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Einbildungen der Realität
 Zur Rolle der Einbildung und Realitätsflucht in zwei
          Theaterstücken von Botho Strauß

     Kurs: Deutsches Theater der 70er und 90er Jahre
                Dozent: Dr. Elmar Engels
                   Von: Edgar Berdahl
                    Abgabe: 14.08.02
          an der Technischen Universität Berlin

                   WEN: 62.12.10.10
                   Siegmunds Hof 2-4
                      10555 Berlin
                    (030) 39 88 11 77
              thatguy@uclink.berkeley.edu

              Studiengang: Elektrotechnik
2

Inhalt

1        Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       S. 3

2        Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                      S. 4

2.1      Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   S. 4

2.2      Einbildung in Bezug auf Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                    S. 5

2.3      Übergang in die Einbildungswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                    S. 6

2.4      Stefan-Doris-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .               S. 6

2.5      Das Modellflugzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .             S. 8

3        Trilogie des Wiedersehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                S. 8

3.1      Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     S. 8

3.2      Niesanfall des Felix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .           S. 9

3.3      Gute Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .          S. 10

3.4      Rolle der Kunst für die Kunstvereinsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                           S. 11

3.5      Rolle der Kunst für den Direktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                   S. 12

3.6      Karneval der Direktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                S. 13

4        Gefährdung der Einbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                    S. 14

4.1      In Trilogie des Wiedersehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                 S. 14

4.2      In Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                         S. 16

4.3      Ähnlichkeiten zwischen den Stücken und der Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                   S. 17

5        Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        S. 17

5.1      Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .              S. 17

5.2      Kunst innerhalb Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .              S. 18

6        Liste der benutzten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                S. 20

6.1      Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        S. 20

6.2      Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .          S. 20
3

1         Einleitung
Im Kurs Deutsches Theater der 70er und 90er Jahre studierte ich Theater zum ersten Mal. Ich
hatte vorher Literatur auf Deutsch und Englisch studiert, aber ich fand Theater schwieriger, da
der Autor sich eher Gedanken über die Aufführung macht als über den Eindruck, den der
Leser bekommt, wenn er den Text liest. Das heißt, Lesen war nicht genug. Ich musste dabei
auch versuchen, mir die Bühne im Kopf vorzustellen, um nichts Wichtiges zu vergessen,
wenn mehrere Ereignisse gleichzeitig geschehen. Das ist natürlich besonders schwierig bei
Dramatikern wie Botho Strauß, die komplizierte Stücke schreiben. Ich hielt ein Referat über
Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle, und ich las die meisten anderen Stücke. In Trilogie
des Wiedersehens interessierten mich die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Rolle der
Kunst und die Tatsache, dass fast allem im Stück in Hinblick auf Einbildungen auf den Grund
gegangen werden konnte. Deswegen entschied ich mich, in meiner Hausarbeit die zwei
Stücke im Hinblick auf Einbildung zu vergleichen. Mangels Inszenierungen der zwei Stücke
in Berlin ging ich an die Humboldt Universität in Berlin und die Hochschule für Film und
Fernsehen in Potsdam, um filmische Aufzeichnungen anzuschauen. Die Verfilmungen waren
erhellend, aber mein besseres Verständnis der Stücke stellte neue Fragen. Warum versucht ein
Direktor eines Kunstvereines, ein Teil eines Gemäldes zu werden? Warum wird eine
Abteilung einer Kunstausstellung „Einbildungen der Realität“ genannt? Warum versucht ein
Hotelbesitzer, mit einer eingebildeten Version seiner Frau zu schlafen, wenn er seit zwei
Jahren nicht mehr mit seiner echten Frau geschlafen hat? Ich wollte aber eher allgemeinere
Fragen stellen, und deswegen frage ich in dieser Arbeit, warum die Figuren sich
Verschiedenes einbilden, ob die Einbildungen die Realität verändern können, und ob es einen
Zusammenhang zwischen ihnen und Kunst gibt. Ich frage auch in Bezug auf diese
allgemeinen Fragen, ob Ähnlichkeiten zwischen den zwei Stücken etwas über die politische
Einstellung des Botho Strauß erleuchten können.
Es ist wichtig sich zunächst mal auf eine Bedeutung der Einbildung zu einigen, aber in der
Psychologie wird nur die Einbildungskraft, die Kraft Einbildungen zu produzieren, definiert.
Unter Einbildungskraft verstehen die Psychologen
        „sowohl die abgewandelte Erinnerung von früher Wahrgenommenen als auch die
        Assoziation früherer Wahrnehmungsbestandteile zu neuen Gebilden sowie die
        Neuproduktion vorgestellter Inhalte. . . Phantasie wird zur Phantastik, je
        unkontrollierter sie sich Einbildungen hingibt. Dagegen sind produktives Denken
        und Kreativität ohne Phantasie nicht denkbar.“ 1

1
    „Phantasie“, Meyers großes Taschenlexikon.
4

Das heißt, um die Einbildungen zu verstehen, muss man auch die Wahrnehmungsbestandteile,
oder Realität verstehen; deshalb wird die Realität der Theaterstücke in den Kapiteln 2.1 und
3.1 erklärt. Dieses Zitat führt auch zu der Frage, der ebenfalls nachgegangen werden soll: was
passiert, wenn die Einbildungen unkontrolliert oder zu wichtig für die Figuren werden?
Es wird gezeigt werden, dass sich die Figuren dieser Theaterstücke verschiedene Dinge
einbilden, und dass diese Einbildungen oft auf Kunst bezogen sind, wie zum Beispiel die
Gemälde in Trilogie, die als „Einbildungen der Realität“ betrachtet werden können. Diese
Einbildungen können aber wenig in der Realität ändern, da die Realität der Figuren von
äußeren Kräften beeinflusst wird. Um vor dieser Realität zu flüchten, schaffen sich die
Figuren diese Einbildungen, und deswegen wehren sie sich auch um ihre Einbildungen, wenn
diese gefährdet werden. Es führt dann zur Katastrophe für die Hauptfigur, wenn die
Einbildungen zu wichtig für sie werden, und diese Katastrophe ist, dass die Hauptfigur
angesichts äußerer Einflüsse aufgibt, damit die Gemeinschaft die Kontrolle übernehmen kann.
Diese Wende könnte vielleicht als Unterstützung des Sozialismus von Strauß verstanden
werden.
2         Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle
2.1       Realität
Um die Flucht vor der Realität und die Einbildung zu untersuchen, muss man zuerst die
Realität verstehen, auf die sich die Einbildungen gründen. Die Handlung von
Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle fängt am ersten Weihnachtstag „in diesen Jahren“2 an,
das heißt, ungefähr 1975, als das Stück uraufgeführt wurde. Ein Hotel in Königswinter, BRD,
ist der Schauplatz, an dem drei Ehepaare und ein bei einem Autounfall schwer verletzter
Mann namens Karl zusammen wohnen. Es ist aber nicht besonders leicht herauszufinden, wer
mit wem verheiratet ist, da alle miteinander Affären gehabt haben, und jetzt sind die alten
Leidenschaften erstarrt. Stefan, der Hotelbesitzer und die Hauptfigur, beschreibt, wie tot die
Leidenschaften seien. Sie könnten sogar in einem Museum sein:
        „Keine Trennungen, keine Abschiede, nein, in meinem Hotel werden alle die
        reizenden Herzensverbindungen sorgfältig aufbewahrt, so daß wir uns
        inzwischen in einem erstaunlichen Museum von Leidenschaften bewegen.“3

