Endlich zuhause /UNTER PALMEN
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//UNTER PALMEN Ausgabe #6 ›Endlich zuhause?‹ Verstehen: Diskutieren: Ändern: Warum Was tun Wohnraum Heimatliebe gegen sexuelle für alle gefährlich ist. Gewalt? schaffen! Seite 8 Seite 14 Seite 22
HALLO! UNTER PALMEN STELLT SICH VOR Diese Ausgabe der UNTER PALMEN dreht sich um das Thema Zuhause. Auf den kommenden Seiten erwarten dich Texte zu Wohnungslosigkeit, Migration und Geschlechtergerechtigkeit. In diversen Artikeln, Reportagen und Interviews widmen wir uns einem breiten Themenfeld von Stadt- bis Identitätspolitik. Ergänzt werden diese durch spannende Buch- und Filmbesprechungen in unserem Kulturteil. Als ro- ter Faden schlängelt sich die Suche nach einem Zuhause und ihre Verunmöglichung durch die Ausgabe. Bedanken möchten wir uns bei Katinka Irrlicht für die tollen Illustrationen, bei Flora Safari für den gelungenen Comic und bei allen anderen, die UNTER PALMEN Nummer 6 möglich gemacht haben. Wie immer hoffen wir, neue Perspektiven zu eröffnen und zur Diskussion anzuregen. Viel Spaß beim Lesen, die UNTER PALMEN Redaktion. UNTER PALMEN ist eine linke Zeitschrift aus Wien. Sie erscheint halbjährlich und ist kostenlos erhältlich. Bishe- rige Ausgaben legen ihren Schwerpunkt etwa auf Utopie und Feminismus. Einen Überblick zu allen erschienenen Nummern findest du online auf unterpalmen.net. Dort kannst du die Zeitschrift auch einzeln oder in größerer Menge bestellen. Herausgegeben wird UNTER PALMEN vom gemeinnützigen Verein Argument Utopie. Darüber ZUR SCHREIBWEISE: hinaus veröffentlicht der Verein den Podcast Schirm- chen und Streusel sowie den wöchentlich erscheinen- den Smartphone-Newsletter WIEN UNTER PALMEN. Wir verwenden den Gendergap, einen All das, weil Argument Utopie eine kritische Ausei- Unterstrich, um Menschen unabhän- nandersetzung mit unserer Gesellschaft fördern und gig von ihrer geschlechtlichen und mögliche Alternativen zu ihr diskutieren möchte. Denn sexuellen Identität anzusprechen. eine andere Welt ist nicht nur möglich, sondern auch Das Sternchen hinter Frau*, Mann*, notwendig. Mädchen*, Bub* u. Ä. soll verdeutli- chen, dass biologisches und soziales Uns ist wichtig, dass UNTER PALMEN für alle zugäng- Geschlecht nichts Natürliches sind, lich ist und gratis erhältlich bleibt. Das können wir aber sondern gesellschaftlich hergestellt nicht alleine leisten, wir brauchen deine Unterstützung! werden. Mit Frauen* meinen wir also Du kannst einmalig oder regelmäßig an uns spenden Menschen, die zu Frauen* gemacht sowie Fördermitglied unseres Vereins werden. Mit wurden. deinem Beitrag finanzierst du unter anderem den Druck und den kostenlosen Versand der UNTER PALMEN. Alle Infos zu Spenden- und Fördermöglichkeiten findest du auf unserer Homepage.
04 INHALTS HEIMATLOS ZUHAUSE VERZEICHNIS 06 08 ZUHAUSE IM AUCH DIE BUNTE Fragen? Kritik? Ideen? EIGENEN KÖRPER? HEIMAT IST NICHT MEIN Schreib uns gerne eine E-Mail oder kontaktiere ZUHAUSE uns via Social Media. Alternativ sind wir auch unter +43 677 63086954 zu erreichen. 10 12 unterpalmen.net „ALLE, DIE HIER SIND, GEMEINSAM DIE SIND VON HIER“ STADT VERÄNDERN UnterPalmenZeitung 14 16 @u.p.zeitung Telegram-Channel: t.me/unterpalmen WhatsApp-Newsletter: KRISENMODELL LOOKING FOR HOME ‚Start‘ an +43 677 63086954 MÄNNLICHKEIT POSTER Schirmchen & Streusel 18 22 info@unterpalmen.net „WIR WOLLEN DIE WOHNUNGEN KOLLEKTIV STATT DENEN, DIE SIE VEREINZELT WOHNEN“ BRAUCHEN! 25 26 KULTUR UNTER ZUTRITT NUR FÜR BERECHTIGTE! ZERRISSEN ZWISCHEN DEN WELTEN PALMEN 28 30 Illustrationen & Poster Katinka Irrlicht: irrlicht-impressions.com INCEL LOOKING DAS SUCHEN FOR HOME Comic Flora Safari: @flora.safari Impressum: Gefördertes Projekt durch die HochschülerInnenschaft an der Universität Wien Verein Argument Utopie, 1040 Wien Gefördertes Projekt des Koordinationsausschusses der HochschülerInnenschaft an der Universität Wien Herold Druck, 1030 Wien Gefördertes Sonderprojekt der HochschülerInnenschaft an der Universität Wien
4 HEIMATLOS ZUHAUSE Was bedeutet es, zuhause zu sein? Warum ist es oft so schwer, ein Zuhause zu finden und welche politi- sche Perspektive eröffnet der Wunsch nach ihm? Einige Gedanken. – by Levin Weiher & Judith Godiva Zuhause – ein Ort, an dem man sich wohl und aufgehoben Miete bald nicht mehr zahlen zu können, bleibt Zuhause fühlt. Ein Ort, an dem man nicht bloß sein kann, sondern eine unsichere Sache. Eine junge Frau*, die aufgrund ihrer auch sein will. Hier wie dort gleichzeitig zuhause zu sein, Herkunft als Bürgerin zweiter Klasse behandelt wird, hat ist genauso möglich, wie nirgends. Mancherorts fühlt man es schwer, mit dem Zuhausesein. Ob Zuhausesein möglich sich gleich zuhause, anderswo nie. Weit verbreitet ist die ist, und wenn ja, mit wie vielen Widersprüchen es behaftet Erfahrung, jahrelang am selben Fleck zu leben, ohne jemals bleibt, ist eine politische Frage. Wer wo zuhause sein kann, wirklich anzukommen. Wer in Österreich von Zuhause hängt mit der Gestaltung unserer Gesellschaft zusammen redet, landet nicht selten bei einem Gespräch über Heimat und wird ständig neu ausgestritten. – kein Wunder, in einem Land voll Folklore und nationalis- tischer Erzählungen. Un- SEHNSUCHTSORT ZUHAUSE „Wer wo zuhause sein kann, ter Heimatfreund_innen hängt mit der Gestaltung unse- wird die Verbundenheit Gleichzeitig steckt in der Suche nach einem Zuhause häufig rer Gesellschaft zusammen und mit einem Ort meist nicht ein Moment des Rückzugs. Im Zuhause hofft man, den wird ständig neu ausgestritten.“ als individuelle Entschei- Zumutungen unserer Gesellschaft zumindest ein Stück dung verstanden, sondern weit zu entkommen. Das Zuhause als Sehnsuchtsort bildet über Herkunft bestimmt. Sie verorten Menschen anhand einen Gegenpol zum durch Konkurrenz und Ausgrenzung ihrer familiären, kulturellen oder ethnischen Wurzeln. Kern geprägten Alltag. Diese Flucht ins dieser Vorstellung ist die vermeintliche Zugehörigkeit aller Zuhause macht vor allem eins deut- „Den Tatsachen ins Auge zu zu einer nicht verhandelbaren Gemeinschaft. Im Sinne der lich: irgendetwas stimmt nicht. Eine sehen, ermöglicht, den Wunsch Selbstbestimmung lässt sich solch einer Heimattümelei Realität, vor der man sich verstecken nach einem Zuhause als kollek- nicht nur ihre Realitätsferne, sondern auch der Wunsch muss, kann nicht besonders rosig tives Begehren zu formulieren.“ nach Heimatlosigkeit entgegenhalten. sein. Den Tatsachen ins Auge zu sehen, ermöglicht, den Wunsch EINFACH ZUHAUSE SEIN? nach einem Zuhause als kollektives Begehren zu formulie- ren. An Stelle des Rückzugs ins Private tritt das Wissen um Die Chance auf ein Zuhause ist keine Selbstverständlichkeit. die Unsicherheit und Widersprüchlichkeit eines Zuhauses Die Vermarktung menschlicher Bedürfnisse steht ihr genau- in der Gegenwart. An Stelle der vereinzelten Suche nach so im Weg, wie etwa frauenfeindliche Gewalt oder rassisti- einem sicheren Nest tritt das Streben nach einem Ort, der sche Ausschlüsse. Für einen Arbeiter, der Angst hat, seine Wohlbefinden auch ohne Scheuklappen zulässt.
