19 2020 Mund-Nasen-Bedeckung, Wiedereröffnung von Bildungseinrichtungen, Tag der Händehygiene - Händedesinfektion - RKI
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aktuelle daten und informationen zu infektionskrankheiten und public health 19 Epidemiologisches 2020 Bulletin 7. Mai 2020 Mund-Nasen-Bedeckung, Wiedereröffnung von Bildungseinrichtungen, Tag der Händehygiene – Händedesinfektion
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 2 Inhalt Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere Komponente zur Reduktion der Übertragungen von COVID-19 3 Das RKI empfiehlt ein generelles Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten Situationen im öffent- lichen Raum. Diese Empfehlung beruht auf einer Neubewertung aufgrund der zunehmenden Evidenz, dass ein hoher Anteil von Übertragungen unbemerkt erfolgt, und zwar bereits vor dem Auftreten von Krankheits- symptomen. Wiedereröffnung von Bildungseinrichtungen – Überlegungen, Entscheidungsgrundlagen und Voraussetzungen 6 Da es bislang keine gesicherten Erkenntnisse zur Rolle von Schulen und Kindergärten im aktuellen Infek tionsgeschehen gibt, ist es wichtig, eine Wiedereröffnung mit epidemiologischen Studien zu begleiten. Die Ergebnisse können genutzt werden, um die Effektivität der Maßnahmen besser einzuschätzen und ein Vor- gehen auszuwählen in Bezug auf das schrittweise Öffnen (und ggf. auch erneute Schließen) von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen. Internationaler Tag der Händehygiene: Händedesinfektion unter den Bedingungen der SARS-CoV-2-Pandemie 13 Die aktuelle SARS-CoV-2-Pandemie führt uns zum einen den Stellenwert der Händedesinfektion zum Schutz der Patienten und Beschäftigten vor Augen. Zum anderen zeigt sie, wie wichtig die stete Verfügbarkeit von Händedesinfektionsmitteln ist, deren Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit nachgewiesen und die unter praktischen Bedingungen tauglich sind. Das diesjährige Motto der WHO ist „nurses and midwives – clean care is in your hands“ 20 Erfassung der SARS-CoV-2-Testzahlen in Deutschland (Update vom 7.5.2020) 21 Impressum Herausgeber Allgmeine Hinweise/Nachdruck Robert Koch-Institut Die Ausgaben ab 1996 stehen im Internet zur Verfügung: Nordufer 20, 13353 Berlin www.rki.de/epidbull Telefon 030 18754 – 0 Inhalte externer Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise Redaktion die Meinung des Robert Koch-Instituts wider. Dr. med. Jamela Seedat Telefon: 030 18754 – 23 24 Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons E-Mail: SeedatJ@rki.de Namensnennung 4.0 International Lizenz. Claudia Paape, Judith Petschelt E-Mail: EpiBull@rki.de ISSN 2569-5266 Das Robert Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 3 Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als weitere Komponente zur Reduktion der Übertragungen von COVID-19 Strategie-Ergänzung zu empfohlenen Infektionsschutz- maßnahmen und Zielen (3. Update) Das Robert Koch-Institut (RKI) empfiehlt ein gene- ten Reduktion der Ausscheidung von Atemwegsvi- relles Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (MNB) ren über die Ausatemluft führt und aus Studien zur in bestimmten Situationen im öffentlichen Raum als Influenza gibt es Hinweise auf eine Reduktion des einen weiteren Baustein, um Risikogruppen zu Ansteckungsrisikos für gesunde Personen in Haus- schützen und den Infektionsdruck und damit die halten mit einem Erkrankten.1,2 Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 in der Bevölkerung zu reduzieren. Diese Empfehlung be- Neben anderen Faktoren ist das Fehlen von persön- ruht auf einer Neubewertung aufgrund der zuneh- licher Schutzausrüstung eine Ursache für Ausbrü- menden Evidenz, dass ein hoher Anteil von Übertra- che von COVID-19 in Krankenhäusern und in der gungen unbemerkt erfolgt, und zwar bereits vor dem Altenpflege, die damit die Gruppen mit dem höchs- Auftreten von Krankheitssymptomen. Ziel dieses ten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf Beitrags ist es, eine kurze Übersicht zum fachlichen treffen und auch zu Erkrankungen bei dringend zur Hintergrund der Empfehlung zu geben und zu erläu- Behandlung und Pflege benötigtem Personal füh- tern, welche Dinge hierbei zu berücksichtigen sind. ren. Auch in Deutschland wurden bereits Erkran- kungen bei medizinischem Personal berichtet, das Der Hauptübertragungsweg von SARS-CoV-2, dem in den 14 Tagen vor der Erkrankung in einer medi- Erreger von COVID-19, sind feine Tröpfchen aus der zinischen Einrichtung tätig war (unter den nach Atemluft. Im medizinischen Bereich und in der IfSG übermittelten COVID-19-Fällen waren min- Pflege ist ein enger physischer Kontakt häufig un- destens 5.300 Personen in medizinischen Einrich- vermeidbar und deshalb gehören der chirurgische tungen gemäß § 23 Abs. 3 IfSG tätig; Lagebericht Mund-Nasen-Schutz (MNS) und sogenannte parti- vom 11.4.2020). MNS und FFP2-/FFP3-Masken sind kelfiltrierende Halbmasken (FFP2-/FFP3-Maske) ein essenzieller Bestandteil einer sicheren Arbeits- zum Standard der im Arbeitsschutz und Infektions- situation in Krankenhäusern und bei der Pflege von schutz eingesetzten persönlichen Schutzausrüs- Erkrankten und hilfsbedürftigen Menschen und tung. Der wesentliche Unterschied zwischen einem müssen prioritär in diesen Bereichen eingesetzt MNS und FFP2-/FFP3-Masken besteht nicht nur in werden. Noch immer kommt es weltweit zu Engpäs- der Stärke der Filterwirkung der Atemluft, sondern sen in Bezug auf die Verfügbarkeit von persönlicher im Ziel des Einsatzes. Während ein MNS primär an- Schutzausrüstung, weshalb eine maximale Steige- dere Personen vor feinen Tröpfchen und Partikeln rung der Produktion auch durch in