Die sieben Freunde langweilen sich und streiten sich über alles Mögliche. Es scheint, ihr
Leben funktioniert nicht, und Karl glaubt zu wissen warum. Er zitiert ein Forschungsergebnis
einer Kommission eines wissenschaftlichen Vereins in den USA, um zu erklären, warum sie
ihr Lebenssystem nicht verstehen: „’wir Menschen sind von Natur aus noch viel zu dumm,

2
    Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 69.
3
    Stefan in Bekannte Gesichter, S. 69-70.
5

um unser Lebenssystem, . . . , fehlerfrei zu begreifen.“4 Es wird klar, dass das Lebenssystem,
nämlich Kapitalismus, tatsächlich nicht verstanden wird, da der Hotelbesitzer trotz des
damaligen Wirtschaftswunders in Deutschland bankrott ist. Er meint,
      „im letzten Jahr standen wir ja vor dem Problem, durchschnittlich etwa
      zweieinhalb Gäste pro Nacht auf unsere sechsundzwanzig Betten zu verteilen . .
      . Menschenskind! Das sind nicht einmal zehn Prozent Platzausnutzung!“5

Folglich muss Stefan das Hotel verkaufen, obwohl das ein Ende der Gemeinschaft bedeuten
würde.
Diese Realität der Unzufriedenheit im Stück entspricht auch der Realität der damaligen BRD,
nämlich, dass die Leidenschaft der 68er Jahre vorbei war, und dass die Bevölkerung einfach
nach Wohlstand strebte, der als Folge des Wirtschaftswunders nicht schwierig zu erreichen
war, aber dass wenig außer der Möglichkeit des Wohlstands für die Bevölkerung übrigblieb.
Bekannte Gesichter und die Ähnlichkeiten zwischen den Figuren und den damaligen
Westdeutschen werden zum Beispiel im Gerd Jägers Artikel „Wie sieht die Bundesrepublik
heute im Drama aus?“6 weitgehend besprochen.
2.2      Einbildung in Bezug auf Kunst
Die Form der Kunst in Bekannte Gesichter ist der Tanz von Doris und Guenther. Dieser Tanz
ist wichtig, da er die Freunde zusammenbringt. Sobald er anfängt, „stehen [alle] auf und
gehen etwas nach hinten“7, um ihn anzuschauen, obwohl er mittelmäßig ist. Hedda macht sich
zum Beispiel lustig darüber, wie sich der Hals von Doris beim Tanz benimmt: „Dieser
knochensteife Hals. Beim Quickstep macht [Doris] immer so – Sie macht eine groteske
Halsverrenkung.“8 Diese Kunst bringt trotz ihrer Mittelmäßigkeit Einbildungen hervor. Als
Stefan dem Tanz zuschaut, hat er den Eindruck, dass er intelligenter geworden sei9, und
Guenther bildet sich ein, dass er und Doris eine ideale Beziehung haben, indem er den Tanz
mit „Herzensangelegenheit“ beschreibt und sich vorstellt, dass er und sie den „Gipfel der
Harmonie“10 als Paar erreichen könnten, obwohl sie eigentlich mit anderen Partnern
verheiratet sind. Die Wirklichkeit seiner Beziehung zu Doris wird enthüllt, als sie während
des Tanzes zu Boden fällt und er ihr nicht vergibt: Doris, in ihrem Schock, erhebt sich nur
langsam und entmutigt bietet sie sich Guenther in Ausgangsposition an. Guenther schlägt ihr

4
  Karl in Bekannte Gesichter, S. 93.
5
  Stefan in Bekannte Gesichter, S. 86.
6
  Jäger, S. 152.
7
  Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 77.
8
  Hedda und Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 75.
9
  Stefan in Bekannte Gesichter, S. 78.
10
   Guenther in Bekannte Gesichter, S. 82.
6

rechts und links ins Gesicht.11 Diese Einbildungen sind noch nicht so kräftig, aber alles
verändert sich, als Karl die Figuren in eine Einbildungswelt verwickelt.
2.3        Übergang in die Einbildungswelt
Als der einzige, der nicht verheiratet ist, spielt Karl eine wichtige Rolle. Er ist nicht nur ein
schwer verletzter Außenseiter, sondern er kann auch zaubern. Ein Varietélicht ist immer
dabei, während er zum Beispiel Modellflugzeuge herbeifliegen lässt und Federn zum Glühen
bringt:
      Alle außer Karl hocken sich auf den Fußboden. Ein Modellflugzeug kommt
      herbeigeflogen und kreist über ihren Köpfen. Brennende Wunderkerzen fallen zu
      Boden. Aus Sesseln und aus dem Sofa springen Federn und beginnen zu glühen. . .
      12

Er ermöglicht eine andere Welt, in der Einbildung und Realität sich zum Verwechseln ähnlich
sind, indem er die echte Doris wegschickt um Essen zu holen und eine zweite gleich
aussehende Doris schafft, die perfekt tanzen kann. Guenther, ihr Tanzpartner, meint „So gut
wie heute war sie aber noch nie.“ 13 Während sie tanzen, bilden sich die anderen Verschiedenes
ein. Die Vollkommenheit scheint irgendwie ansteckend. Margot sagt, „Wenn man so etwas
Superschönes sieht, bild’ ich mir ein, davon wird man auch selbst wieder ein bißchen
hübscher.“14 Dann möchte Hedda ihrer „grauen Durchschnittsnatur entkommen“: sie glaubt,
einen Schlager geschrieben zu haben. Sie erklärt ihre Einbildung als den
      „Durchbruch, auf den ich so lange gewartet habe. Wißt ihr, ich bin doch
      unmusikalisch, ich kann partout nicht singen. . . . Dabei habe ich seit Jahren ein
      ganz bestimmtes Lied im Kopf, und ich fühle immer, das will raus. . . „15

Es ist aber klar, dass sie nicht so weit vor der Realität ihrer Unfähigkeit zur Musik flüchten
kann, weil Guenther es nicht möchte, dass sie das Lied ein zweites Mal singt. Er meint, es
wäre lächerlich, und sie singt es doch kein zweites Mal.
2.4        Stefan-Doris-Beziehung
An der Stelle von Hedda würde Stefan wahrscheinlich doch ein zweites Mal singen, da seine
Einbildung sehr wichtig für ihn ist. Er ist seit zwei Jahren impotent und schläft nicht mehr mit
seiner Frau, die schwanger geworden ist, aber er schiebt die Schuld für seine Impotenz auf sie,
weil sie Not und Angst vergessen habe. Er meint:

11
   Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 78.
12
   Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 77.
13
   Guenther in Bekannte Gesichter, S. 92.
14
   Margot in Bekannte Gesichter, S. 92.
15
   Margot in Bekannte Gesichter, S. 95.
7

      „Doris ist nicht mehr wie früher. . . Sie wissen doch, wie man sich lieben lernt. .
      . Aus Angst, aus nackter Angst. . . Und warum man sich küßt? Aus Atemnot [im
      Luftschutzkeller], ja, die gemeinsame Atemnot öffnet uns die Lippen
      füreinander. . . Doris hat das alles wohl vergessen.“16

