Einführung zum Thema "Literarischer Habitus" - J-Stage

Die Seite wird erstellt Amy Geiger
 
WEITER LESEN
Gerhard Helbig: Zur Binnengliederung der deutschen Zustandskonstruktionen mit sein + Partizip II im Lichte der
gegenwärtigen Forschung

                                                     Einführung zum Thema „Literarischer Habitus”

                      Einführung zum Thema „Literarischer Habitus”

            Yoshiki Koda (Keio Universität)
            Die Entstehung des Habitus im antiken Griechenland und
            dessen Wiederentdeckung in Frankreich im 19. Jahrhundert

            Die Gewohnheit scheint bei uns kein großes Interesse zu erregen. Sie ist für
            unser Alltagsleben so allgemein, dass man ihr keine besondere philosophi-
            sche Bedeutung zuerkennen mag. So könnte das Aristotelische Diktum „die
            Gewohnheit sei die zweite Natur” eher als banale Lebensweisheit erscheinen.
            Wir wissen hingegen, dass die Denker unserer Zeit wie Norbert Elias, Pierre
            Bourdieu und Gilles Deleuze sie als Schlüsselbegriff in ihre philosophischen
            und soziologischen Arbeiten hineingetragen haben.1 Vor ihnen haben Kant,
            Maine de Biran, Ravaisson und Bergson sie in ihren ethischen Schriften und
            Dewey in seiner Pädagogik behandelt. Für sie war die Gewohnheit sogar des-
            halb um so bedeutsamer, weil sie das allen Menschen gemeinsame All-
            tagsphänomen war. In meinem Beitrag möchte ich erklären, wie das Thema
            Gewohnheit die abendländischen Theologen und Philosophen fasziniert hat
            und was für eine Bedeutung es für unsere Gesellschaft heute noch hat.
                    Nach Odon Lottin erwuchs bereits zu Beginn des 12. Jahrhunderts
            unter den Theologen das Interesse am Habitus.2 Es dauerte während des
            13. und 14. Jahrhunderts an, und zahlreiche Schriften über ihn erschienen.
            Ein Grund für die plötzliche Weckung des Interesses ist in der Übersetzung
            der Aristotelischen Ethik im 13. Jahrhundert zu suchen. Man kann den Ein-
            fluss der Aristotelischen Schriften auf die mittelalterliche Theologie nicht
            genug betonen. Sie müssen als äußerlicher Faktor die Intellektuellen stimu-
            liert haben. Neben der äußerlichen ist auch eine innerliche Antriebskraft zu
            erkennen. Georg Wieland weist darauf hin, dass es längst vor der Bekannt-

             1
                 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogeneti-
                 sche Untersuchungen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1997; Pierre Bourdieu: Praktische Ver-
                 nunft. Zur Theorie des Handelns. Aus dem Französischen von Hella Beister, Frank-
                 furt a. M. 1998; Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. Aus dem Französischen
                 von Joseph Vogl, München 20073.
             2
                 Odon Lottin: Psychologie et morale aux XIIe et XIIIe siècles, Louvain 1948–60, vol.
                 1, S. 505–534.

                                                                                               193
Yoshiki Koda

werdung Aristoteles’ in Westeuropa das Interesse am Habitus gegeben
habe.3 Er schreibt ihn dem wesentlichen Strukturwandel der mittelalterli-
chen Geisteswelt zu, dass nämlich das wachsende Interesse am Habitus als
Protest der Philosophen gegen die die Menschennatur verachtende Scholas-
tik gelte.
       Der Mensch benötigt die moralischen Kanons, um seine unvollkom-
mene Natur vollkommen zu machen. Wie vielfältig die Kanons in der Gesell-
schaft auch wirkten, im Wesentlichen müssten sie göttlichen Ursprungs sein.
Die Menschennatur konnte sich allein mit der Hilfe der übernatürlichen gött-
lichen Gnade von ihrer Unvollkommenheit befreien. Die Habitus-Lehre setzte
sich mit diesem Theozentrismus auseinander. Sie ist häretisch, weil sie be-
hauptet, dass die Natur gerade durch ihre ‚Naturalisierung’ die moralische
Höhe erreichen kann. Sie ist auch blasphemisch, weil sie den Beurteilsgrund
von Gut und Böse, von Heil und Verdammnis nicht in der Gnade, sondern im
willentlichen Verhalten des Menschen sucht. Die geänderte Einstellung zur
Menschennatur hat die Philosophen zur Überlegung über den Habitus bewegt.
       Der Eintritt des Habitus-Gedankens in die abendländische Geisteswelt
bedeutet jedoch nicht nur den Autoritätsverlust der Gnadentheologie. Die
spätmittelalterliche Bürgergesellschaft bedurfte auch eines individuellen ver-
nunftgemäßen Moralsystems. Die Entstehung des Interesses am Habitus ist
als eine Folge eines sozialen Strukturwandels zu betrachten, der im 12. Jahr-
hundert in breiten Kreisen der Politik, der Wirtschaft, der Kultur und der Wis-
senschaft entstanden ist.