Deutschland an- in der Ausatemluft desjenigen schützen soll, der ei- sässige Firmen notwendig ist, um Übertragungen nen MNS trägt (Fremdschutz), ist das Ziel von zu verhindern und Leben zu retten. FFP2-/FFP3-Masken der persönliche Schutz des Trägers vor Infektionen, einschließlich solche, die Kommerziell und privat hergestellte MNB bestehen durch mikroskopisch kleine Tröpfchen (Aerosole) meist aus handelsüblichen, unterschiedlich eng ge- übertragen werden. Dieser Schutz ist von zentraler webten Baumwollstoffen und entsprechen in ihrer Bedeutung, um die Gesundheit von medizinischem Funktionsweise am ehesten einem MNS. Sie sind je- Personal und Pflegenden zu erhalten und so eine doch keine Medizinprodukte und unterliegen nicht sichere Behandlung und Pflege ohne Infektionsrisi- entsprechenden Prüfungen oder Normen. Die Filter- ko zu gewährleisten. In einer aktuellen Studie konn- wirkung von MNB auf Tröpfchen und Aerosole wur- te gezeigt werden, dass auch MNS zu einer relevan- de nur in wenigen Studien untersucht und war im
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 4 Vergleich zu medizinischem MNS geringer.3 MNB eingehalten werden. In einer Aktualisierung ihres werden aufgrund der Heterogenität der Materialien Cochrane Reviews aus dem Jahr 2003 empfehlen und fehlenden Daten zur individuellen Schutzwir- die Autoren, basierend auf Beobachtungsstudien kung in Studien in Deutschland nicht für den Ar- während des SARS-Ausbruchs, den Einsatz von beitsschutz empfohlen. Wichtig ist, dass bei einem Masken ebenfalls in Kombination mit anderen Hustenstoß sowohl die Filterwirkung von MNS als Maßnahmen.5 Auch die hygienische Handhabung auch von MNB reduziert ist, d. h. dass eine (Selbst-) und Pflege von MNB sind zu beachten. Aus diesem Isolation symptomatisch Erkrankter unabhängig Grund ist darauf zu achten, dass die MNB – insbe- vom Einsatz von MNB trotzdem erforderlich bleibt.4 sondere beim Auf- und Absetzen – nicht berührt wird, um eine Kontamination durch die Hände zu Während in einigen asiatischen Ländern das Tra- verhindern. Generell geht eine längere Tragedauer gen von MNB oder MNS als Teil einer allgemeinen auch mit einer erhöhten Kontaminationsgefahr ein- Präventionsstrategie während Influenzawellen ak- her (s. Hinweise des Bundesinstituts für Arzneimit- zeptiert ist, würde dies in Ländern wie Deutschland tel und Medizinprodukte (BfArM)). einen deutlichen Schritt weg von dem gewohnten Bild in der Öffentlichkeit darstellen. In einer aktu- Wie Beobachtungen aus Ausbruchsuntersuchun- ellen Empfehlung stellt die Weltgesundheitsorgani- gen und Modellierungsstudien zeigen, beruht die sation (WHO) fest, dass der Einsatz von MNB im rasche Ausbreitung von SARS-CoV-2 auf einem ho- öffentlichen Raum nicht ausreichend evaluiert ist hen Anteil von Erkrankungen, die initial mit nur und daher weder eine Empfehlung für noch gegen leichten Symptomen beginnen, ohne die Erkrank- den Einsatz gegeben werden könne. Wie die WHO ten in ihrer täglichen Aktivität einzuschränken.6–8 betont, ist eine klare Kommunikation zu den Hin- Bereits 1 – 3 Tage vor Auftreten der Symptome kann tergründen, zu Kriterien und Gründen für die ge- es zu einer Ausscheidung von hohen Virusmengen troffene Entscheidung essenziell. Eine aktuelle kommen. Eine teilweise Reduktion dieser unbe- Stellungnahme des Europäischen Zentrums für die merkten Übertragung von infektiösen Tröpfchen Prävention und die Kontrolle von Krankheiten durch das Tragen von MNB könnte auf Populations- (ECDC) kommt zu dem Schluss, dass der Einsatz ebene zu einer weiteren Verlangsamung der Aus- von Gesichtsmasken als Mittel der Kontrolle von In- breitung beitragen. Dies betrifft die Übertragung im fektionsquellen eingesetzt werden kann, um die öffentlichen Raum, an denen mehrere Menschen Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung durch zusammentreffen und sich dort länger aufhalten infizierte Personen, die noch keine Symptome ent- (z. B. Arbeitsplatz) oder der physische Abstand von wickelt haben, zu verhindern. Die Centers for Di- mindestens 1,5 m nicht immer eingehalten werden sease Control and Prevention (das amerikanische kann (z. B. Einkaufssituation, öffentliche Verkehrs- Public-Health-Institut CDC) sprechen eine Emp- mittel). Tätigkeiten, die mit vielen oder engeren fehlung für den Einsatz von MNB aus, um in Situ- Kontakten einhergehen, sind hier von besonderer ationen, in denen andere Maßnahmen der physi- Bedeutung. Da bei vielen Ansteckungen die Infek- schen Distanzierung nur schwierig eingehalten tionsquelle unbekannt ist, kann eine unbemerkte werden können, eine Übertragung des Virus auf Ausscheidung des Virus in diesen Fällen weder andere zu verhindern. Dies dient besonders dem durch eine Verhaltensänderung (wie eine Selbstqua- Schutz von Menschen mit einem erhöhten Risiko rantäne) noch durch eine frühzeitige Testung er- für einen schweren Krankheitsverlauf. kannt werden, da der Beginn der Infektiosität unbe- kannt ist. Aus diesem Grund kann das Tragen von Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Einsatz MNB im öffentlichen Raum vor allem dann im Sin- von MNB die zentralen Schutzmaßnahmen, wie die ne einer Reduktion der Übertragungen wirksam (Selbst-)Isolation Erkrankter, die Einhaltung der werden, wenn sich möglichst viele Personen daran physischen Distanz von mindestens 1,5 m, die Hus- beteiligen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass tenregeln und die Händehygiene zum Schutz vor es Personen gibt, die aufgrund von Vorerkrankun- Ansteckung, nicht ersetzen kann. Diese zentralen gen den höheren Atemwiderstand beim Tragen von Schutzmaßnahmen müssen also weiterhin strikt Masken nicht tolerieren können.
