EINE FEMINISTISCHE KRITIK DER ATOMBOMBE - GENDER- UND FEMINISTISCHE PERSPEKTIVEN AUF AUSSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK - ICAN Deutschland
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EINE FEMINISTISCHE KRITIK DER ATOMBOMBE GENDER- UND FEMINISTISCHE PERSPEKTIVEN AUF AUSSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK
ÜBER ICAN Die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atom- waffen (ICAN) ist eine globale Koalition von Nichtregierungs- organisationen, die für eine atomwaffenfreie Welt arbeiten. Mit über 500 Partnerorganisationen in mehr als 100 Ländern haben wir am 7. Juli 2017 ein wichtiges Ziel erreicht: Die Verabschiedung eines UN-Vertrages zum Verbot von Atomwaffen. Nun setzen wir uns dafür ein, dass Deutschland diesem Vertrag beitritt. 2017 wurde das internationale ICAN-Bündnis mit dem Friedens- nobelpreis ausgezeichnet. „Der Friede ist zu wichtig, um ihn den Männern allein zu überlassen.“ JOHANNA DOHNAL, Feministin und Österreichs erste Frauenministerin Veröffentlicht: Dezember 2019 von ICAN Deutschland mit Unter- stützung der Heinrich Böll Stiftung Redaktion: Anne Balzer (V.i.S.d.P.) Illustrationen von: Fatima Spiecker Kontakt: office@ican.berlin www.icanw.de Mit Unterstützung der
EINE FEMINISTISCHE KRITIK DER ATOMBOMBE Mit Deutschlands nicht-ständigem Sitz im Sicher- 1 WAS BEDEUTET EINE FEMINISTISCHE AUSSENPOLITIK? heitsrat der Vereinten Nationen seit Januar 2019 Kristina Lunz und Nina Bernarding (Center for Feminist und dem damit einhergehenden Fokus des Außen- Foreign Policy, CFFP) erklären die Wurzeln der feministi- ministeriums auf die Umsetzung der Resolution schen Außenpolitik. 1325 (2000) Frauen, Frieden, Sicherheit - gewinnen 2 FRAUEN IN SICHERHEITS- UND ABRÜSTUNGS- auch Gender - und feministische Perspektiven auf GREMIEN Außen- und Sicherheitspolitik aktuell an Relevanz in Irmgard Hofer und Jennifer Menninger (Women’s der politischen Debatte. International League for Peace and Freedom, WILPF) diskutieren die Repräsentation von Frauen in inter- nationalen Abrüstungsgremien. Auch in Bezug auf Atomwaffen wurde diese Pers- pektive zu lange vernachlässigt. Der 2017 im Rah- 3 FOLGEN RADIOAKTIVER STRAHLUNG AUF FRAUEN men der Vereinten Nationen verabschiedete Vertrag UND MÄDCHEN zum Verbot von Atomwaffen (TPNW) erkennt in der Birte Vogel (ICAN Deutschland) erklärt die genderspezi- fischen Folgen von Nuklearwaffentests- und Einsätzen. Präambel erstmals die besonderen Folgen nuklearer Strahlung auf Frauen und Mädchen an. Ein Novum in der Welt der Abrüstungsverträge - und dennoch 4 EINE FEMINISTISCHE KRITIK DER ATOMBOMBE Ray Acheson (ICAN International/Reaching Critical Will) längst überfällig. Doch die Debatte zur feministi- führt in die feministische Diskurskritik zu Atomwaffen schen Kritik an Atomwaffen geht noch über die An- ein. erkennung dieser Folgen hinaus. Deshalb geben Ex- Alle Beiträge verdeutlichen, dass Atomwaffen zu lange rein technisch und geostrategisch diskutiert wurden. Des- pert*innen in den folgenden Texten einen Überblick halb soll die Broschüre zu einer inklusiveren Debatte zum zu den wichtigsten Diskussionssträngen. Thema Atomwaffen beitragen und Impulse für die Ächtung dieser Massenvernichtungswaffen geben. 3
1. KONZEPT: WAS BEDEUTET EINE FEMINISTISCHE AUSSENPOLITIK ? Nina Bernarding und Kristina Lunz Geschäftsführerinnen Centre for Feminist Foreign Policy Mit der Entscheidung, ihre Außenpolitik an fe- BAUSTEINE EINER FEMINISTISCHEN ministischen Prinzipen auszurichten, stellte die schwedische Regierung 2014 den gesamten AUSSENPOLITIK Status quo außenpolitischer Traditionen der Um das zu erreichen, fordert eine feministische letzten Jahrhunderte in Frage. Nachdem die Außenpolitik nicht weniger als eine vollständige feministische Analyse von internationalen Be- und systemische Neuausrichtung von Außen- ziehungen spätestens seit den 1980er Jahren politik, wodurch Strukturen, die unterdrücken in der Wissenschaft eine immer bedeutendere und ausschließen – wie patriarchale Ordnungen Rolle spielt, erreichte der feministische Ansatz oder die Idee der weißen Vorherrschaft – durch auf Außenpolitik damit 2014 auch die politische Strukturen und Werte ersetzt werden, die Ko- Praxis. Inzwischen verfolgt Kanada eine feminis- operation und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt tische Entwicklungszusammenarbeit und Frank- stellen.1 D.h. eine feministische Außenpolitik er- reich eine feministische Diplomatie. Im Wahl- kennt nicht nur an, dass es strukturelle Macht- kampf für die Wahl des Europaparlaments 2019 gefälle – z.B. zwischen Geschlechtern – gibt, forderten Bündnis 90/Die Grünen in Deutsch- sondern