Seine Wirklichkeit ist untragbar, da er nicht nur mit der Realität seiner Impotenz und der
Schwangerschaft seiner Frau sondern auch mit dem Verkauf seines Hotels umgehen muss.
Deswegen möchte er vor seiner Realität flüchten und sich eine Einbildung schaffen. Stefan ist
der einzige, der erkennt, dass die von Karl gezauberte Doris nicht seine echte Frau ist. Er
findet das und die Tatsache, dass sie gut tanzt, reizvoll. Als er sie dann eine Spionin nennt und
versucht, die Einbildung seiner vollkommenen Frau zu verwirklichen, indem er mit ihr
schlafen würde, wird sie „vom Erdboden verschluckt.“17 Die Rückkehr der Realität bringt
auch die Schwangerschaft der echten Doris und den notwendigen aber unangenehmen
Verkauf des Hotels wieder mit. Die Einbildung ist so wichtig für ihn, dass die Rückkehr der
Realität zur Katastrophe führt. Die Einbildung kann die Wirklichkeit also nicht wesentlich
genug verändern, um ihm eine bleibende vollkommene Frau zu produzieren, und als das von
Karl gezauberte Modellflugzeug noch einmal über dem Saal geflogen kommt, geht Stefan ab,
um sich für immer in die Kühltruhe zu legen.18
Doris bildet sich genau das Gegenteil ein—nicht dass Stefan besonders reizvoll sei, sondern
dass sie trotz seiner Impotenz von ihm schwanger geworden sei, und dass sie eine Familie
bilden. Sie meint, sie habe sich einfach an ihn gedrückt, während er geschlafen hat, aber es
hört sich unwahrscheinlich an.
     „Du weißt wahrscheinlich nicht, daß du nachts, wenn du tief schläfst, dann ist
     da unten manchmal alles in bester Ordnung, ja – Sie macht eine kleine Faust
     so stark. . . Und da hab’ ich gedacht: jetzt darfst du ihn nicht aufwecken, sonst
     ist es gleich wieder vorbei. . . ich hab’ mich an dich gedrückt, Stefan, ganz
     fest, und du bist nicht einmal aufgewacht dabei. . . „19

Stefan sagt überhaupt nichts über diese angeblich von ihm verursachte Schwangerschaft, als
Doris ihn darüber zum ersten Mal informiert. Wenn er ihr glauben würde, dann würde er
etwas dazu sagen, ob er dabei doch aufgewacht wäre, nichts gefühlt hat, usw. Deshalb kann
angenommen werden, dass sie in diesem Fall nicht zu glauben ist und nicht von Stefan
schwanger geworden ist.
Dass das Kind von Stefan sei, bildet sich Doris ein, da es ihr viel bequemer ist, vor der
Realität zu flüchten, indem sie sich vorstellt, dass sie und Stefan zusammen eine traditionelle

16
   Stefan in Bekannte Gesichter, S. 103.
17
   Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 105.
18
   Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 107.
19
   Doris in Bekannte Gesichter, S. 106.
8

Familie haben könnten. Auch ihre Einbildung hält der Realität nicht stand und kann die
Wirklichkeit nicht verändern. Es kann keine traditionelle Familie entstehen, wenn der Vater
nicht dabei ist. Sie wird traurig über seinen Tod—sie versucht ihn sogar mit ihrem Atem
aufzutauen, aber man vermutet, dass sie sich erholen wird, da ihre Einbildung nicht so wichtig
für sie war wie die Stefans für ihn. Am Ende des Stückes sieht es aus, als ob alles wieder
normal werden wird. Guenther möchte wieder mit ihr tanzen: „Doris – ich bitte dich:
Quickstep! Laß uns anfangen. . . Komm her, ich bitte dich.“ 20
2.5     Das Modellflugzeug in der Einbildungswelt
Man vermutet, dass das von Karl erzeugte Modellflugzeug wichtig für das Verständnis des
Stückes ist, da es mehrmals während des Zauberns auftaucht und in der Inszenierung von Fred
Berndt in Berlin21, unter anderem, erschreckend groß war und quer durch den Zuschauerraum
flog. Man merkt auch, das Modellflugzeug fliegt, als Stefan den Saal zum letzten Mal verlässt
und geht, um sich in die Kühltruhe zu legen. An dieser Stelle wird vielleicht auch etwas Böses
mit der Dunkelheit angedeutet, da Dunkelheit oft das Böse vertritt: „Das Licht nimmt ab. Das
Modellflugzeug kommt geflogen und kreist über dem leeren Saal. Es wird dunkel.“22 Das
Modellflugzeug könnte als Metapher für Ikarus’ Flug zur Sonne23 erklärt werden. Die
Geschichte von Ikarus ist, dass sein Vater ihm aus Wachs gefertigte Flügel gibt aber ihn davor
warnt, dass er nicht zu hoch fliegen darf. Ikarus versucht es trotzdem und stürzt ins Meer, weil
die Hitze der Sonne das Wachs schmelzen lässt 24. Stefan versucht auch, zu weit über sich
hinaus zu gehen, indem er vor der Realität flüchtet und sich seine eigene Realität einbildet.
Deswegen muss seine Realitätsflucht auch in einer Katastrophe enden.
3       Trilogie des Wiedersehens
3.1     Realität
Die Figuren in Trilogie des Wiedersehens ähneln denen von Bekannte Gesichter. Das sind
meistens Paare, und obwohl es in Trilogie klarer ist, wer mit wem eine wenigstens semifeste
Beziehung hat, kann man doch sehen, dass sie unzufrieden sind, da sie manchmal versuchen,
zusätzliche Mann-Frau-Beziehungen aufzubauen. Der Schauplatz ist ein Kunstverein, wo es
eine Vorbesichtigung der Ausstellung „Kapitalistischer Realismus“ gibt. Im Stück gibt es
keinen Tanz, aber die Gemälde in der Ausstellung übernehmen dann die Rolle der Kunst, die
gleichzeitig die Mitglieder des Vereins zusammenbringt und Einbildungen hervorbringt. Die
Mitglieder des Kunstvereins kommen und gehen, schauen sich die Bilder an und reden