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 5 Um möglichst rasch eine nachhaltige Reduktion der erwünschte Auswirkungen sorgsam gegeneinander Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 in der abzuwägen. In dem System verschiedener Maßnah- Bevölkerung und sinkende Neuerkrankungszahlen men ist ein situationsbedingtes generelles Tragen zu erreichen, ist es notwendig, mehrere Komponen- von MNB (oder von MNS, wenn die Produktionska- ten einzusetzen, die sich gegenseitig ergänzen pazität dies erlaubt) in der Bevölkerung ein weiterer (s. 2. Strategie-Update9). Dabei sind immer die Wirk- Baustein, um Übertragungen zu reduzieren. samkeit der ergriffenen Maßnahmen und deren un- Literatur 1 Leung NHL, et al.: Respiratory virus shedding in 7 Li R, et al.: Substantial undocumented infection fa- exhaled breath and efficacy of face masks. Nature cilitates the rapid dissemination of novel coronavi- Medicine, 2020;1 – 20 rus (SARS-CoV2). Science, 2020;1 – 8 2 Suess T, et al.: Facemasks and intensified hand hy- 8 Böhmer MM, et al.: Outbreak of COVID-19 in Ger- giene in a German household trial during the many Resulting from a Single Travel-Associated Pri- 2009/2010 influenza A(H1N1) pandemic: adherence mary Case. The Lancet Infectious Diseases, and tolerability in children and adults. Epidemiol 2020;1 – 22. Preprint Infect, 2011;139(12):1895 – 901 9 Robert Koch-Institut: COVID-19: Jetzt handeln, vor- 3 van der Sande M, Teunis P, Sabel R: Professional ausschauend planen. Strategie-Ergänzung zu emp- and home-made face masks reduce exposure to re- fohlenen Infektionsschutzmaßnahmen und Zielen spiratory infections among the general population. (2. Update). Epid Bull 2020;12:3 – 6. PLoS One, 2008;3(7):e2618 DOI 10.25646/6540.2 4 Bae S, et al.: Effectiveness of Surgical and Cotton Masks in Blocking SARS-CoV-2: A Controlled Com- Vorgeschlagene Zitierweise parison in 4 Patients. Ann Intern Med, 2020;1 – 2 Robert Koch-Institut: Mund-Nasen-Bedeckung im öf- fentlichen Raum als weitere Komponente zur Redukti- 5 Jefferson T, et al.: Physical interventions to interrupt on der Übertragungen von COVID-19. Strategie-Ergän- or reduce the spread of respiratory viruses. Part 1 - zung zu empfohlenen Infektionsschutzmaßnahmen Face masks, eye protection and person distancing: und Zielen (3. Update). systematic review and meta-analysis. medRxiv, 2020:1 – 18 Epid Bull 2020;19:3 – 5 | DOI 10.25646/6731 (Dieser Artikel ist am 14.4.2020 online vorab erschienen.) 6 Ganyani T, et al.: Estimating the generation interval for COVID-19 based on symptom onset data. Interessenkonflikt medRxiv, 2020:1 – 13 Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 6 Wiedereröffnung von Bildungseinrichtungen – Überlegungen, Entscheidungsgrundlagen und Voraussetzungen Hintergrund und Studienlage Wie eingangs erwähnt zeigen gerade Kinder häufi- Die nachfolgenden Ausführungen legen den Fokus ger einen sehr milden Krankheitsverlauf oder ent- auf Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für das wickeln trotz Infektion keine Krankheitszeichen. In Kindes- und Jugendalter. drei Studien, 8–10 in denen COVID-19-positive Kinder untersucht wurden, lag der Anteil an asymptomati- Kinder als Multiplikatoren im COVID-19-Pan- schen Kindern bei jeweils 28 %, 16 % und 4 %. In demiegeschehen drei weiteren Studien 11–13 wurde der Anteil der Kinder Die Rolle von Kindern als Krankheitsüberträger in an allen asymptomatischen SARS-COV-2-positiven der COVID-19-Pandemie ist noch nicht gut unter- Patienten mit jeweils 18%, 25 % und 27 % angegeben. sucht. Kinder haben häufiger als Erwachsene einen milden oder asymptomatischen Verlauf und werden Aufgrund dieser relevanten Anteile asymptomati- daher oft nicht auf Grund von Symptomen, sondern scher bzw. nur mild symptomatischer Fälle unter Kin- im Rahmen einer Kontaktpersonen-Nachverfolgung dern können Infektionsketten durch das Isolieren von positiv getestet. Kinder sind somit verhältnismäßig Erkrankten weniger effektiv durchbrochen werden. selten in Studien zu COVID-19 vertreten, zumal sich die Studienpopulation häufig aus hospitalisier- Kindern fällt es zudem schwer, von sich aus einen ten Patienten zusammensetzt. Abstand von mindestens 1,5 Metern einzuhalten und sich regelmäßig und mit ausreichender Gründ- Es gibt aktuell nur wenige Daten zu der Fragestel- lichkeit die Hände zu waschen. Je jünger die Kinder lung, ob Kinder genauso empfänglich für COVID-19 sind, desto häufiger müssen sie von Erwachsenen sind wie Erwachsene. Die wenigen vorliegenden dazu angehalten und angeleitet werden. Daten sprechen für eine gleichgroße Empfänglich- keit: Eine Studie von Bi et al.1 zeigt, dass sich 7,4 % Zusammenfassend sprechen die folgenden Faktoren der Kinder unter 10 Jahren, die Kontakt mit einem dafür, dass Kinder – wie bei anderen respiratorisch COVID-19-Patienten hatten, infizierten. Diese Rate übertragbaren Erkrankungen – relevant zu einer entspricht in etwa der durchschnittlichen Rate aller Verbreitung von COVID-19 