arbeitet aktiv darauf hin, diese Un- land eine feministische Außenpolitik und Ende gleichheiten zu beseitigen und Machtstrukturen September verkündete Mexiko ab 2020 auch zu sprengen. eine feministische Außenpolitik verfolgen zu wollen. Die Unterstützer*innen einer feministi- schen Außenpolitik eint vor allem eins: Die Über- 1 Conway, Marissa and Herten-Crabb, Asha (2019): “Secu- zeugung, dass eine Außenpolitik, die auf femi- rity Council Weapons of Mass Destruction and Feminist Fo- nistischen Werten beruht, entscheidend ist für reign Policy”, in: Turkish Policy Quarterly, 27. Juni 2019, http:// turkishpolicy.com/article/961/security-council-weapons-of- eine gerechte und sichere Welt. mass-destruction-and-feminist-foreign-policy (Zugriff 07.10.2019). 4
Daher setzt sich eine feministische Außen- Auch weist eine feministische Außenpolitik das politik für eine gleichberechtigte Partizipation realpolitische Mantra „mehr Waffen – mehr von politisch marginalisierten Gruppen ein, so- Sicherheit“ zurück und hinterfragt die inter- dass vor allem die Bedürfnisse und Perspekti- nationale Praxis, Frieden und Sicherheit vor ven derjenigen außenpolitische Prozesse be- allem durch die Androhung von Waffengewalt einflussen, die traditionell eine untergeordnete – allen voran nuklearer Abschreckung – zu er- Rolle in Außenpolitik spielen – wie beispiels- halten.3 Sie akzeptiert nicht, dass Organisatio- weise Frauen, People of Color oder Menschen nen wie die NATO, deren Sicherheitsverständ- mit Behinderung. Dabei erkennt eine feministi- nis darauf beruht, andere Staaten militärisch sche Außenpolitik immer an, dass sich mehrere zu dominieren, als Garant für unsere Sicher- Formen von Diskriminierung, z.B. aufgrund von heit gesehen werden sollen. Ebenso kritisiert Alter, Religion oder Hautfarbe überlappen kön- sie, dass vier der fünf permanenten Mitglieder nen und neue Formen von Diskriminierung ent- des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, der stehen können. Eine feministische Außenpolitik für die Wahrung des internationalen Friedens ist daher immer intersektional und berück- verantwortlich ist, zusammen mit der Bundes- sichtigt, dass außenpolitische Entscheidungen republik zu den fünf größten Waffenexport- gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich be- nationen gehören.4 einflussen. Im Gegensatz zu realpolitischen Annahmen sieht eine feministische Außenpolitik Krieg nicht als Normalzustand internationaler Beziehungen und analysiert vorrangig die Machtstrukturen, die durch (die Androhung) von Waffengewalt aufrecht erhalten und verweist auf die enormen Risiken unserer internationalen Sicherheitsarchi- tektur hin, in dem sich aktuell ca. 2.000 Atom- waffen (von 14.000) in Höchstalarmbereitschaft befinden und innerhalb weniger Minuten, Tau- sende von Menschen töten können.5 Eine feministische Außenpolitik setzt sich daher dafür ein, bestehende Sicherheitsstrukturen zu entmilitarisieren und die Ursachen von gewalt- Cecilia Malmström, schwedische EU-Kommissarin für Innenpolitik samen Konflikten zu adressieren – vor allem Ungerechtigkeit und Ungleichheit, auch zwi- schen Geschlechtern. Denn internationale For- Feministische Außenpolitik ist ein rechts- schung belegt, dass Staaten nach innen und basierter Ansatz, verankert in den Prinzipen der außen umso friedlicher sind, je höher das Niveau universellen Menschenrechte und Würde.2 Sie von Geschlechtergerechtigkeit in ihren Gesell- setzt sich vor allem dafür ein, die Rechte von schaften ist. Regierungen, die sich aktiv dafür politischen Minderheiten zu verwirklichen, wie einsetzen, dass alle Geschlechter die gleichen z.B. reproduktive und sexuelle Rechte von Frau- Rechte und Möglichkeiten haben, sind weni- en und queer Menschen. Eine feministische ger geneigt, internationale Konflikte mit militäri- Außenpolitik stellt daher die Erfahrung und Be- scher Gewalt lösen zu wollen. Staaten, in denen dürfnisse von Einzelnen in den Mittelpunkt – das physische Gewalt gegen Frauen selten ist und gilt auch für den Bereich Sicherheitspolitik: Sie erkennt die*den Einzeln*en als Adressat*in von Sicherheit an, nicht den Staat. Damit weist sie die realpolitische Annahme zurück, dass sichere 3 Ray Acheson (2018), in: Centre For Feminist Foreign Poli- Staaten automatisch zu sicheren Menschen füh- cy, ht tp s: //c e ntrefo r fe minis t fo re ignp olicy.o rg / inte r- ren – im Gegenteil: vor allem für politisch margi- views/2018/12/5/ray-acheson (Zugriff 07.10.2019). nalisierte Akteur*innen schaffen staatliche Struk- 4 SIPRI (2018): „Asia and the Middle East Lead Rising Trend in Arms Exports, US Exports grow significantly, says Sipri”, turen oft Unsicherheit. Ziel einer feministischen 12. März 2018, https://www.sipri.org/news/press-re- Außenpolitik ist es daher vorrangig, menschliche lease/2018/asia-and-middle-east-lead-rising-trend-arms-im- Sicherheit zu stärken. ports-us-exports-grow-significantly-says-sipri/ (Zugriff 07.10.2019). 