wurde das zumal ihre Arbeit immer von der Erkennt- wieder als „bedürftig und schwach“ abzu- Bildungshaus in Bad Orb genannt, das nis begleitet wurde: „Das alles betrifft stempeln – eine „Rolle rückwärts“ in den sie zehn Jahre lang leitete zum „Evange- mich ja auch!“ Täglich ging sie der Frage Altersbildern, wie Zander befürchtet. lischen Bildungszentrum für die zweite nach: „Wie lebt man Älterwerden?“ Der Altern: ein hochpolitisches Thema also, Lebenshälfte.“ Nachdem das Haus ge- Umgang mit dem Leben im Ruhestand, für das Annegret Zander immer wieder Po- schlossen wurde, arbeitete Zander als auch als Paar, freiwilliges Engagement, sition bezieht. Die Zukunftsvorstellungen theologische Fachreferentin der „Fachstel- Gebrechlichkeit, Wohnen im Alter, Solo- der Kirche, so kritisiert sie, beziehen die le Zweite Lebenshälfte“ in Hanau – bis Leben, wie sie es nennt, aber auch Glau- ältere Bevölkerung viel zu wenig ein. Da- heute mit ihrem Kollegen in Kassel, An- ben, Sexualität und die eigene Biografie bei gehe es „um unsere eigene Zukunft“. dreas Wiesner. im Rückblick und im Ausblick – all das Klar, dafür streitet sie auch – das hat sie Alte Leute: ein cooles Thema? Vor fast waren die Felder, auf denen Erfahrungen in 17 Jahren gelernt – manchmal „richtig 20 Jahren sprach Altbischof Martin Hein ausgetauscht und neue Perspektiven ein- hart, aber immer in Beziehung!“, betont von der „Silbernen Kirche“. Ein Schlagwort, geholt wurden. In der Fachstelle kamen sie. Und so interpretiert sie eine zentrale das sich im Nachhinein als „wegweisend“ Fortbildungen für die Arbeit mit Älteren Vokabel von Bischöfin Beate Hofmann po- erwies, sagt Zander. Ja, die Gesellschaft in den Gemeinden und Netzwerkarbeit da- sitiv auch für die Älteren: „Die Sorgenetze altert. Die geburtenstarken Jahrgänge ab zu, etwa Online-Lernen, um Menschen aller – das sind wir selbst!“ ● den 1950er-Jahren sind heute im oder am Generationen auf dem Dorf zu vernetzen. Anne-Kathrin Stöber blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021 11
THEMA Die Lehrerin: „Nicht so nachgiebig in der Debatte“ Die Marburger Religionsleh- rerin Simke Ried bohrt mit den Schülern dicke Bretter auf der Suche nach Werten B Foto: Tobias Grebestein, Nautylus eim Interview – pandemiebedingt am Telefon geführt – fliegt der Blei- stift nur so über den Block: Wer Simke Rieds Worte festhalten will, muss schnell sein. Die 38-Jährige spricht kon- zentriert, mit viel Emphase in der Stimme; sie klingt stark und begeistert von ihrem Thema. Ried ist Religionslehrerin an der „Worüber wundere ich mich eigentlich im Leben?” – fragt Simke Ried ihre Schulklasse Adolf-Reichwein-Schule in Marburg, einer beruflichen Schule, und wenn alle Fragen gepackt, die zunächst vielleicht mit „Kei- an den Tag zu legen, heißt die Aufgabe – besprochen, die Antworten notiert sind ne Ahnung“ oder „Mir egal“ antworten „sonst kommt man zu keinem Ergebnis“. und der nächste Termin für die Oberstudi- möchten. Schon als Kind habe sie innerlich „al- enrätin anliegt, bleibt das Gefühl: So eine les analysiert“, aber zunächst eher den an- Power-Reli-Lehrerin hätte man selbst gern deren zugehört. Als Jugendliche, damals gehabt! »Im Dialog Klarheit an den noch in ihrer Heimat in Friesland, in der Dass ihre Schülerinnen und Schüler ein Tag legen, sonst kommt man Schule und in einer politischen Jugendor- Wertesystem entwickeln, Lebensereignisse zu keinem Ergebnis!« ganisation, erwachte dann das nachhal- und politisches Geschehen einordnen kön- tige Bedürfnis, „fundiert zu diskutieren.