20
   Guenther in Bekannte Gesichter, S. 109.
21
   Inszenierung von Fred Berndt an der Freien Volksbühne in Berlin. 12/83.
22
   Regieanweisungen in Bekannte Gesichter, S. 107.
23
   Sandhack, S. 32-33.
24
   „Ikarus“, Meyers Universallexikon.
9

miteinander, aber ihre Begegnungen sind nur teilweise zufällig. Man muss ihre Gespräche und
Begegnungen sorgfältig untersuchen, um die Figuren gut kennen zulernen. Angeblich weil die
Ausstellung schlecht organisiert sei, verbietet der Vorstand des Kunstvereins die Ausstellung,
und als Folge ordnen die anwesenden Mitglieder die Ausstellung neu, um Kiepert, ein
besonders mächtiges Mitglied des Vorstands, zu überzeugen, dass die Ausstellung doch in
Ordnung ist.
Die Figuren wurden wiederum als den Bürgern in der damaligen BRD sehr ähnlich
empfunden. Helmut Schödel schrieb zum Beispiel damals im Jahr 1977: „Das waren richtig
lebendige, man möchte fast sagen . . . ganz normale Menschen, nachprüfbar, mit einer
glaubwürdigen Biographie.“25
3.2      Niesanfall des Felix
Vieles wird auch in Trilogie des Wiedersehens eingebildet. Ein besonders erhellendes Beispiel
ist der Niesanfall des Felix, ein Verkaufsleiter. Während er ein Brötchen isst, fällt das
Roastbeef herunter und die Sauce auf sein Hemd. Er findet es peinlich und möchte zur
Toilette gehen, um es auszuwaschen, aber Richard erwischt ihn in dem Moment und will ihm
unbedingt einen Roman nacherzählen. Richard fängt schon an, aber Felix reagiert kaum, außer
damit, dass er zu niesen anfängt. Er meint, es sei Heuschnupfen, aber es gibt natürlich keinen
Blütenstaub im Museum. Seine Erklärung bezeugt auch, dass seine Einbildung des Niesens
mit der Kunst zusammenhängt.
      „Zum ersten Mal in diesem Sommer. Ich fahre schon seit Wochen nicht mehr
      ins Grüne. Noch nie gehört, daß jemand Heuschnupfen im Museum kriegt. Ich
      brauche nur Getreide auf einem Bild zu sehen, schon geht’s los.“26

Man könnte sich auch fragen, warum er sich das Niesen einbildet. Katrin Kazubko antwortet
auf diese Frage, dass das Niesen als eine Entwertung von Richard zu deuten sei, da Felix die
Situation mit Richard untragbar findet. Sie sagt:
      „Die Entwertung kann jedoch ihrerseits als eine Reaktion auf Richards Verhalten
      interpretiert werden, wobei sich scheinbar psychische Störungen erkennen lassen,
      die jedoch nicht notwendigerweise die Manifestation eines kranken Geistes zu
      sein brauchen, sondern viel eher die einzig mögliche Reaktion auf einen
      absurden oder untragbaren Kontext sind.“27

Felix flüchtet vor der untragbaren Realität, dass Richard mit ihm reden möchte, und als
Ergebnis bildet er sich ein, dass er niesen müsse, und dies verändert die Wirklichkeit wieder
in dem Sinne, dass er tatsächlich krank ist. Er meint, „Einbildung, mag sein. Aber der Effekt

25
   Schödel, S. 36.
26
   Felix in Trilogie, S. 329.
27
   Kazubko, S. 25.
10

ist derselbe. Ich muß niesen.“28 Dies ist das einzige Mal in den Stücken, dass eine Einbildung
die Realität verändert, aber die Wirkung selbst ist nicht besonders wichtig, da das Niesen nur
zeitweilig ist. Sonst lässt Strauß in diesen zwei Stücken keine Wirkung der Einbildung auf die
Realität zu, im Gegenteil, es lässt die Einbildungen gnadenlos an der Realität zerschellen.
3.3      Gute Gesellschaft
Der Kunstdirektor Moritz leidet auch an Einbildungen. Er erklärt,
      „Am laufenden Band, Einbildungen, Sinnestrug. Rechts und links an den
      Blickfeldrändern tauchen Figuren auf, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.
      Kommen und gehen und rufen mir zu. Ich bin geneigt, ihnen zu folgen, ich folge
      ihnen und gehe manchmal die seltsamsten Wege.“ 29

Er meint, dass er wegen Übermüdung gestört sei, und obwohl wir wenig über ihn wissen,
außer über die Ausstellung und seine Beziehung zu Susanne, eines der Kunstvereinsmitglieder
bei der Vorbesichtigung, scheint es aber wahrscheinlich, dass diese komplizierte und
anstrengende Beziehung die Ursache ist.
Sie flüchtet ständig vor ihm, obwohl sie ihn liebt. Zum Beispiel sagt Susanne am Anfang des
Stückes, als Moritz sie findet: „Fassen Sie mich nicht an! Kscht! Finger weg! Mein Gott –
kann man mich denn nicht in Ruhe lassen?! Was wollen Sie? Was?!“30 Er fragt sie dann, ob
sie mit ihm schlafen möchte, und sie verneint31, obwohl sie doch gerne mit ihm schlafen
würde. Das erklärt sie Peter, dem Schriftsteller, später, nachdem sie sich umkleidet: „Hören
Sie, lieber Peter, die Erfahrung [mit jemandem zu schlafen] ist es nicht; das bißchen Hoffnung
ist es, das sich so herausgeputzt hat. Die Erfahrung, leider, ist es nicht. . . „ 32 Es ist auch klar,
dass sie Moritz an dieser Stelle meint, da sie ihn liebt und die anderen Kunstvereinsmitglieder
meistens ignoriert. Einmal erklärt sie denen doch, wie sehr sie ihn liebt und macht sich damit
lächerlich, da die anderen Mitglieder des Kunstvereins wissen, was für eine ungesunde
Beziehung sie mit Moritz hat. Sie schreit ganz laut, „Ja, ich habe mich tief verloren in diesen
undeutlichen Menschen [Moritz]. Daß Ihr es alle hört: ich liebe ihn. . . „ 33 Eine solche
Beziehung würde die meisten Leute anstrengen und übermüdet machen.
Moritz bildet sich auch ein, dass er eine gesunde Beziehung mit ihr haben könne. Er fragt sie,
„Laß uns zusammenbleiben und gute Gesellschaft leisten. Heißt es nicht so?“ Aber sie zeigt,
dass die Einbildung einer gesunden Beziehung die Realität nicht verändern kann, indem sie

28
   Felix in Trilogie, S. 329.
29
   Moritz in Trilogie, S. 392.
30
   Susanne in Trilogie, S. 316.
31
   Susanne in Trilogie, S. 322.
32
   Susanne in Trilogie, S. 362.
33
   Susanne in Trilogie, S. 369.
11