beitragen: Altersgruppen von 7,9 %. In einer Ausbruchsunter- suchung von Cao et al.2 zeigte sich eine proportio- ▶▶ Kinder haben häufig einen asymptomatischen nale Zunahme von Fällen sowohl bei den Kindern oder sehr milden Verlauf, und werden dement- als auch bei den Erwachsenen, was ebenfalls für sprechend oft nicht als SARS-CoV-2-Infizierte eine gleiche oder ähnliche Empfänglichkeit spricht. erkannt Es hat sich gezeigt, dass – unabhängig von der Alters ▶▶ Asymptomatische und präsymptomatische gruppe – asymptomatische oder präsymptomati- Übertragungen spielen im aktuellen Infektions- sche Übertragungen eine wichtige Rolle spielen. geschehen prozentual eine wichtige Rolle Der Anteil präsymptomatischer Transmissionen an allen Übertragungen wird in Untersuchungen und ▶▶ Asymptomatische und präsymptomatische Über- Modellierungen mit 6% 3, 12% 4, 44% 5 und 48–62% 6 tragungen können ohne Schutzmaßnahmen im beziffert. Die Viruslast im Rachen von symptomati- Alltag nur schwer verhindert werden schen Patienten war verglichen mit einem asympto- matischen Patienten etwa gleich hoch7, was eben- ▶▶ Vor allem jüngere Kinder können sich nicht in falls dafür spricht, dass asymptomatische und prä vollem Umfang an kontaktreduzierende und symptomatische Personen zum Infektionsgesche- Hygienemaßnahmen halten hen beitragen.
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 7 Es besteht damit die Gefahr, dass sich SARS-CoV-2 Reproduktionszahl #*R t > 1 abzielte. In einem weite- effektiv unter Kindern und Jugendlichen in Betreu- ren Modellierungs-Szenario, welches die Verhinde- ungs- und Bildungseinrichtungen ausbreitet. Auf rung einer Überlastung des Gesundheitssystems Grund der verschiedenen und engen außerschuli- zum Ziel hatte mit einem R t < 1, werden in der glei- schen Kontakte ist zudem von einem Multiplikator chen Publikation Schulschließungen sehr wohl als effekt mit Ausbreitung in den Familien und nachfol- Teil einer erfolgreichen Strategie bewertet. gend in der Bevölkerung auszugehen. Diese These wird auch von einer Studie von Cao et al.2 unter- Sichere Rückschlüsse von (möglichen) Effekten von stützt, die sich explizit mit der Transmissionsdyna- Schulschließungen19 während Influenzapandemien mik von SARS-Cov-2, auch im Hinblick auf Kinder, auf die aktuelle Situation zu ziehen ist nur sehr ein- beschäftigt. geschränkt möglich, da Kinder bei Influenza wichti- ge Vektoren im Transmissionsgeschehen darstellen, Die Rolle der Schulen und Kindergärten während die Rolle der Kinder im aktuellen Pande- Es gibt international keine publizierten Erfahrungen miegeschehen noch nicht abschließend geklärt ist. für COVID-19 zur Effektivität von Schul- bzw. Kin- Zudem ist die Basisreproduktionszahl bei Influenza dergartenschließungen. Dies liegt vor allem auch niedriger. daran, dass in China die Schulen beim Start der Pandemie aufgrund von Ferien geschlossen wurden Da es bislang keine gesicherten Erkenntnisse zur und erst in den letzten Wochen eine langsame, schritt Rolle von Schulen und Kindergärten im aktuellen weise und an die regionale Situation angepasste Öff- Infektionsgeschehen gibt, ist es daher wichtig, eine nung erfolgt. Auch aus anderen Ländern fehlen Er- Wiedereröffnung mit epidemiologischen Studien fahrungen, da Schulschließungen – wie in Deutsch- zu begleiten, insbesondere auch um den Beitrag der land – zu den ersten bevölkerungsbasierten Maß- Übertragung durch asymptomatische SARS-CoV-2- nahmen zur Eindämmung der Pandemie gehörten. Träger in diesen Settings beurteilen zu können. Die Ergebnisse der begleitenden Studien können ge- Damit fehlt es an Erfahrung, welche Rolle Betreu- nutzt werden, um die Effektivität der Maßnahmen ungs- und Bildungseinrichtungen als mögliche besser einzuschätzen und ein Vorgehen auszuwäh- „Hotspots“ für Übertragungen im aktuellen Pande- len sowie eine Handlungsbasis für das weitere Vor- miegeschehen spielen. In Modellierungen werden gehen im Verlauf der Pandemie in Bezug auf das Schulschließungen in Kombination mit anderen schrittweise Öffnen (und ggf. auch erneute Schlie- Maßnahmen als ein wirksamer Ansatz beschrie- ßen) von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen ben 14–17. Dabei sollten die Maßnahmen regional an- zu schaffen. gepasst werden. Neben der Isolierung von Erkrank- ten wird der Einsatz einer Tracking-App zum Auf- Es lässt sich also festhalten: finden von Kontaktpersonen empfohlen, um deren Absonderung zeitnah einleiten zu können17 . ▶▶ Es gibt in Bezug auf COVID-19 international keine publizierten Erfahrungsberichte zur Effek- In einem Rapid Review 18 zum Thema Schulschlie- tivität von Schul- bzw. Kindergartenschließungen. ßung und Coronaviren beziehen sich die Autoren im Abstract v. a. auf die Studie von Ferguson17 und ▶▶ Es besteht auf Basis bisher publizierter Studien ziehen die Schlussfolgerung, Schulschließungen jedoch kein Grund zu der Annahme, dass sich wären nicht sinnvoll, da die Studie gezeigt hätte, COVID-19 nicht effektiv unter Schüler*innen dass sie lediglich zu einer Senkung der Todesfälle und – durch einen Multiplikatoreffekt – darüber um 2–4 % führten. Diese Modellierung bezog sich hinaus verbreiten kann. jedoch auf ein Szenario, welches auf das Erlangen einer „Herdenimmunität“ mit einer effektiven # Bei der Berechnung der effektiven Reproduktionszahl Rt wird, im Gegensatz zur Berechnung der Basisreprodukti- onszahl R0 , eine eventuelle Immunität der Bevölkerung und der Effekt von Gegenmaßnahmen miteinbezogen