“ nen und gesellschaftlich handlungsfähig War sie etwa „Modell Nervensäge” für die werden, ist ihr ein hohes Anliegen. Mit an- Aber die Oberstudienrätin lässt nicht Lehrer? Nein, das nicht, sagt sie lachend, gehenden Malern und Lackierern Kant und locker. Sie unterfüttert die Themen philo- aber bis heute sei sie halt „nicht so nach- Thomas von Aquin lesen und über Trans- sophisch und theologisch, macht sich mit giebig in der Debatte ...“ Zum Vorteil ihrer zendenz sprechen? Gut möglich. Biologie- den Schülern auf den langen Weg der Ur- Schülerinnen und Schüler. Assistenten für Diskussionen über Medizi- teilsbildung beim Darstellen des jeweili- Durch „Zumuten und Anleiten“ will nethik und Menschenwürde interessieren? gen Problems, Sammeln von Fakten, ermit- sie deren Fähigkeiten fördern, damit sie Ihr täglich Brot. Aber, das räumt sie ein, es teln von möglichen Lösungen. Erst dann, „in der Komplexität der Welt“ nicht un- sei „ein unglaublich dickes Brett“, das es sagt sie, kommen eigene Werte ins Spiel. tergehen. Muss das sein, fragen manche. da zu bohren gilt. Mit Sinnfragen, Krisen Aber welche sind das eigentlich? Egal, Geht es nicht ‘ne Nummer kleiner? Ja, es und Konflikten, Sterben und Tod kommt welcher Bildungsschicht die Lernenden muss sein. „Wer sagt, es sei einfach, belügt schließlich jeder Mensch in Kontakt; al- angehören, „die sind für alle schwer zu dich“, hören sie dann von ihrer Lehrerin. Es lerdings fehlen oft die Worte, sich auszu- benennen“. Also weiterbohren. Mit Erfolg: geht ja nicht ums Wissen-Pauken, sondern drücken, oder der Weg, eine unabhängige „Keiner kommt mehr mit unfundierten darum, sich qualifiziert in der Gesellschaft Meinung zu bilden. „Wenn ich aber zum Statements!“ Simke Ried gibt den Raum einbringen zu können. Immer auf der Su- Beispiel einsteige mit der Frage: Worüber für ehrliche Auseinandersetzung und er- che nach den Werten, „nach denen wir le- wundere ich mich eigentlich im Leben?“, mutigt, nachzufragen und zuzuhören, was ben wollen“. ● sagt Simke Ried, dann seien viele schon der jeweils andere sagt. Im Dialog Klarheit Anne-Kathrin Stöber 12 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
THEMA Der Arzt: Begleiter auf dem letzten Weg Dr. Thomas Sitte ist einer der renommiertesten Palliativmediziner des Landes – und Christ A uf einem Tisch im geräumigen Bü- le. Fürchtet er einen Dammbruch? „Der ist ro seiner Stiftung in Fulda steht schon da.“ Aufgabe und Mission der Stif- eine kleine Skulptur, die in Die Zeit läuft: tung sei es, den Menschen Entschei- einem metallenen Schriftzug die Dr. Thomas Sitte mit einem dungsgrundlagen an die Hand Position von Dr. Thomas Sitte Stundenglas, Symbol der zu geben, um über ihr Sterben zusammenfast: „Lebe.” Da- Vergänglichkeit per Verfügung rechtzeitig zu rum geht es dem Arzt: um entscheiden. Das entschei- das Leben am Lebensen- dende Problem sei näm- de. Sitte schätzt, dass lich gar nicht die Frage er mehr als 10.000 der Lebensverkürzung, Foto: medio.tv/Dellit Menschen auf ihrem sondern die Fähigkeit, letzten Weg begleitet das Sterben zuzulassen. hat. Nach einer Aus- Dr. Sitte ist evan- bildung zum Kranken- gelischer Christ, darauf pfleger studierte er beruht sein Menschen- Medizin, spezialisierte bild, er sagt aber: „Ich sich auf Anästhesie, war halte meinen Glauben im Rettungsdienst tätig aus der Diskussion völlig und qualifizierte sich zum raus.