Die Habitus-Lehre des Aristoteles

Ich werfe hier auf die Habitus-Lehre des Aristoteles einen kurzen Blick. Be-
kannt ist, dass Aristoteles ein unerbittlicher Kritiker des Idealismus seines
Lehrers Platon war. Er zog es vor, von der Betrachtung der Gegenstände aus-
zugehen und ihren ersten Grund durch die metaphysische Analyse zu ermit-
teln. Seine Naturphilosophie war nur dadurch möglich, dass er die mythische
Welt- und Menschenansicht Platons überwand. Dies gilt auch für seine Ethik.
Die Ethik ist nach Aristoteles die Wissenschaft des Glücks, das ein „Gemein-
gut für alle” ist. Diese Auffassung des Glücks war jedoch in der griechischen
Antike nicht selbstverständlich. Sie wirkte für das stadtstaatliche Bürgertum
sogar provokatorisch, weil die Glückseligkeit (εύδαιμονία) damals einen von
Göttern (δαιμον) herrührenden und von ihnen gesegneten Zustand bedeu-

3
    Georg Wieland: Ethica – Scientia Practica: Die Anfänge der philosophischen Ethik im
    13. Jahrhundert, Münster 1981, S. 222–229.

194
Einführung zum Thema „Literarischer Habitus”

tete. Aristoteles lehnte diese Auffassung ab und wollte die Glückseligkeit als
praktizierte Tugend neu definieren.
        Wenn sonach die Tugend zweifach ist, eine Verstandestugend und eine
        Charaktertugend, so entsteht und wächst die erstere hauptsächlich
        durch Belehrung und bedarf deshalb der Erfahrung und der Zeit; die
        Charaktertugend dagegen wird uns zuteil durch Gewöhnung, davon hat
        die Tugend (ήθος) auch den Namen erhalten, der nur wenig von dem
        Wort Gewohnheit (έθος) verschieden ist.4

Der Mensch kann durch Gewöhnung eine „Charaktertugend” gewinnen, die
ihm als beständige Qualität einverleibt bleibt. Aristoteles vergleicht sie daher
mit der Kunst und sagt, „das Größte und Schönste aber dem Zufall zu über-
lassen, wäre Irrtum und Lästerung”5, oder man nennt billigerweise „weder
einen Ochsen noch ein Pferd noch sonst ein Tier glückselig. Denn kein Tier ist
des Anteils an einer solchen Tätigkeit fähig”.6 Die durch die intellektuelle Ge-
wöhnung gesteuerte Tugend gehört zur Glückseligkeit. Aristoteles unter-
scheidet daher die Wahrnehmung von der Tugend: „Wir haben ja nicht durch
oftmaliges Sehen oder oftmaliges Hören den betreffenden Sinn bekommen,
sondern es ist umgekehrt dem Besitz der Gebrauch gefolgt, nicht dem Ge-
brauch der Besitz. Die Tugenden dagegen erlangen wir nach vorausgegange-
ner Tätigkeit, wie dies auch bei den Künsten der Fall ist. Denn was wir tun
müssen, nachdem wir es gelernt haben, das lernen wir, indem wir es tun”.7
Der Habitus entwickelt sich in diesem Chiasmus von Tun und Lernen. Aristo-
teles ist aber in seiner Ethik nicht so weit gegangen, dass er diese chiastische
Bewegung gebührend erklärt hätte. Es sind die christlichen Theologen des
Mittelalters, die seinen Mechanismus schematisiert haben.

Der Habitus in der christlichen Theologie

Der Habitus wurde erst im hohen Mittelalter wiederentdeckt. Augustinus hat
in seiner „Confession” seine ‚sündige Gewohnheit’ gestanden, die ihn wie die
Ketten an die Laster bindet.8 Ihm ist die consuetudo nichts anderes als die

4
    Aristoteles: Nikomachische Ethik (Philosophische Schriften in sechs Bänden. Bd. 3),
    übersetzt von Eugen Rolfes u. Günther Bien, Hamburg 1995, 1103a14.
5
    Ebd., 1099b24.
6
    Ebd., 1099b34.
7
    Ebd., 1103a29.
8
    Augustinus: Bekenntnisse, Bd. 10, 40, 65. Zur Gewohnheitstheorie des Augustinus
    siehe John G. Prendiville: The Development of the Idea of Habit in the Thought of
    Saint Augustine, in: Traditio 43 (1987), S. 29–99.