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 8 ▶▶ Eine Wiedereröffnung sollte durch Studien mit sichtlich der Reduktion der Personendichte/Ent- regelmäßiger, systematischer Testung begleitet zerrung sollten auch hinsichtlich des Transports werden, um eine Handlungsbasis für zukünftig (Schulbusse, ÖPNV) angestellt werden. zu treffende Entscheidungen zu schaffen. ▶▶ Zuordnung zu konstanten Gruppen und Gruppen- räumen, damit im Erkrankungsfall eine mögliche Voraussetzungen für die Wieder Übertragung begrenzt wird, die für eine Kon- eröffnung von Betreuungs- und taktpersonen-Nachverfolgung notwendigen Bildungseinrichtungen Informationen rasch erhoben werden können Aspekte des Infektionsschutzes und eine gezielte Quarantäne von Gruppen er- Um eine weitere Verbreitung von SARS-CoV-2 zu folgen kann. Auch die Pausen sollten so organi- verhindern, müssen alle Maßnahmen eingehalten siert sein, das die Gruppen sich nicht durchmi- werden, die in der aktuellen Situation generell und schen und der Mindestabstand gewahrt wird. im öffentlichen Raum empfohlen werden. ▶▶ Mund-Nasen-Schutz: das Tragen einer MNB Ganz entscheidend ist es, die Voraussetzungen dafür (Mund-Nasen-Bedeckung, „community mask“, zu schaffen, Neuinfektionen schnell zu erkennen, Alltagsmaske) oder eines MNS (Mund-Nasen- die Erkrankten zu isolieren und die Kontaktperso- Schutz, sofern verfügbar) kann dazu beitragen, nen-Nachverfolgung rasch, effizient und vollständig Übertragungen innerhalb der Einrichtungen, durchzuführen. Ziel ist es, das Infektionsrisiko in insbesondere durch prä- und asymptomatisch Bildungseinrichtungen auf dem Niveau anderer All- Infizierte, zu reduzieren und somit auch Risiko- tagsaktivitäten zu halten, so dass bei Einhaltung der gruppen vor Übertragungen zu schützen (Fremd infektionshygienischen Maßnahmen auch Personen schutz). Dies gilt vor allem in Situationen, in partizipieren können, die ein erhöhtes Risiko für denen das Abstandsgebot nicht oder nur schwer einen schweren Krankheitsverlauf haben. eingehalten werden kann.20 Übersetzt auf das Setting von Bildungseinrichtun- ▶▶ Identifikation und Umgang mit erkrankten gen sind folgende Maßnahmen besonders wichtig: Personen: Symptomatische Personen dürfen (auch bei milden Symptomen) die Einrichtung ▶▶ Hygienemaßnahmen: konsequente Hände nicht betreten. Bei Auftreten von Symptomen in hygiene, Einhaltung der Husten- und Niesregeln, der Unterrichts-/Betreuungszeit sind eine umge- keine gemeinsame Nutzung von Trinkflaschen hende Isolierung und die Eltern auf die Notwen- u. ä., regelmäßige Raumlüftung und gründliche digkeit einer umgehenden ärztlichen Abklärung Raumreinigung gemäß den gültigen Hygiene hinzuweisen. Quarantänemaßnahmen für die standards (s. auch Informationsmaterialien der Kontaktpersonen sind umgehend und konsequent Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung umzusetzen. Quarantäne und Isolierung (inkl. (BZgA) unter www.infektionsschutz.de). Aufhebungszeitpunkt/Wiederzulassung) haben gemäß aktuellen Empfehlungen und in enger ▶▶ Abstand: es gilt die generell gültige Maßgabe, Abstimmung mit den zuständigen Gesundheits einen Abstand von mindestens 1,5 Metern einzu- behörden zu erfolgen (s. Kontaktpersonen-Nach halten, sowohl innerhalb als auch außerhalb der verfolgung bei respiratorischen Erkrankungen Unterrichtsräume. An das Abstandsgebot ist durch das Coronavirus SARS-CoV-2, COVID-19: auch die maximale Anzahl der Personen im Kriterien zur Entlassung aus dem Krankenhaus Raum gekoppelt, sie hängt daher von den Vor- bzw. aus der häuslichen Isolierung). aussetzungen in den vorhandenen Räumlich keiten ab. Eine räumliche Entzerrung wäre bei- ▶▶ Monitoring und Dokumentation: Es sollte ein spielsweise durch Halbierung der Klassen und Monitoring und eine sorgfältige tägliche nament- Unterrichtung der halben Klassen jeweils an liche Dokumentation der krankheitsbedingten jedem zweiten Tag möglich. Überlegungen hin- An- bzw. Abwesenheiten erfolgen, darüber hin-