“ Religiöse Statements Schmerzmediziner und in der riefen oft sofort Widerstand Palliativmedizin. In dieser Fach- hervor, seine Kritiker würden ihn richtung geht es um die Linderung „bekennenden Christ“ nennen und von Symptomen bei nicht mehr heil- das als Vorwurf verstehen. Die Kirchen, baren Krankheiten. Sitte hat eine große findet er jedoch, sollten und müssten sich Gemeinschaftspraxis gegründet, im Kin- bei diesen Themen einmischen, sollten derhospiz und beim Kinder-Palliativteam onen und Politik. Aber ein Grundsatz, ei- aber über den Glaubensbezug, der das Le- „Kleine Riesen Nordhessen“ gearbeitet. In ne Position, sei unverrückbar: Die Stiftung ben als Geschenk Gottes versteht, hinaus- jüngster Zeit richtet er seinen Fokus stär- lehnt lebensverkürzende Maßnahmen ab. gehen und auch fachlich argumentieren. ker auf ältere Menschen. In beinahe allen Fällen sei es möglich, das Dass es unangenehm werden kann, Wer glaubt, Palliativarzt sei ein trauri- körperliche Leid Sterbender zu lindern, eine Position einzunehmen, erlebt Tho- ger Beruf, irrt. Die Arbeit sei toll, sagt der sagt Sitte. Seit 43 Jahren pflege und be- mas Sitte nicht nur in Streitgesprächen. 62-Jährige schlicht. Er habe so viele beein- handele er Menschen, darunter auch viele 2003 entwickelte er gemeinsam mit ei- druckende Momente, so viele Versöhnun- sehr schwer Erkrankte: „Da gab es nieman- nem Apotheker die Nasenspray-Variante gen am Sterbebett erlebt. Manches davon den, den ich dazu hätte töten oder dem eines Mittels, das bei schwerer Atemnot würde er selbst nicht glauben, wenn es in ich beim Suizid hätte assistieren müssen.“ oft Linderung bringt. Das erlaubte Ange- einem Roman stünde, aber: „Das Leben ist hörigen, schnell zu helfen, bevor ein Arzt bunter als die Fantasie, und das Sterben »Der Dammbruch kommen konnte. Das Problem: Es war ge- ist auch bunt.“ setzlich verboten, ein solches Mittel den ist schon da.« Dr. Sitte erzählt, wie er von den ei- Patienten dazulassen, eine Regelung ge- gentlich nicht gläubigen Eltern eines ster- gen Drogenmissbrauch. Sitte drohten bis benden Säuglings gebeten wurde, diesen In diesen extrem seltenen Fällen könne zu fünf Jahren Gefängnis. Er musste sei- zu taufen. „Das“, sagt der Arzt, „war ein eine Beihilfe oder gar Tötung gerechtfer- ne Praxis aufgeben und verlor viel Geld. Wahnsinnserlebnis.“ Bei einer anderen tigt sein. Der ehemalige Bundesgesund- Im Prozess kam er davon und erreichte Taufe eines sterbenskranken Kleinkinds heitsminister Hermann Gröhe (CDU) habe schließlich sogar eine Gesetzesänderung. weinten alle Angehörigen, bis ein Fünf- dazu gesagt: „Hier wäre der Anwalt gefor- Eine bittere Erfahrung dieser Zeit war jähriger plötzlich fragte: „Warum weint dert, nicht der Gesetzgeber.“ Diese Ex- für ihn: „Man lernt, dass man sehr wenige ihr denn? Das ist doch schön.“ tremfälle rechtfertigten aber nicht, die Ge- echte Freunde hat.“ Dr. Sitte bleibt, das Die Deutsche Palliativstiftung, deren setzeslage aufzuweichen, die sich bereits merkt man im Gespräch, standfest, auch Vorsitzender Sitte seit ihrer Gründung im jetzt weltweit in Richtung Suizidassistenz wenn das Kraft kosten kann – und sogar Jahr 2010 ist, ist unabhängig von Religi- oder gar Tötung auf Verlangen entwicke- Freundschaften. ● Olaf Dellit blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021 13
THEMA Die Ruheständlerin: Hinaus in die Gesellschaft gehen Pfarrerin Eveline Valtink über Antisemitismus und jüdisch-christliche Zusammenarbeit S eit knapp zwei Jahren ist sie im soge- ginnen etwa 20 Veranstaltungen im Jahr, Arbeit an der Schnittstelle nannten Ruhestand. Aber was heißt die im weitesten Sinne mit jüdisch-christli- das schon bei ihrem Tätigsein in drei chem Dialog und Erinnerungskultur zu tun Dass sie sich zum Vermitteln zwischen Vorständen – seit 18 Jahren in der Gesell- haben, organisiert Veranstaltungen zur Kirche und Gesellschaft hingezogen fühlt, schaft für Christlich-Jüdische Zusammenar- jährlichen „Woche der Brüderlichkeit“, wie war für die damals erst 30-jährige Pfar- beit (cjz); bei Artheon, der Gesellschaft für die sogenannte Doppelschriftauslegung rerin Valtink schon klar, als sie nach vier Gegenwartskunst und Kirche, und auch im oder die jüdische