                                                                                  195
Yoshiki Koda

Automatisierung eines Verhaltens. Von ihr unterscheidet sich jedoch der Ha-
bitus, denn er weiß als selbständige intellektuelle Tätigkeit die Ketten der lex
peccati zu brechen. Die Habitus-Lehre des Aristoteles wurde erst von Peter
Abaelard auf die Wissenschaftsebene geboben. Er lobt, sich auf die Katego-
rien-Lehre des Philosophen berufend, die Beständigkeit der intellektuellen
Tugend, weil die Nikomachische Ethik damals im Westen noch nicht bekannt
war.9 Erst Mitte des 13. Jahrhunderts wurde sie ins Lateinische übersetzt, und
diese Übersetzung war äußerst begehrt bei Kirchengelehrten und Studenten.
Darunter war auch der Dominikaner Thomas von Aquin.
        Thomas hat dem Habitus das 49., 50., 51., 52. und 53. Kapitel seiner
„Summa Theologiae” gewidmet. Sein Grundkonzept liegt in der potenziellen
und aktiven Tätigkeit des Habitus. Der Habitus als die potenzielle Kraft wird
principium intrinsecum humanorum actuum genannt, das den Verwirkli-
chungsprozess der Tugend als die erste Ursache beherrscht. Er ist also die
jedem Akt des Menschen zugrundeliegende Kraft. Der Habitus als die aktive
Kraft ist die perfectio virtutum und deshalb das Ziel der Tugend.10 Hier stellt
sich dann gewiss die Frage: wie kann die Ursache zugleich das Verursachte
sein? Wir wissen, Lernen ist kein Zweck des Wissens, sondern ein Mittel. Man
lernt eine Kunst und beherrscht sie schließlich. Die Gewohnheit, die den gan-
zen Lernprozess begleitet, unterscheidet sich von der vervollkommneten
Kunstfertigkeit. Zwischen beiden liegen zeitliche und qualitative Unter-
schiede. Diese Frage lässt sich aber dort beantworten, wo Thomas den Habi-
tus unter intellektualistischem Gesichtspunkt betrachtet und seine Entste-
hung und Vervollkommnung gleichsetzt, denn in der Vernunft sind die
Wirkursache und die Wirkung identisch.
        Das Wissen gehört sowohl bei Thomas als auch bei Aristoteles zum
Wesen der menschlichen Existenz, denn es ist jedem Menschen so zu eigen,
dass er von Natur aus das Wissen begehrt.11 Jedem Akt des Menschen liegt
die Neigung zum Wissen, sei es bewusst oder sei es unbewusst, zugrunde.

9
     Peter Abailard: Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen. Latei-
     nisch und Deutsch. Hrsg. von Hans-Wolfgang Krautz, Frankfurt a.M., 1995, S. 165.
     Abaelard zitiert hier neben Aristoteles auch Boethius. „Habitus ist also die Qualität
     einer Sache, die ihr nicht natürlicherweise eingepflanzt, sondern durch Eifer und
     Überlegung erworben und schwer zu verändern ist. […] Daher auch jenes Wort der
     Philosophie selbst zu Boethius im vierten Buch seiner Trostschrift: ,Deshalb wird sie
     auch Tugend genannt, weil sie, gestützt auf ihre eigenen Kräfte, sich nicht von Wid-
     rigkeiten überwinden läßt’ (Liv IV, pr.7, PL 63, 825A)”. Die Übersetzung ist von mir
     leicht geändert.
10
     Thomas stützt sich dabei auf die Aristotelische These „Tugend sei die Perfektion
     durch die Gewohnheit”. Siehe Nikomachische Ethik, 1103a24.
11
     Aristoteles: Metaphysik, Buch 1, 1, 980a21.

