Position beziehen - FÜR MITARBEITENDE - EKKW

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Position beziehen - FÜR MITARBEITENDE - EKKW
2–2021

                                                      FÜR MITARBEITENDE
Foto: medio.tv/Dellit

                        DER AKTIVIST
                        Klimawandel: Fester
                        Stand in luftiger Höhe
                                                 Position
                        DER THEOLOGE
                        Homosexualität: Kurs-
                                                 beziehen
                        korrekturen sind nötig
Position beziehen - FÜR MITARBEITENDE - EKKW
INHALT | EDITORIAL

Inhalt                                                       Liebe Leserinnen,
                                                             liebe Leser,
THEMA
                                                             beim Thema Corona gehen die Meinun-

                                                                                                                                  Fotos: medio.tv/Schauderna
 4          Interview mit Bischöfin Beate Hofmann:           gen regelmäßig auseinander. Sind die
		          „Position beziehen, wo die Würde von             angeordneten Gegenmaßnahmen zu
		          Menschen missachtet wird”                        hart oder zu locker? Manche finden die
    6       Der Aktivist: Fester Stand in luftiger Höhe      Regeln überzogen, andere zu lasch, wie-
                                                             der andere inkonsequent. Wie soll man
    7       Der Bürgermeister: Herzschlag wie ein Kolibri    mit den Kindern umgehen? Und den Al-
    8       Die Pfarrerin: Asyl in der Gemeinde              ten? Werden die Kirchen angemessen
                                                             behandelt? Man muss in diesen Fragen
    9       Der Theologe: Kurskorrekturen sind nötig         seinen eigenen Standpunkt finden und
    10      Der Sozialarbeiter: Gemeinschaft gibt Halt       Position beziehen. Wer schon einmal mit einem Corona-Leugner
                                                             (ja, die gibt es immer noch!) gesprochen hat, weiß, wie mühsam
 11         Die Fachreferentin: „Älterwerden? – 		           und ärgerlich es sein kann, wenn Argumente nicht gehört werden
		          Oh, das betrifft mich ja auch!”
                                                             wollen, wenn Meinungen – manchmal durch nichts gerechtfertigt
    12      Die Lehrerin: „Nicht so nachgiebig”              – absolut gesetzt werden. Wenn Dummheit triumphiert.
                                                                  Doch die jetzt schon über ein Jahr andauernde Corona-Krise
    13      Der Arzt: Begleiter auf dem letzten Weg
                                                             ist nur ein besonders krasses Beispiel für die Notwendigkeit, im
    14      Die Ruheständlerin: In die Gesellschaft hinaus   Leben Position zu beziehen. Denn Haltung ist überall gefragt.
                                                             In diesem Heft geht es schwerpunktmäßig um Menschen, die
 15         Tipps für Streitgespräche:
                                                             aufgrund ihrer christlichen Überzeugung eine klare Einstellung
		          Wenn Corona die Fronten verhärtet
                                                             zeigen – im Beruf, im ehrenamtlichen Engagement, im gesell-
 16         Gewaltfrei handeln:                              schaftlichen und politischen Bereich. Vielleicht nicht gleich im
		          Das Potenzial des Dialogs ausreizen              heroischen Luther-Gestus „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“,
                                                             sondern eher aus einem inneren Antrieb heraus, der den Glauben
                                                             an die Entscheidung für das Richtige nicht verleugnet. Mancher
                                                             feste Standpunkt entsteht im Ringen mit sich selbst, vielleicht
LANDESKIRCHE                                                 muss man auch Widerstände oder Ängste überwinden.
                                                                  Die folgenden Porträts und Interviews zeigen – für mich teil-
    17      Kampagnen in der EKKW                            weise sehr berührend –, wie Menschen für etwas einstehen, von
                                                             dem sie überzeugt sind. Das zu lesen tut gut – nicht nur in Co-
    18      Berichte von der Online-Synode
                                                             rona-Zeiten.
    21      Evangelische Schulen in Zeiten der Pandemie       Lothar Simmank
                                                                                                 Redakteur blick in die kirche
    22      Kirchenführer schnell und einfach basteln
    23      ÖKT: „Begegnung und Nähe werden fehlen”
    24      Von Personen
    25      Abschied vom Klingelbeutel
                                                             Texte und Fotos aus Indien
                                                             Kurz bevor Corona die ganze
    26      Wechsel in der Blindenseelsorge
                                                             Welt erfasste, besuchte eine De-
    27      Aktionen zur Fastenzeit                          legation aus Kurhessen Projekte
                                                             der Ausbildungshilfe in Südin-
                                                             dien. Daraus ist eine Broschüre
                                                             mit vielen Fotos und Texten
SERVICE                                                      über die Hilfsprojekte entstan-
                                                             den, passend zum 60-jährigen
    28      Termine / Kirchenmusik                           Bestehen der Ausbildungshilfe.

    30      Kirche im Radio                                  Kostenlos erhältlich unter
                                                             T 0561 9378-385 oder Mail:
    30      Neu erschienen                                   ausbildungshilfe@ekkw.de
                                                             www.ausbildungshilfe.de
    32      Im Angesicht leerer Kirchen

2        blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
Position beziehen - FÜR MITARBEITENDE - EKKW
UMFRAGE | IMPRESSUM

Wo haben Sie zuletzt deutlich Position bezogen?
                               Foto: Blechner/Bildsucht

                                                                                   Foto: medio.tv/Schauderna

                                                                                                                                       Foto: Peter Beckmann

                                                                                                                                                                                      Foto: Klaus Wagner, DW
 Als unsere Landessynode                                   Im Streit um den Ausbau der                          Wenn alte, noch intakte                        Diakonische Arbeit besteht
 2011 beschlossen hat, die                                 A49 habe ich mehrfach zum                            Bäume neben Kirchen oder                       aus Dienstleistung und An-
 öffentliche Segnung gleich-                               Gewaltverzicht aufgerufen.                           Pfarrhäusern gefällt werden                    waltschaft. Darum beziehen
 geschlechtlicher Menschen zu                              Prostest muss sein, Leiden-                          sollen, weil man sich ansons-                  wir als Diakonisches Werk in
 ermöglichen und dann 2018                                 schaft, Wut und Auseinan-                            ten im Herbst um das Laub                      der Region Kassel deutlich
 eine Änderung ihres Trauge-                               dersetzung haben ihr Recht,                          kümmern müsste, beziehe ich                    Position, wenn wir Unrecht
 setzes verabschiedet hat, die                             wenn es um die Zukunft                               Position dagegen. Auch wenn                    wahrnehmen: Wie werden
 auf die 2017 in Kraft getre-                              geht. Doch mit friedlichen                           eine Dohlenkolonie vergrämt                    Geflüchtete in Erstaufnahme-
 tene staatliche Gleichstellung                            Mitteln und im gegenseiti-                           werden soll, weil die Vögel                    einrichtungen vor dem Coro-
 gleichgeschlechtlicher Paare                              gen Respekt! Es wäre fatal,                          Reinigungsarbeiten an Kir-                     na-Virus geschützt? Wie sind
 bei der Trauung folgt, habe                               auf die Parole von Aktivisten                        chen notwendig machen. So                      die Chancen für Menschen
 ich so viele wütende Briefe                               zu hören: „Gewaltlosigkeit ist                       etwas ärgert mich, zumal ich                   mit geringem Einkommen
 und aufgeregte Anrufe be-                                 Waldlosigkeit“. Es führt auch                        als Umweltbeauftragter von                     auf dem Wohnungsmarkt?
 kommen wie zu keinem ande-                                nicht weiter, wenn Polizei ihr                       erbosten Naturschützern und                    Welche Unterstützung erfah-
 ren Thema. Gerade deshalb                                 Gewaltmonopol nicht nur                              Behörden auf den Frevel hin-                   ren Frauen und Kinder in der
 scheint es mir bis heute nötig,                           nutzt, sondern demonstrativ                          gewiesen werde. Da steht in                    Pandemie? Hier mischen wir
 zu diesem Thema klar Stel-                                durchsetzt. Ich bin überzeugt:                       Zeiten von Fridays for Future                  uns ein. Position zu beziehen
 lung zu beziehen und jegliche                             Wir müssen die Klimaziele                            unsere christliche Glaubwür-                   bedeutet für mich, in den Dis-
 diskriminierenden Äußerun-                                erreichen. Das ist eine riesi-                       digkeit auf dem Prüfstand.                     kurs zu gehen: Hier stehe ich
 gen und fundamentalistischen                              ge Aufgabe. Wir schaffen sie                         Damit die „Bewahrung der                       – wo stehst du? Lass uns mit-
 Positionen klar abzulehnen.                               nicht im Bürgerkriegsmodus,                          Schöpfung“ nicht zum Lippen-                   einander reden. Dann können
 Gern lasse ich mich zu diesem                             sondern nur, wenn wir unbe-                          bekenntnis verkommt, muss                      wir gemeinsam etwas verän-
 Thema einladen.                                           dingt zusammenhalten.                                man hier Respekt einfordern.                   dern.