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 9 aus ist sicherzustellen, dass aktuelle und voll- lich der Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen ständige Kontaktdaten des Elternhauses bzw. der während des Schulbetriebs, sollte initial jedoch der Sorgeberechtigten für eine Kontaktaufnahme Schwerpunkt auf der Zulassung älterer Jahrgänge durch die Einrichtung oder durch die Gesund- liegen, da sich diese am ehesten an Abstands- und heitsbehörden vorliegen. Hygieneregeln halten können. ▶▶ Schutz von Personen, die ein Risiko für einen Es ist zu erwarten, dass es durch die bevorstehende schweren Krankheitsverlauf haben: Eine gene- Wiedereröffnung und andere Deeskalationsmaß- relle Festlegung ist an dieser Stelle nicht mög- nahmen mit den damit verbundenen zunehmenden lich, da der Schweregrad einer Erkrankung und Kontakten aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Zu- die Begleitumstände mitbeachtet werden müssen. nahme von COVID-19-Infektionen kommen wird. Für Personen, die nach ärztlicher Einschätzung (z. B. aufgrund von schweren immunsuppressi- Um einen unkontrollierten Wiederanstieg der Neu ven Erkrankungen) nicht am Schulbetrieb teil- infektionen zu verhindern, erfordert die Wiederer- nehmen können, sollten unter Vermeidung von öffnung von Betreuungs- und Bildungseinrichtun- Stigmatisierung und Benachteiligung individuel- gen daher eine vorausschauende Planung. Zu den le Lösungen gefunden werden o. g. Punkten sind Konzepte und Lösungen zu erstel len, zu verschriftlichen, abzustimmen und ange- ▶▶ Klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten messen mit den zuständigen Behörden, im Kollegi- und eine gute Kommunikation sind erforderlich, um und mit den Eltern zu kommunizieren. All dies um alle notwendigen Maßnahmen ohne Zeitver- erfordert einen ausreichenden zeitlichen Vorlauf. lust umsetzen zu können. (z. B. Benennung eines Ein Rahmenkonzept als Orientierungshilfe kann Hygienebeauftragten für die Aktualisierung und hier Impulse geben (siehe z. B. Interim Guidance Umsetzung des Hygieneplans). Auch die Einrich- for Administrators of US K-12 Schools and Child tung einer Corona-„Kommission“ kann, insbe- Care Programs). sondere in größeren Einrichtungen, hilfreich sein. Ein schrittweises und jahrgangsabgestuftes Vorge- ▶▶ Unterrichtung zu Infektionsschutzmaßnahmen, hen kann auch dazu beitragen, den Bildungsein- inklusive der Unterweisung zum Zweck und der richtungen ausreichend Zeit für die Umsetzung korrekten Handhabung von MNS bzw. MNB und ggf. Anpassung ihrer Konzepte zu geben. Diese (hierfür können z. B. die Materialien der BZgA Zeit kann zudem genutzt werden, die Zusammen- genutzt werden www.infektionsschutz.de). arbeit mit den Gesundheitsämtern zu etablieren bzw. zu intensivieren. Auch die Planung und Vor bereitung der epidemiologischen Studien zur Ab- Stufenweises Vorgehen unter Berück schätzung der Effekte auf das Infektionsgeschehen sichtigung der epidemiologischen Situation benötigen eine Vorlaufzeit. Aktuell hat sich bundesweit die effektive Reproduk- tionsrate (Rt) auf einen Wert um 1 stabilisiert und die Es stellt sich die Frage, welche epidemiologischen Zahl der schweren Erkrankungen hat bislang zu kei- Parameter im Sinne von „Triggern“19 für die Steue- ner Überlastung des Gesundheitssystems geführt. rung des weiteren Vorgehens hinsichtlich Schul- Eine schrittweise und altersadaptierte Wieder schließungen bzw. -öffnungen geeignet sind und eröffnung von Betreuungs- und Bildungseinrichtun auf welcher Ebene diese betrachtet, bewertet und gen sind daher aus fachlicher Sicht vertretbar, da die angewendet werden sollten. Zielstellung der proaktiven Schließung, einen Bei- trag zu der Eindämmung und Verlangsamung der Bezogen auf Schulschließungsszenarien in Zeiten Ausbreitung zu leisten, erreicht wurde. Aufgrund von Influenzapandemien beschreiben Cauchemez der ungeklärten Rolle von Übertragungen zwischen et al. zwei Optionen: ein synchronisiertes nationales Kindern und Jugendlichen im Gesamtgeschehen (bzw. regionales) und ein lokales reaktives Vorgehen. und den besonderen Herausforderungen hinsicht- Ersteres hat den Vorteil, dass es einfacher und kon-
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 10 sistent ist und sich an nationalen Surveillancedaten gung der Auslastung der Gesundheitssysteme, die orientiert, letzteres erlaubt eine flexiblere Steuerung, wesentliche Entscheidungsbasis liefern, ob mit einer setzt jedoch eine verlässliche regionale bzw. lokale stufenweisen Öffnung fortgefahren werden kann Surveillance des Infektionsgeschehens – und im oder diese unter Umständen auch wieder zurück ge- Fall von COVID-19 ein flächendeckendes und nie- nommen werden muss. derschwelliges Testen voraus. Die beschriebenen Ansätze lassen sich auch auf Entscheidungen hin- Um die Kurve weiterhin flach zu halten, ist eine ef- sichtlich einer Steuerung (d.h. Schulschließung und fektive Reproduktionszahl von unter 1 anzustreben. Wiedereröffnung) anwenden. Eine Erhebung unter Es stellt sich jedoch darüber hinaus die Frage, wel- 12 Ländern zum Vorgehen während der pandemi- che Anzahl an Neuinfektionen lokal „tolerabel“ im schen Influenza 2009 ergab, dass in allen Ländern Sinne von handhabbar ist. Dies kann unter bestimm- die Empfehlungen zu Schulschließungen auf natio ten Voraussetzungen bedeuten, dass Rt deutlich un- naler (gelegentlich subnationaler) Ebene gemacht ter 1 liegen muss, um die Anzahl der täglichen wurden, die konkreten Entscheidungen über den Neuinfektionen weiter zu