6 ZUHAUSE IM EIGENEN KÖRPER? Ein Selbstgespräch über Weiblichkeit und Widerstand – by Anna Klamm Irgendwo bin ich Frau, aus Gewohnheit und aus Zwang. Gleich- entsprechend behandelt. Egal ob in der Schule, in zeitig würde ich mich dem gerne entziehen. Mein Körper steht der Arbeit oder in der Familie, es gibt kein Entkom- dabei im Zentrum des Konflikts, er ist kein Zuhause, sondern ein men. Wer sich nicht fügt, erntet schräge Blicke von Schlachtfeld. Bin ich weiblich, oder bin ich es nicht? In meinem Kollegen, Hausarrest von den Eltern, Kopfschütteln Kopf tobt ein ewiges Hin und Her. von Ärzten. Im schlimmsten Fall muss man mit körperlicher Gewalt rechnen. Anderssein wird hoch ALEX: Mir reichts – Ich rasiere mir wieder die Haare ab und bestraft. Ich will da dagegenhalten. binde mir den Busen weg. Wo ist mein Binder? Ich spiel nicht mehr mit. ANNA: Ich sehe deinen Punkt. Dass ich mich als Frau bezeichne heißt nicht, dass ich toll finde, was das ANNA: Schon wieder? Das hatten wir doch gerade erst. bedeutet. Im Gegenteil. Wenn ich mich als Frau bezeichne, hilft mir das, mich mit anderen zusam- ALEX: Überrascht dich das jetzt wirklich? menzuschließen. Mit anderen, denen genau das zu schaffen macht, was auch dich quält. Mich und an- ANNA: Überraschen tut es mich nicht. Ich wundere mich dere Frauen verbindet, dass wir zu Frauen gemacht nur, dass du diesen Wunsch nach all den Jahren wurden. Uns verbindet, dass wir unter dem selben immer noch hast – Woche für Woche. Unsinn leiden. ALEX: Ich kann nichts dafür, dass die Welt so ist. Ich will ALEX: Frausein also als etwas, das man sich aneignet, um mich nicht herumschubsen lassen. Ich will keine gegen all den Unsinn, von dem man betroffen ist, Frau sein! Nein. Ich bin keine. Ich hab’ Brüste, eine anzukämpfen. Das verstehe ich. Aber ist es nicht Vulva und schmale Hände, na und? All die Bilder wichtig, dass es Geschlechter jenseits von Mann von Weiblichkeit – ich finde mich darin nicht und Frau gibt? Alleine deren Existenz wirkt doch wieder. Ich mag Blumenpressen, aber ich mag auch befreiend. Holzhacken. Ich steh auf trashige Boygroups, aber genauso auf trashige Actionfilme. Der ganze Scheiß, ANNA: Schon. Ich freu mich oft sehr, wenn ich Menschen der zum Frausein gehört, er kann mir gestohlen sehe, die mit ihrem Geschlecht brechen. Du weißt, bleiben: brav sein, immer Rücksicht nehmen, ja wie gerne ich auf Dragshows gehe. Gleichzeitig nicht laut werden. Das ist Wahnsinn. glaube ich, es hilft nichts, einfach eine Vielzahl an Geschlechtsidentitäten zu schaffen. Die Suche nach ANNA: Schon, aber so geht es doch sehr vielen Frauen? Fast einer problemlosen Identität ist endlos und geht alle machen sich Sorgen, ob sie weiblich genug sind, am Kern der Schwierigkeiten vorbei. Es ist unmög- ob sie passen. Niemand ist 100 Prozent Frau. Weib- lich, eine Identität zu finden, der man vollends lichkeit ist ein unerfüllbares Ideal. entspricht, und viel Diversity bringt noch keine Ende von Unterdrückung. Letztlich müssen wir, ALEX: Das ist ja das Problem. Dieses Ideal wird uns auf- Frau Anna ebenso wie Agender Alex, die Ungleich- gezwungen und wir leiden darunter. Von Geburt heit zwischen den Geschlechtern bekämpfen. Ich an werden wir in ein Geschlecht gepresst und persönlich will mich für diesen Kampf mit anderen
7 Menschen unter dem Begriff Frau vereinen. Ich bin eine Frau, nicht, weil ich Ponys und Rosa mag. Ich bin eine Frau, weil ich kein Mann bin und deswe- gen benachteiligt werde. Gleichzeitig bin ich so viel mehr. WEITERLESETIPPS ALEX: Ich stimme dir zu und will trotzdem nicht Frau genannt werden. Ich weiß, Frausein kann auch „Feministisch Streiten – Texte zu Ver- bedeuten, widerständig zu sein. Trotzdem fühlt es nunft und Leidenschaft unter Frauen” sich falsch an, mich als Frau zu bezeichnen. Ich bin Ein Sammelband herausgegeben von das nicht. Koschka Linkerhand. ANNA: Ja, das kann ich nachvollziehen. ALEX: Aber mir kommt vor, wir wiederholen uns. Ist ja nicht das erste Mal, dass wir dieses Gespräch führen. Es gilt also weiterhin, Widersprüche auszuhalten. Davon will ich mich aber nicht stoppen lassen, mit dir gemeinsam für ein besseres Leben zu kämpfen.