antwortet, „Ja. Im Märchen.“34 Sie können diese Einbildung nicht verwirklichen, weil es den
äußeren Einfluss von anderen möglichen Partnern gibt, und Moritz versucht manchmal mit
anderen möglichen Partnern Mann-Frau-Beziehungen aufzubauen, obwohl er eigentlich keine
Interesse daran hat. Sein Versuch mit Ruth, der Frau des Arztes, scheitert folgendermaßen,
nachdem er und sie die Ausstellung verlassen und in ein Bahnhofshotel gehen: er “stand eine
Weile am offenen Fenster des Hotelzimmers und [hat sich] den Sturm angesehen.“35 „Genau
genommen, hat er [Ruth dann] nach wenigen Minuten gebeten zu gehen.“ 36 Dieser Versuch,
obwohl er fehlschlägt, macht Treue zwischen Moritz und Susanne unmöglich, welche
erforderlich für eine ideale Beziehung, in der man sich gute Gesellschaft leisten könnte, wäre.
3.4     Rolle der Kunst für die Kunstvereinsmitglieder
Wie beim Tanz in Bekannte Gesichter, bringt die Kunst die Figuren zusammen. Die
Mitglieder des Kunstvereins sind alle ziemlich unterschiedlich und würden sich sonst
wahrscheinlich nicht treffen. Einige wissen zum Beispiel mehr über Kunst als andere. Ruth
interessiert sich nicht mehr dafür, und Lothar, ihr geschiedener Mann, kann zur Zeit damit
nicht viel anfangen. Er ist nicht in der richtigen Stimmung37. Sie reden eigentlich eher über
ihre persönlichen Probleme als über die Gemälde. Für andere besitzt Kunst eine
Verbindungskraft. Kunst brachte Felix und seine Freundin Marlies, die Malerin, zusammen,
da er sich eingebildet hatte, dass er wegen ihrer Kunst ein besonderes Interesse für sie hätte.
Er meint, „ich dachte einmal, bei dir, bei einer Kunstschaffenden würde mich das mythische
Interesse an schönen Dingen, das ich verspüre, auch an einen Menschen fesseln können,“38
aber Felix gibt zu, dass seine Einbildung die Realität nicht verändert, da er ihre Kunst immer
noch nicht versteht, und dass er deswegen seine eigenen Träume nicht emanzipieren kann.
Marlies und Richard, der für einen Drucker überraschend viel über Kunst weiß, zeigen aber,
dass sie Ahnung von Kunst haben, indem sie die Neuordnung der Ausstellung dirigieren.
Andere Mitglieder betrachten die Kunst eher wie ein Tor oder Fenster in eine andere Welt.
Viviane meinte, wie schön ein Gemälde sei, and Martin antwortet, „Ja. Wie aus einem
Fenster.“39 Peter, der intelligente aber oft ignorierte Schriftsteller, versteht ein Gemälde als
eine Stelle, wo es die Wirklichkeit nicht mehr gibt. Er erklärt, „Wo ein Bild ist, hat die
Wirklichkeit ein Loch. Wo ein Zeichen herrscht, hat das bezeichnete Ding nicht auch noch

34
   Moritz und Susanne in Trilogie, S. 385.
35
   Moritz in Trilogie, S. 385.
36
   Ruth in Trilogie, S. 398.
37
   Ruth und Lothar in Trilogie, S. 363.
38
   Felix, in Trilogie S. 343.
39
   Viviane und Martin in Trilogie, S. 319.
12

Platz.“40 An der Stelle des Gemäldes gäbe es nach Peters Meinung keine Wirklichkeit mehr.
Was könnte es sonst geben? Es gibt viele mögliche Antworten auf diese Frage, aber eine
sinnvolle Antwort wäre Einbildung, oder von der Definition her, die von der Einbildungskraft
„vorgestellte[n] Inhalte“, die sich auf die Wahrnehmung der Realität eines Menschen, in
diesem Fall des Künstlers, beziehen41. Das heißt, die Gemälde sind Einbildungen der von dem
jeweiligen Künstler wahrgenommenen Realität. Als weiteren Beweis für diese These, kann
man sich den Titel einer Abteilung der neugeordneten Ausstellung anschauen. Sie wird
„Einbildungen der Realität“ benannt, und Strauß betont diesen Titel, indem er ihn im letzten
Satz des Stückes auftauchen lässt, als Richard die Neuordnung erklärt42.
3.5     Rolle der Kunst für den Direktor
Um die Rolle der Kunst zu beleuchten, soll natürlich auch die Meinung des Direktors
untersucht werden. Moritz hat die Stücke für die Ausstellung selbst ausgewählt und die
Ausstellung benannt. Der Titel lautet „Kapitalistischer Realismus“, und Moritz erklärt ihn:
      „Diese Künstler sind doch alle, wie sie da sind, ohne Ausnahme, jeder gegen
      alle, sind sie verbissene Einzelkämpfer, ein heroisches Ich neben dem anderen.
      Die haben jeder sein eigenes Weltbild im Kopf und das malen sie auch. Ich
      sehe überhaupt keine Zusammenhänge. Gibt es auch nicht. Ich dachte, das
      zeige ich jetzt in krasser Form, daß keiner irgend etwas mit dem anderen zu tun
      hat.. . . „43

Das heißt, die Gemälde sind kapitalistisch, in dem Sinne, dass die Maler alle Einzelkämpfer
und heroische Ichs sind, und diese Einzelkämpfer malen dann im Stil des Realismus.
Realismus kann dann definiert werden als „wahrheitsgetreue Aneignung, Wertung oder
Gestaltung der Wirklichkeit, zur Deutung des Wesens.“44 Die Gemälde sind folglich nur
Gestaltungen der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst, und das ähnelt Peters
Auffassung, dass die Bilder Löcher in der Wirklichkeit seien. Wenn man sich die Definition
der Einbildungskraft noch einmal anschaut und erkennt, dass sie „die Assoziation früherer
Wahrnehmungsbestandteile zu neuen Gebilden“ 45 sei, dann kann man ein ähnliches
Verständnis für die Gemälde wie im Kapitel 3.4 ableiten, nämlich dass die Gemälde
Gestaltungen der von den Künstlern wahrgenommenen Realität sind, oder wiederum
Einbildungen der Realität sind, die jedoch auch kapitalistisch sind – sie hängen also nicht
zusammen.

40
   Peter in Trilogie, S. 398.
41
   Siehe Definition der Einbildungskraft und der Phantasie in der Einleitung.
42
   Richard in Trilogie, S. 402.
43
   Moritz in Trilogie, S. 369-370.
44
   „Realismus“, Meyers Universallexikon.
45
   Siehe Definition der Einbildungskraft und der Phantasie in der Einleitung.
13

Man möchte auch fragen, warum die Künstler ihre Einbildungen gemalt haben. Diese
komplizierte Frage würde die Grenzen dieser Arbeit überschreiten, aber Monika Sandhack hat
die Frage schon beantwortet und wird deswegen hier zitiert:
      „Viele der in Gesprächen erwähnten Gemälde lassen sich einordnen in jene
      hyperrealistische Malerei des 20. Jahrhunderts, die die Wahrnehmung von
      Wirklichkeit, das Auflösen der ihr selbst gesetzten Grenzen vor allem, anschaulich
      machen will. Die Fotomalkunst eines Gerhard Richter, die Spiegelbilder von
      Michelangelo Pistoletto, wie auch die Täuschungsbilder Willard F. Midgettes
      berichten von der Schwierigkeit im Umgang mit einer Realität, die sich eindeutig
      nicht mehr erschließen läßt.“ 46