Bibelwoche. Anlässlich Jahren in der Gemeinde als Studienleite- Kulturnetz Kassel e.V. des Anschlags auf die Synagoge in Halle rin an die Ev. Akademie nach Hofgeismar wurden Mahnwachen an der Kasseler Syn- wechselte. „Es hat mich gereizt, an der Einsatz gegen Ausgrenzung agoge eingerichtet, im Corona-Jahr gab es Schnittstelle zwischen Kirche und Gesell- und Antisemitismus Online-Veranstaltungen zum Thema Ver- schaft, Kirche und Kultur zu arbeiten“, schwörungstheorien, in denen trauriger- sagt sie heute. Pfarrerin Eveline Valtink (68) gibt zu: weise immer noch viele judenfeindliche Er kam „völlig überraschend“, der Über- Stereotypen auftauchen. Extrem gut vernetzt gang zum „Leben in Ruhe“ – vom Pro- jektmanagement bei der Landeskirche, »Es hat mich gereizt, an der Politisiert wurde sie bereits mit 16 wo sie zuletzt für die Reformationsdeka- Jahren, auf dem Kirchentag in Stuttgart de zuständig war und beispielsweise den Schnittstelle zwischen Kirche 1969. Es ging um Gerechtigkeit und die „Konfivent“ mit 2000 Jugendlichen wupp- und Gesellschaft zu arbeiten.« Erkenntnis, dass Christsein ganz viel mit te. Neben ihrem derzeitigen Engagement Politik zu tun hat und sich nicht in Fröm- beim Projekt „Einkommen schaffen“ für migkeit und persönlichem Gottesbezug die durch Corona arbeitslos gewordenen erschöpft. Dies wurde ihr zum freien Künstler ist sie besonders für die „Schlüsselereignis im Leben“. cjz aktiv. Von beruflichen Pflichten befreit, In ihr heutiges Tun flie- ist es dennoch „ihr Leben“, dass sie sich ßen schließlich zehn gegen Ausgrenzung und Antisemi- Jahre als Leiterin tismus einsetzt, eines der wichtigs- des Evangelischen ten Anliegen der Gesellschaft für Forums mit jüdisch-christliche Zusammen- ein, das sie ab arbeit, die nach der Shoa ent- 1995 aufbau- standen ist – im Bewusstsein te, wie auch der Schuld, die auch die Kirche ihre Zeit als aufgrund ihres jahrhunderteal- Akademie- ten Antijudaismus auf sich ge- direktorin in laden hat. Hofgeismar. Extrem gut Dialog und vernetzt, kann Erinnerungskultur sie so immer wieder Menschen 80 Gesellschaften sind es bundes- zusammenbringen, weit, 150 Mitglieder gibt es in Kassel, stets nach dem Bibel- an sie hat Eveline Valtink gerade den neu- wort „Suchet der Stadt esten Rundbrief geschrieben. Ihr Job ist es, Bestes“. ● aktuelles Geschehen – wie beispielsweise im vergangenen Jahr den Anschlag von Anne-Kathrin Stöber Halle – zu reflektieren, aber vor allem or- Pfarrerin Eveline Valtink ist evangelische Vorsitzende der ganisiert sie gemeinsam mit ihren Kolle- Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Kassel e.V. 14 blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
THEMA Wenn Corona die Fronten verhärtet Weltanschauungs-Experte Oliver Koch gibt Tipps für Streitgespräche zur Pandemie C orona ist ein dominierendes Ge- Gründe herausfinden sprächsthema. Sehr schnell wird in Es ist wichtig, nach den soziologischen Dialogen die Einstellung zu diesem oder psychologischen Hintergründen zu Thema, zu Schutzkonzepten, Impfungen, fragen, die jemanden bewegen, einer Ver- Einschränkungen etc., deutlich. Es ist gut schwörungsideologie zu glauben. Fragen und wichtig, zu diskutieren und unter- Sie, worin der Mehrwert für die Anhän- Foto: ZOE – Brunk schiedlicher Meinung zu sein. Und den- ger/innen einer Verschwörungsideologie noch machen immer mehr Menschen auch bestehen könnte. Fragen Sie auch, wie das Erfahrungen mit Corona-Leugnern, Ver- Thema etwa im Zusammenhang mit einer schwörungsideologen oder Querdenkern. Familien- oder Freundesgeschichte stehen könnte, und ordnen Sie es ein in eine per- Wir sehen, dass sich die Fronten ver- sönliche oder politische Erfahrungshistorie. härten, dass Familien in