Sabine Kropf-Brandau (57),                                Helmut Wöllenstein (64),                             Uwe G. W. Hesse (58),                          Tamara Morgenroth (52),
Pröpstin des Sprengels Hanau                              Propst des Sprengels Marburg                         Pfarrer und Beauftragter für                   Pfarrerin und Geschäftsführe-
                                                                                                               Umweltfragen der EKKW                          rin des Diakonischen Werks
                                                                                                                                                              Region Kassel

IMPRESSUM
 blick in die kirche erscheint sechsmal jährlich und                 Redaktion:                                                       Anschrift:
 wird an haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen                   Lothar Simmank (Leitung)                                         Ev. Medienhaus, Heinrich-Wimmer-Straße 4
 und Mitarbeiter der Landeskirche kostenlos verteilt.                Telefon 0561 9307-127                                            34131 Kassel-Bad Wilhelmshöhe
                                                                     Olaf Dellit                                                      redaktion@blickindiekirche.de
 Direkt-Abonnement:                                                  Telefon 0561 9307-132                                            www.blickindiekirche.de
 12,50 Euro pro Jahr inklusive Zustellkosten
                                                                     Redaktionsbüro /                                                 Gestaltung: Lothar Simmank, Olaf Dellit
 Herausgeber:                                                        Anzeigen:                                                        Layout-Konzept: Liebchen+Liebchen, Frankfurt am Main
 Landeskirchenamt der Evangelischen                                  Andrea Langensiepen                                              Herstellung: Bonifatius GmbH, Paderborn
 Kirche von Kurhessen-Waldeck                                        Telefon 0561 9307-152                                            Auflage: 17.300 Exemplare
 Wilhelmshöher Allee 330                                             Daniela Denzin
 34131 Kassel-Bad Wilhelmshöhe                                       Telefon 0561 9307-128                                            Mehr Informationen über die Evangelische Kirche
                                                                     Fax     0561 9307-155                                            von Kurhessen-Waldeck unter www.ekkw.de

                                                                                                                      blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021                                         3
Position beziehen - FÜR MITARBEITENDE - EKKW
THEMA

Interview mit Bischöfin Dr. Beate Hofmann

Position beziehen,
wo die Würde
von Menschen
missachtet wird

?   In einer zunehmend komplizierten
    Welt sind klare Haltungen gefragt,
auch in der Kirche. Ist es für Sie als
                                               Aber die evangelische Kirche sagt nicht
                                               einfach: „Nur so darfst du denken oder
                                               entscheiden.“
Bischöfin nötig und möglich, immer
eindeutig Position zu beziehen?
    Dr. Beate Hofmann: Manchmal gibt
es Situationen, in denen es schnelle, klare
                                               ?   Strittig wird es oft in politischen
                                                   Fragen: Sollten sich Pfarrerinnen
                                               und Pfarrer überhaupt zu Politik auf der
Entscheidungen und Positionen braucht,         Kanzel äußern?
zum Beispiel bei der Frage: Gratuliere ich         Hofmann: Parteipolitik gehört nicht
einem frisch gewählten Ministerpräsiden-       auf die Kanzel, aber biblische Texte haben
ten, der mit einem politischen Tabubruch       oft eine politische Dimension, die dürfen
von der AfD gewählt wurde? (Anm. d.            wir nicht verschweigen.
Red.: Thomas Kemmerich, FDP, war vom
5.2. bis 4.3.2020 MP im Freistaat Thürin-
gen, in dem der EKKW-Kirchenkreis Schmal-
kalden liegt.) Ich habe eine Nacht schlecht
                                               ?   Ulf Poschardt, Chefredakteur der
                                                   „Welt“, hat der Kirche kürzlich vor-
                                               geworfen, sie reproduziere „mediale
geschlafen und entschieden, ich gratuliere     linksliberale oder vermeintlich liberale
nicht.                                         ökologische Klischees“, anstatt ihre
                                               spirituellen Angebote zu stärken. Wie
    In anderen Fragen, vor allem in Di-        begegnen Sie solchen Vorwürfen?              Bischöfin Beate Hofmann befestigt das Schild der Aktion
lemmasituationen, gibt es oft keine „ein-          Hofmann: Das Statement trennt zum
deutige Position“, weil es gute Argumen-       Beispiel spirituelle und ökologische An-     würdig machen. Wir versuchen, in den Di-
te für verschiedene Positionen gibt und        liegen voneinander. Der Einsatz für die      alog mit jenen zu treten, die uns Vorwürfe
weil letztlich jede Entscheidung auch mit      Bewahrung der Schöpfung hat aber auch        machen oder mit Austritt drohen, um un-
Schuld beladen sein kann, zum Beispiel bei     eine spirituelle Dimension. Glaube und       sere Haltung nachvollziehbar zu machen.
Fragen rund um Abtreibung, Präimplanta-        soziale Verantwortung gehören für mich       So gab es beispielsweise auch in der Dis-
tionsdiagnostik oder auch Sterbehilfe.         untrennbar zusammen, und da weiß ich         kussion um den Dannenröder Forst einige
                                               mich in guter Gesellschaft mit den bibli-    Briefwechsel.

?   In welchen Fragen dürfen Menschen
    von ihrer evangelischen Kirche
                                               schen Texten.

                                                                                            ?  An welchen Stellen hat sich die
Orientierung erwarten?
    Hofmann: Die Frage ist: Was heißt hier
Orientierung? Orientierung heißt für mich:
                                               ?  Nach kirchlichen Stellungnahmen,
                                                  zum Beispiel zur Seenotrettung auf
                                               dem Mittelmeer, gibt es auch Austritts-
                                                                                               Evangelische Kirche von Kurhessen-
                                                                                            Waldeck zuletzt öffentlichkeitswirksam
                                                                                            positioniert – vielleicht auch gegen den
Hilfe bei der Urteilsbildung, aufzeigen, wie   drohungen. Wie gehen Sie damit um?           Mainstream?
hier mögliche Positionen mit christlichen         Hofmann: Es schmerzt, aber sich sol-          Hofmann: Beim Beitritt zu „United4
Leitlinien und Normen (zum Beispiel der        chen Drohungen zu beugen, widerspricht       Rescue” (Anm. d. Red.: „Gemeinsam Ret-
Gottebenbildlichkeit, den Zehn Geboten,        dem prophetischen Amt der Kirche. Es         ten” ist ein deutscher Verein zur Rettung
der Nächstenliebe) zusammenhängen.             würde uns auch erpressbar und unglaub-       von Menschen im Mittelmeer, der unter an-

4      blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
Position beziehen - FÜR MITARBEITENDE - EKKW
THEMA

„Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung” an der Eingangstür im Kasseler Haus der Kirche (siehe auch Seite 17)

            derem von der EKD unterstützt wird und                                                       Diskussionen um Corona zeigen ja immer
            am Schiff Sea-Watch 4 beteiligt ist), mit              »Glaube und                           wieder auch in Kirchenvorständen, wie
            der Forderung, dass das Tragen des Da-            soziale Verantwortung                      schwer es ist, unterschiedliche Positionen
            vidsterns bei Anti-Corona-Demos verboten       gehören für mich untrennbar                   auszuhalten. Hier im Gespräch zu bleiben,
            wird, bei der Aufnahme von Flüchtlingen                                                      aber auch klar Position zu beziehen gegen
            aus Moria, Lesbos und Lipa, aber auch bei
                                                           zusammen. Da weiß ich mich                    Verschwörungstheorien, Demokratiefeind-
            Themen wie Kirchenasyl, Sterbehilfe und          in guter Gesellschaft mit                   lichkeit, antisemitisches Gedankengut und
            Sonntagsheiligung.                                den biblischen Texten.«                    rechte Parolen kostet Mut, Geduld und
                                                                                                         Hartnäckigkeit. Ist das „nichts“?

            ?   Der Beitritt der EKKW zur Initiative
                „Offen für Vielfalt“ ist für viele na-
            heliegend, „kostet“ aber auch nichts.         pulismus und Rechtsextremismus. Die            ?  Wo sind aus Ihrer Sicht kirchliche
                                                                                                            Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
            Ist das nicht ein Beispiel für bloße          betroffenen Haupt- und Ehrenamtlichen,         herausgefordert, Position zu beziehen?
            Symbolpolitik?                                die teilweise auch bedroht worden sind,           Hofmann: Dort, wo die Würde von
                Hofmann: Der Beitritt war eine Reakti-    erzählen durchaus davon, was es sie kos-       Menschen missachtet wird. ●
            on auf wachsende Konflikte in Gemeinden       tet, Position zu beziehen. Ihnen wollen wir
            in der Auseinandersetzung mit Rechtspo-       als Landeskirche den Rücken stärken. Die                          Fragen: Lothar Simmank

                                                                                         blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021        5
Position beziehen - FÜR MITARBEITENDE - EKKW
THEMA

                         Der Aktivist: Fester Stand in luftiger Höhe
                         Cedric Büchling ist Klimaschützer, Christ und steht beruflich bei Volkswagen am Band