196
Einführung zum Thema „Literarischer Habitus”

Man vollbringt die Tat, weil man wissen will oder weiß, dass sie einem Zweck
dient. Während Aristoteles und Augustinus die willentliche Kraft (vis appeti-
tiva) als Hauptträger des Handelns betrachten, sieht Thomas die Tat vielmehr
vom Intellekt verursacht und gelenkt. In dieser Auffassung bekommt der
Habitus auch intellektualistische Prägungen, die verhindern, dass die Hand-
lung in die automatische Wiederholung des einmal Gelernten abgleitet.
       Der Habitus wirkt stets als Vermittler zwischen dem Potentiellen und
dem Aktiven: „habitus medio modo se habet inter potentiam et actum.”12
Wissensakte wie das Erkennen, das Wahrnehmen, das Analysieren und das
Schlussfolgern sind nicht selbständig, sondern erst durch den habituierten
Intellekt möglich. Thomas identifiziert den potentiellen Intellekt sogar mit
dem aktiven Wissen, da es zwischen dem intellectus possibilis und dem in-
tellectus agens keinen qualitativen Unterschied gibt. Sie unterscheiden sich
nur darin, ob ein Wissen in der Potenz latent bleibt oder im Akt vollbracht ist.
In diesem Sinn ist der Habitus die perfectio, die durch den ganzen Prozess
des intellektuellen Aktes hindurch fortlaufend wirkt.
       Thomas’ Verdienst liegt darin, dass er in der Gewohnheit ein intellek-
tuelles Vermögen entdeckt und somit die Aristotelische Lehre vergeistigt hat.
Er hat somit aber der naturalisierenden Kraft des Habitus wenig Achtung
geschenkt.
       Die Habitus-Diskussion im 19. und 20. Jahrhundert geht deshalb von
der Kritik an der allzu intellektualistischen Auffassung der Gewohnheit aus.
Henri Bergson stellt in seinem späteren Werk „Les deux sources de la morale
et de la religion” den kantschen Begriff der Sittlichkeit in Frage, weil Kant in
jeder Moral ein jeweiliges moralisches Gebot liegen sah. Daraus ergibt sich
das Gefühl der Verpflichtung (obligation) immer als Widerstand gegen die
unmoralischen Taten. Die Verpflichtung im kantschen Sinne ist die „Span-
nungslage” (état de tention) angesichts eines ungewöhnlichen Zustandes,
mit anderen Worten die „Erschütterung, die den Widersacher niederschlägt”.
Bergson nennt sie hingegen die ruhige hinneigende Lage (état tranquille et
apparenté à l’inclination), die man mit dem Unwohlsein bei einer Krankheit
vergleichen kann.

         „Dem von einer rheumatischen Krankheit Genesenen bereitet es Mühe,
         ja sogar Schmerz, wenn er seine Muskeln und Gelenke spielen lassen
         will. Er hat das allgemeine Gefühl eines Widerstandes von den Organen
         her. Nach und nach nimmt es ab und verläuft schließlich in dem Gefühl,
         das wir von unseren Bewegungen haben, wenn wir gesund sind. […]
         Aber was würde man von jemandem denken, der in unserer gewöhnli-

12
     Thomas von Aquin: De veritate 8, 14; 10, 2 ad. 4; S. th. I, Q. 79, a. 6, ad. 3; Q. 87,
     a. 2; I-II, Q. 50, a. 1.

                                                                                      197
Yoshiki Koda

         chen Empfindung, die wir beim Bewegen von Armen und Beinen haben,
         nur eine Abschwächung des Schmerzes sehen wollte und daher unsere
         Bewegungsfähigkeit als einen angestrengten Widerstand gegen die
         rheumatische Behinderung definieren würde. […] Die allgemeine Fähig-
         keit zu gehen, zu laufen, den Körper zu bewegen, ist die Summe dieser
         elementaren Gewohnheiten, deren jede ihre besondere Erklärung in den
         Spezialbewegungen findet, die sie umfaßt. […] Offenbar ist ein Irrtum
         dieser Art von vielen begangen worden, die über die Verpflichtung phi-
         losophiert haben.”13

Die Sittlichkeit ist an sich keine selbständige Substanz, sondern sie besteht
in der Summe der gesellschaftlich verbreiteten Gewohnheiten, die man nicht
vereinzelt beobachten kann. Die Moral fällt uns nur in der habituellen Struk-
tur auf, nicht als Komplex sittlicher Gebote. Bergson sieht daher zwischen
dem Sozialen und einem Subjekt, dem Intellekt und dem Willen sowie der
Seele und dem Körper keine Spannung, sondern die „inclination habituelle”,
und mit dieser Auffassung ist er Nachfolger der Habitus-Diskussionen, die
seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in Frankreich dominant geworden sind.

Die Habitus-Lehre in Frankreich im 19. Jahrhundert

Wie die scholastische Habitus-Lehre durch den Wandel des Menschenbildes
beeinflusst ist, hängt die Wiederentdeckung des Habitus in Frankreich im 19.
Jahrhundert mit dem aufblühenden Individualismus zusammen. Er ist ohne
Zweifel von der Französischen Revolution hervorgerufen worden. Der Verfall
des Absolutismus hat nicht nur die politische Unruhe verursacht, sondern
auch im wissenschaftlichen Bereich eine Wende eingeleitet. Nach der Revo-
lution haben sich die Wissenschaften in die Richtung des Positivismus entwi-