Spannungen ste- hen und Beziehungen sogar abbrechen. Sorgen ernst nehmen Pfarrer Oliver Koch Diese Tipps sollen helfen, den Dialog auf- Oftmals stehen hinter Verschwörungs- ist Referent für Weltanschauungsfragen rechtzuerhalten und zu fördern. Aber es ideologien handfeste Sorgen, etwa um die im Zentrum Oekumene der EKHN und geht auch darum, Stellung zu beziehen, Demokratie, die Gesundheit, Ängste vor EKKW in Frankfurt wenn Grenzen überschritten werden. Bevormundung etc. Diese sollten ernst ge- nommen werden. Verschwörungsideologi- Keine vorschnellen Urteile! en gehen oft ineinander über und werden wichtig, eindeutig Position zu beziehen „Das ist eine Verschwörungsideologie” endlos – bleiben Sie konsequent bei einem gegen Rassismus, Radikalismus, gruppen- ist ein Totschlagargument und unterbin- Thema und lassen Sie sich nicht darauf bezogene Menschenfeindlichkeit, Antijuda- det, vorschnell genutzt, eine Diskussion. ein, 100 Dinge auf einmal zu besprechen. ismus und Verletzung der Menschenrechte. Hinter vielen Verschwörungsideologien Merkt man jedoch, dass jemand nur noch stehen ethische, politische oder etwa öko- Früh intervenieren fundamentalistisch agiert, darf man ein logische Fragen. Wenn aber „dunkle welt- Je verfestigter eine Verschwörungsideo- Gespräch auch abbrechen. weite Mächte uns alle in Abhängigkeit logie ist und je länger ihr jemand anhängt, bringen wollen“, dann ist das eine Behaup- desto schwieriger ist es, zu intervenieren. Unterstützung in tung, die in Kombination mit einem Sün- Je früher man ins Gespräch kommt, desto Anspruch nehmen denbock zur Verschwörungsideologie wird. größer ist die Chance, dass sich jemand rationalen Argumenten gegenüber offen Verschwörungsideologien sind kein Respektvoll bleiben zeigt. Festgefahrene Verschwörungswelten neues Phänomen. Beratungsstellen sind Bemühen Sie sich in Gesprächen, auch sind gefährlich. Eine Gefahr ist die Zerset- schon lange mit ihnen und ihren Folgen wenn es manchmal schwerfällt, um einen zung und Unterhöhlung der Demokratie. beschäftigt, haben Erfahrung und können respektvollen Umgang und fordern Sie ihn Tipps zum Umgang geben. Nehmen Sie auch von Ihrem Gegenüber ein. Hilfe in Anspruch! Manchmal fühlt man Fragen stellen sich allein und hilflos angesichts der An- Kritisches Denken fördern Stellen Sie im Dialog vor allem W-Fra- zahl von Argumenten, Hypothesen und Verschwörungsideologen fordern „kri- gen: Warum ist das so? Weshalb siehst du Behauptungen. Schaffen Sie Allianzen im tisches Denken“. Verhaften Sie Ihre Ge- das so? Wer sagt es? Welchen Gewinn hast Freundes- und Familienkreis. Suchen Sie sprächspartner bei diesem ursprünglichen du davon? Solche Fragen sind zunächst gemeinsam nach Möglichkeiten des Um- Anspruch und machen Sie deutlich, dass einmal unemotional und pragmatisch und gangs, und vermeiden Sie ein Verschwei- Sie erwarten, dass Informationsquellen bieten so die Möglichkeit, hin zum Fakten- gen von Bedenken. ● Oliver Koch auf ihre Seriosität und Ideologie geprüft bezug zu kommen. werden. Entlarven Sie „Fake News“ mithil- Broschüre „Verschwörungsideologien: fe spezieller Portale, etwa Faktencheckern, Grenzen ziehen Definitionen, Hintergründe, Praxistipps“ Mimikama, Volksverpetzer oder Ähnli- Diskussionen mit Verschwörungsideo- des Zentrums Oekumene und des Zen- chem. Achten Sie besonders bei Kindern logen sind anstrengend. Es ist wichtig, die trums Gesellschaftliche Verantwortung und Jugendlichen auf die Entwicklung aus- eigenen Belastungs-, Schmerz- und Tole- unter www.zentrum-oekumene.de reichender Medienkompetenz. ranzgrenzen nicht zu überschreiten. Es ist Untermenü „Weltanschauungen” blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021 15
Sie können auch lesen