                         A
                                   utobahngegner, Christ und Mitar-     nem kurzen Besuch im Tannenwäldchen              die anstehenden Veränderungen noch
                                   beiter am Band bei Volkswagen:       zeigt sich, dass das funktioniert: Spazier-      stärker positiv begleiteten.
                                   Cedric Büchling ist einer, der Po-   gänger lesen die Transparente und fragen,            Wie so viele Aktivisten der Klima-
                         sition bezieht, wenn es sein muss, auch        worum es hier geht. Ein Jogger, der vor-         schutzbewegung „Fridays For Future“ (FFF)
                         in sechs Metern Höhe. Die ersten Novem-        beiläuft, ruft mit Blick auf das Baumhaus:       ist auch Cedric Büchling selten um eine
                         bernächte 2020, in denen das Thermome-         „Cooles Ding!“                                   Zahl oder eine Studie verlegen, um seine
                         ter in den Minusbereich rutschte, hat der          Cedric war in früheren Jahren sehr in        Argumente zu untermauern. Die Verbin-
                         24-Jährige in einem Baumhaus im Kasse-         der evangelischen Jugendarbeit der Kasse-        dung zur Wissenschaft ist es auch, die ihn
                         ler Tannenwäldchen verbracht. Ausgerüs-        ler Christuskirche aktiv, hat Konfirmanden-      Sätze sagen lässt, die bei FFF so oft nach
                         tet mit zwei Schlafsäcken und einer dicken     freizeiten begleitet und sich auch in der        Kompromisslosigkeit klingen: „Die Physik
                         Decke, sei das ganz gut gegangen, erzählt      Jugendkulturkirche Cross engagiert. „Vor         und die Natur machen keine Deals.“
                         er, nachdem er sich zum Gespräch von der       allem der Jugendgottesdienst hat mich an-            Aber Cedric sagt, dass Kritik und Kri-
                         hölzernen Plattform abgeseilt hat.             gefixt“, erinnert er sich. Es folgte der Frei-   tikfähigkeit sehr wichtig seien – deswegen
                              Die Aktion war als Unterstützung für      willigendienst bei der Jugendkirche Soest.       werde in der Bewegung viel diskutiert,
                         die Baumbesetzer im Dannenröder Forst          Der Kontakt zur Evangelischen Jugend             denn nur so könne man eine Position be-
                         gedacht, die sich gegen die Teilrodung         Kassel besteht bis heute, nicht weit vom         ziehen und halten. Eine stabile Haltung ist
                         des Waldes zum Weiterbau der Autobahn          Baumhaus ist der Jugendbus als Zeichen           für den 24-Jährigen auch im Beruf gefragt,
                         49 einsetzen. „Es ist unverständlich, dass     der Solidarität geparkt.                         denn er arbeitet – ausgerechnet – in der
                         im Jahr 2020 noch eine neue Autobahn                                                            Automobilindustrie, genauer gesagt, bei
                         gebaut wird“, sagt Büchling, der aber ein-                                                      Volkswagen in Baunatal. Dort steht der
                         räumt, auch die Interessen der Menschen          »Die Physik und die Natur                      gelernte Mechatroniker in Schichtarbeit
                         zu verstehen, die ohne Autobahn durch                                                           am Band. Cedric Büchling sieht das nüch-
                                                                            machen keine Deals.«
                         den starken Verkehr auf der Bundesstraße                                                        tern, er sei dort nur eine Nummer. Aber die
                         3 belastet sind.                                                                                Arbeit bei VW gebe ihm die Möglichkeit,
                              In einer Chatgruppe seien an die 130          „Die Kirchen haben sich relativ früh         auf Augenhöhe mit den Kollegen über die
                         Kinder und Jugendliche, die sich engagier-     positioniert“, findet Cedric und erwähnt         Klimakrise zu diskutieren.
                         ten, erzählt er, darunter viele Schüler. Sie   lobend die Enzyklika „Laudato si“ von                Warum könne VW nicht umstellen und
                         wechselten sich im Baumhaus ab, das vor        Papst Franziskus, die die Bewahrung der          beispielsweise Busse oder E-Bikes bauen,
                         allem auch als Ort für Diskussionen und        Schöpfung in den Mittelpunkt stellt. Zu-         fragt er. Durch sein Engagement – nicht
                         Informationen dienen soll. Schon bei ei-       gleich wünsche er sich, dass die Kirchen         zuletzt durch die Ankündigung, das Werk
                                                                                                                         mit FFF lahmzulegen, und das dann doch
                         Klimaktivist Cedric Büchling auf dem Protest-Baumhaus im Kasseler Tannenwäldchen                nicht zu tun – sei er im ganzen VW-Werk
                                                                                                                         bekannt geworden. Natürlich würden ihn
                                                                                                                         manche für einen Spinner halten, aber vie-
                                                                                                                         len sei längst klar, dass es so wie bisher
                                                                                                                         nicht weitergehen könne.
                                                                                                                             Der junge Mann will überzeugen, ob
                                                                                                                         im Tannenwäldchen – wo das Baumhaus
                                                                                                                         übrigens nach einigen Tagen von der Stadt
                                                                                                                         Kassel geräumt wurde – oder auch in der
                                                                                                                         eigenen Familie. Seine Mutter, erzählt er,
                                                                                                                         arbeitet bei der IG Metall in Frankfurt. Sie
                                                                                                                         kenne die Fahrtstrecke von Kassel dorthin
                                                                                                                         und sei für den Weiterbau der A49 gewe-
                                                                                                                         sen. Doch er habe sie überzeugen können,
                                                                                                                         dass so ein Bau kein Problem löse, sondern
Fotos: medio.tv/Dellit

                                                                                                                         allenfalls verlagere. Inzwischen unterstüt-
                                                                                                                         ze seine Mutter die Protestler im Dannen-
                                                                                                                         röder Forst und backe Energieriegel für die
                                                                                                                         Aktivisten. ●                   Olaf Dellit

                         6      blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
Position beziehen - FÜR MITARBEITENDE - EKKW
THEMA                                                                                                                           THEMA

       Der Bürgermeister:
              Herzschlag
           wie ein Kolibri
   Torben Busses Weg vom Kasseler Landes-
    kirchenamt ins Rathaus von Hofgeismar

M
          inutengenau erinnert sich Tor-           Ein Wechsel
          ben Busse (44), bislang Sach-        zwischen zwei Wel-
          gebietsleiter Informations- und      ten steht an, denn
Kommunikationstechnik im Kasseler              der Kirchenbeamte
Landeskirchenamt, an eine ganze Reihe          auf Lebenszeit geht

                                                                                                                                             Fotos: medio.tv/Simmank
von Ereignissen in seinem Leben. Klar,         zunächst für sechs
den Hochzeitstag oder die Geburtsdaten         Jahre in die kom-
seiner beiden Kinder hat er parat. Aber        munale Verwaltung
da ist zum Beispiel auch der 18.2.2019,        – und zwar an de-
19:32 Uhr. Eine Virus-Meldung alarmiert        ren Spitze. Ein Jahr
Busse und sein Team: Im LKA droht der          zuvor war das noch
Netzwerk-Gau, größerer Schaden für die         kein Ziel für Busse,   Torben Busse mit seinem Plakat zur Bürgermeister-Wahl 2020
Behörde muss verhindert werden.
    Oder der 13.3.2020: Über Nacht müs-                 »Die Chance,                         Politik ausgerichtet ist und nicht wie in der
sen aufgrund des coronabedingten Lock-                                                       Kirche am Verkündigungsauftrag, stellt er
downs Arbeitsplätze technisch umorgani-
                                                 sich persönlich ganz anders                 fest. Inhalte und Strukturen von Verwal-
siert werden: „Wir haben 1.200 Leute, die            weiterzuentwickeln«                     tung funktionierten wiederum gleich.
bis dahin nur gewohnt waren, im Büro zu                                                          Als Bürgermeister will er „Hofgeismar
arbeiten, von einem auf den anderen Tag        sondern die Entscheidung, als Bürger-         voranbringen“. Konkret heißt das für den
home-arbeitsfähig gemacht“, sagt der IT-       meister zu kandidieren, fiel auf Drängen      CDU-Mann, sich für den Neubau von Kita
Fachmann nicht ohne Stolz. Nicht zuletzt       von Parteifreunden erst Mitte 2020. Und       und Stadthalle einzusetzen, für eine fahr-
die jahrelang vorbereitete „digitale Akte“     eigentlich war der studierte Diplom-Ver-      radfreundliche Stadt, für ein neues Kran-
habe diese Umstellung möglich gemacht.         waltungswirt bis dahin ganz zufrieden, als    kenhaus am Krähenberg sowie ein klares
„Wenn man bedenkt, dass viele kirchliche       Beamter abgesichert, noch dazu in einem       Nein zur Windkraft im Naturpark Habichts-
Mitarbeiter vor 15 Jahren noch nicht mal       Umfeld, das ihm Spaß macht: „Ich konnte       wald zu formulieren. Die zuletzt genannte
einen PC hatten, ist das schon ein gewal-      mein Hobby zum Beruf machen, weil ich         politische Positionierung könnte den Bür-
tiger Wandel“, so Busse.                       mich schon immer für Technik interessiert     germeister in Opposition zur Landespolitik
    Und dann ist da noch der 1.11.2020,        habe.“ Jetzt kommt etwas ganz anderes         und auch zu kirchlichen Umweltbeauftrag-
18.10 Uhr: Stimmenauszählung bei der           auf ihn zu: „Es ist ein Bruch, aber einer,    ten bringen, aber damit kann der durchset-
Bürgermeisterwahl in Hofgeismar. Torben        der die Chance bietet, mich auch persön-      zungsstarke Nordhesse leben.
Busse ist Kandidat der CDU und tritt ge-       lich ganz anders weiterzuentwickeln“, sagt
gen den Amtsinhaber an. Die Ergebnisse         Busse, der erst vor Kurzem sein 25-jähriges       „Henners Traum“ heißt der Film über
aus den einzelnen Wahlkreisen trudeln          Dienstjubiläum beging.                        einen Amtsvorgänger Busses, der auf Gut
ein. Wird es reichen? Während er zuvor                                                       Beberbeck Europas größtes Ferienresort
ziemlich gelassen ist – „der Wahlkampf             Dass man alle zehn Jahre beruflich        entstehen lassen wollte. Der für manche
hat mich nicht geschlaucht“ –, lassen ihn      etwas anderes tun sollte, ist ein Motto,      Kritiker größenwahnsinnige Plan platzte
diese Minuten nicht kalt: „Ich hatte einen     das zu ihm passt. Aber auch das Eintreten     bekanntermaßen. Was hat Henners Partei-
Herzschlag wie ein Kolibri“, gesteht Busse     für seine Überzeugungen: „Ich mache seit      freund Torben Busse aus dieser Geschichte
ein. Er geht als Sieger aus der Wahl hervor,   1997 Kommunalpolitik, deswegen ist mir        gelernt? „Ich möchte realistische Ziele ver-
ist ab Jahresanfang 2021 Bürgermeister         das nichts Neues“, sagt Busse, der Frak-      folgen“, sagt er, „und den Kontakt zu den
der Stadt Hofgeismar mit allen Ortsteilen      tionsvorsitzender im Stadtparlament war.      Menschen in Hofgeismar nicht verlieren
– einschließlich Hümme, wo er mit der Fa-      Der Unterschied zur Kirche: Die Personen      – offen, transparent und miteinander.“ ●
milie wohnt.                                   agieren anders, wenn ihr Handeln an der                                 Lothar Simmank