8 AUCH DIE Heimat liegt im Trend. Rechte wie auch Linke kommen ins Schwärmen, wenn sie von ihr sprechen. Was bei Rechten nicht überrascht, verwundert bei Linken. Warum eigent- lich? Können Linke nicht auch eine Heimat haben – eine BUNTE bunte, die für alle da ist? Wir sollten uns die Heimat doch nicht von den Rechten wegnehmen lassen, oder? AN DER HEIMAT HAFTET WAS… HEIMAT IST Die Rechten nehmen uns die Heimat nicht weg, sondern sie gehört ihnen und soll auch bei ihnen bleiben. Denn Heimat ist kein leerer Begriff, den Linke einfach neu besetzen können. Die Idee der Heimat ist immer in einem NICHT MEIN menschenfeindlichen Weltbild verhaftet und mit einem Rattenschwanz an Ungleichheit und Gewalt bis hin zu Mord verbunden. Die Rechten sehen ihre Heimat ständig in Gefahr. Dauernd muss irgendeine Bedrohung abgewehrt ZUHAUSE werden. Im Angesicht des permanenten Belagerungszu- stands werden Zusammenhalt und Standhaftigkeit beschworen. Dieser „Die Idee der Heimat ist in Zusammenhalt geht stets mit dem Aus- einem menschenfeindlichen schluss von anderen einher. Die Heimat Weltbild verhaftet und mit kann nur existieren, wenn andere nicht einem Rattenschwanz an in ihr existieren dürfen. All jene, die als Ungleichheit und Gewalt bis zu schwarz, zu schwul oder zu faul einge- hin zu Mord verbunden.“ stuft werden, müssen draußen bleiben; Heimat verdeckt Ungleichheiten werden gehasst, verfolgt und ermordet. Begründet wird all das mit der Natur. „Die gehören hier nicht hin, sie sind und bedeutet immer Ausschluss einfach anders als wir“, heißt es dann. Im selben Atemzug und Gewalt. Linke sollten sie des- wird vom „natürlichen Recht“ der eigenen Leute auf ihren gemeinsamen Fleck Erde gesprochen. Aber Menschen sind halb bekämpfen, anstatt sich auf keine Bäume. Sie tragen keine Wurzeln, lassen sich nicht in sie zu berufen. „Arten“ kategorisieren und sind weder als einzelne, noch als Gemeinschaft natürlich mit ihrem Untergrund verbunden. Menschliches Zusammenleben ist immer im Wandel, Ge- – by Arnulf Zoo & Mika Stetter burtsorte sind zufällig und Kultur und Gesellschaft nichts Starres. KLASSENKAMPF STATT HEIMATLIEBE Linke versuchen häufig, nur die vermeintlich positive Seite der Heimat – den Zusammenhalt – für sich zu nutzen. Über den Bezug auf eine gemeinsame Heimat sollen alle Bürger_innen eines Landes angesprochen werden. Alter- nativ wird zur Rettung unserer „Heimat Erde“ aufgerufen. Im Angesicht der Klimakrise sitzen wir alle im selben Boot, WEITERLESETIPPS so die Idee. Doch weder im Falle Österreichs, noch bei „der Erde“, kann von einem gleichberechtigten „Wir“ gesprochen „Heimat: Eine Besichtigung des Grau- werden. Denn dieses Land ist genau wie der Rest der Welt ens“ Ein Buch von Thomas Ebermann samt von sozialer und politischer Ungleichheit geprägt. Wer dazugehörigem Kulturprogramm. aufgrund von Dürre oder Überschwemmung flüchten muss, Online unter: heimatfeindschaft.de sitzt nicht mit jenen im Boot, die Kohlefabriken besitzen oder sich Schießbefehle an der Grenze wünschen. Anstatt „Kritik des Nationalismus“ Ein einfüh- sich auf eine nationale oder rendes Buch von Thorsten Mense aus der globale Heimat zu berufen „Wer aufgrund von Dürre oder Über- Reihe theorie.org . und so vorhandene soziale schwemmung flüchten muss, sitzt Ungleichheiten zu verschlei- nicht mit jenen im Boot, die Kohlefa- ern, sollten sich Linke auf briken besitzen oder sich Schießbe- den Kampf gegen eben diese fehle an der Grenze wünschen.“ Ungleichheiten besinnen.
10 „ALLE, DIE HIER SIND, SIND VON HIER“ Der Ausschluss vom städtischen Leben ist für viele Menschen bittere Realität. Wir haben uns mit dem Sozialwissenschaftler und Aktivisten Raphael Kiczka getroffen und ihn gefragt, wem die Stadt gehört. – by Emil Lechaim & Helena Specht Helena: Wie werden Menschen vom Wohnen und Marketinginstrument verstehen, der Weg zu einer Gemein- Leben in Wien ausgeschlossen? dewohnung ist für viele Menschen vor allem beschwerlich. Um einen Anspruch auf diese Wohnungen zu besitzen, Raphael: Die Ausgrenzung von Menschen findet auf ver- muss man mindestens zwei Jahre einen stabilen Wohnsitz schiedenen Ebenen statt. In Wien verspricht der soziale in Wien nachweisen können. Darüber hinaus werden lang- Wohnbau, allen voran zahlreiche Gemeindewohnungen, jährige Wiener_innen bei der Wohnungsvergabe systema- leistbares Wohnen. Der Anspruch auf diese Wohnungen tisch bevorzugt. Auch die lange Warteliste macht es nicht wird jedoch durch bestimmte Hürden erschwert. Wer die gerade leicht, eine Gemeindewohnung zu erhalten. nicht überwinden kann, hat Pech gehabt. Er oder sie muss Außerdem sind die Kriterien der Wohnungsvergabe an das sich auf dem privaten Wohnungsmarkt durchschlagen. Hier Idealbild der österreichischen Kleinfamilie angepasst. Einen sind die Mieten grundsätzlich viel teurer und für gefragte Anspruch auf eine Gemeindewohnung gibt es zum Beispiel, Lagen gibt es nochmal extra Zuschläge. wenn man einen „Überbelag“ nachweisen kann, also wenn Außerdem wird der öffentliche Raum immer mehr kom- zu viele Menschen auf zu kleinem Raum leben. Dabei wer- merzialisiert. Der Aufenthalt in vielen Bereichen ist nur den nur die Eltern, Großeltern und Kinder berücksichtigt. gestattet, wenn man bereit und fähig ist, dort zu konsumie- Wer mit anderen Verwandten oder als WG zusammenlebt, ren. Das heißt, es gibt immer weniger öffentliche Orte, an wird so benachteiligt. denen man sich einfach treffen kann, ohne Geld ausgeben Auf dem privaten Wohnungsmarkt ist die Situation noch zu müssen. viel angespannter. Wohnungen werden im Kapitalismus wie Ein dritter Ausschlussmechanismus ist die Exklusivität der jede andere Ware behandelt, somit steht hier nicht das exis- aktuellen Demokratie. In Wien darf ein Drittel der Bewoh- tenzielle Bedürfnis nach einem Zuhause im Vordergrund, ner_innen nicht an Wahlen teilnehmen. Diese Menschen sondern ein möglichst großer Gewinn durch hohe Mieten. werden weder im Gemeinderat noch im Parlament reprä- sentiert und ihre Interessen somit weniger wahrgenommen. Helena: Wie könnten wir das Miteinander in der Stadt besser gestalten? Gibt es positive Beispiele? Emil: Was ist deine Kritik an der aktuellen Stadtpla- nungspolitik? Wie trägt sie zu solchen Ausschlüssen Raphael: Unser Ziel sollte sein, dass möglichst alle an der bei? Stadtentwicklung teilhaben und selbst über ihren Lebens- raum entscheiden können. Konkret gibt es sehr unter- Raphael: Die Stadt Wien wird von vielen Menschen immer schiedliche Ansätze, die Stadt „von unten“ zu gestalten. als das Paradebeispiel für sozialen Wohnungsbau herange- Manche Städte haben zum Beispiel das Konzept der „Urban zogen. Das „Rote Wien“ muss man zur Zeit aber mehr als Citizenship“ etabliert. Dabei soll allen Bewohner_innen,
11 Raphael Kiczka arbeitet seit drei Jahren in Wie- ner Gemeindebauten und beschäftigt sich vor allem mit der Konfliktbewältigung zwischen den Bewohner_innen. Im Rahmen seines Studiums setzte er sich mit städtischen Ressourcen und (institutionellen) Ausschlusspraktiken auseinan- WEITERLESETIPPS der. An der Uni Wien organisierte er verschiede- ne Lehrveranstaltungen zum Thema Stadtpolitik „Stadt für alle!“ Eine Aufsatz- und Recht auf Stadt. sammlung herausgegeben von Heidrun Aigner und Sarah Kumnig. „Wem gehört die Stadt? Urban Commons als Wegbereiter einer unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus, die Teilhabe am Stadt für alle“ Ein Artikel von städtischen Leben ermöglicht werden – entscheidend ist, Raphael Kiczka. dass sie in der jeweiligen Stadt leben. Das bedeutet etwa Online unter: gbw.at einen unbürokratischen und kostenlosen Zugang zu Kran- kenversorgung oder Bildungseinrichtungen. „Solidarische Städte in Europa. Ein weiterer Schritt hin zu einer Stadt für alle ist die Idee Urbane Politik zwischen Charity der „Sanctuary Cities“. „Sanctuary Cities“ sind in den USA und Citizenship“ Eine Broschüre entstanden, aber es gibt auch in Europa immer mehr „Zu- der Rosa Luxemburg Stiftung. fluchtsstädte“. Diese Städte weigern sich etwa, mit Bundes- Online unter: rosalux.de behörden bei der Abschiebung von Migrant_innen zusam- menzuarbeiten und ihre Anordnungen umzusetzen. Um solche Veränderungen überall durchzusetzen, braucht es soziale Bewegungen, die Mitbestimmung einfordern. Eine Stadt für alle wird es nur als Ergebnis entschlossener politischer Kämpfe geben. Ich würde sagen, die zentrale Frage für die Zukunft lautet: Wer kann unter welchen Be- dingungen mitentscheiden, wie die Gesellschaft und unser Zusammenleben aussehen soll? Emil: Danke für das spannende Gespräch!