Das heißt, die Maler haben gemalt, da sie Schwierigkeit im Umgang mit der nicht eindeutigen
Realität empfunden haben. Das kann dann als Realitätsflucht interpretiert werden, da sie
gemalt haben, um weg von der nicht eindeutig erschließbaren Realität zu kommen und in ihre
eigene Welt der Einbildung eintreten zu können.
3.6     Karneval der Direktoren
Moritz, als Direktor des Kunstvereins, hat natürlich eine enge Beziehung zu den Gemälden.
Der Wärter der Ausstellung erkennt diese Tatsache und auch dass Moritz sich selbst und die
Gemälde als Objekte des gleichen Typs versteht. Der Wärter meint, „Sie lieben die Gemälde,
ich weiß es. Und man sieht es doch. Sie hängen an ihnen wie andere Menschen an
Menschen.“47 Zum Gemälde „Karneval der Direktoren“ hat die Hauptfigur Moritz eine
besondere Beziehung, und um diese Beziehung zu begreifen, muss man auch wissen, wer
Kiepert ist. Er ist der mysteriöse Chef des Moritz, der kein einziges Wort im Stück sagt,
obwohl er zweimal anwesend ist, um die neue und die alte Ausstellung zu sehen. In der
filmischen Aufzeichnung der Inszenierung von Peter Stein48 ist sein erster Auftritt besonders
anschaulich. Die Mitglieder verstecken sich in der Ecke des Vereins wie nervöse Tiere,
während Kiepert, mit dem Rücken zu den Zuschauern, sich die Gemälde ansieht 49. Dann
verlässt er den Verein, ohne ein einziges Wort zu sagen, um die Ausstellung zu verbieten.
Richard erklärt den Grund für das Verbot. Der Grund sei das Gemälde „Karneval der
Direktoren“: „Sehen Sie sich’s mal genauer an. Da erkennen Sie ganz deutlich Kiepert,
Kiepert und seinen Chef, die sind haargenau porträtiert, gewissermaßen in einer sehr
verfänglichen Lage.“50 Keine genauere Beschreibung dieser Lage findet sich im Text, und
deswegen ist dieses Gemälde unterschiedlich in den verschiedenen Inszenierungen, aber an

46
   Sandhack, S. 35-36.
47
   Wärter in Trilogie, S. 383-384.
48
   Von Peter Stein an der Schaubühne am Halleschen Ufer, Berlin. Filmische Aufzeichnung der Inszenierung.
132 Min. 1978.
49
   Dies würde der Regieanweisungen in Trilogie, S. 366 entsprechen.
50
   Richard in Trilogie, S. 366.
14

dieser Stelle wird Peter Steins Inszenierung noch einmal benutzt. In der Steinschen
Inszenierung stellt das Gemälde ein einfaches Bild von zwei Männern dar, die sich umarmen
und tun, als ob sie sich gleich küssen. Dies könnte eine Beleidigung für Kiepert bedeuten und
ist angeblich der Grund des Verbots, obwohl Kiepert im Verbotsbrief schreibt, dass Moritz
die Ausstellung zu schlecht organisiert51 und zu viele Gemälde von früheren Ausstellungen
wieder benutzt habe.
Am Ende der filmischen Aufzeichnung versucht Moritz selber zum Kunststück zu werden und
dadurch in die Einbildungswelt einzutreten. Kurz bevor Kiepert zurückkehrt, um die
Neuordnung anzuschauen, umwickelt Moritz sich mit Tesakrepp das Gesicht und Hände,
damit er nicht sprechen kann und hilflos ist. Dann, mit Hilfe von Susanne, setzt er den
„Karneval der Direktoren“ hinter sich auf den Stuhl und sich selbst davor, an die Stelle einer
der Figuren. Es ist nicht klar in der Aufzeichnung, welche Figur, Kiepert oder Kieperts Chef,
er im Bild abdeckt, aber das ist auch eigentlich gleichgültig. In beiden Fällen wäre die
Situation symbolisch für die Ausnutzung von Moritz: er fühlt sich kraftlos im Vergleich zur
äußeren Macht des mysteriösen Kiepert. Obwohl Moritz ein Künstler ist, in dem Sinne dass er
die Ausstellung entwickelt, darf er mit der Kunst nicht das ausdrücken, was er möchte wegen
dieses Einflusses von Kiepert. Es erscheint dabei unwahrscheinlich, dass Kiepert Moritz in
der Zukunft weiter anstellen wird, weil Moritz ein solches Getue um den „Karneval der
Direktoren“ verursacht, und man kann das Ganze als eine Katastrophe für Moritz verstehen,
eine Katastrophe als Ergebnis der Tatsache, dass die Gemälde, oder Einbildungen der Realität,
zu wichtig für ihn sind. Die Kunst versagt für Moritz, und er kann nicht länger vor der
Realität flüchten, dass er sich nicht so sehr auf seine Kunst als Ausstellungsentwickler
verlassen darf.
4          Gefährdung der Einbildungen
4.1        in Trilogie des Wiedersehens
Es ist auch interessant zu betrachten, was im allgemeinen passiert, wenn äußere Einflüsse die
Einbildungen der Figuren gefährden. Kläuschen und insbesondere seine Kamera vertreten
eine solche Gefährdung. Als das einzige Kind im Stück weist er auf, dass die kurzfristigen
Mann-Frau-Beziehungen doch etwas produzieren können, aber das Produkt ist überflüssig
und benimmt sich schlecht. Als Ergebnis mag niemand ihn. Seine Mutter verbringt die
meisten Zeit mit dem Versuch ihn zu kontrollieren, damit nicht alles durcheinander kommt,
aber manchmal trennen sie sich, und dann fängt Kläuschen an. Zum Beispiel zeigt er seine
Narben Susanne und verlangt Geld dafür: „Sieh mal unter meinen Kopf. Da ist ein roter Riß.

51
     Moritz gibt selbst zu, dass es keine Zusammenhänge gibt. Siehe Kapitel 3.5.
15

Ich bin in ein Drahtseil gelaufen, als meine Mutter mich zum Essen gerufen hat. Gib mir
Geld.“52 Das ist genauso unangemessen wie ihre Reaktion: sie bewirft ihn mit Geld. Nur
Franz ist nett genug zu ihm, um ein Gespräch anzufangen, aber nur aus dem Grund, dass
Franz mit Kläuschens Mutter zum Abendessen ausgehen möchte. Die „Polaroid SX-70“
Kamera von Kläuschen ist besonders bedeutungsvoll, indem sie den äußeren Einfluss der
Technologie vertritt, die niemand außer den Kindern wirklich versteht, aber wichtiger noch
ist, dass diese Kamera genaue Abbildungen der Realität produziert, die im Gegensatz zu
Einbildungen der Realität stehen. Das heißt, sie erlaubt keine Realitätsflucht, da sie die
Wahrheit darstellt. Franz nennt sie zum Beispiel einen „Teufelskasten“53, und in der
Verfilmung der Steinschen Inszenierung gibt es eine besonders erschütternde Szene, die mit
der Kamera zusammenhängt. Als Moritz Susannes Hand zärtlich küsst, kommt Kläuschen und
macht plötzlich ein Foto im geringen Abstand von dem Paar. Moritz ärgert sich, da Kläuschen
etwas Intimes stört, und als Kläuschen sich weigert, das Foto herauszugeben, kämpfen die
Beiden um das Foto. Kläuschen hat natürlich keine Chance gegen den erwachsenen Mann,
aber er kämpft hartnäckig, und deswegen dauert es eine Weile, bevor Moritz es endlich
schafft, ihm das Foto gewaltsam zu entreißen 54. Moritz muss wirklich doch ein bisschen
verzweifelt sein, um so mit einem kleinen elf-jährigen Kind um ein Foto zu kämpfen, welches
einfach die Wahrheit seiner Beziehung mit Susanne bloß stellt. Es scheint, Realitätsflucht ist
schwieriger, wenn alles vollständig dokumentiert wird.
Die Ausstellung, die aus den „Einbildungen der Realität“ besteht, wird auch durch einen
äußeren Einfluss gefährdet, nämlich von Kiepert, der interessanterweise der Vater Kläuschens
ist—die äußeren Einflüsse im Stück gehören zusammen. Moritz gibt einfach auf, da er Ruhe
haben möchte, und lässt Richard die Ausstellung neu ordnen. Er sagt, „Laß mich in Ruhe,
Richard. Mach du, was du für richtig hältst, Richard. Mach du es. Mach, was du willst,
Richard. Ganz nach deinem Belieben.“ Das tut Richard auch, aber nicht alleine, sondern er
und Marlies zusammen entscheiden, wo die Gemälde hingehören, und die anderen
Vereinsmitglieder helfen dann beim Aufhängen, währenddessen Moritz sich zu einem
Verlierer erklärt: „Nun bin ich ein Verlierer, Susanne.“55 Es ist überraschend, dass Moritz so
leicht kapituliert. Die meisten Leute würden wahrscheinlich eher auf Ruhe verzichten, anstatt
den eigenen Job zu verlieren, aber Moritz ist wirklich ein Verlierer, und er ist vielleicht auch
müde davon, immer davor flüchten zu müssen, dass seine Ausstellung nicht akzeptiert wird.