                                                                             blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021           7
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THEMA

Die Pfarrerin:
Asyl in der
Gemeinde
Frauke Leonhäuser und
ihre Gemeinde boten
einer Iranerin Unterschlupf

G
        ott ist auf Seite der Armen, der Be-
        drohten und der Verfolgten. Und
        wenn Gott das ist, dann sollte es
seine Kirche auch sein. So lässt sich die
Haltung zusammenfassen, die die Kirchen-
gemeinde in Niestetal-Heiligenrode dazu
gebracht hat, einer Iranerin für gut ein
Jahr Unterschlupf zu gewähren.
     Es ist ein uralter Brauch, dass Men-
schen an heiligen Orten vor Verfolgung
geschützt sind – darauf geht die Institu-
tion des Kirchenasyls zurück. In Heiligen-
rode wandte sich der Sohn einer Iranerin
eines Tages an die Kirche. Das Asyl des
Sohns, erzählt Pfarrerin Frauke Leonhäu-
ser, war längst anerkannt, er hatte sich im

                                                                                                                                             Foto: medio.tv/Dellit
Iran politisch betätigt. Die Tochter sollte
zwangsverheiratet werden. So standen die
Chancen für die Mutter, die zudem krank
ist, auf Asyl gut. Doch sie war über Frank-
reich nach Deutschland eingereist, sodass      Ordentlich abgeheftet: Mit einem Kirchenasyl ist auch viel Papierkram verbunden, hat
die europäische Regelung griff, nach der       Pfarrerin Frauke Leonhäuser, hier vor der Heiligenröder Kirche, festgestellt
sie dort ihren Antrag hätte stellen müssen.
Bereits einmal war sie mit ihrer Tochter       Pfarrhaus die sanitären Anlagen. Regel-       zu musste sie von Heiligenrode aus noch
nach Frankreich abgeschoben worden, wo         mäßig war sie auch im Gottesdienst und        mal in die Erstaufnahmeeinrichtung in Gie-
sie laut Leonhäuser keine Konktakte hatte,     beschäftigte sich intensiv mit dem Chris-     ßen, doch auch das liegt nun hinter ihr.
während der Sohn hier war.                     tentum. Schon beim Einzug ins Kirchenasyl     Die Chancen auf Asyl stehen offenbar gut.
     Im Kirchenvorstand sei die Anfrage        habe sie eine Bibel in persischer Sprache          Für Pfarrerin Leonhäuser sind ein
des Sohnes kontrovers und offen debat-         dabei gehabt und sich inzwischen zur          solches Engagement und der Glauben
tiert worden, bevor er schließlich zustimm-    Taufe entschlossen. Das hänge auch da-        schlicht nicht zu trennen, vielmehr gebe
te. Das Ziel: der Frau so lange Schutz zu      mit zusammen, dass sie die mit dem Islam      er ihr einen festen Standpunkt. „Wir als Kir-
bieten, bis sie ihren Antrag in Deutschland    gerechtfertigte Unterdrückungspolitik im      che müssen bei bestimmten gesellschaftli-
stellen kann. Für ein Kirchenasyl gibt es in   Iran ablehne.                                 chen Fragen Stellung beziehen“, findet sie.
den Landeskirchen genaue Regeln. Unter                                                       Das könne auch bedeuten, im Widerspruch
anderem werden die Behörden informiert,        Regelmäßig kam Besuch                         zum Staat zu stehen.
wissen also stets, wo sich die Personen be-                                                       Für sie sei der Blick auf den einzelnen
finden – es ist keine Geheimaktion. So gab         Für Leonhäuser und die Ehrenamt-          Menschen wichtig, nicht auf eine Zahl
es Kontakte mit dem Bundesamt für Mig-         lichen – unter anderem besuchten fünf         oder einen abstrakten Fakt, sagt die Theo-
ration und Flüchtlinge, mit einem Rechts-      Frauen aus der Gemeinde die Iranerin an       login. Nächstenliebe sei die Grundlage,
anwalt und mit dem Diakonischen Werk,          fünf Tagen der Woche abwechselnd – aber       auf der die Kirchengemeinde der Iranerin
wo Experten für Kirchenasyl tätig sind.        ist das Ziel des Kirchenasyls erreicht: Die   eine Chance auf ein sicheres Leben geben
     Die Iranerin lebte in einem Raum des      Frau darf nach langem Hin und Her ihren       wollte. Weil Gott auf der Seite der Verfolg-
Gemeindehauses und nutzte dort und im          Asylantrag nun in Deutschland stellen. Da-    ten ist. ●                       Olaf Dellit

8      blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
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THEMA

Der Theologe: Kurskorrekturen sind nötig
Dr. Michael Diener über eine persönliche Umkehr aus evangelisch-biblischer Sicht

K
        urshalten in stürmischen Zeiten“                                                        sonaro denke, die von Angehörigen die-
        – das ist der Titel seiner Dok-                                                             ser Glaubensrichtung wider alle Ver-
        torarbeit und in gewisser                                                                      nunft und gegen biblische Werte
Weise auch eine Überschrift                                                                              unterstützt werden.
über die letzten fünf Jahre                                                                                     Der aus der Pfalz stam-
seines beruflichen Wirkens.                                                                                  mende Pfarrer, nach Quittie-
Dabei ist Dr. Michael Die-                                                                                    rung seines leitenden Am-
ner (58) aus Kassel nicht                                                                                      tes zurzeit im Sabbatjahr,
etwa ein rauer Seemann,                                                                                        ist sich inzwischen sicher,