reduzieren, andernorts Zeitpunkt und die Dauer der Schulschließungen sind aber möglicherweise auch Werte über 1 gut aber immer auf der lokalen oder regionalen Ebene kontrollierbar und lösen noch keinen Handlungsbe- getroffen wurden.21 darf aus. Bei der schrittweisen Wiedereröffnung wäre auch die Kopplung an eine lokal zu definieren- Die folgenden Punkte sprechen für die Planung und de Anzahl der wöchentlichen Neuinfektionen pro nachfolgende Steuerung einer Wiedereröffnung von 100.000 Einwohner (z. B. auf Landkreisebene) Betreuungs- und Bildungseinrichtungen basierend denkbar. auf der lokalen epidemiologischen Situation und Entwicklung: Kommt es trotz begleitender Maßnahmen zu Aus- brüchen oder einer relevanten Zunahme von Infek- ▶▶ In Deutschland bestehen bezüglich des COVID-19- tionen, die im Zusammenhang mit Übertragungen Infektionsgeschehens und der Krankheitslast innerhalb von Schulen stehen, sollte, in enger Ab- aktuell erhebliche geografische Unterschiede. stimmung mit den zuständigen örtlichen Gesund- heitsbehörden, eine zeitweise (ggf. partielle) Schlie- ▶▶ Ausstattung, Auslastung und Reaktionsfähigkeit ßung der Betreuungs- und Bildungseinrichtungen der Gesundheitsbehörden und Gesundheitssys- erfolgen. Dies bis die Situation analysiert und be- teme variieren. Sie sind entscheidend für die wertet ist bzw. bis die epidemiologische Lage unter Kontrolle und Bewältigung des Infektionsgesche den o. g. Voraussetzungen und unter Berücksich hens. Hierbei sind eine konsequente Kontaktper- tigung der genannten Kriterien eine (ggf. erneut sonen-Nachverfolgung, die Kommunikation mit schrittweise) Wiedereröffnung erlaubt. positiv Getesteten, die Anordnung von Quarantänemaßnahmen und die medizinische Neben den Erkenntnissen durch die Begleitfor- Versorgung schwer Erkrankter von zentraler schung werden auch die zunehmenden Erfahrun- Bedeutung. gen anderer Länder helfen einzuschätzen, welche Rolle Kinder und Jugendliche bzw. das Setting der ▶▶ Auch die Unterschiede der Betreuungs- und Betreuungs- und Bildungseinrichtungen in der In- Bildungseinrichtungen spielen eine Rolle, so fektionsdynamik der COVID-19-Pandemie spielen. z. B. die räumlichen Rahmenbedingungen, An- Mit der Zeit ist auch ein besseres Verständnis der zahl und Profil der Schülerschaft und des Perso- immunologischen Vorgänge im Kindesalter zu er- nals, außerschulische Beschulungsmöglich warten. Die gewonnenen Erkenntnisse werden keiten und zusätzliche Betreuungsbedarfe. dazu beitragen, die „Trigger“ genauer zu definieren und durch genauere Modellierungen zuverlässigere Idealerweise sollte das konsequente und zeitnahe Prognosen erlauben. Es ist auch zu erwarten, dass Monitoring sowie die Evaluation der lokalen epide- zunehmend Erfahrungen gesammelt werden, wie miologischen Situation, auch unter Berücksichti- digitale Instrumente, wie z. B. Tracking-Apps, am
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 11 besten eingesetzt werden können, um das Infek sofern erforderlich, gezielte Anpassungen der Maß- tionsgeschehen mit einer ausreichenden Auflösung nahmen (i. S. weiterer Lockerungen oder ggf. auch lokal besser nachzuverfolgen. All diese Informatio- Verschärfungen) vorzunehmen. nen werden Entscheidungsträger unterstützen um, Literatur 1 Bi Q, Wu Y, Mei S, Ye C, Zou X, Zhang Z, et al.: 10 Dong Y, Mo X, Hu Y, Qi X, Jiang F, Jiang Z, et al. Epidemiology and Transmission of COVID-19 in Epidemiological Characteristics of 2143 Pediatric Shenzhen China: Analysis of 391 cases and 1,286 Patients With 2019 Coronavirus Disease in China. of their close contacts. Pediatrics. 2020 medRxiv. 2020:2020.03.03.20028423 11 Ji T, Chen HL, Xu J, Wu LN, Li JJ, Chen K, et al.: 2 Cao Q, Chen YC, Chen CL, Chiu CH: SARS-CoV-2 Lockdown contained the spread of 2019 novel infection in children: Transmission dynamics and coronavirus disease in Huangshi city, China: Early clinical characteristics. J Formos Med Assoc. epidemiological findings. Clin Infect Dis. Accepted 2020;119(3):670-3 Manuscript 07.04.2020 3 Wei WE: Presymptomatic Transmission of SARS- 12 Hu Z, Song C, Xu C, Jin G, Chen Y, Xu X, et al.: CoV-2 – Singapore, January 23–March 16, 2020. Clinical characteristics of 24 asymptomatic 2020 infections with COVID-19 screened among close contacts in Nanjing, China. China. Sci China Life 4 Du Z, Xu X, Wu Y, Wang L, Cowling BJ, Meyers LA: Sci 63, https://doi.org/10.1007/s11427-020-1661-4 The serial interval of COVID-19 from publicly Published online 04.03.2020 reported confirmed cases. medRxiv. 2020:2020.02.19.20025452 13 Wang Y, Liu Y, Liu L, Wang X, Luo N, Li L: Clinical Outcomes in 55 Patients With Severe Acute 5 He X, Lau EH, Wu P, Deng X, Wang J, Hao X, et al.: Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Who Were Temporal dynamics in viral shedding and Asymptomatic at Hospital Admission in Shenz- transmissibility of COVID-19. hen, China. The Journal of Infectious Diseases. medRxiv. 