5 Sipri (2019): „Modernization of world nuclear forces con- tinues despite overall decrease in number of warheads: New SIPRI Yearbook out now”, 17. Juni 2019, https://www.sipri.org/ 2 Alice Ridge et al. (2019): „Feminist Foreign Policy. Key media/press-release/2019/modernization-world-nuclear-for- Principles & Accountability Mechanisms.” A Discussion Sum- ces-continues-despite-overall-decrease-number-warheads- mary May 2019. new-sipri (Zugriff 07.10.2019). 5
bestraft wird, halten sich eher an internationale ATOMWAFFEN UND EINE FEMINISTISCHE Normen und Verträge und haben bessere Be- ziehungen zu ihren Nachbarstaaten.6 AUSSENPOLITIK Die Theoretisierung und politische Aus- Statt Dominanz und Exklusion priorisiert eine fe- gestaltung des Konzepts einer feminis- ministische Außenpolitik internationale Partner- tischen Außenpolitik wird zurzeit von schaft und Kooperation, vor allem in multi- Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und Ak- lateralen Foren – auch um gesellschaftliche tivist*innen auf der ganzen Welt vorangebracht. Veränderungen einzufordern, die die Interes- Bereits jetzt sind sich die meisten bei einem sen der nationalen Elite herausfordert.7 Um auf Punkt einig: eine feministische Außenpolitik ver- multilateraler Ebene gleichberechtigte inter- folgt immer das Ziel eines Global Zero, die Elimi- nationale Entscheidungsprozesse zu ermög- nierung aller nuklearen Waffen.8 lichen, müssen die aktuellen Foren und Formate reformiert werden – allen voran der Sicherheits- Aus feministischer Perspektive muss der Pro- rat der Vereinten Nationen. zess hin zu einem Global Zero vor allem von denjenigen geprägt sein, deren Sicherheit durch Atomwaffen und atomares Aufrüsten beein- trächtigt ist: diejenigen Staaten, die keine Atom- waffen besitzen (dürfen), die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki, die indigenen Völker, die unter den Folgen atomarer Tests auf ihren Territorien zu leiden haben sowie all diejenigen, die unter schlecht finanzierter Bildung, Infra- struktur und Gesundheitsversorgung leiden, während Milliarden Euros in die Modernisie- rung von atomaren Waffen fließen.9 Anstatt die möglichen Konsequenzen von atomaren An- griffen und Unfällen als notwendiges Risiko in Beatrice Fihn (rechts) und Setsuko Thurlow (mitte) nehmen 2017 Kauf zu nehmen, um die Sicherheit des Staa- den Friedensnobelpreis entgegen tes zu gewährleisten, stellt eine feministische Außenpolitik genau diese Sicherheitsrisiken des Einzelnen in den Fokus nuklearer Debatten Schlussendlich verändert ein feministischer An- und weist auf die Sicherheitsrisikos von atoma- satz die Art und Weise, wie Außenpolitik ge- ren Aufrüstungsbestrebungen konsequent hin. macht wird. Sie sucht aktiv die Zusammen- Anstatt den Status quo – definiert von weni- arbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, gen (männlichen und weißen) politischen Eliten die sozialen und gesellschaftlichen Wandel ge- – als Standard und das Mögliche zu akzeptie- stalten. Sie erkennt an, dass koloniales Denken ren, arbeitet eine feministische Außenpolitik auf und Strukturen noch immer die Außenpolitik von inklusive Politikprozesse hin, um bestmögliche Ländern im globalen Norden beeinflussen und Lösungen für alle zu finden.10 arbeitet aktiv darauf hin, diese zu überwinden. Statt Unterschiede zwischen ‚uns‘ und ‚den an- deren‘ zu betonen, geht es um die Überwindung von Gräben und die Betonung der Gemeinsam- keit aller Menschen. 8 Conway and Herten-Crabb (2019). 9 Ray, Acheson (2018): „Presentation on gender, weapons, and power: the importance of feminism for disarmament“, http://www.reachingcriticalwill.org/news/latest-news/13583- 6 Hudson et al. (2014): “Sex & World Peace”, New York: presentation-on-gender-weapons-and-power-the-importan- Colombia University Press. ce-of-feminism-for-disarmament/ (Zugriff 07.10.2019). 7 Alice Ridge et al (2019). 10 Conway and Herten-Crabb (2019). 6