                                                                                                       Foto: epd-bild
sondern ein frommer Pfar-                                                                                      dass es richtig war, die ei-
rer. Trotzdem geriet er als                                                                                    gene Erkenntnis und Ge-
Präses des Evangelischen                                                                                      wissenshaltung öffentlich
Gnadauer Gemeinschafts-                                                                                      zu machen: „Ich halte eine
verbandes, der er von 2009                                                                                 Umkehr in dieser Position für
bis 2020 war, gewissermaßen                                                                              evangelisch-biblisch geboten.
in schwere See.                                                                                        Ich glaube, dass eine ablehnende
     Der Grund: Er hatte in einer um-                                                                Haltung gegenüber homosexuellen
strittenen Frage öffentlich Position be-                                                         Menschen, die in einer auf Dauer ange-
zogen. Weil er für eine offenere Haltung                                                      legten Beziehung leben, nicht unter das
gegenüber Homosexuellen in Kirchen und                                                        Verdikt bestimmter Bibelstellen fallen darf
                                               Dr. Michael Diener, bis 2020 Präses des
Gemeinden, aber auch für eine Neubewer-                                                       und dass wir uns da schuldig gemacht ha-
                                                        Gnadauer Verbandes
tung des Begriffs „Mission“ warb, kam es                                                      ben.“
im evangelikalen Lager zu einer heftigen     keine Antwort – und es dauerte Jahre, bis            Die ganze Kirchengeschichte sei voll
Auseinandersetzung um seine Person. Das      er sich selbst gegenüber „ehrlich werden         von Kurskorrekturen der christlichen Kir-
eigens gegründete „Netzwerk Bibel und        konnte“, so Diener im Rückblick. Heute           che – „Gott sei Dank“, lächelt Diener. Es
Bekenntnis“ unter dem Vorsitz von Ulrich     sagt er: „Die Kirche hat einen Auftrag,          rechnet es sich als bescheidenen Verdienst
Parzany (ebenfalls Kassel) zweifelte Die-    auch gleichgeschlechtliche Beziehungen           an, für eine differenzierte Wahrnehmung
ners Bibeltreue an: Vertrat der Präses mit   unter den Segen Gottes zu stellen.“              von Positionen gesorgt zu haben: „Nie-
seinen liberalen Ansichten die Haltung                                                        mand kann mehr pauschal sagen, dass
der strenggläubigen Christen in pietisti-      »Niemand kann mehr pau-                        die Evangelikalen gegen die Homosexu-
scher Tradition? Konnte so jemand noch                                                        ellen sind.“
„die Frommen im Lande“ repräsentieren?
                                             schal sagen, dass Evangelikale                       Gleichzeitig sieht Diener die Gefahr
Hinzu kam, dass Diener 2016 auch Mit-          gegen Homosexuelle sind.«                      des „geistlichen Hochmuts“ bei evangeli-
glied im Rat der EKD wurde, was ihm                                                           kalen Christen, die dazu neigten, die Welt
manche als Verrat an der evangelikalen           In einem Präsesbericht bekannte sich         in Gläubige und Ungläubige einzuteilen.
Bewegung ankreideten.                        der Theologe 2014 noch zu einer kon-             Die evangelische Kirche brauche zwar eine
     Der Sturm, der damals losbrach und      servativen Haltung, forderte aber seinen         Form pietistischer Glaubensprägung, aber
Diener in seinen Ämtern im Gnadauer          Verband dazu auf, andere kirchliche Posi-        die sei eben nicht „allein seligmachend“.
Verband und der Evangelischen Allianz        tionen in dieser Frage zumindest zu respek-          In seinem Sabbatjahr, das in die Coro-
in Deutschland sehr herausforderte, war      tieren. Gleichzeitig löste er als Vorsitzender   na-Zeit fällt, wollte Diener mit seiner Frau
für ihn damals nicht abzusehen, betont       der Allianz mit seinen Worten Unruhe aus.        eigentlich nach Neuseeland und Australi-
er heute. Seine persönliche Entwicklung      Auch sein Eintreten gegen „Islam-Bashing“        en reisen. Aber auch hier musste er neue
in der Einschätzung der Homosexualität       und für einen konstruktiven Dialog mit An-       Ziele finden. Jetzt soll es nach Namibia ge-
bezeichnet er als „behutsam und evolutio-    gehörigen dieser Religion kam bei konser-        hen – ein Land, zu dem er gute Beziehun-
när“. Über Jahre habe ihn die Frage umge-    vativen Landes- und Freikirchlern sowie          gen hat. Und wie geht es danach beruflich
trieben, was ein Gott der absoluten Liebe    traditionellen Gemeinschaftsvertretern           weiter? Alles ist offen. Ein Gemeindepfarr-
gegen die verbindliche Treue und Liebe       nicht gut an. Das Wort „evangelikal“ ver-        amt in der Heimat schließt er nicht aus,
zweier gleichgeschlechtlicher Menschen       meidet Diener übrigens – der Begriff sei         denn: „Ich bin mit Leib und Seele Pfälzer.“
haben könnte. Darauf fand er zunächst        „verbrannt“, wenn er an Trump oder Bol-          ●                            Lothar Simmank

                                                                             blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 1–2021            9
Position beziehen - FÜR MITARBEITENDE - EKKW
THEMA

                        Der Sozialarbeiter: Gemeinschaft gibt Halt
                        Günter Kugler arbeitet in Hanau auch nach den rassistischen Morden weiter für Toleranz

                                                                                                Hälfte aller Ha-      tig.“ Kugler erzählt
                                                                                                nauer Sozialwoh-      vom Grillfest im
                                                                                                nungen läge in        JuZ, bei dem
                                                                                                diesem Gebiet,        es immer auch
                                                                                                so Kugler. Und        Schweinefleisch
                                                                                                mittendrin in die-    gebe. Denn das
                                                                                                sem „sehr bunten      rege Diskussio-
                                                                                                Stadtteil“ steht      nen an, die Tole-
                                                                                                das JuZ K-Town        ranz ermöglichten.
                                                                                                (für Kessel-Stadt).       Aber die Geschichte des JuZ K-Town ist
                                                                                                    So vielfältig     auch eine, in der diese Toleranz mit bru-
                                                                                                wie die Men-          talster Gewalt bekämpft wurde, als am
                                                                                                schen hier ist        19. Februar 2020 ein rassistischer Täter,
                                                                                                auch das Ange-        der in der Nähe wohnte, zehn Menschen
                                                                                                bot im JuZ. Es        ermordete. Viele von ihnen gingen im Ju-
                                                                                                gibt Bildungs-        gendzentrum ein und aus. Einen hatte
                                                                                                angebote wie          Günter Kugler kurz vor der Tat als letzten
                                                                                                die Berufswege-       Besucher im JuZ verabschiedet. Auf dem
                                                                                                Assistenz und         Heimweg kam der Sozialarbeiter am Tat-
                                                                                                die Schülerhilfe      ort vorbei und sah dort Menschen liegen,
                                                                                                sowie ganz viel       Menschen, die er gut kannte.
                                                                                                Sport. Neben
                                                                                                Fußball und Ca-       Gemeinschaft als Stütze und Halt
                                                                                                poeira (ein brasi-
Foto: medio.tv/Dellit

                                                                                                lianischer Kampf-         In den Wochen nach der „Horror-
                                                                                                tanz) ist es vor      nacht“ war das JuZ fast immer voll, denn
                                                                                                allem das Boxen,      viele hätten die Gemeinschaft gesucht, um
                                                                                                in dem die Kes-       sich gegenseitig zu stützen. Auch ihm sei
                        Nur fürs Foto mit Händen in den Taschen: Sozialarbeiter Günter Kugler selstädter sportli-     es so gegangen, erinnert sich Kugler: „Ich
                        vor dem Jugendzentrum in Hanau-Kesselstadt                              che Erfolge erzie-    konnte anfangs gar nicht alleine sein.“ Ei-
                                                                                                len. Entscheidend     ne dreistellige Zahl an Jugendlichen sei

            B
                               is zu 15 Etagen hoch schrauben sich ist aber die pädagogische Begleitung, so-          durch die Morde traumatisiert, schätzt er.
                               die Wohnblocks in den Himmel und dass die jungen Menschen zu stärkeren                 Für sie und alle anderen wollten sie im JuZ
                               es ist sofort klar: Hier wohnen sehr Persönlichkeiten heranreifen können. Das          Ansprechpartner sein. Doch dann kam mit
                        viele Menschen auf engem Raum. Die fla- gelte gerade für Mädchen, die hier boxen              Corona eine zweites Unglück, denn von
                        chen Gebäude des Jugendzentrums über- – egal aus welcher Kultur sie stammen.                  heute auf morgen war die Anlaufstelle
                        sieht man da fast. Am frühen Morgen ste- „Die blühen richtig auf“, sagt Kugler.               geschlossen, und nur wenig war möglich.
                        hen zwei junge Männer an der Ecke, reden          Jeder und jede kann kommen, das ist             Eine angespannte Lage: Jugendliche
                        und rauchen. Auf der Frage nach dem Sozi- der Grundsatz beim Boxen und im gesam-              hätten es in ihren Wohnungen nicht aus-
                        alarbeiter antworten sie mit ausgesuchter ten JuZ. „Du bist okay, ich bin okay“, so           gehalten und sich im Freien getroffen. Das
                        Höflichkeit, sie hätten „den Günter“ heute fasst es Kugler zusammen. Menschen zu-             habe bisweilen die Polizei auf den Plan ge-
                        noch nicht gesehen, würden aber Bescheid sammenbringen, offen sein für alle – darin           rufen. Die doppelte Katastrophe erschwert
                        geben, wenn er kommt.                         sieht der 57-Jährige die christlichen Werte     die Arbeit in K-Town, doch Günter Kugler
                            „Der Günter", das ist Günter Kugler, verwirklicht, auf die er sich beruft. Spätes-        macht in keiner Sekunde den Eindruck,
                        seit 1999 Sozialarbeiter hier in Hanau- tens, wenn Ehemalige sich ehrenamtlich                als könne er das JuZ und die Idee aufge-
                        Kesselstadt, einem Gebiet mit einer „ho- engagieren, sieht er die Erfolge der Arbeit.         ben, dass es ein Platz für jeden Menschen
                        hen sozialen Benachteiligung“, wie er es          Zugleich wüssten die Jugendlichen,          bleibt, der kommen will. So wie für die
                        ausdrückt. Hohe Arbeitslosigkeit, Drogen- dass dies eine kirchliche Einrichtung ist.          beiden höflichen Jugendlichen an diesem
                        probleme, viele Alleinerziehende und Al- Es werde auch über Glauben gesprochen:               Morgen. ● 
                        te, viele mit ausländischen Wurzeln. Die „Vielen Jugendlichen ist Religion wich-                                              Olaf Dellit