12 GEMEINSAM Jeder Mensch besitzt ein „Recht auf Stadt“. Meist muss dieses DIE STADT Recht jedoch erst erstritten werden. Ziel ist es, mit der Ver- wertungslogik zu brechen und VERÄNDERN alternatives Zusammenleben zu ermöglichen. – by Emilie Könn EINS. TREFFPUNKTE SCHAFFEN Wenn es die Regierung nicht besorgt, liegt es in der Hand der Stadtbewohner_innen, für frische Luft und ein Stück Natur ZWEI. SOLIDARISCH ESSEN in ihrem Grätzl zu sorgen. 2009 verwandelte eine Nachbar- schaftsinitiative in Exarchia, Athen, einen Parkplatz in eine Auch in der Stadt soll eine ausreichende und gesunde Ernäh- Grünfläche. Der Asphalt wurde mit Presslufthämmern aufge- rung möglich sein. Um sich Lebensmittel in guter Qualität brochen und Bäume wurden gepflanzt. Der freie Park an der leisten zu können, gibt es in Wien Foodcoops. Die selbstver- Navarinou-Straße bietet seitdem einen Spielplatz für Kinder walteten Gruppen beziehen biologische Produkte direkt von und die Gelegenheit, sich mit Nachbar_innen zu treffen. lokalen Bauernhöfen, Gärtnereien und Imkereien. In Paris gibt es auch schon einen solidarischen Supermarkt, La Louve. Nach dem Vorbild der Konsumgenossenschaften des 19. Jahr- hunderts ist er allen zugänglich und Betrieb sowie Angebot werden im Kollektiv geregelt. DREI. ZWANGSRÄUMUNGEN VERHINDERN Um sich gegen Mieterhöhungen, Verdrängung und Zwangs- räumungen zur Wehr zu setzen, bilden Betroffene, Nachbar_ innen und Aktivist_innen Bündnisse. 2009 wurde in Barcelona die Plattform für Hypotheken-Opfer (PAH) gegründet. Sie ist in ganz Spanien aktiv und organisiert rechtliche Unterstüt- zung für Mieter_innen, genauso wie direkte Gegenwehr bei Zwangsräumungen. Vor allem aber finden Betroffene emotio- nalen Beistand in existenzbedrohenden Lebenssituationen. VIER. LINKE STADT- REGIERUNGEN WÄHLEN FÜNF. BESETZEN UND BEWOHNEN Basisdemokratische Bewegungen stellen sich seit 2015 welt- weit zur Wahl, um linke Stadtregierungen zu bilden. Die gewählten Aktivist_innen versuchen so, die Institutionen In Brasilien müssen Häuser und freie Flächen per Gesetz eine und die Stadtpolitik von innen heraus zu verändern. In Ne- soziale Funktion erfüllen. Ist dies nicht der Fall, können Eigen- apel stellt seit 2016 die linke Bewegungs-Partei Democrazia tümer_innen enteignet werden. Das Gesetz findet aber keine Autonomia (DemA) den Bürgermeister Luigi de Magistris. Anwendung, also nimmt die lokale Bevölkerung die Dinge Gemeinsam mit anderen Bürgermeister_innen bietet er einen selbst in die Hand. Das Besetzen von Wohnraum ist gängige sicheren Hafen für Flüchtlinge – der harten Flüchtlingspolitik Praxis. Für viele bietet es die letzte Möglichkeit, ein Zuhause der italienischen Regierung zum Trotz. zu finden. Eine entscheidenden Kraft unter den Besetzer_in- nen ist die Bewegung der wohnungslosen Arbeiter (MTST).
14 KRISENMODELL MÄNNLICHKEIT Sexuelle Gewalt ist fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Über 90 Prozent aller Übergriffe gehen von Männern* aus. Warum ist das so und was können wir dagegen unternehmen? – by Levin Weiher Sexuelle Gewalt trifft vor allem Frauen* und das meist Wahrnehmung und lässt sich nur durch gezielte Reflexion zuhause. Die überwiegende Mehrheit der Täter ist männlich zum Vorschein bringen. und stammt aus dem nahen sozialen Umfeld der Betroffe- nen. Das ist kein Zufall, sondern hängt stark mit Männlich- DAS DILEMMA MÄNNLICHER SEXUALITÄT keit und Weiblichkeit zusammen. Entgegen dem weit ver- breiteten Mythos spielt natürliche Veranlagung dabei keine Gegenwärtig stellt Unabhängigkeit ein zentrales Element Rolle. Hormone machen keine Vergewaltiger. Der männli- von Männlichkeit dar. Ein Mann* ist eigenständig und in che Hang zu Gewalt ist gesellschaftlichen Ursprungs. seinem Tun nicht auf andere angewiesen. Real einlösen lässt sich dieser Anspruch jedoch nicht. Er scheitert mitun- „ES IST EIN JUNGE!“ ter an einem der fundamentalsten Aspekte des Lebens, der Sexualität. Sexualität bedeutet immer auch Abhängigkeit. Männlichkeit ist mehr als Anatomie. Was sie ausmacht, Sobald ein Mann* eine Frau* begehrt, braucht er sie. Er wird erst im Zusammenleben der Menschen ausgehandelt. ist zur Befriedigung seines Begehrens auf sie angewiesen. Unser alltägliches Reden und Tun bestimmt, wie Männer* Sexualität bringt somit eine dauerhafte Bedrohung von zu sein haben. Ein eindeutiges Ergebnis gibt es dabei nie. Es Männlichkeit mit sich und führt in ein Dilemma: Sie ruft kursieren immer unterschiedliche, teils sogar widersprüch- nicht bloß Zuneigung zur begehrten Frau* hervor, sondern liche Vorstellungen davon, was Männlichkeit ist. Konfron- auch aggressive Gefühle ihr gegenüber. Die tiert werden mit ihnen schon die Kleinsten. Von Anbe- Frau* stört das männlichen Selbstbild und „Zur Gefahrenquelle wird ginn unseres Lebens werden wir als Junge oder Mädchen wird daher zum Hassobjekt. Männlichkeit besonders behandelt. Entsprechend früh beginnt die Verinnerlichung in Zeiten gefühlter Krise.“ von Geschlechterbildern und -normen. Schon Kindergar- GEFÜHLTE KRISE UND GEWALT tenkinder kennen ihr Geschlecht genau und wissen, welches Verhalten diesem entspricht. Zur Gefahrenquelle wird Männlichkeit besonders in Zeiten Hinter den Kulissen jedoch gefühlter Krise. Krisenerfahrungen verweisen stets mit „Unser alltägliches Reden, tobt ein Konflikt. Junge* Nachdruck auf Schwäche und Unsicherheit. Beides ist Handeln und Denken bestimmt, oder Mädchen* zu werden, schwer mit dem männlichen Selbstbild zu vereinbaren, be- wie Männer* zu sein haben. Ein bedeutet stets Entsagung. deutet Unabhängigkeit doch Stärke und Souveränität. Das eindeutiges Ergebnis gibt es Eigene Wünsche und sie gleichzeitig durch Begehren verunmöglicht ist, wird vor dabei nie.“ Bedürfnisse geraten in dem Hintergrund solcher Verunsicherung zum Salz in der Widerspruch zum männ- offenen Wunde. Sexuelle Gewalt ist eine Möglichkeit auf lichen oder weiblichen Ideal. Im Versuch, dem Ideal zu diese Situation zu reagieren. Die Unterwerfung der begehr- entsprechen, werden sie verdrängt. Einmal ins Unbewuss- ten Frau* soll Abhängigkeit durch Kontrolle ersetzen. Sie te abgeschoben, geben die unerwünschten Selbstanteile soll die Frau* zum Objekt degradieren und der männlichen jedoch keine Ruhe. Es bedarf eines konstanten psychischen Verfügungsgewalt ausliefern. Sexuelle Gewalt stellt somit Aufwandes, sie unter Kontrolle zu halten. Keineswegs han- einen Versuch dar, Gefühle der Unzulänglichkeit auszuglei- delt es sich bei diesem Prozess um einen bewussten Akt. Er chen und Männlichkeit zu stabilisieren. Lust und Aggressi- vollzieht sich gewissermaßen unter der Oberfläche unserer on werden dabei Hand in Hand ausgelebt.