2. REPRÄSENTATION: FRAUEN IN SICHERHEITS- UND ABRÜSTUNGSGREMIEN Jennifer Menninger und Irmgard Hofer Deutsche Sektion der Women‘s International League for Peace and Freedom (WILPF) Frauen sind seit Jahrzehnten in der weltweiten KONSEQUENZEN GESCHLECHTERSPEZIFISCHER Anti-Atombewegung aktiv und haben maßgeb- lich zu der Entstehung des Atomwaffensperr- NORMEN FÜR DIE ATOMWAFFENPOLITIK vertrags beigetragen. Als wissenschaftliche Generell trägt eine ausgewogene Geschlechter- Expertinnen und zivilgesellschaftliche Akteurin- repräsentation zu mehr Gerechtigkeit bei. Da nen werden sie regelmäßig zu Sicherheits- und Frauen aufgrund der ihnen zugeschriebenen Abrüstungsgremien eingeladen. Jedoch sind Geschlechterrolle andere Voraussetzungen als sie selten in einer Entscheidungsposition. Umso Männer haben, ist es für sie generell schwie- wichtiger ein Gremium ist, desto weniger Frauen riger, eine Position in der Sicherheitspolitik sind dort anwesend und desto seltener über- einzunehmen. Sie werden als zu „weich“ und nehmen sie darin eine Leitungsfunktion. Zwar „emotional“ wahrgenommen, um rationale Ent- stieg der Anteil an Frauen innerhalb der letzten scheidungen zugunsten der nationalen Sicher- Jahre kontinuierlich an, doch sind in Gruppen heit zu fällen. Der Zugang zu Militärtechnologie ab 100 Personen im Durchschnitt nur 32 % der wird ihnen auch nicht zugetraut. Weitere Grün- Anwesenden weiblich. In kleineren Meetings be- de, warum Frauen in diesem Berufszweig unter- trägt ihr Anteil lediglich 20 %.1 repräsentiert sind, sind die dort herrschenden Arbeitsbedingungen, wie informelle Meetings bis spät in die Nacht hinein und die Verpflichtung in Länder zu reisen, in denen die Bewegungs- 1 UNIDIR, Hessmann Dalaqua, Renate/Egeland, Kjølv/Graff Hugo, Torbjørn (2019): Still behind the Curve. Gender Balance in Arms Control, Non-Proliferation and Disarmament Diplom- acy. United Nations Institute for Disarmament Research. S. 5. 7
freiheit von Frauen eingeschränkt ist. Sie er- Möglichkeit, dies zu tun. schweren auch die Vereinbarkeit von Beruf und Die Resolution 1325 eröffnet auch der Zivil- Familie.2 gesellschaft die Chance, enger mit der Politik Eine höhere Präsenz von Frauen in Sicherheits- zusammenzuarbeiten. Seit ihrer Verabschiedung und Abrüstungsgremien ermöglicht eine diffe- werden regelmäßig Aktivist*innen in den Sicher- renziertere Sicht auf die Folgen von Atomwaffen. heitsrat eingeladen und ihre Arbeit bekommt Aufgrund biologischer, sozialer und kultureller dadurch mehr Ansehen. Auch die Anti-Atom- Normen wirkt sich die Produktion, Erprobung bewegung hat dadurch mehr Einflussmöglich- und Nutzung von Atomwaffen auf Frauen und keiten gewonnen. Sie kann ihre Positionen leich- Männer anders aus. Die immensen Kosten der ter in politischen Debatten einbringen und atomaren Aufrüstung fehlen in der Bildung, Gesundheit und Pflege. Alles Bereiche, in denen Frauen die Hauptlast tragen. Diese strukturellen Benachteiligungen von Frauen werden in politi- schen Debatten um Atomwaffen selten themati- siert. Die Situation von LGBT wird bisher weder ausreichend untersucht noch berücksichtigt. Atomwaffenstaaten im Jahr 2019 Land Sprengköpfe USA 6.185 Elayne Whyte Gómez, Vorsitzende der TPNW-Verhandlungen Russland 6.500 im besten Fall langfristig zu Veränderungen in Großbritannien 200 der Sicherheitspolitik führen. Insbesondere Be- Frankreich 300 troffene von Atomwaffen, wie »hibakusha«4 und China 290 die indigene Bevölkerung inmitten von Test- Indien 130–140 gebieten, haben so einen besseren Zugang zu Pakistan 150–160 politischen Institutionen. Um eine nukleare Ab- Israel 80-90 rüstung zu erreichen, müssen Menschen mit diversen und alternativen Perspektiven einen Nordkorea 20-30 Zugang zu politischen Entscheidungspositionen Gesamt ~13.865 erhalten, um die jahrzehntelange Politik der Ab- Quelle: SIPRI 2019 schreckung zu stoppen. Dass Frauen öffentlich einen anderen Stand- GENDER MAINSTREAMING IN FRIEDEN UND punkt zu Atomwaffen vertreten, zeigte sich bei- SICHERHEIT spielsweise 2017 während der Verhandlungen zur Verabschiedung des Atomwaffenverbotsver- Um die Präsenz von Frauen in Sicherheits- und trags (TPNW). Die costa-ricanische Botschafte- Abrüstungsgremien zu fördern, verabschiedete rin Elayne Whyte Gómez übernahm den Vorsitz der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im und viele Frauen leiteten Staatsdelegationen, Jahr 2000 die Resolution 1325 „Frauen, Frie- wie zum Beispiel Irland, Neuseeland, die Philip- den, und Sicherheit.“3 Die Unterzeichner*innen pinen und Südafrika. verpflichten sich dazu, Gender Mainstreaming in den Bereichen Frieden und Sicherheit durch- Schließlich berücksichtigt der TPNW auch als zuführen. Ein zentrales Ziel ist dabei, eine aus- erster Vertrag die Leistungen von Frauen im Be- geglichene Anzahl an Frauen und Männern reich der nuklearen Abrüstung und die Wichtig- in Führungspositionen zu erreichen. Dieses keit einer gleichberechtigten, vollumfassenden Vorhaben führt jedoch nicht zwangsläufig zu und effektiven Teilhabe von Frauen und Män- einem politischen Richtungswechsel. Frau- nern, um Frieden und Sicherheit zu erreichen. en müssen sowohl ein Interesse daran haben, Veränderungen herbeizuführen als auch die 2 ebd. UNIDIR 2019, 33f. 3 Vereinte Nationen (2000): S/RES/1325 „Women, Peace, and Security.” https://www.un.org/ga/search/view_doc. 4 die Überlebende der Atombombenabwürfe auf Hiroshima asp?symbol=S/RES/1325(2000). und Nagasaki 8