13
     Henri Bergson: Die beiden Quellen der Moral und der Religion. Aus dem Französi-
     schen übersetzt von Eugen Lerch. Hamburg 2019, S. 18f. (Les deux sources de la
     morale et de la religion, in: Œuvres, Édition du Centenaire, Paris 1963, S. 991f.):
     „Au sortir d’une crise rhumatismale, on peut éprouver de la gêne, voire de la dou-
     leur, à faire jouer ses muscles et ses articulations. C’est la sensation globale d’une
     résistance opposée par les organes. Elle décroît peu à peu, et finit par se perdre dans
     la conscience que nous avons de nos mouvements quand nous nous portons bien.
     […] Que dirait-on pourtant de celui qui ne verrait dans notre sentiment habituel de
     mouvoir bras et jambes que l’atténuation d’une douleur, et qui définirait alors notre
     faculté locomotrice par un effort de résistance à la gêne rhumatismale? […] La fa-
     culté générale de marcher, de courir, de mouvoir son corps, n’est que la somme de
     ces habitudes élémentaires, dont chacune trouve son explication propre dans les
     mouvement spéciaux qu’elle enveloppe. […] Il semble qu’une erreur du même genre
     ait été commise par beaucoup de ceux qui ont spéculé sur l’obligation.”

198
Einführung zum Thema „Literarischer Habitus”

ckelt. Das vom Ancien Régime befreite Bürgertum hat sich nicht nur die selb-
ständige republikanische Regierung zu eigen gemacht, sondern es hat auch
die Idee des selbständigen Individuums entdeckt. Dieser Entdeckung ent-
sprechend mussten die Wissenschaften einen neuen Weg suchen. Erneuert
hat sich nicht nur die Philosophie und die Religion, sondern auch die Wissen-
schaft der Medizin, die versucht hat, den Menschen in einem neuen Verhält-
nis von Körper und Seele zu betrachten. Ein Beispiel dazu sehe ich bei
Philippe Pinel (1745–1826).14 Der Pionier der französischen Psychotherapie
wurde von Michel Foucault scharf kritisiert, weil er die Geisteskranken zwar
aus dem Gefängnis befreit, sie aber von der Gesellschaft isoliert und ins
Zuchthaus gezwungen hatte.15 Dieser Kritik kann man jedoch nur teilweise
folgen, weil seine Isolationsmethode der Überzeugung geschuldet war, dass
die Ursache der Geisteskrankheit in der von der Revolution hervorgerufenen
chaotischen Lage der Gesellschaft zu suchen ist und die Geisteskranken da-
her nur mit strengerer Disziplinierung geheilt werden könnten. Pinel ist in der
Medizingeschichte sogar als Begründer der humanitären Therapie bekannt.
In seiner 1801 erschienenen Schrift „Traité médico-philosophique sur l’alié-
nation mentale, ou la manie” beansprucht Pinel für die Heilung der Krankheit
die Isolation, Arbeitsdisziplin und Züchtigung, welche nach unserem Wortge-
brauch zur Gewöhnung gehören. Die adeligen Kranken, die sich an diese
Disziplinierung nicht gewöhnen wollten, standen für Pinel der Genesung am
fernsten. Der Habitus gilt hier wieder als eine Ideologie, die in der Über-
gangszeit zwischen einem alten und einem anderen Mythos steht und den
nächsten Mythos, nämlich das neue bürgerliche Wertesystem, vorbereitet.
       Also wurde der Habitus im 19. Jahrhundert in Frankreich wieder in den
Fokus gestellt. Das hohe Interesse an ihm in der französischen Wissen-
schaftswelt zeigt sich deutlich in der Tatsache, dass das L’institut national des
Sciences morales et politiques de l’Académie française 1799 eine Preisschrift
ausgeschrieben hatte mit dem Thema „Déterminer quelle est l’influence de
l’habitude sur la faculté de penser, ou, en d’autres termes, faire voir l’effet
que produit sur chacune de nos facultés intellectuelles la fréquente répétition
des mêmes opérations.” Den Preis gewann Maine de Biran.

14
     Philippe Pinel: Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale, ou la manie.
     Section VI. Principes du Traitment Medical des Alienes, Paris 1801. Vgl. René Seme-
     laigne: Philippe Pinel et son œuvre. Au point de vue de la médecine mentale. Paris
     Imprimeries Réunies, 1888.
15
     Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeit-
     alter der Vernunft, Frankfurt a.M., 1973; Ders.: Psychologie und Geisteskrankheit,
     Frankfurt a.M. 1968.