                        10     blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
THEMA

                                                                                               Die Fachreferentin:
                                                                                               „Älterwerden? –
                                                                                               Oh, das betrifft
                                                                                               mich ja auch!“
                                                                                               Annegret Zander macht sich stark für
                                                                                               Menschen in der zweiten Lebenshälfte

                                                                                                         »Die Zukunftsvorstellungen
                                                                                                        der Kirche beziehen die ältere
                                                                                                       Bevölkerung viel zu wenig ein.
                                                                                                  Dabei geht es um unsere eigene Zukunft.«
Foto: medio.tv/Dellit

                                                                                               Rentenalter – grau-     Altern – ein hochpolitisches Thema
                                                                                               haarige Masse der            Annegret Zander machte und macht
                                                                                               einstigen „Baby-        sich dafür stark, das Modell der in den
                                                                                               Boomer“ ist über        1960er-Jahren entwickelten kirchlichen
                                                                                               60 Jahre alt. Pfarre-   Altenarbeit zu verabschieden, das sich
                        Pfarrerin Annegret Zander (54) von der landeskirchlichen „Fach-       rin Zander erkannte,     allerdings als erstaunlich fest verankert,
                        stelle Zweite Lebenshälfte“ übernimmt im April eine Gemeinde-         was für ein Schatz       wenn auch in vielen Fällen überlebt er-
                        pfarrstelle; die Arbeit der Fachstelle geht weiter                    diese „silberne Kir-     weist. Statt für feste Gruppen und Kreise
                                                                                              che“ war, welch          seien die heutigen Alten mehr für gemein-

                        S
                               ie sei da zunächst einfach „hinein- inspirierende ältere Menschen ihr begeg-            same Prozesse zu begeistern, sie wollten
                               geraten“ – vor 17 Jahren, durch ei- neten, von denen sie „mindestens ebenso             nicht betreut werden, sondern selbst ge-
                               ne Elternzeitvertretung, erinnert sich viel“ lernte wie diese in den angebotenen        stalten. Derzeit, coronabedingt, bestehe
                        Annegret Zander. Hinein in die Arbeit Fortbildungen. Spannend sei das gewesen,                 die Gefahr, die Älteren und Hochaltrigen
                        mit Älteren, für Ältere, und so wurde das zumal ihre Arbeit immer von der Erkennt-             wieder als „bedürftig und schwach“ abzu-
                        Bildungshaus in Bad Orb genannt, das nis begleitet wurde: „Das alles betrifft                  stempeln – eine „Rolle rückwärts“ in den
                        sie zehn Jahre lang leitete zum „Evange- mich ja auch!“ Täglich ging sie der Frage             Altersbildern, wie Zander befürchtet.
                        lischen Bildungszentrum für die zweite nach: „Wie lebt man Älterwerden?“ Der                        Altern: ein hochpolitisches Thema also,
                        Lebenshälfte.“ Nachdem das Haus ge- Umgang mit dem Leben im Ruhestand,                         für das Annegret Zander immer wieder Po-
                        schlossen wurde, arbeitete Zander als auch als Paar, freiwilliges Engagement,                  sition bezieht. Die Zukunftsvorstellungen
                        theologische Fachreferentin der „Fachstel- Gebrechlichkeit, Wohnen im Alter, Solo-             der Kirche, so kritisiert sie, beziehen die
                        le Zweite Lebenshälfte“ in Hanau – bis Leben, wie sie es nennt, aber auch Glau-                ältere Bevölkerung viel zu wenig ein. Da-
                        heute mit ihrem Kollegen in Kassel, An- ben, Sexualität und die eigene Biografie               bei gehe es „um unsere eigene Zukunft“.
                        dreas Wiesner.                                     im Rückblick und im Ausblick – all das      Klar, dafür streitet sie auch – das hat sie
                             Alte Leute: ein cooles Thema? Vor fast waren die Felder, auf denen Erfahrungen            in 17 Jahren gelernt – manchmal „richtig
                        20 Jahren sprach Altbischof Martin Hein ausgetauscht und neue Perspektiven ein-                hart, aber immer in Beziehung!“, betont
                        von der „Silbernen Kirche“. Ein Schlagwort, geholt wurden. In der Fachstelle kamen             sie. Und so interpretiert sie eine zentrale
                        das sich im Nachhinein als „wegweisend“ Fortbildungen für die Arbeit mit Älteren               Vokabel von Bischöfin Beate Hofmann po-
                        erwies, sagt Zander. Ja, die Gesellschaft in den Gemeinden und Netzwerkarbeit da-              sitiv auch für die Älteren: „Die Sorgenetze
                        altert. Die geburtenstarken Jahrgänge ab zu, etwa Online-Lernen, um Menschen aller             – das sind wir selbst!“ ●
                        den 1950er-Jahren sind heute im oder am Generationen auf dem Dorf zu vernetzen.                                        Anne-Kathrin Stöber

                                                                                                       blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021         11
THEMA

Die Lehrerin:
„Nicht so
nachgiebig in
der Debatte“

Die Marburger Religionsleh-
rerin Simke Ried bohrt mit
den Schülern dicke Bretter
auf der Suche nach Werten

B

                                                                                                                                             Foto: Tobias Grebestein, Nautylus
       eim Interview – pandemiebedingt
       am Telefon geführt – fliegt der Blei-
       stift nur so über den Block: Wer
Simke Rieds Worte festhalten will, muss
schnell sein. Die 38-Jährige spricht kon-
zentriert, mit viel Emphase in der Stimme;
sie klingt stark und begeistert von ihrem
Thema. Ried ist Religionslehrerin an der        „Worüber wundere ich mich eigentlich im Leben?” – fragt Simke Ried ihre Schulklasse
Adolf-Reichwein-Schule in Marburg, einer
beruflichen Schule, und wenn alle Fragen        gepackt, die zunächst vielleicht mit „Kei-    an den Tag zu legen, heißt die Aufgabe –
besprochen, die Antworten notiert sind          ne Ahnung“ oder „Mir egal“ antworten          „sonst kommt man zu keinem Ergebnis“.
und der nächste Termin für die Oberstudi-       möchten.                                          Schon als Kind habe sie innerlich „al-
enrätin anliegt, bleibt das Gefühl: So eine                                                   les analysiert“, aber zunächst eher den an-
Power-Reli-Lehrerin hätte man selbst gern                                                     deren zugehört. Als Jugendliche, damals
gehabt!                                          »Im Dialog Klarheit an den                   noch in ihrer Heimat in Friesland, in der
     Dass ihre Schülerinnen und Schüler ein     Tag legen, sonst kommt man                    Schule und in einer politischen Jugendor-
Wertesystem entwickeln, Lebensereignisse            zu keinem Ergebnis!«                      ganisation, erwachte dann das nachhal-
und politisches Geschehen einordnen kön-                                                      tige Bedürfnis, „fundiert zu diskutieren.“
nen und gesellschaftlich handlungsfähig                                                       War sie etwa „Modell Nervensäge” für die
werden, ist ihr ein hohes Anliegen. Mit an-         Aber die Oberstudienrätin lässt nicht     Lehrer? Nein, das nicht, sagt sie lachend,
gehenden Malern und Lackierern Kant und         locker. Sie unterfüttert die Themen philo-    aber bis heute sei sie halt „nicht so nach-
Thomas von Aquin lesen und über Trans-          sophisch und theologisch, macht sich mit      giebig in der Debatte ...“ Zum Vorteil ihrer
zendenz sprechen? Gut möglich. Biologie-        den Schülern auf den langen Weg der Ur-       Schülerinnen und Schüler.
Assistenten für Diskussionen über Medizi-       teilsbildung beim Darstellen des jeweili-         Durch „Zumuten und Anleiten“ will
nethik und Menschenwürde interessieren?         gen Problems, Sammeln von Fakten, ermit-      sie deren Fähigkeiten fördern, damit sie
Ihr täglich Brot. Aber, das räumt sie ein, es   teln von möglichen Lösungen. Erst dann,       „in der Komplexität der Welt“ nicht un-
sei „ein unglaublich dickes Brett“, das es      sagt sie, kommen eigene Werte ins Spiel.      tergehen. Muss das sein, fragen manche.
da zu bohren gilt. Mit Sinnfragen, Krisen       Aber welche sind das eigentlich? Egal,        Geht es nicht ‘ne Nummer kleiner? Ja, es
und Konflikten, Sterben und Tod kommt           welcher Bildungsschicht die Lernenden         muss sein. „Wer sagt, es sei einfach, belügt
schließlich jeder Mensch in Kontakt; al-        angehören, „die sind für alle schwer zu       dich“, hören sie dann von ihrer Lehrerin. Es
lerdings fehlen oft die Worte, sich auszu-      benennen“. Also weiterbohren. Mit Erfolg:     geht ja nicht ums Wissen-Pauken, sondern
drücken, oder der Weg, eine unabhängige         „Keiner kommt mehr mit unfundierten           darum, sich qualifiziert in der Gesellschaft
Meinung zu bilden. „Wenn ich aber zum           Statements!“ Simke Ried gibt den Raum         einbringen zu können. Immer auf der Su-
Beispiel einsteige mit der Frage: Worüber       für ehrliche Auseinandersetzung und er-       che nach den Werten, „nach denen wir le-
wundere ich mich eigentlich im Leben?“,         mutigt, nachzufragen und zuzuhören, was       ben wollen“. ●
sagt Simke Ried, dann seien viele schon         der jeweils andere sagt. Im Dialog Klarheit                           Anne-Kathrin Stöber