GESCHLECHTERVERTEILUNG IN GRÖSSEREN FOREN (N>100) Farbgebung original, Grafik übersetzt aus Still Behind the Curve, 24/06/2019 Renata Hessmann Dalaqua, Kjølv Egeland, Torbjørn Graff Hugo https://www.unidir.org/publication/still-behind-curve 9
3. WIRKUNG: FOLGEN RADIOAKTIVER STRAHLUNG AUF FRAUEN UND MÄDCHEN Birte Vogel Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, ICAN Deutschland e.V. Atomwaffentests wirken sich unterschied- Eine Langzeitstudie der Überlebenden der lich auf Menschen aus. Die Auswirkungen sind Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Naga- neben dem Alter zum Beispiel auch abhängig saki im Jahr 1945 zeigte für Frauen ein zweifach vom biologischen Geschlecht und der sozialen erhöhtes Lebenszeitrisiko für die Entwicklung Geschlechterrolle einer Person in der Gesell- von Krebs, verglichen mit Männern. Ebenfalls schaft (Gender). Die Untersuchungen, die bisher zeigte sich eine zweifach erhöhte Sterblichkeit auf diese Unterschiede hinweisen sind begrenzt. aufgrund der ionisierenden Strahlung.7 Sie beziehen sich insbesondere auf Langzeit- studien nach den Atombombenabwürfen in Hi- roshima und Nagasaki, den Atomreaktorunfall in Tschernobyl sowie Studien in Gebieten, in denen Atomwaffentests erfolgten.5 GESCHLECHTERSPEZIFISCHE AUSWIRKUNG AUF KÖRPER Im Hinblick auf das biologische Geschlecht wer- den männliche und weibliche Individuen in den Studien unterschieden, auch wenn dies dem natürlichen Spektrum von Geschlechtlichkeit nicht gerecht wird (Intersexualität). Die akute Ex- position ionisierender Strahlung wirkt sich auf alle Lebewesen gleich aus. Entscheidend ist die Langzeitexposition ionisierender Strahlung. Hier werden sich summierende Effekte der Strah- lung wichtig. Je länger die Exposition, desto eher entstehen in den Zellen der Organismen Krebs auslösende Mutationen. Wichtig scheint hier auch zu sein, wie hoch der Zellstoffwechsel eines Individuums ist. Im Wachstum befindliche Kinder sind durch die Exposition ionisieren- der Strahlung deutlich mehr bedroht. Dadurch wird relevant, in welchem Alter die Exposition Dies galt für Menschen, die im Kindesalter der ionisie-render Strahlung stattfindet. Nach der Strahlung ausgesetzt waren. Frauen, die der Tschernobyl-Katastrophe zeigte sich bei Kindern Strahlung ausgesetzt waren, hatten immer noch und Jugendlichen eine deutliche Zunahme von ein 50 Prozent höheres Risiko als Männer an Schilddrüsenkrebs. Die Häufigkeit von Schild- drüsenkrebs bei Kindern unter zehn Jahren war bei Mädchen deutlich höher als bei Jungen.6 Scientific Annexes, ‘Sources and effects of ionizing radiation’, Volume II (Scientific Annexes C, D and E), p. 60, figure VIII on health effects due to radiation from the Chernobyl accident. 5 vgl. Dimmen, A. G. (2014): Gendered impacts. In Vienna 7 K. Ozasa et al (2012): ‘Studies of the mortality of atomic Conference Series (No. 5). bomb survivors: Report 14, 1950−2003—an overview of can- 6 United Nations Scientific Committee on the Effects of Ato- cer and non-cancer diseases’, Radiation Research, vol. 177 mic Radiation (2008), Report to the General Assembly with no. 3, 2012, pp. 229−243, p. 232. 10
Krebs zu erkranken. Bei diesen Untersuchungen SCHWANGERSCHAFT UND GEBURT spielten insbesondere geschlechtspezifische Krebsformen wie Eierstockkrebs und Brust- In der Schwangerschaft erhöht ionisieren- krebs eine Rolle. Bei Ausschluss dieser Krebs- de Strahlung das Risiko für Fehlbildungen und formen war die Krebsrate für beide Geschlech- mentale Retardierung des Kindes.9 Bei Ex- ter gleich.8 Jedoch muss beachtet werden, position mit höheren Strahlendosen können dass die Gründe für das erhöhte Krebsrisiko bei spontane Fehlgeburten und Totgeburten auf- Mädchen und Frauen noch nicht ausreichend treten. Die ionisierende Strahlung wirkt sich erforscht sind. Es wird vermehrt kritisiert, dass auch auf die Reproduktionsfähigkeit der Frau- die Studien zu den Folgen und Festlegung von en aus. So kann sich durch die Strahlung der Grenzwerten für ionisierende Strahlung sich Menstruationszyklus verändern und die Fähig- meist auf einen 30-jährigen „Referenzmann“ be- keit, schwanger zu werden, verloren gehen. ziehen, wobei das stärkere Risiko in Abhängig- keit von Geschlecht und Alter vollkommen aus- geblendet wird. 8 D.L. Preston et al (2007): Solid cancer incidence in atomic 9 J. Valentin (2003): Biological effects after prenatal irradia- bomb survivors: 1958-1998, Radiation Research, vol. 168 no. tion (embryo and fetus), Annals of the International Commis- 1, pp. 1-64, p. 55. sion on Radiological Protec¬tion, vol. 33, no. 1-2, pp. 1-206. 11