                                                                                   199
Yoshiki Koda

        Maine de Biran vertritt mit seinem bekannten Wort „je veux, j’agis,
donc j’existe” den Voluntarismus. Sein volitiver dynamischer Sensualismus
setzt sich dem substantialistischen Idealismus Descartes’ gegenüber. Er geht
auch nicht vom spekulativen Intellekt wie bei Thomas von Aquin, sondern
von der Sinnesempfindung (sensation), dem Eindruck (impression) und der
Wahrnehmung (perception) aus und stellt sie in den Mittelpunkt der faculté
de penser. Denn der menschliche Geist ist dazu aufgefordert, die Stimulatio-
nen von außen in die inneren Qualitäten zu verwandeln. Er bewegt sich stän-
dig zwischen dem den Sinnesorganen Gegebenen und dessen aktiver Ausar-
beitung. Die Impression ist zum einen das Ergebnis einer von irgendeinem
Gegenstand ausgehenden Wirkung auf einen lebendigen Körper, sie ist zum
anderen an die volitive Aktivität eines wahrnehmenden Subjekts gebunden.
Der Wille bringt die Wahrnehmung in Gang, und die Wahrnehmung akkumu-
liert die erlebte Wirklichkeit. Um die gesammelten Erlebnisse wieder ins Be-
wusstsein zu rufen, spielt der Wille nochmals eine Schlüsselrolle. „Volitiv”
heißt bei Maine de Biran aktiv und motitiv. Der Mensch verarbeitet den sen-
sitiven Inhalt durch seine aktive Tathandlung zu einem Eindruck. Durch Tas-
ten z.B. vernimmt die Hand die Rundlichkeit und die Kälte einer Kugelober-
fläche und registriert sie als Zeichen in die Tastgefühle. Sie wird durch den
Willen jeweils wieder ins Bewusstsein gerufen. Diese volitiven Zeichen sind
gründlich unterschieden von anderen Stimulationen wie z.B. dem Schmerz,
denn dieser geschieht einmalig und ist somit durch den willentlichen Akt nicht
rekonstruierbar. Er ist, so Maine de Biran, „in mir, ohne mich vollzogen”
(s’exécute en moi sans moi).16 Die passive Sinnesempfindung und der aktive
Wille erweitern ein gemeinsames Wirkungsfeld, auf dem auch die aktive und
die passive Gewohnheit aufeinander bezogen sind. Die Arbeitsverteilung bei-
der Gewohnheiten ist je nach dem Sinnesorgan unterschiedlich. Dem Tast-
sinn ist z.B. eine stärkere Mobilität als Sensibilität zuzusprechen, während
die sonstigen Sinne wie Gesichts-, Geruchs- und Gehörsinn durch größere
Sensibilität und geringere Mobilität ausgezeichnet sind.17 Bei der Konvertie-
rung eines Sehens zum Ansehen, eines Hörens zum Zuhören, eines Schme-
ckens zum Abschmecken stellen die passive und die aktive Gewohnheit
besondere Kombinationen und Verbindungen her. Aus diesen beidseitigen
Betätigungen der Gewohnheit besteht, so Maine de Biran, der Verstand des
Menschen: „Die Natur des Verstehens ist nichts anderes als die Menge der

16
     Œuvres de Maine de Biran, editée par Pierre Tisserand. Tom. II (L’influence de l’ha-
     bitude sur la faculté de penser), Paris 1922, A II, S. 134.
17
     Gerhard Funke: Gewohnheit (Archiv für Begriffsgeschichte Bd. 3), Bonn 1961, S.
     430.

200
Einführung zum Thema „Literarischer Habitus”

primären Gewohnheiten des Zentralorgans, die als universeller Wahrneh-
mungssinn angesehen werden müssen.”18
        Der Sensualismus Maine de Birans ist insofern neu, als er nicht dem
intellektuellen Vermögen, sondern der gegenseitigen Wirkung zwischen dem
Willen und dem Empfinden den Habitus zuschreibt. Diese Auffassung soll er
von den zeitgenössischen Physiologen, insbesondere von Xavier Bichat über-
nommen haben.19
        Marie-François-Xavier Bichat (1771–1802) wurde 1771 in Thoirette in
l’Ain als Sohn eines Arztes geboren. Er studierte in Lyon und Paris Chirurgie.
Er wollte damit der Forderung seiner Zeit entsprechen, denn die blutigen
Konflikte zwischen den Republikanern und der königlichen Partei hatten sich
selbst lange nach der Revolution noch nicht gelegt. Schon als junger Anatom
überragte er mit seinen zahlreichen autopsischen Erfahrungen seine Kolle-
gen. Mit 28 schrieb er sein physiologisches Werk „Recherches physiologiques
sur la vie et la mort”. Er konzipierte dort eine interdisziplinäre Medizinwissen-
schaft, die die Anatomie, die Pathologie, die Physiologie und die Therapie
umfassen sollte.
        Trotz seiner Praxis als Sektionsanatom trat er nicht für den cartesiani-
schen Mechanismus des Menschenkörpers ein. Seine Physiologie steht eher
dem Vitalismus nahe, der das menschliche Leben nicht unter dem physischen
Aspekt beobachtet, sondern ihm die lebendige Kraft (force vitale) zugrunde
liegen sieht.
        In seinen „Recherches” unterscheidet Bichat zwei Arten Leben: das
animalische und das organische. Das animalische Leben ist von den Sinnen
und den Bewegungen getragen und gekennzeichnet von der symmetrischen
Struktur.