12     blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
THEMA

Der Arzt: Begleiter auf dem letzten Weg
Dr. Thomas Sitte ist einer der renommiertesten Palliativmediziner des Landes – und Christ

A
         uf einem Tisch im geräumigen Bü-                                                       le. Fürchtet er einen Dammbruch? „Der ist
         ro seiner Stiftung in Fulda steht                                                       schon da.“ Aufgabe und Mission der Stif-
         eine kleine Skulptur, die in                       Die Zeit läuft:                           tung sei es, den Menschen Entschei-
einem metallenen Schriftzug die                      Dr. Thomas Sitte mit einem                          dungsgrundlagen an die Hand
Position von Dr. Thomas Sitte                         Stundenglas, Symbol der                               zu geben, um über ihr Sterben
zusammenfast: „Lebe.” Da-                                  Vergänglichkeit                                     per Verfügung rechtzeitig zu
rum geht es dem Arzt: um                                                                                         entscheiden. Das entschei-
das Leben am Lebensen-                                                                                            dende Problem sei näm-
de. Sitte schätzt, dass                                                                                             lich gar nicht die Frage
er mehr als 10.000                                                                                                   der Lebensverkürzung,

                                                                                                                                                 Foto: medio.tv/Dellit
Menschen auf ihrem                                                                                                    sondern die Fähigkeit,
letzten Weg begleitet                                                                                                 das Sterben zuzulassen.
hat. Nach einer Aus-                                                                                                      Dr. Sitte ist evan-
bildung zum Kranken-                                                                                                  gelischer Christ, darauf
pfleger studierte er                                                                                                  beruht sein Menschen-
Medizin, spezialisierte                                                                                             bild, er sagt aber: „Ich
sich auf Anästhesie, war                                                                                           halte meinen Glauben
im Rettungsdienst tätig                                                                                          aus der Diskussion völlig
und qualifizierte sich zum                                                                                     raus.“ Religiöse Statements
Schmerzmediziner und in der                                                                                  riefen oft sofort Widerstand
Palliativmedizin. In dieser Fach-                                                                         hervor, seine Kritiker würden ihn
richtung geht es um die Linderung                                                                      „bekennenden Christ“ nennen und
von Symptomen bei nicht mehr heil-                                                                 das als Vorwurf verstehen. Die Kirchen,
baren Krankheiten. Sitte hat eine große                                                         findet er jedoch, sollten und müssten sich
Gemeinschaftspraxis gegründet, im Kin-                                                          bei diesen Themen einmischen, sollten
derhospiz und beim Kinder-Palliativteam          onen und Politik. Aber ein Grundsatz, ei-      aber über den Glaubensbezug, der das Le-
„Kleine Riesen Nordhessen“ gearbeitet. In        ne Position, sei unverrückbar: Die Stiftung    ben als Geschenk Gottes versteht, hinaus-
jüngster Zeit richtet er seinen Fokus stär-      lehnt lebensverkürzende Maßnahmen ab.          gehen und auch fachlich argumentieren.
ker auf ältere Menschen.                         In beinahe allen Fällen sei es möglich, das         Dass es unangenehm werden kann,
     Wer glaubt, Palliativarzt sei ein trauri-   körperliche Leid Sterbender zu lindern,        eine Position einzunehmen, erlebt Tho-
ger Beruf, irrt. Die Arbeit sei toll, sagt der   sagt Sitte. Seit 43 Jahren pflege und be-      mas Sitte nicht nur in Streitgesprächen.
62-Jährige schlicht. Er habe so viele beein-     handele er Menschen, darunter auch viele       2003 entwickelte er gemeinsam mit ei-
druckende Momente, so viele Versöhnun-           sehr schwer Erkrankte: „Da gab es nieman-      nem Apotheker die Nasenspray-Variante
gen am Sterbebett erlebt. Manches davon          den, den ich dazu hätte töten oder dem         eines Mittels, das bei schwerer Atemnot
würde er selbst nicht glauben, wenn es in        ich beim Suizid hätte assistieren müssen.“     oft Linderung bringt. Das erlaubte Ange-
einem Roman stünde, aber: „Das Leben ist                                                        hörigen, schnell zu helfen, bevor ein Arzt
bunter als die Fantasie, und das Sterben                  »Der Dammbruch                        kommen konnte. Das Problem: Es war ge-
ist auch bunt.“                                                                                 setzlich verboten, ein solches Mittel den
                                                            ist schon da.«
     Dr. Sitte erzählt, wie er von den ei-                                                      Patienten dazulassen, eine Regelung ge-
gentlich nicht gläubigen Eltern eines ster-                                                     gen Drogenmissbrauch. Sitte drohten bis
benden Säuglings gebeten wurde, diesen               In diesen extrem seltenen Fällen könne     zu fünf Jahren Gefängnis. Er musste sei-
zu taufen. „Das“, sagt der Arzt, „war ein        eine Beihilfe oder gar Tötung gerechtfer-      ne Praxis aufgeben und verlor viel Geld.
Wahnsinnserlebnis.“ Bei einer anderen            tigt sein. Der ehemalige Bundesgesund-         Im Prozess kam er davon und erreichte
Taufe eines sterbenskranken Kleinkinds           heitsminister Hermann Gröhe (CDU) habe         schließlich sogar eine Gesetzesänderung.
weinten alle Angehörigen, bis ein Fünf-          dazu gesagt: „Hier wäre der Anwalt gefor-          Eine bittere Erfahrung dieser Zeit war
jähriger plötzlich fragte: „Warum weint          dert, nicht der Gesetzgeber.“ Diese Ex-        für ihn: „Man lernt, dass man sehr wenige
ihr denn? Das ist doch schön.“                   tremfälle rechtfertigten aber nicht, die Ge-   echte Freunde hat.“ Dr. Sitte bleibt, das
     Die Deutsche Palliativstiftung, deren       setzeslage aufzuweichen, die sich bereits      merkt man im Gespräch, standfest, auch
Vorsitzender Sitte seit ihrer Gründung im        jetzt weltweit in Richtung Suizidassistenz     wenn das Kraft kosten kann – und sogar
Jahr 2010 ist, ist unabhängig von Religi-        oder gar Tötung auf Verlangen entwicke-        Freundschaften. ●                 Olaf Dellit

                                                                                blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021           13
THEMA

Die Ruheständlerin:
Hinaus in die Gesellschaft gehen
Pfarrerin Eveline Valtink über Antisemitismus und jüdisch-christliche Zusammenarbeit