ausgesetzt.12 Die Ernährungsgewohnheiten PSYCHISCHE FOLGEN aber auch die Badegewohnheiten der Frauen* Radioaktive Strahlung ist unsichtbar und kann auf den Marshall Islands trugen dazu bei, dass sich über weite Entfernungen über Länder diese einem höheren Risiko durch kontaminierte verteilen. Diese Bedrohung durch Strahlen- Lebensmittel und kontaminiertes Wasser aus- exposition belastet insbesondere Frauen*. Nach gesetzt waren. Sie aßen andere Teile vom Fisch dem Tschernobylunfall bedrohte der Fallout ver- und Fleisch, bei denen die Akkumulation von schiedene europäische Staaten. In einer Be- radioaktiven Isotopen vermehrt zu beobachten fragung berichteten die Frauen* deutlich mehr war.13 Stress als Männer*, der insbesondere durch das unvorhersagbare Gesundheitsrisiko und die Auch soziale Stigmatisierung kann in Folge nicht genau einzuschätzende Gefährdung, die eines Atomwaffeneinsatzes geschlechtsspezi- durch die Strahlenexposition entsteht. Die Be- fisch sein. Die Überlebenden der Atombomben- troffenen fühlten sich daher auch verantwortlich, abwürfe von Hiroshima und Nagasaki waren protektive Maßnahmen zu ergreifen.10 unabhängig vom Geschlecht einer sozialen Stig- Die psychische Belastung hängt damit zu- matisierung ausgesetzt. Sie galten als „konta- sammen, dass in unserer Gesellschaft immer miniert“ und waren mit Angst und Misstrauen noch der Großteil der Sorgearbeit auf die Mütter konfrontiert. Doch insbesondere die Vorstellung zurückfällt. zu den weiblichen Körpern waren mit Vor- urteilen in Bezug auf Heirat und Fortpflanzung behaftet. Frauen* wurde Sterilität unterstellt und SOZIALE AUSWIRKUNGEN die Fähigkeit, gesunde Kinder zu gebären, ab- Die Umweltverseuchung durch radioaktive gesprochen. Infolgedessen entstand eine Dis- Strahlung hat meist Evakuierungen und Ver- kriminierung auf dem Heiratsmarkt.14 treibung zur Folge. Der Verlust von Infrastruktur verstärkt diskriminierende gesellschaftliche ZUSAMMENFASSUNG Bedingungen, unter denen insbesondere auch Frauen* leiden. Frauen* werden in solchen Si- Die Folgen eines Atomwaffeneinsatzes oder tu-ationen vermehrt ihre Rechte verwehrt. Auch eines Atomwaffentests sind nicht für alle Men- steigt das Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu schen gleich. Insbesondere geschlechtsspezi- werden. Im Falle einer radioaktiven Katastro- fische Auswirkungen sind relevant. Neben bio- phe würden Frauen* aufgrund ihrer gesellschaft- logischen Unterschieden sind insbesondere lichen Position die überwiegende Sorgearbeit die psychischen und sozialen Auswirkungen für Kinder und Verletzte übernehmen und somit in Folge von gesellschaftlichen Geschlechter- einer vermehrten Belastung ausgesetzt sein. rollen hervorzuheben. Frauen* erfahren hier Frauen* haben auch oftmals nicht die Res- immer noch deutliche Benachteiligungen und sourcen, um an die Orte zu gelangen und an sind durch Katastrophen besonders bedroht. Prozessen teilzunehmen, mit denen sie Ent- Dies gilt es in der Betrachtung der humanitären schädigungsansprüche geltend machen kön- Folgen von Atomwaffen aber auch im Diskurs zu nen.11 diesen Waffen zu beachten. Kulturelle Gegebenheiten können unterschied- liche Auswirkungen durch radioaktive Strahlung zur Folge haben. Insbesondere unterschiedliche Essgewohnheiten von Frauen* und Männern* spielen hier durch die innere Exposition eine Rolle. So waren Männer* durch den bevorzugten Verzehr von in der Natur verfügbaren Lebens- mitteln wie Beeren, Pilzen und Fisch in der Zeit nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl vermehrt der internen Exposition radioaktiver Strahlung 12 International Atomic Agency (IAEA) (2006): Environmen- tal Consequences of the Chernobyl Accident and their Re- mediation—Twenty Years of Experience: Report of the Cher- nobyl Expert Group on Environment, IAEA, p. 115: 2006, http://www.who.int/ionizing_radiation/chernobyl/IAEA_ 10 Tønnessen, Mårdberg and Weisæth (2002): Silent disas- Pub1239_web%5b1%5d.pdf ter: a European perspective on threat perception from Cher- 13 Ebd. Acheson 2013. nobyl far field fallout, Journal of Trauma Stress, vol. 15 no. 6, 14 M. Todeshini, Illegitimate Sufferers: A-Bomb Victims, Me- pp. 453-459. dical Science, and the Government Author(s), Daedalus, vol. 11 Ebd. Acheson 2013. 128 no 2, 1999 Todeshini 1999. 12