         „Die Nerven, die den von den Sinnen empfangenen Eindruck übertra-
         gen, wie Optik, Akustik, Lingualität und Geruchssinn, sind offensichtlich
         zu symmetrischen Paaren zusammengesetzt. Das Gehirn, das Organ, in
         dem der Eindruck aufgenommen wird, ist bemerkenswert für seine re-
         gelmäßige Form: Seine gleichmäßigen Teile ähneln sich auf jeder Seite,
         wie die Schicht der Sehnerven, die gerillten Körper, die Seepferdchen,
         die gesäumten Körper usw. Die ungeraden Teile sind alle symmetrisch
         durch die Mittellinie unterteilt, von denen einige sichtbare Spuren auf-

18
     Maine de Biran, L’influence (wie Anm. 16), S. 121: „La nature de l’entendement n’est
     autre chose que l’ensemble des habitudes premières de l’organe central qui doit etre
     considérée comme le sens universel de la perception.”
19
     Ebd., S. 298: „Les physiologistes distinguent les forces vivantes en sensitives et
     motrices. En méditant les données de mon sujet, j’ai reconnu ou cru reconnaître qu’il
     était nécessaire d’introduire la même distinction dans l’analyse des impressions et
     des idées.”

                                                                                     201
Yoshiki Koda

         weisen, wie das Corpus Callosum, das Drei-Säulen-Gewölbe, die ringför-
         mige Ausstülpung usw. usw.”20

Hingegen hat das organische Leben die asymmetrische Struktur: die Verdau-
ungsorgane wie der Magen, die Därme, die Milz und die Leber sowie die
Kreislauforgane wie die Aorta und die Venen und auch die Ausscheidungsor-
gane sind alle asymmetrisch.
        Bichat denkt, dass die symmetrische Struktur aus der ausgleichenden
Funktion des animalischen Lebens zwischen Kraft und Akt resultiert. Da die
symmetrisch strukturierten Organe nicht getrennt funktionieren können, ist
das Prinzip des animalischen Lebens „Harmonie”. Dank dieser Harmonisie-
rung können die Sinnesorgane und die Körperglieder kooperativ die dauer-
hafte Wahrnehmung ermöglichen. Bichat wusste aber, dass seine Hypothese
von der Symmetrie des animalischen Lebens nicht immer zutrifft, weil der
rechte Körperteil z.B. hinsichtlich seiner Gelenkigkeit den linken Körperteil
offensichtlich übertrifft. Bichat unterscheidet dabei zwischen der Kraft (force)
und der Beweglichkeit (agilité). Die force eines Organs ist durch die Form und
die Nahrung bestimmt, während sich die agilité durch die wiederholte Übung
herausbildet. Die Asymmetrie des animalischen Lebens ist daher das Ergeb-
nis des Habitus. Dieser Habitus resultiert nicht nur aus der spontanen Kör-
perübung, sondern er ist auch ein gesellschaftliches Faktum. Die genannte
Gelenkigkeit der rechten Hand geht auf die Vereinbarung einer Stammesge-
sellschaft zurück, die ihren Mitgliedern befahl, bei der Jagd oder beim Kampf
Jagdzeug und Waffen in die rechte Hand zu nehmen. Diese Kampfkultur mün-
det dann in die Schriftkultur. Sie widerspiegelt sich noch in der Dokumenta-
tionsform unserer kulturellen Güter, nämlich in der Schreibrichtung von
rechts nach links. Die Kraft unseres Intellekts ist zwar organisch gleich, seine
Effizienz ist aber von der unproportionierten Gelenkigkeit eines Körperteils
abhängig. Die Rechtshändigkeit, die im ersten Blick wie die individuelle kör-
perliche Eigenschaft erscheint, ist in der Tat das Produkt des gesellschaftli-
chen Habitus (habitudes sociales).