15 WAS TUN? Sexuelle Gewalt muss auf mehreren Ebenen bekämpft Abhängigkeit zulässt und Uneindeutigkeit aushält. Eine werden. Einerseits braucht es konkrete Hilfsangebote für Männlichkeit, die innere Widersprüche erlaubt, anstatt sie betroffene Frauen*. In jahrelanger feministischer Arbeit zu verleugnen. Einen Ansatzpunkt dafür bietet unter ande- wurden Beratungsstellen, Gewaltschutzgesetze und Frau- rem die pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendli- enhäuser erstritten. Diese Errungenschaften müssen wir chen. Pädagog_innen können helfen, psychische Konflikte stärken und gegebenenfalls gegen politische Angriffe von rund um Männlichkeit und Weiblichkeit zu thematisieren Rechts verteidigen. Wichtig ist etwa der Ausbau staatlicher und zu bearbeiten. Sie haben die Chance junge Menschen in Unterstützungszahlungen an gewaltbetroffene Frauen*. Kei- ihrer Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht zu ne Frau* sollte aufgrund finanzieller Abhängigkeit bei ihrem unterstützen und dabei einen langfristigen Unterschied zu übergriffigen Partner bleiben müssen. machen. Andererseits ist eine öffentli- „Sexuelle Gewalt zielt auf die Unter- che Debatte zu den Ursachen werfung der begehrten Frau*. Durch sexueller Gewalt notwendig. diese Unterwerfung soll Abhän- Anstelle von verharmlosenden WEITERLESETIPPS gigkeit verleugnet und die eigene oder rassistischen Pseudoer- Männlichkeit stabilisiert werden.“ klärungen muss eine Auseinan- dersetzung mit vorherrschen- „Die männliche Subjektkonstitution – den Männlichkeitsbildern treten. Es geht darum, eine Pro- Sexualität, Gewalt und Abwehr” Ein Vor- blemanalyse zu etablieren, die sexuelle Gewalt als Produkt trag von Rolf Pohl, zu finden auf YouTube. unserer Gesellschaft anerkennt und ernst nimmt. Unsere größte Herausforderung besteht darin, eine empa- „Aggression und Männlichkeit” Ein Vor- thische Männlichkeit zu fördern. Eine Männlichkeit, die trag von Christoph Müller. Online unter: agpolpsy.de „Der gemachte Mann – Konstruktion und Krise von Männlichkeiten” Ein femi- nistischer Klassiker von Raewyn Connell.
Katinka Irrlicht für //UNTER PALMEN
18 „WIR WOLLEN KOLLEKTIV STATT VEREINZELT WOHNEN“ Wir haben mit Josefa und Rainer vom Hausprojekt SchloR über gemeinschaftliches Wohnen, ihre Zukunftspläne und das habiTAT-Netzwerk gesprochen. – by Martin Bernstein Martin: Wer seid ihr und was macht ihr? Stellt euch minarraum bauen werden. Das heißt, auf unserem Gelände doch bitte mal kurz vor. gibt es eine Art Gewerbeteil. Dort hat man die Möglichkei- ten zu arbeiten und künstlerisch, kulturell, oder handwerk- Rainer: SchloR ist ein Kollektiv von 18 Leuten. Wir sind lich tätig zu sein. Es geht bei uns also um viele Bereiche des zwischen 1 und 41 Jahre alt, das Verhältnis von Frauen und Zusammenlebens, aber unser gemeinsamer Ausgangspunkt Männern ist 60 zu 40. Wir haben unterschiedliche politi- ist der Wunsch nach einem anderen Wohnen. sche Backgrounds, sind aber alle Teil der Wiener Linken. Im Sommer 2019 – im Juli – haben wir ein Grundstück in Wien Josefa: Der Wunsch nach gemeinsamen Leben schlägt sich Simmering in der Rappachgasse 26 gekauft. Dieses Grund- auch in der Gestaltung unseres Wohnraums nieder: Es gibt stück bauen wir in den nächsten zwei Jahren um, um dort bei uns keine Einzelwohnungen, wir wollen möglichst viele Wohn-, Kultur- und Veranstaltungsräume zu schaffen. gemeinschaftliche Räume und Flächen. Persönlich kann ich es mir nicht mehr vorstellen, alleine zu wohnen. Ein Teilas- Josefa: SchloR ist Teil des habiTAT-Netzwerks. Das habiTAT pekt unseres Projektes ist außerdem, Wohnen und Arbeiten ist ein Zusammenschluss verschiedener Hausprojekte in näher zusammenrücken, Selbstverwaltung und Solidarität Österreich. Bisher gibt es 5 bestehende Häuser und ein paar sind da zentral. Daher gibt es beispielsweise die Idee, dass sind in Planung. Gleichzeitig ist das habiTAT der Schwes- in Zukunft abends immer für alle gekocht wird. Das ist terndachverband vom Mietshäusersyndikat in Deutsch- nicht nur aus praktischen Gründen super, sondern ich freu´ land. Im Mietshäusersyndikat sind ungefähr 150 Haus- und mich dann auch drauf, nach Hause zu kommen und mit den Wohnprojekte organisiert. anderen abzuhängen. Martin: Was ist euer Anspruch an Wohnen? Was Martin: Ihr habt vorhin schon das habiTaT ange- bedeutet Zuhause oder Zuhausesein für euch? sprochen – könnt ihr vielleicht kurz erklären, was das genau ist und wie es funktioniert? Rainer: Die Mitglieder von SchloR verbindet der Wunsch nach kollektivem statt vereinzeltem Wohnen. Das Leben in Josefa: Das Konzept des habiTAT ist an das Modell des WGs hat uns nicht gereicht. Wir wollten unseren Wohn- deutschen Mietshäusersyndikats angelehnt. Im Kern wurde raum zusammen gestalten. Darüber hinaus ist unser Projekt bei diesem Konzept der Genossenschaftsgedanke noch ein- besonders, weil wir über eine 500m² große Trainingshalle mal radikalisiert, oder man könnte auch sagen, politisiert. verfügen und bald auch Werkstätten, Ateliers und einen Se- Auch in der Genossenschaft schließen sich mehrere Perso-
19 nen zum wechselseitigen Vorteil zusammen, um gemein- Weitere Informationen zu schaftlich zu wirtschaften. Was uns von Genossenschaften SchloR sowie dem habiTAT und unterscheidet, ist, dass Leute, die bei uns mitmachen Mietshäusersyndikat findest du wollen, keine Eigenmittel brauchen. Die habiTaT Häuser unter: werden einerseits über Geld des Netzwerks finanziert und andererseits über Direktkredite. » schlor.org Zugleich besitzt niemand einen privaten Anteil an den » habitat.servus.at gekauften oder gebauten Häusern, wie das bei Genossen- » syndikat.org schaften üblich ist. In unserem Fall heißt das, dass Haus und Grundstück offiziell der SchloR GmbH gehören. Ge- Um auf dem aktuellen Stand zu sellschafter*innen sind zum einen unser Hausverein mit 51 bleiben, kannst du SchloR außer- % und das habiTAT mit 49 % . Das habiTaT hat außerdem dem auf Instagram, Facebook und ein Vetorecht, wenn die Immobilie verkauft werden soll. Twitter folgen. Das verhindert, dass sich irgendwer selbst bereichern kann. Über die konkrete Nutzung und Gestaltung des SchloR Hauses entscheiden die aktuellen Bewohner*innen. Rainer: Entwickelt worden ist dieses Konzept in den 1980er Jahren aus der Freiburger Hausbesetzer_innenbewegung heraus. Dort wurde ein Grundstück, so ähnlich groß wie die Arena Wien, besetzt. Die Besetzer_innen haben sich überlegt, wie sie dieses Grundstück langfristig halten können, ohne es selber zu privatisieren und so Teil einer marktförmigen Logik zu werden und damit auch Teil von Grundstückspekulation oder steigenden Immobilienprei- sen. Wie kann man davon eben nicht Teil werden? Wie kann man es radikal anders machen und den Besitz auflösen und vergesellschaften? Und wie kann man diesen Besitz trotz- dem langfristig absichern und der Gefahr einer Räumung