4. DISKURS: EINE FEMINISTISCHE KRITIK DER ATOMBOMBE Ray Acheson Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen/Reaching Critical Will Die Wissenschaftlerin Carol Cohn schrieb eine greifen. Ihre Befürworter argumentieren, dass Geschichte über ihre Erfahrungen mit Strate- der bloße Besitz von Atomwaffen abschreckend gen nuklearer Kriegsführung, mit denen sie in wirkt und Konflikte vermeidet. In den richtigen den 1980er-Jahren zusammenarbeitete. In die- Händen sind sie gut für die Menschheit, lautet ser Geschichte simulieren einige weiße Physi- ihr Argument. Über Atomwaffen redet man nur ker einen nuklearen Gegenangriff. Aufgrund der rein theoretisch; sie sind magische Instrumente, leichtfertigen Art, in der seine Kollegen über die unserer Sicherheit dienen und in der Welt für zivile Opfer reden, platzt es aus einem von ihnen Stabilität sorgen. heraus: „Nur 30 Millionen. Nur 30 Millionen Men- „Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Un- schen, die sofort getötet werden?“1 Es wurde wissenheit ist Stärke.” So lautet der Slogan der still im Raum. Und er schämte sich für seinen Partei in George Orwells Roman 1984. Ausbruch. Waffen verhindern Krieg, heißt es im „realisti- Das ist eine vielsagende Geschichte über schen“ Diskurs über Atomwaffen. Atomwaffen – oder vielmehr über die Art und Weise, in der diejenigen, die glauben von Atomwaffen zu Aber wer ist in Bezug auf Atomwaffen eigent- profitieren, nach wie vor bestimmen, wie wir über lich unrealistisch? Diejenigen, die annehmen, diese Waffen denken und reden. dass wir in dieser Welt mit all ihren Spannungen, Wir sollen Atomwaffen als „Abschreckung“ be- Konflikten, Ängsten und Instabilitäten dauerhaft existieren, ohne dass die Atomwaffen je zum Einsatz kommen? Diejenigen, die glauben, dass eine von Nuklearstrategen erdachte Theorie na- 1 Cohn, Carol / Ruddick, Sara (2004). A Feminist Ethical Per- spective on Weapons of Mass Destruction. 10.1017/ mens „nukleare Abschreckung“ unfehlbar ist? CBO9780511606861.023. p.13. 13
Oder sind es vielleicht diejenigen von uns, die er- kennen, welche Gefahren in der Atombombe ste- cken und sie abschaffen wollen? Diejenigen, die glauben, dass Sicherheit nicht glaubwürdig auf der Drohung basieren kann, Völkermord zu be- gehen und die ganze Welt zu zerstören? Wenn wir bereit sind, einzuräumen, dass die Abschreckungstheorie möglicherweise eini- ge Schwachstellen aufweist, sollten wir uns die Frage stellen, wie diese Theorie dann so lange überleben und Erfolg haben konnte. Wie hat sie sich mit dem Anschein von „Realismus“ um- geben und ihn so lange bewahren können? MILITARISIERTE MÄNNLICHKEIT SCHADET ALLEN Das Patriarchat ist eine von Männern dominierte Gesellschaftsordnung – vor allem von Männern, die eine bestimmte Art militarisierter Männlich- keit an den Tag legen, die Waffen und Krieg mit Macht assoziiert. Diese Art von Männlichkeit hat Einfluss auf den Besitz, die Weiterverbreitung und den Einsatz von allen Waffen – von kleinen Und denen, die sich die Abschreckungstheorie bis hin zu Atomwaffen. Es ist eine Männlichkeit, auf die Fahne geschrieben haben, ist es ge- bei der Konzepte wie Stärke, Mut und Schutz mit lungen, die Vorherrschaft über die Atomwaffen- Gewalt gleichgestellt werden. Es ist eine Männ- debatte zu bewahren, indem sie Instrumente des lichkeit, in der die Fähigkeit und Bereitschaft, Patriarchats einsetzen, wie Gaslighting und Vic- von Waffen Gebrauch zu machen, an Kampf- tim blaming. handlungen teilzunehmen und andere Menschen zu töten, als wesentlich dafür gilt, ein „richtiger Der Begriff Gaslighting stammt aus einem Mann“ zu sein. Schauspiel von 1938, in dem ein Ehemann seine Frau psychisch manipuliert, um sie glauben zu Diese Männlichkeit verlangt, diejenigen zu unter- machen, sie sei verrückt. Im weitesten Sinne drücken, die auf der Grundlage von Gendernor- wird diese Technik auch in der Politik angewandt, men als „schwächer“ gelten. Sie führt zu häus- insbesondere gerade jetzt in den USA im Zu- licher Gewalt. Sie führt zu Gewalt gegen Frauen. sammenhang mit wirtschaftlicher Ungerechtig- Sie führt zu Gewalt gegen Schwule und Trans- keit, Rassismus und sexueller Gewalt. Es ist gender. eine Leugnung der Lebenswirklichkeit von aus- Aber bei militarisierter Männlichkeit geht es gegrenzten Bevölkerungsgruppen, es ist die Be- nicht nur ausschließlich um Tod. Sie ist auch ein hauptung: „Es ist nichts zu sehen, es ist alles in großer Hemmschuh für Abrüstung, Frieden und Ordnung.