52
   Kläuschen in Trilogie, S. 318.
53
   Franz in Trilogie, S. 325.
54
   Dies würde der Regieanweisungen in Trilogie, S. 348 entsprechen.
55
   Moritz in Trilogie, S. 386.
16

Er versucht sogar nicht wirklich, sein Konzept der Ausstellung zu verteidigen; er gibt einfach
zu, dass es keine Zusammenhänge gibt 56. Er findet auch, dass die neue Ausstellung genau so
bedeutungsvoll wie seine ist. Er meint, „Verändert hat sich im Grunde nichts.“57 Wenn seine
Ausstellung beliebig neugeordnet werden kann und immer noch die gleiche Bedeutung hat,
und wenn seine Erklärung für die Ausstellung nicht akzeptiert wird, hat die Ausstellung dann
eigentlich nur eine geringe Bedeutung bzw. Wirkung auf die Realität. Das heißt, die
Ausstellung, die aus den „Einbildungen der Realität“ besteht, verändert die Realität kaum.
Man könnte noch einmal sagen, dass Einbildung keine wesentliche Wirkung auf die Realität
hat, und man kann auch sehen, dass die Ausstellungsversion von Moritz platzt nicht nur
wegen Kieperts Einfluss sondern auch als Folge der eigenen Unlust von Moritz, seine
Ausstellung gegen den äußeren Einfluss Kieperts weiter zu verteidigen.
4.2     In Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle
Wie Moritz gibt Stefan von Bekannte Gesichter auch einfach auf angesichts eines äußeren
Einflusses; in diesem Fall ist der äußere Einfluss das Bedürfnis mit dem Kapitalismus
umzugehen. Das heißt, Werbung für das Hotel zu finden, damit tatsächlich Gäste kommen,
und, wichtiger noch und im Gegensatz zu seinen bei ihm wohnenden Freunden, für den
Besuch zahlen. Stefan akzeptiert seine Unfähigkeit mit dem Kapitalismus umzugehen:
„Eigentum macht mich krank.“58 „Ich halte dieses Privatbesitzertum nicht länger aus. Ich will
nicht mehr selbstständig sein.“59 Vor allem möchte Stefan das Hotel an das
Bundesinnenministerium verkaufen, damit die Schulden auch übernommen werden. Dies ist
das Ergebnis des Handelns von Dieter, einem seiner Freunde, der für das
Bundesinnenministerium arbeitet, und wäre als Verkauf an die Regierung die größte mögliche
Niederlage in einem kapitalistischen System.
Dieser Verkauf gefährdet natürlich die Gemeinschaft dieses Freundeskreises sowie den Tanz,
der als Kunst die Einbildungen der Figuren hervorbringt. Guenther, der Tänzer und ein
Freund von Stefan, ist natürlich entsetzt, und möchte die Gemeinschaft verteidigen, indem er
eine echte Gemeinschaft vorschlägt: „Nieder mit der herrschenden Untätigkeit! Ich fordere
gleiches Eigentumsrecht für uns alle! ‚Stefans Hof’ ist unser Hof!“60 Es wird allerdings nicht
klar, was genau mit dem Hotel passiert, aber Stefan kann es nicht mehr verkaufen, weil er tot
ist. Deswegen wäre es möglich, dass die Gemeinschaft trotzdem weiter leben würde, obwohl
die Einbildungen der Figuren die Realität wenig verändern könnten, da Doris nicht mehr

56
   Moritz in Trilogie, S. 369.
57
   Moritz in Trilogie, S. 393.
58
   Stefan in Bekannte Gesichter, S. 87.
59
   Stefan in Bekannte Gesichter, S. 89.
60
   Guenther in Bekannte Gesichter, S. 97.
17

tanzen darf wegen ihrer Schwangerschaft und da Hedda immer noch nur schlecht singen kann.
Stefan als Toter kann natürlich seine Einbildungen auch nicht verwirklichen.
4.3     Ähnlichkeiten zwischen den Stücken und der Sozialismus
Strauß schrieb die zwei behandelten Theaterstücke nacheinander 61, und deswegen ist es nicht
überraschend, dass sie viele Ähnlichkeiten aufweisen, aber es ist besonders interessant, dass
die Handlungen sich beide folgendermaßen entwickeln. Zuerst führt Strauß die Realität vor,
welche in den beiden Stücken ein Museum von alten Leidenschaften ist. Dann enthüllt er die
Einbildungen der Figuren. Diese Einbildungen hängen mit Kunst und zwischenmenschlichen
Beziehungen zusammen. Im nächsten Schritt lässt Strauß die Einbildungen von äußeren
Einflüssen gefährdet werden, und schließlich gibt es eine Wende, in der die Hauptfigur, die
die Gruppe früher geführt hat, aufgibt, damit die Gemeinschaft die Kontrolle übernehmen
kann. Die Gemeinschaft lebt dann weiter, aber ohne die Hauptfigur. Das heißt, der
Kapitalismus scheitert in dem Sinne, dass die Hauptfigur aufgibt, und der Sozialismus
übernimmt die Kontrolle. Dies geschieht in den beiden Stücken: in Trilogie wird das Konzept
des kapitalistischen Realismus mit den Einzelkämpfern ohne Zusammenhänge nicht
akzeptiert, aber die Gemeinschaft ordnet die Ausstellung neu. In Bekannte Gesichter geht das
Privatbesitzertum mit Stefan zugrunde, aber die Gemeinschaft lebt ohne seinen alten Führer
weiter. Das könnte man als Unterstützung von Botho Strauß für den Sozialismus
interpretieren. Zu dieser Zeit schrieb er auch, dass man etwas Politisches aus Texten schließen
kann, auch wenn der Autor es nicht meint. Er drückte sich so aus:
      „kein Text existiert, der nicht Mehr über seinen Autor aussagt, als dieser von sich
      aus sagt; kein Text, der nicht Mehr zu verstehen gibt, als der Autor selbst darunter
      verstanden hat – ich meine daraus folgt, daß dieses Mehr eines Textes in erster
      Linie von einer politischen Lektüre erschlossen werden kann.“ 62