20 durch die Polizei entgehen? Diese Überlegungen sind der stehen. Wir wollen unsere vielfältigen Möglichkeiten auch Ursprung unserer heutigen Arbeitsweise. Nachbar_innen und linken Gruppen zugänglich machen. Wenn Leute die Räumlichkeiten nutzen wollen, um dort Martin: Inzwischen gibt es bei euch zweimal im Geld zu verdienen und sich dafür tageweise einmieten Monat einen Barabend, das Gelände ist gekauft möchten, würde das grundsätzlich auch gehen. Wir sind da und wie alles einmal aussehen soll, wisst ihr auch offen. schon. Was sind die weiteren konkreten Schritte? Martin: Das klingt super. Gibt es noch irgendwelche Rainer: Genau, wir haben im Juli dieses Grundstück Möglichkeiten, wie man euch unterstützen kann? gekauft und stehen jetzt seit Herbst auch im Grundbuch. Gleichzeitig haben wir Schritt für Schritt mit der Nutzung Josefa: Man kann uns natürlich unterstützen und auch ger- der bestehenden Gebäude begonnen. Dazu gehört unter ne mitmachen. Zum Beispiel hat die besagte Trainingshalle anderem die schon erwähnte Trainingshalle, die wir TRAP offene Treffen für Interessierte. Wer dort aktiv werden mag, nennen – Trainingshalle Rappachgasse. Der Plan ist, die kann einfach vorbeikommen. Jenseits davon freuen wir uns Halle gemeinsam mit Leuten aus der freien Zirkusszene und nach wie vor über Direktkredite. Für die vollständige Finan- Leuten, die kostenlose Trainingsmöglichkeiten suchen, zu zierung der Bauarbeiten in den nächsten zwei Jahren fehlen bespielen. Dafür gibt es eine eigene Nutzer_innengruppe. uns noch ungefähr 300.000 Euro. Diese Finanzierungslücke Das heißt, wir bestimmen nicht alleine über diese Halle, wollen wir natürlich so schnell wie möglich schließen. sondern wir verwalten sie mit den Nutzer_innen gemein- sam. In einem anderen Trakt werden unsere Werkstätten Rainer: Wer will kann Summen von 500 bis 50.000 Euro bei entstehen. Wie du richtig gesagt hast, findet bei uns ein re- uns anlegen. Das geht sehr einfach und unkompliziert. Man gelmäßiger Barabend statt. Daneben gibt es diverse andere bekommt dafür auch Zinsen. Also, falls wer zu viel Geld am kulturelle Veranstaltungen, wie zum Beispiel Konzerte aller Sparbuch liegen hat und nicht weiß, was tun damit, wir Art. Wir haben auch begonnen, einen Raum für externe freuen uns! Gruppen zur Verfügung zu stellen: Da können kleinere Klausuren, diverse Festivitäten und auch Benefizveranstal- Martin: Danke für das Interview! tungen stattfinden. Josefa: Eine erste Bauphase startet mit im Frühjahr 2020. In diesem Zeitraum sollen die ersten Werkstätten fertig wer- den. Insgesamt sind eine Holz- und eine Metallwerkstatt, Büros, Ateliers, zwei Proberäume und eine Gastroküche ge- plant. Auch einen Seminarraum werden wir am Grundstück haben. All das wollen wir dort unterbringen. Wichtig ist dabei immer, dass wir die entstehenden Räume zusammen mit zukünftigen Nutzer_innen gestalten. Das heißt, das Gelände von SchloR soll nicht nur für uns zur Verfügung
22 DIE Der selbst gestrickte himmelblaue Pullover ist farblich gut mit ihrer pinken Hose und der orangen Jacke abgestimmt. WOHNUGEN Ihr jugendliches Erscheinungsbild trotzt den tiefen Fur- chen, die das Leben Regina Amer ins Gesicht gezeichnet hat. Als Vorstandsmitglied des Vereins Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen und Gründe- „Obwohl Frauen* stärker DENEN, rin von HOPE Österreich engagiert sie sich für die Anliegen von wohnungslosen von Armut betroffen sind Menschen. Um die öffentliche Ausein- als Männer*, nehmen sie andersetzung mitzubestimmen, teilt sie Wohnungslosenhilfe weit ihre eigenen Erfahrungen. „Es wird viel weniger oft in Anspruch.“ DIE SIE über wohnungslose Menschen gespro- chen, aber nicht mit ihnen. Wir sind keine Wählergruppe und deshalb werden wir nicht ernst genommen.“ Im Oktober 2011 verlor Regina Amer ihre Wohnung – kurz BRAUCHEN! nachdem ihr Freund an Krebs verstarb. In den Monaten vor seinem Tod kümmerte sich Regina nicht mehr um das Zah- len von Rechnungen. Ungeöffnete Mahnungen sammelten sich am Küchentisch und eingeschriebene Briefe blieben auf der Post liegen. „Als ich nach Weihnachten begonnen habe, mich um meine ganzen Briefe zu kümmern, konnte ich die Wohnung nicht mehr halten“, erzählt sie. „Es ist notwendig, verstärkt Wohnungslose Frauen* leben oft in auf die besondere Situation unsicheren Unterkünften und sind MIND THE GAP von wohnungslosen Frauen* stark von persönlicher Abhängig- einzugehen und entsprechen- Wie viele Frauen* in Wien Reginas de Angebote zu entwickeln.“ keit betroffen. Eine Voraussetzung Schicksal teilen, ist schwer auszuma- chen. Obwohl Frauen* stärker von Armut betroffen sind als für erfolgreiche Hilfe: weibliche Männer*, nehmen sie Wohnungslosenhilfe weit weniger oft Wohnungslosigkeit sichtbar ma- in Anspruch. Diese Diskrepanz lässt sich durch verdeckte chen. Wohnungslosigkeit erklären. Frauen* in Not schlafen häufig bei Freundinnen auf der Couch oder gehen Zweckbezie- hungen ein. Diese Form der Wohnungslosigkeit ist stark – by Judith Godiva von Abhängigkeiten geprägt. Nicht selten werden sexuelle Gefälligkeiten oder Haushaltsleistungen im Tausch für einen Schlafplatz erwartet. Das wichtigste Merkmal der weiblichen Wohnungslosigkeit ist die Unsichtbarkeit. Sie verunmöglicht nicht nur die statistische Erhebung des Pro- blems, sondern verhindert auch, dass Hilfeleistungen bei wohnungslosen Frauen* ankommen. Es ist daher notwen- dig, verstärkt auf die besondere Situation von wohnungs- losen Frauen* einzugehen und entsprechende Angebote zu entwickeln. GENDERSPEZIFISCHE EINRICHTUNGEN WEITERLESETIPPS Obdach Ester, ein niederschwelliges „In der Regel ist die Woh- Tageszentrum für Frauen*, verfolgt „…wo schläft die Marie?“ Ein Text über die diesen genderspezifischen Ansatz. nungslosenhilfe blind gegen- Lage wohnungsloser und von Wohnungslo- Der Schutzraum steht allen Frauen* über Transgender und ihren sigkeit bedrohter Frauen in Wien, herausge- offen, auch Kinder und Hunde dür- Bedürfnissen.“ geben vom Frauenarbeitskreis der BAWO. fen mitgebracht werden. Kaffee und Online unter: bawo.at Mohnschnecken laden zum Aufwärmen ein. Die Kleider- spenden, Waschmaschinen und Duschen stehen den Besu- cher_innen an 365 Tagen im Jahr zur Verfügung. Die Ester richtet ihr Angebot dezidiert auch an Transfrauen. „Frau* ist