20
     Marie-François-Xavier Bichat: Recherches physiologiques sur la vie et la mort, Paris
     1850, S. 7: „Les nerfs qui transmettent l’impression reçue par les sens, tels que
     l’optique, l’acoustique, le lingual, l’olfactif, sont évidemment assemblés par paires
     symétriques. Le cerveau, organe où l’impression est reçue, est remarquable par sa
     forme régulière: ses parties paires se ressemblent de chaque côté, telles que la
     couche des nerfs optiques, les corps cannelés, les hippocampes, les corps frangés,
     etc. Les parties impaires sont toutes symétriquement divisées par la ligne médiane,
     dont plusieurs offrent des traces visibles, comme le corps calleux, la voûte à trois
     piliers, la protubérance annulaire, etc., etc.”

202
Einführung zum Thema „Literarischer Habitus”

       Das animalische Leben unterwirft sich der ständigen Wirkung des Ha-
bitus, die die Abstumpfung der Sinnesempfindung und die Verschärfung des
Urteils hervorbringt. Durch die Gewöhnung wird der frische Sinneseindruck
abgeschwächt und stattdessen wird die Idee präziser. Das organische Leben
hingegen steht nicht unter dem Einfluss des Habitus. Der Blutkreislauf, die
Körperwärme, der Puls, die Ausscheidung und die Verdauung müssen sogar
von dem äußerlichen Widerstand unbeeinflusst bleiben und ihre inneren Re-
geln befolgen. Von seiner eigenen Regel gesteuert, bekommt ein Organ die
asymmetrische Struktur.
       Die organischen Lebensvorgänge sind jedoch nicht nach ihren Natur-
gesetzen gesteuert. Die Ausscheidung ist zwar vom Willen unabhängig, sie
ist aber durch die Alltagsgewohnheit kontrolliert. Auch der Hunger ist sowohl
dem Nahrungsbedürfnis als auch der alltäglichen Essgewohnheit unterwor-
fen. Dies zeigt, dass der Habitus zentral im animalischen und organischen
Leben angesiedelt ist.21 Bichat lokalisiert den Treffpunkt beider Leben in „les
membranes muquenuses”, also in den Schleimhäuten, die „im ständigen
Kontakt mit den unserer eigenen Substanz fremden Körpern der Hauptsitz
eines internen Tastsinns sind, ständig analog zu einem externen Tastsinn der
Haut an den uns umgebenden Körpern”.22 Bichat betont in seiner Physiolo-
gie, dass zwei scheinbar unvereinbare Leben in manchen Hinsichten jedoch
gemeinsame Regeln befolgen und dass dies durch den Habitus ermöglicht
wird. In diesem Sinne ist er für Bichats Physiologie von besonderer Bedeu-
tung.
       Wir haben gesehen, dass die von Aristoteles angesetzte Thematik des
Habitus seit über zweitausend Jahren die europäische Wissenschaft fortdau-
ernd beeinflusst hat. Der Sensualismus Birans, die Neurologie Pinels und die
Anatomie Bichats haben seine weitere Entwicklung bei den Philosophen und
Soziologen in unserer Zeit vorbereitet. Den Grund für die Wiederentdeckung
und die Weiterentwicklung sehe ich darin, dass der Gedanke über die Ge-
wohnheit als Perfektion der Natur den Menschen von der deterministischen
und mythischen Weltansicht befreien und ihn in eine neue Dimension des
Individuums hineintragen konnte. Da der Mensch durch das subjektive Stre-
ben seine instinkthafte Natur überwinden und somit in der Lage ist, sich

21
     Ebd., S. 35: „Mais remarquons que ces divers phénomènes tiennent presque le mi-
     lieu entre ceux des deux et vies, se trouvent placés sur les limites de l’une et de
     l’autre, et participent presque autant à l’animale qu’a l’organique.”
22
     Ebd., S. 35: „Tous, en effet, se passent sur les membranes muqueuses, espèces
     d’organes qui, toujours en rapport avec des corps étrangers à notre propre subs-
     tance, sont le siège d’un tact interne, analogue en tout au tact extérieur de la peau
     sur les corps qui nous entourent.”

                                                                                     203
Yoshiki Koda

durch den Habitus dauerhaft auf die Tugend berufen kann, werden die Gnade
des allmächtigen Gottes oder die Alleinherrschaft des Intellektualismus oder
der kartesianischen Menschenmechanismus gebrochen. In dieser Hinsicht
kann der Gedanke über den strukturierend-strukturierten Habitus zu einer
Literaturwissenschaft beitragen, die die traditionellen Ansichten vom „Men-
schen als dualistisches Wesen von Geist und Natur” aufzuheben hilft und
vielmehr den Menschen in einem Prozess sowohl der Vergeistigung der Natur
wie auch der Naturalisierung des Geistes betrachtet.

204
Sie können auch lesen