5       Abschluss
5.1     Zusammenfassung
Es ist gezeigt worden, dass Einbildung eine wichtige Rolle für die Figuren dieser
Theaterstücke spielt, und dass sie eine enge Beziehung zur Kunst hat – nämlich dass die
Kunst oft Einbildungen hervorbringt und dass die Gemälde in Trilogie als „Einbildungen der
Realität“ betrachtet werden können. Die Einbildungen können die Realität im Wesentlichen
nicht verändern und sind Ergebnisse der Realitätsflucht, da die Figuren mit ihrer Wirklichkeit
nicht zufrieden sind. Diese Einbildungen führen dann zur Katastrophe für die Hauptfigur, zum
Beispiel zum Tod im Fall Stefans oder, im Fall des Moritz, zum Versagen seiner Ausstellung
61
   Uraufführungen: Bekannte Gesichter im Württembergisches Staatstheater Stuttgart in 1975 und Trilogie im
Deutschen Schauspielhaus Hamburg in 1977.
62
   Theorie der Drohung, S. 98.
18

und zur wahrscheinlichen Entlassung, wenn die Einbildungen zu wichtig für die Hauptfigur
werden. Es wurde auch gezeigt, dass Botho Strauß vielleicht den Sozialismus zur Zeit des
Schreibens dieser Stücke unterstützt hat, da die Katastrophe eine Wende verursacht, in der die
Hauptfigur aufgibt, damit eine Gemeinschaft die Kontrolle übernehmen kann.
5.2        Kunst innerhalb Kunst
Als offene Frage bleibt, ob es eine andere Ebene der Einbildung in diesen Texten gibt. Der
Tanz und die Gemälde sind doch wichtige Bestandteile dieser Theaterstücke. Man könnte sie
als Kunst innerhalb Kunst beschreiben, oder indem man die Theaterstücke als Produkte der
Einbildungskraft des Botho Strauß betrachtet, als Einbildungen einer eingebildeten Realität
innerhalb der äußeren Einbildung des Botho Strauß, oder lieber einfacher, als Einbildungen
innerhalb Einbildungen beschreiben.
Man könnte sich danach fragen, wie sich Strauß alles eingebildet hat. Eine mögliche Antwort
wäre, dass er etwas sagen wollte, und dass er dann nur die Umgebung entwickeln musste, um
das sagen zu können. Er meinte einmal im Gespräch über Trilogie mit Katrin Kazubko:
        „Ich habe einfach nur nach einem Ort gesucht, an dem ein natürliches Kommen
        und Gehen auf der Bühne möglich ist. Die Atmosphäre einer Ausstellung ist doch
        merkwürdig: die Menschen gehen aneinander vorbei, treffen sich und trennen
        sich.63

Das Hotelfoyer in Bekannte Gesichter hat eine ähnliche Funktion der Darstellung des
Kommens und des Gehens, sowie das Foyer in Schlußchor, ein anderes Theaterstück von
Strauß, das allerdings viel später geschrieben und 1991 uraufgeführt wurde.
Eine andere Frage wäre auch, warum er sich mit seiner Einbildungskraft die Theaterstücke hat
einfallen lassen. Man könnte sich vorstellen, dass er die Zuschauer schockieren wollte,
ähnlich wie beim Verfremdungseffekt von Bertolt Brecht64, um die Wirklichkeit zu verändern.
Einige Ereignisse in den Stücken sind zwar schockierend, zum Beispiel als Viviane in
Trilogie das Bewusstsein verliert und umkippt. Die anderen Vereinsmitglieder wissen, dass
sie allmählich an Krebs stirbt, und hätten die Situation als einen möglichen Notfall behandeln
sollen, aber sie bleiben ruhig und lassen Viviane am Boden liegen, während einer Vivianes
Mann holt, um ihm zu sagen, dass ihr schlecht geworden sei.
Es ist aber wahrscheinlich übertrieben, den Verfremdungseffekt einzubeziehen, besonders im
Hinblick darauf, dass es in der ersten Einbildungs- und Kunstebene gezeigt worden ist, dass
die Kunst wenig im Gegensatz zu den äußeren Einflüssen verändern kann. Deshalb kann diese
Frage hier nicht beantwortet werden.

63
     Kazubko, S. 20.
64
     „episches Theater“, Meyers Universallexikon.
19

Was passiert dann, wenn die Einbildungen von Strauß selber gefährdet werden? Er schlägt
zurück. Das hieß in einem Fall, die Polizei wird geholt. Sie war bei der Uraufführung von
Trilogie dabei, für den Fall, dass die Figuren zu viel Unruhe im Publikum verursacht hätten.
Kein Vorfall trat auf, aber die Kritiker fanden die Anwesenheit der Polizei ironisch. Einer
schrieb, „Diese Wirklichkeit voll grimmiger Ironie war wie ein vorweggenommener
Szeneneklat aus einem noch ungeschriebenen Stück von Botho Strauß.“ 65 Gemälde innerhalb
Theater innerhalb Polizeitheater! Vielleicht wird er das noch irgendwann in einem
Theaterstück einbringen, aber ich glaube, dass drei Ebenen von Kunst zu viel für die
Zuschauer wären. Zwei waren schon genug, dass ich eine Hausarbeit über sie schreiben
konnte.

65
     Wagner, S. 23.
20

6       Liste der benutzten Literatur
6.1     Primärliteratur

Strauß, Botho. „Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle“, in: Theaterstücke 1972-1978, 2.

        Auflage. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2000. S. 67-110.

Strauß, Botho. „Schlußchor“, in: Theaterstücke II. Carl Hanser Verlag, München und Wien, 1991,

        S. 411-464.

Strauß, Botho. „Theorie der Drohung“, in: Marlenes Schwester. Zwei Erzählungen, Deutscher

        Taschenbuch Verlag, München, 1977.

Strauß, Botho. „Trilogie des Wiedersehens“, in: Theaterstücke 1972-1978, 2. Auflage. Deutscher

        Taschenbuch Verlag, München, 2000. S. 311-402.

6.2     Sekundärliteratur

Jäger, Gerd. „Wie sieht die Bundesrepublik heute im Drama aus?“, in: Theater heute, 1974,

        Jahressonderheft, S. 152-155. (Zu: „Bekannte Gesichter“)

Kazubko, Katrin. „Der alltägliche Wahnsinn“, in: Text + Kritik: Zeitschrift für Literatur. Heft 81.

        Hrgv. Heinz Ludwig Arnold. edition text + kritik, München, 1984, S. 20-30. (Zu:

        „Trilogie“)

Sandhack, Monika. Jenseits des Rätsels: Versuch einer Spurensicherung im dramatischen Werk

        von Botho Strauß. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main, 1986.

Schödel, Helmut. „Kapitalistischer Realismus“, in: Theater heute, 1977, H. 7, S. 31-36. (Zu:

        „Trilogie“)

Wagner, Klaus. „Sommergäste im Kunstverein“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.5.1977.

        S. 23. (Zu: „Trilogie“)

„Phantasie“, Meyers großes Taschenlexikon. VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, 1992.

„Realismus“, Meyers Universallexikon. VEB Bibliographisches Institut, Leipzig, 1981.
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