23 Frau*“, beschreibt die Teamleiterin von Obdach Ester, Dogan kommen, gilt es, Bedürftigkeit nachzuweisen. Armut oder Kibar, das Grundprinzip der Einrichtung. Damit steht die ein gewalttätiger Ehemann sind nicht Grund genug. „Auch Ester alleine auf weiter Flur. In der Regel ist die Wohnungs- das grundlegende Problem, dass der Immobilienmarkt so losenhilfe blind gegenüber Transgender und ihren Bedürf- beschissen ist, zählt nicht“ beklagt sie. nissen. Die Frauen*, die hier Zuflucht suchen, sind sehr unterschiedlich, aber der Weg in die Wohnungslosigkeit ist DIE WOHNUNGEN DENEN, DIE SIE BRAUCHEN! für viele von Gewalt und Trennung geprägt. Kibar erklärt, dass weibliche Armutsrisiken die Wurzel der weiblichen Die Forderung von HOPE Österreich ist es, einen leichteren Wohnungslosigkeit sind. Ein Beispiel: nach wie vor stehen Zugang zu Wohnungen für Betroffene zu schaffen. Denn Männer* häufiger in Mietverträgen. In der Konsequenz Notschlafplätze und Tageszentren sind zwar ein Weg, um verlieren Frauen* im Falle einer Trennung ihren Anspruch die akute Not zu stillen, aber können am grundlegenden auf die gemeinsame Wohnung. Der Zugang zu rechtlich Problem nichts ändern. Regina Amer erzählt, dass eine abgesicherten Wohnverhältnissen sollte für Frauen* daher Wohnung weit mehr ist, als ein Dach über dem Kopf. Es besondere Bedeutung haben. sind häufig die vermeintlich kleinen Dinge, die einen Un- terschied machen. „Eine eigene Wohnung bedeutet, selbst (IRR)WEGE AUS DER WOHNUNGSLOSIGKEIT entscheiden zu können, wann ich aufstehe und wann ich schlafen gehe.“ Seit März 2015 lebt Regina wieder in ihren Trixie ist Sozialarbeiterin und hat drei Jahre eigenen vier Wänden, aber die Angst, die Wohnung zu ver- „Das grundlegende in der Ester gearbeitet. Vor kurzem hat sie ihre lieren, die bleibt. Problem, ist der be- Stelle an den Nagel gehängt. Sie erträgt es schissene Immobilien- nicht länger, das Trostpflaster auf klaffenden markt.“ Wunden zu sein. „Einer Frau*, die nicht weiß, wo sie heute Nacht schlafen soll, zu sagen: Bett gibt es keines, aber hier hast du einen Schlafsack. Das pack ich nicht mehr.“ Trixie bezeichnet die bürokratischen Voraussetzungen, um eine eigene Wohnung zu erhalten, als absurd und spricht vom Nadelöhr Betreuungsbedarf. Um über die Wohnungslosenhilfe an eine eigene Wohnung zu
KULTUR UNTER PALMEN
25 ZUTRITT NUR FÜR Die Sehnsucht nach einem sicheren Zuhause bildet den Ausgangspunkt BERECHTIGTE! für Daria Bogdanskas Graphic Novel Von Unten. 2019 erstmals auf Deutsch erschienen, erzählt Von Unten über Migration und Arbeitskampf. – by Judith Godiva Das Leben verschlägt die polnische Autorin Daria Bog- grund. Diese Sequenzen sind es auch, in denen Bogdanska danska ins schwedische Malmö. In der autobiografischen gekonnt das Millennial-Dasein porträtiert. Graphic Novel Von Unten erzählt sie von ihrer Anstrengung Von Unten, in schwarz-weiß gehalten, lebt von der Dring- anzukommen und dem politischen Kampf für ein Zuhau- lichkeit des Themas und einer ausdrucksstarken Protago- se. Darias Sehnsucht nach einem Zuhause wird ihr durch nistin. Leider leidet die Leseerfahrung unter dem vielen bürokratische Hürden erschwert: ohne Job keine Steuer- Text. Bogdanska verliert sich allzu oft in Alltagsgescheh- nummer und ohne Steuernummer keinen Job. Die Miete für nissen, die weder die Story vorantreiben, noch zur Cha- ihr WG-Zimmer muss sie aber trotzdem bezahlen. Die Not rakterentwicklung beitragen. Diese Stellen verleiten dazu, zwingt Daria dazu, ohne Papiere zu arbeiten. Für 45 Kronen rasch ein paar Seiten zu überblättern. Sie begeht den Fehler, oder umgerechnet 4,30€ pro Stunde alles erklären zu wollen und „In ihrem Graphic Novel schuftet sie in einem indischen Res- vertraut nicht auf die Fähig- „Besonders Migrant_innen Debüt zeigt Bogdanska, taurant. Die Entlohnung basiert auf keit der Leser_innen zwischen in unsicheren Lebenssitu- dass die Geborgenheit eines einem rassistischen Gehaltsschema. Je den Zeilen lesen zu können. ationen bleibt ein sicheres Zuhauses ein Privileg ist.“ unsicherer der Aufenthaltstitel, desto Das Resultat ist dennoch eine Zuhause oft verwehrt.“ schlechter die Bezahlung. Auf der bemerkenswerte Story, die der untersten Stufe der Abhängigkeitspyramide stehen Darias Zeit auf den Zahn fühlt. pakistanische Arbeitskolleg_innen, sie können es sich am wenigsten leisten, aufzubegehren. In ihrem Graphic Novel Debüt zeigt Bogdanska, dass die Geborgenheit eines Zuhauses ein Privileg ist. Sie ist jenen vorbehalten, die über genügend Geld und Zeit verfügen. Besonders Migrant_innen in unsicheren Lebenssituatio- nen bleibt ein sicheres Zuhause oft verwehrt. Erschreckend deutlich wird das, als Daria gezwungen ist, in ein fensterlo- ses Kellerzimmer einzuziehen. Hier droht ihr bei geschlosse- Von Unten (2019) ner Tür Erstickungsgefahr. Doch als die Mühlen der Lohnar- Autorin: Daria Bogdanskas beit drohen, Daria zu zermahlen, beginnt sie sich gegen die Verlag: avant-verlag Ausbeutung zu wehren. Mit Hilfe der Gewerkschaft fordert Softcover: 200 Seiten sie gleichen Lohn für gleiche Arbeit. 22,00 Euro Die Augenblicke, in denen Daria in ihrem hektischen Alltag ein Zuhause findet, sind die, in denen sie mit ihren Freund_ innen abhängt. Als ihr Kumpel Mendi mit leidender Miene eine Haarfärbe-Aktion über sich ergehen lässt oder sie mit ihrem Liebhaber Krisse einen Netflix und Chill Abend verlebt, tritt Darias Kampf für einen Moment in den Hinter-