“ Geschlechtergerechtigkeit. Sie lässt Abrüstung Im Zusammenhang mit Atomwaffen wurde Gas- wie eine Schwäche aussehen. Sie lässt Frieden lighting bereits zu Beginn des Atomzeitalters wie eine Utopie wirken. Sie lässt Schutz ohne praktiziert. Die Abschreckungsdoktrin leugnet Waffen wie eine Absurdität erscheinen. die Lebenswirklichkeit all derjenigen, die das generationenübergreifende Leiden durch den Einsatz und das Testen von Atomwaffen erleben NUKLEARE ABSCHRECKUNG ALS MACHTERHALT mussten. Sie macht es zu einem Gedankenver- DES PATRIARCHATS brechen à la 1984, über die humanitären Aus- Das Konzept der nuklearen Abschreckung ist ein wirkungen von Atomwaffen überhaupt nachzu- Produkt des Patriarchats. Es wurde entworfen, denken. um das schändliche Verhalten von denjenigen zu rechtfertigen, die an der Macht sind und Privile- gien haben – gemeint ist das Verhalten, Milliar- ABRÜSTUNG ALS UNREALISTISCHE, den für Waffen auszugeben, die zur Zerstörung WEIBLICHE MISSION der ganzen Welt führen können, um diese Macht Eine Art, dies zu tun, ist alle zu „verweiblichen“, zu erhalten und diese Privilegien zu bewahren. die das Thema ansprechen wollen. Der Physi- 14
verbieten zu wollen. Und nicht zuletzt wurde gar behauptet, dass ein Verbot von Atomwaffen die internationale Sicherheit so sehr unterminieren könnte, dass dies sogar zum Einsatz von Atom- waffen führen könnte. DIE OPFER SIND SCHULD Das bringt uns zu einer weiteren patriarchali- schen Technik: dem Victim blaming bzw. der Opferbeschuldigung. Das passiert beispiels- weise, wenn Männer behaupten, dass Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden, sich auf eine Weise verhalten oder gekleidet haben müs- sen, dass sie sich diesen Übergriff selbst zu- zuschreiben haben. In Bezug auf Atomwaffen ist das Argument ähnlich: Wenn ihr versucht, uns unsere Spielzeuge der massiven nuklearen Gewalt wegzunehmen, bleibt uns keine andere Wahl, als sie zum Einsatz zu bringen, und daran werdet ihr schuld sein. ker in Carol Cohns Geschichte gestand ihr nach FEMINISTISCHE ANALYSE DER seinem Ausbruch im Raum mit den anderen ATOMWAFFENPOLITIK Physikern: „Niemand sagte auch nur ein Wort. Die feministische Analyse hilft uns zu er- Alle schauten betreten weg. Es war schrecklich. kennen, wie bestimmte, in soziale Normen Ich kam mir wie eine Frau vor.” Sich über den einprogrammierte Erwartungen an Männlich- Mord an 30 Millionen Menschen Gedanken zu keit und Weiblichkeit zu dem Irrglauben führen, machen, wird auf negative Weise damit assozi- Bomben würden uns stärken und Abrüstung iert, sich „wie eine Frau“ vorzukommen. „Frau würde uns schwächen – zu dem Irrglauben, zu sein“ bedeutet, sich von „Gefühlen“ leiten zu „mehr Waffen“ seien rational und „weniger Waf- lassen, Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, fen“ seien irrational. Und sie hilft uns zu ver- wenn es um „Strategien“ gehen sollte. stehen, wie diejenigen, die das vorherrschende Das heißt, dass es weiblich ist, sich Gedanken Narrativ in Frage stellen, an derartigen „Aus- über die humanitären und ökologischen Aus- brüchen“ gehindert werden, indem ihre Männ- wirkungen von Atomwaffen zu machen. Und das lichkeit angezweifelt wird. hat nichts mit der wahren Aufgabe zu tun, die Eine feministische Analyse bietet uns aber auch „richtige Männer“ zu erledigen haben, nämlich Techniken, all das zu überwinden. Sie bietet ihre Länder zu „beschützen“. Raum für alternative Stimmen. Sie bietet ein Dadurch entsteht nicht nur der Eindruck, dass Sicherheitskonzept, das auf Gleichheit und es rückgratlos und dumm ist, sich Sorgen über Gerechtigkeit beruht statt auf Waffen und Krieg. einen Einsatz von Atomwaffen zu machen, son- Das heißt, sich von betroffenen Gemeinschaften dern es lässt auch das Streben nach Abrüstung leiten zu lassen. als eine unrealistische und unvernünftige Mis- Atomwaffen sind das Symbol für Ungerechtigkeit sion erscheinen. Und das ist kein Thema der schlechthin. Sie bringen Tod und Zerstörung mit 1980er-Jahre. Das passiert genau jetzt. sich, aber auch Ungleichheit und Manipulation. Sie sind das ultimative patriarchalische Instrument: Als Diplomat*innen der Vereinten Nationen an die ultimative Möglichkeit der Privilegierten, ihre einem Atomwaffenverbot arbeiteten, wurden Macht zu erhalten. sie von ihren Pendants aus Nuklearmächten lächerlich gemacht und als „radikale Träumer“ bezeichnet. Sie wurden beschuldigt, „emotio- nal“ zu sein und nicht zu verstehen, wie sie ihre Völker beschützen müssen. Ihnen wurde ge- Dieser Artikel wurde veröffentlicht im Auftrag der Heinrich- Böll-Stiftung. Übersetzung des Originals: Heinrich-Böll-Stif- sagt, dass ihre Sicherheitsinteressen keine Rolle tung, erstmals veröffentlicht Oktober 2018: https://www.boell. spielen – oder gar nicht existent sind. Es hieß, de/de/2018/10/17/eine-feministische-kritik-der-atombom- dass es illegitim und blauäugig sei, Atomwaffen be?dimension1=ds_femaupo 15
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