S
      eit knapp zwei Jahren ist sie im soge-    ginnen etwa 20 Veranstaltungen im Jahr,        Arbeit an der Schnittstelle
      nannten Ruhestand. Aber was heißt         die im weitesten Sinne mit jüdisch-christli-
      das schon bei ihrem Tätigsein in drei     chem Dialog und Erinnerungskultur zu tun           Dass sie sich zum Vermitteln zwischen
Vorständen – seit 18 Jahren in der Gesell-      haben, organisiert Veranstaltungen zur         Kirche und Gesellschaft hingezogen fühlt,
schaft für Christlich-Jüdische Zusammenar-      jährlichen „Woche der Brüderlichkeit“, wie     war für die damals erst 30-jährige Pfar-
beit (cjz); bei Artheon, der Gesellschaft für   die sogenannte Doppelschriftauslegung          rerin Valtink schon klar, als sie nach vier
Gegenwartskunst und Kirche, und auch im         oder die jüdische Bibelwoche. Anlässlich       Jahren in der Gemeinde als Studienleite-
Kulturnetz Kassel e.V.                          des Anschlags auf die Synagoge in Halle        rin an die Ev. Akademie nach Hofgeismar
                                                wurden Mahnwachen an der Kasseler Syn-         wechselte. „Es hat mich gereizt, an der
Einsatz gegen Ausgrenzung                       agoge eingerichtet, im Corona-Jahr gab es      Schnittstelle zwischen Kirche und Gesell-
und Antisemitismus                              Online-Veranstaltungen zum Thema Ver-          schaft, Kirche und Kultur zu arbeiten“,
                                                schwörungstheorien, in denen trauriger-        sagt sie heute.
     Pfarrerin Eveline Valtink (68) gibt zu:    weise immer noch viele judenfeindliche
Er kam „völlig überraschend“, der Über-         Stereotypen auftauchen.                        Extrem gut vernetzt
gang zum „Leben in Ruhe“ – vom Pro-
jektmanagement bei der Landeskirche,             »Es hat mich gereizt, an der                      Politisiert wurde sie bereits mit 16
wo sie zuletzt für die Reformationsdeka-                                                       Jahren, auf dem Kirchentag in Stuttgart
de zuständig war und beispielsweise den
                                                 Schnittstelle zwischen Kirche                 1969. Es ging um Gerechtigkeit und die
„Konfivent“ mit 2000 Jugendlichen wupp-         und Gesellschaft zu arbeiten.«                 Erkenntnis, dass Christsein ganz viel mit
te. Neben ihrem derzeitigen Engagement                                                         Politik zu tun hat und sich nicht in Fröm-
beim Projekt „Einkommen schaffen“ für                                                            migkeit und persönlichem Gottesbezug
die durch Corona arbeitslos gewordenen                                                                  erschöpft. Dies wurde ihr zum
freien Künstler ist sie besonders für die                                                                    „Schlüsselereignis im Leben“.
cjz aktiv. Von beruflichen Pflichten befreit,                                                                   In ihr heutiges Tun flie-
ist es dennoch „ihr Leben“, dass sie sich                                                                          ßen schließlich zehn
gegen Ausgrenzung und Antisemi-                                                                                       Jahre als Leiterin
tismus einsetzt, eines der wichtigs-                                                                                    des Evangelischen
ten Anliegen der Gesellschaft für                                                                                        Forums mit
jüdisch-christliche Zusammen-                                                                                              ein, das sie ab
arbeit, die nach der Shoa ent-                                                                                              1995 aufbau-
standen ist – im Bewusstsein                                                                                                 te, wie auch
der Schuld, die auch die Kirche                                                                                              ihre Zeit als
aufgrund ihres jahrhunderteal-                                                                                               Akademie-
ten Antijudaismus auf sich ge-                                                                                               direktorin in
laden hat.                                                                                                                  Hofgeismar.
                                                                                                                            Extrem gut
Dialog und                                                                                                                 vernetzt, kann
Erinnerungskultur                                                                                                        sie so immer
                                                                                                                        wieder Menschen
    80 Gesellschaften sind es bundes-                                                                                 zusammenbringen,
weit, 150 Mitglieder gibt es in Kassel,                                                                            stets nach dem Bibel-
an sie hat Eveline Valtink gerade den neu-                                                                      wort „Suchet der Stadt
esten Rundbrief geschrieben. Ihr Job ist es,                                                                 Bestes“. ●
aktuelles Geschehen – wie beispielsweise
im vergangenen Jahr den Anschlag von                                                                                 Anne-Kathrin Stöber
Halle – zu reflektieren, aber vor allem or-          Pfarrerin Eveline Valtink ist evangelische Vorsitzende der
ganisiert sie gemeinsam mit ihren Kolle-          Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Kassel e.V.

14     blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021
THEMA

Wenn Corona die Fronten verhärtet
Weltanschauungs-Experte Oliver Koch gibt Tipps für Streitgespräche zur Pandemie

C
      orona ist ein dominierendes Ge-         Gründe herausfinden
      sprächsthema. Sehr schnell wird in          Es ist wichtig, nach den soziologischen
      Dialogen die Einstellung zu diesem      oder psychologischen Hintergründen zu
Thema, zu Schutzkonzepten, Impfungen,         fragen, die jemanden bewegen, einer Ver-
Einschränkungen etc., deutlich. Es ist gut    schwörungsideologie zu glauben. Fragen
und wichtig, zu diskutieren und unter-        Sie, worin der Mehrwert für die Anhän-

                                                                                                                                          Foto: ZOE – Brunk
schiedlicher Meinung zu sein. Und den-        ger/innen einer Verschwörungsideologie
noch machen immer mehr Menschen auch          bestehen könnte. Fragen Sie auch, wie das
Erfahrungen mit Corona-Leugnern, Ver-         Thema etwa im Zusammenhang mit einer
schwörungsideologen oder Querdenkern.         Familien- oder Freundesgeschichte stehen
                                              könnte, und ordnen Sie es ein in eine per-
   Wir sehen, dass sich die Fronten ver-      sönliche oder politische Erfahrungshistorie.
härten, dass Familien in Spannungen ste-
hen und Beziehungen sogar abbrechen.          Sorgen ernst nehmen                                        Pfarrer Oliver Koch
Diese Tipps sollen helfen, den Dialog auf-        Oftmals stehen hinter Verschwörungs-        ist Referent für Weltanschauungsfragen
rechtzuerhalten und zu fördern. Aber es       ideologien handfeste Sorgen, etwa um die         im Zentrum Oekumene der EKHN und
geht auch darum, Stellung zu beziehen,        Demokratie, die Gesundheit, Ängste vor                     EKKW in Frankfurt
wenn Grenzen überschritten werden.            Bevormundung etc. Diese sollten ernst ge-
                                              nommen werden. Verschwörungsideologi-
Keine vorschnellen Urteile!                   en gehen oft ineinander über und werden        wichtig, eindeutig Position zu beziehen
    „Das ist eine Verschwörungsideologie”     endlos – bleiben Sie konsequent bei einem      gegen Rassismus, Radikalismus, gruppen-
ist ein Totschlagargument und unterbin-       Thema und lassen Sie sich nicht darauf         bezogene Menschenfeindlichkeit, Antijuda-
det, vorschnell genutzt, eine Diskussion.     ein, 100 Dinge auf einmal zu besprechen.       ismus und Verletzung der Menschenrechte.
Hinter vielen Verschwörungsideologien                                                        Merkt man jedoch, dass jemand nur noch
stehen ethische, politische oder etwa öko-    Früh intervenieren                             fundamentalistisch agiert, darf man ein
logische Fragen. Wenn aber „dunkle welt-          Je verfestigter eine Verschwörungsideo-    Gespräch auch abbrechen.
weite Mächte uns alle in Abhängigkeit         logie ist und je länger ihr jemand anhängt,
bringen wollen“, dann ist das eine Behaup-    desto schwieriger ist es, zu intervenieren.    Unterstützung in
tung, die in Kombination mit einem Sün-       Je früher man ins Gespräch kommt, desto        Anspruch nehmen
denbock zur Verschwörungsideologie wird.      größer ist die Chance, dass sich jemand
                                              rationalen Argumenten gegenüber offen              Verschwörungsideologien sind kein
Respektvoll bleiben                           zeigt. Festgefahrene Verschwörungswelten       neues Phänomen. Beratungsstellen sind
    Bemühen Sie sich in Gesprächen, auch      sind gefährlich. Eine Gefahr ist die Zerset-   schon lange mit ihnen und ihren Folgen
wenn es manchmal schwerfällt, um einen        zung und Unterhöhlung der Demokratie.          beschäftigt, haben Erfahrung und können
respektvollen Umgang und fordern Sie ihn                                                     Tipps zum Umgang geben. Nehmen Sie
auch von Ihrem Gegenüber ein.                                                                Hilfe in Anspruch! Manchmal fühlt man
                                              Fragen stellen                                 sich allein und hilflos angesichts der An-
Kritisches Denken fördern                         Stellen Sie im Dialog vor allem W-Fra-     zahl von Argumenten, Hypothesen und
    Verschwörungsideologen fordern „kri-      gen: Warum ist das so? Weshalb siehst du       Behauptungen. Schaffen Sie Allianzen im
tisches Denken“. Verhaften Sie Ihre Ge-       das so? Wer sagt es? Welchen Gewinn hast       Freundes- und Familienkreis. Suchen Sie
sprächspartner bei diesem ursprünglichen      du davon? Solche Fragen sind zunächst          gemeinsam nach Möglichkeiten des Um-
Anspruch und machen Sie deutlich, dass        einmal unemotional und pragmatisch und         gangs, und vermeiden Sie ein Verschwei-
Sie erwarten, dass Informationsquellen        bieten so die Möglichkeit, hin zum Fakten-     gen von Bedenken. ●          Oliver Koch
auf ihre Seriosität und Ideologie geprüft     bezug zu kommen.
werden. Entlarven Sie „Fake News“ mithil-                                                    Broschüre „Verschwörungsideologien:
fe spezieller Portale, etwa Faktencheckern,   Grenzen ziehen                                 Definitionen, Hintergründe, Praxistipps“
Mimikama, Volksverpetzer oder Ähnli-              Diskussionen mit Verschwörungsideo-        des Zentrums Oekumene und des Zen-
chem. Achten Sie besonders bei Kindern        logen sind anstrengend. Es ist wichtig, die    trums Gesellschaftliche Verantwortung
und Jugendlichen auf die Entwicklung aus-     eigenen Belastungs-, Schmerz- und Tole-        unter www.zentrum-oekumene.de
reichender Medienkompetenz.                   ranzgrenzen nicht zu überschreiten. Es ist     Untermenü „Weltanschauungen”

                                                                             blick in die kirche | FÜR MITARBEITENDE | 2–2021       15
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