26 ZERRISSEN Nach dem Gymnasium zieht Eribon aus dem kommunisti- schen Elternhaus nach Paris, um dort Philosophie zu studie- ZWISCHEN ren und seine Homosexualität in der Großstadt auszuleben. Mit dem Umzug beginnt er, seine soziale Herkunft zu ver- leugnen und die Verhaltensweisen der gehobenen Klassen zu übernehmen. Eribon wendet sich von seiner Familie ab und kehrt erst nach dem Tod seines homophoben Vaters DEN nach Reims zurück. Dort merkt er, dass nicht nur er sich von seiner Herkunft distanziert hat. HERKUNFT „Eribon kritisiert die Romantisierung der Ar- WELTEN Eribons Vater ist Fabrikarbeiter, die beiter_innenklasse. Schon Mutter putzt die Wohnungen reicher früher waren rechtsextreme Leute. Die Eltern wählen kommunis- Einstellungen bei Arbeiten- tisch, aber denken in weiten Teilen den weit verbreitet.“ rechts. In dieser Umgebung ver- drängt und verheimlicht Eribon seine Homosexualität. In seinem 2009 erschienen autobio- Eribon geht ins Gymnasium, liest viel und möchte auf die grafischen Essay Rückkehr nach Reims Universität. Mit dieser Ausbildung beginnt er, sich von sei- ner Arbeiter_innenfamilie abzugrenzen. In Paris freundet er erzählt Didier Eribon von seiner Zer- sich mit Menschen aus den oberen Schichten der Gesell- rissenheit zwischen verschiedenen schaft an und schämt sich immer mehr für seine Herkunft. Durch sein Studium lernt er linke Gruppen kennen und sozialen Welten. liest Theorien von Marx, Trotzki, Beauvoir und Bourdieu. Die Klasse, der er entstammt, beginnt er nun zu studieren. Eribon träumt von der Revolution der Arbeitenden, aber – by Lucas Weber möchte in Paris nicht mit seinem Großvater, einem Fenster- putzer, gesehen werden. RÜCKKEHR Nachdem Eribons Vater stirbt, kehrt er erstmals nach Reims zurück. Dort wird ihm bewusst, wie sehr er sich von seiner Familie distanziert hat. Seine Mutter versteht die Wörter, die er benutzt, nicht und kann mit seinen Büchern nichts anfangen. Aber auch sein Herkunftsmilieu hat sich verän- dert. Früher galt der Front National als Klassenfeind und wurde zuhause vor dem Fernseher beschimpft. Heute wählt seine Familie die rechtsextreme an- statt der kommunistischen Partei. „Die Fehler der kommunisti- Wir, die Franzosen, gegen die Aus- schen Partei macht er in ihrer länder – statt – wir, die Ausgebeu- Treue zur Sowjetunion und teten, gegen die Herrschenden. der Ignoranz gegenüber den Anhand seiner eigenen Geschich- Forderungen der 68er aus.“ te versucht Eribon als Soziologe den Aufstieg der Rechten durch das Versagen der Linken zu erklären. Einerseits kritisiert er die Romantisierung der Arbeiter_innenklasse. Schon früher waren rechtsextreme Rückkehr nach Reims (2016) Einstellungen bei Arbeitenden weit verbreitet. Damals Autor: Didier Eribon haben viele trotz ihres Rassismus links gewählt und heute Verlag: Suhrkamp wird entgegen dem eigenen sozialen Interesse rechts ge- Taschenbuch: 240 Seiten wählt. Andererseits hat sich die Linke, laut Eribon, von den 18,50 Euro Problemen, Lebensrealitäten und Wünschen der Arbeiten- den distanziert. Die Fehler der kommunistischen Partei macht er in ihrer Treue zur Sowjetunion und der Ignoranz gegenüber den Forderungen der 68er aus. Eribon bleibt aber optimistisch und sieht die Linke nicht auf verlorenem Posten. Er ist überzeugt, dass sie all jene, die heute rechts wählen, wieder zurückgewinnen kann.
28 INCEL LOOKING FOR HOME Der Film Joker zeigt den gleichnamigen Anti-Helden als Ver- sager, der sich nicht mehr wohl fühlt: Weder in Gotham, noch in der Wohnung seiner Mutter. Mit Gewalt errichtet er sich ein neues Zuhause. – by Armin Strasser Todd Phillips hat mit seiner Neuverfilmung des be- Obwohl der Joker kein Incel ist, wirkt er wie einer: Seine rühmt-berüchtigten Jokers polarisiert. Wenn der König verzweifelte Zynik, die traurige Existenz als Muttersöhn- des Bro-Humors (Hangover) eine wirklich düstere Version chen und die Verachtung seiner Existenz durch die Gesell- des Superschurken zusammen mit dem Schauspielta- schaft – das passt. Und weckt Empathie, denn jede_r kennt lent Joaquin Phoenix dreht, dann ist das ein explosiver so einen Typen. Sein Durchdrehen, die Mordfantasien, der Mix. Schnell war die Diagnose klar: Der Film huldigt den Griff zur Waffe – auch das ist erschreckend bekannt. Fantasien sexuell frustrierter Männer, neuerdings Incels genannt, und verherrlicht Gewalt. Tatsächlich zeigt der DER TRAGISCHE ANTI-HELD Film aktuelle Vorstellungen von Männlichkeit, die in Form des Jokers Gestalt annehmen. Als Reaktion auf das eige- Filmisch produziert Regisseur Phillips eine psychologische ne Versagen greift dieser zur Waffe und errichtet sich ein Charakterstudie. Joker setzt auf Nähe zu seinem Anti-Hel- schreckliches Zuhause in der Hölle, die sich Gotham City den, die Kamera klebt am Körper von Phoenix. Gezeigt nennt. wird die Verwandlung des ganz normalen Arthur Fleck zum Bösewicht Joker, dessen Wut nachvollziehbar bleibt. WHY SO SERIOUS? Der Wahnsinn des Jokers ist dabei sein unentrinnbares Schicksal, denn Arthur genießt praktisch keine Hand- Der Joker ist aber nicht wirklich ein Incel. Denn dabei han- lungsfreiheit. Deshalb muss sich der Charakter auch nie delt es sich um eine Subkultur, die in den 90ern entstan- für seine Gewaltexzesse rechtfertigen und erscheint stets den ist und in Gotham schlichtweg nicht existiert. Incel als Opfer. Er ist das Produkt von Kindesmissbrauch, der steht für Involuntary Celibacy, also für den unfreiwilligen korrupten Stadt Gotham und der düsteren Wohnung sei- Verzicht auf Sex. Diese Community verstand sich ur- ner Mutter. Anfangs versucht Arthur sprünglich als empathischer Raum für Leute, die Probleme noch, sich ein positives Zuhause in „Heute dominieren mit ihrer Sexualität haben. Sie beherbergte Menschen, die dieser Welt aufzubauen. Aber er ist Verachtung von Frauen, sich nicht Zuhause fühlten, weder im zum Scheitern verurteilt, fühlt sich Vergewaltigungsfantasien „Tatsächlich zeigt eigenen Körper noch sonstwo. entmännlicht, impotent. Ein Gefühl, und aggressiver Selbst- der Film Joker ak- Dieser fortschrittliche Anspruch ist das auch den Hass von Incels nährt. hass die Incel-Szene.“ tuelle Vorstellungen längst verloren gegangen: Heute domi- Erst die Waffe verleiht ihm Macht, sie von Männlichkeit.“ nieren Verachtung von Frauen, Verge- findet dabei wie durch Magie zu ihm. Mit jedem Mord geht waltigungsfantasien und aggressiver es ihm besser und die Realität weicht einer Wahnvorstel- Selbsthass die Szene. Als Incels bezeichnen sich praktisch lung, in der er die Frau seiner Träume (zynisch-verschwöre- ausschließlich Männer*, die sich minderwertig fühlen. risch gespielt von Zazie Beetz) erobert. Ob er sie umbringt, Gleichzeitig werfen sie Frauen* vor, ausschließlich Sex mit bleibt offen. Somit errichtet sich der Joker ein negatives Chads – Machos – haben zu wollen und überhaupt die Zuhause, so düster wie Gotham selbst. Der Film endet in Schuld an ihrem Unglück zu tragen. Hier zeigt sich eine einer brutalen Revolution mit dem Joker als unfreiwilliger Weltsicht, die sowohl für ihre Anhänger selbst, als auch für Galionsfigur. Ernstzunehmen an der Witzfigur Joker ist bis Frauen* gefährlich ist. zuletzt nur die Gewalt, die von ihm ausgeht.
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