2020:2020.03.15.20036707 published online 17.03.2020 6 Ganyani T, Kremer C, Chen D, Torneri A, Faes C, 14 Kim S, Kim YJ, Peck KR, Jung E: School Opening Wallinga J, et al.: Estimating the generation interval Delay Effect on Transmission Dynamics of for COVID-19 based on symptom onset data. Coronavirus Disease 2019 in Korea: Based on medRxiv. 2020:2020.03.05.20031815 Mathematical Modeling and Simulation Study. 7 Zou L, Ruan F, Huang M, Liang L, Huang H, Hong Journal of Korean medical science. Z, et al.: SARS-CoV-2 Viral Load in Upper Respirato- 2020;35(13):e143-e ry Specimens of Infected Patients. New England 15 Prem K, Liu Y, Russell TW, Kucharski AJ, Eggo RM, Journal of Medicine. 2020;382(12):1177-9 Davies N, et al.: The effect of control strategies to 8 Qiu H, Wu J, Hong L, Luo Y, Song Q, Chen D: reduce social mixing on outcomes of the CO- Clinical and epidemiological features of 36 VID-19 epidemic in Wuhan, China: a modelling children with coronavirus disease 2019 (CO- study. L ancet Public Health. Online first VID-19) in Zhejiang, China: an observational 25.03.2020 cohort study. The Lancet Infectious Diseases. 16 Koo JR, Cook AR, Park M, Sun Y, Sun H, Lim JT, et Online first 25.03.2020 al.: Interventions to mitigate early spread of 9 Lu X, Zhang L, Du H, Zhang J, Li YY, Qu J, et al.: SARS-CoV-2 in Singapore: a modelling study. The SARS-CoV-2 Infection in Children. N Engl J Med. Lancet Infectious Diseases.online first 23.3.2020 Correspondence 18.03.2020
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 12 17 Imperial College COVID-19 Response Team, Fergu- empfohlenen Infektionsschutzmaßnahmen und son, N: Impact of non-pharmaceutical interven- Zielen (3. Update). Epid. Bull. 2020;19: 3–5 tions (NPIs) to reduce COVID-19 mortality and 21 Cauchemez et al.: School closures during the 2009 healthcare demand. 2020 influenza pandemic: national and local experien- 18 Viner RM, Russell SJ, Croker H, Packer J, Ward J, ces. BMC Infectious Diseases 2014; 14:207 Stansfield C, et al.: School closure and manage- ment practices during coronavirus outbreaks inclu- ding COVID-19: a rapid systematic review. The Lancet Child & Adolescent Health.Published Autor online 6.4.2020 Robert Koch-Institut 19 Cauchemez S, Ferguson NM, Wachtel C, Tegnell A, Saour G, Duncan B, et al.: Closure of schools Vorgeschlagene Zitierweise Robert Koch-Institut: Wiedereröffnung von during an influenza pandemic. Lancet Infect Dis. Bildungseinrichtungen – Überlegungen, 2009;9(8):473-81 Entscheidungsgrundlagen und Voraussetzungen. 20 Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum als Epid Bull 2020;19:6 – 12 | DOI 10.25646/6826 weitere Komponente zur Reduktion der Übertra- gungen von COVID-19. Strategie-Ergänzung zu (Dieser Artikel ist am 23.4.2020 online vorab erschienen.)
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 13 Händedesinfektion unter den Bedingungen der SARS-CoV-2-Pandemie Der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fentlicht. Ziel der WHO war eine Richtschnur für 2009 initiierte „Internationale Tag der Händehygi- die lokale Herstellung von Händedesinfektionsmit- ene“ soll alljährlich die Aufmerksamkeit auf die teln in Entwicklungsländern, die keinen Zugang zu Händehygiene in medizinischen und pflegerischen kommerziellen Produkten haben bzw. für die diese Einrichtungen lenken. In der WHO-Kampagne wird zu teuer sind, zu geben.6 Dem gingen die Entwick- besonders die Händedesinfektion mit alkoholischen lung der Rezepturen und die Prüfung für die hygi- Einreibeprodukten als die wirksamste Einzelmaß- enische (DIN EN 1500) und die chirurgische Hän- nahme zur Unterbrechung von Infektionsketten dedesinfektion (DIN EN 12791) nach den damals wie hervorgehoben.1, 2 heute gültigen Europäischen Prüfnormen unter praxisnahen Bedingungen in unabhängigen Prüf Die aktuelle SARS-CoV-2-Pandemie führt uns zum laboren voran. einen den Stellenwert der Händedesinfektion zum Schutz der Patienten und Beschäftigten vor Augen. Mit beiden Formulierungen konnte die erforderli- Zum anderen zeigt sie, wie wichtig die stete Verfüg che Wirksamkeit für die hygienische Händedesin- barkeit von Händedesinfektionsmitteln ist, deren fektion (DIN EN 1500) mit 3 ml in 30 s nicht erreicht Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit nach- werden. Eine ausreichende Wirksamkeit wurde erst gewiesen und die unter praktischen Bedingungen durch eine zweifache Anwendung für insgesamt tauglich sind. 60 s, d. h. 2 × 3 ml für 2 × 30 s erreicht.7 Außerdem konnte mit beiden Formulierungen, auch nach den Um dem aktuellen Mangel an Händedesinfektions- in Deutschland eher unüblichen 5 min Anwen- mitteln entgegenzuwirken, dürfen in Apotheken dungszeit, keine ausreichende Wirksamkeit für die aber aber auch in pharmazeutischen und chemi- chirurgische Händedesinfektion (EN 12791) erreicht schen Unternehmen sowie durch juristische Perso- werden.8 nen des öffentlichen Rechts zeitlich befristet Hände desinfektionsmittel hergestellt werden. Basis der Diese Limitationen der WHO-Rezepturen sind in Herstellungserlaubnis ist eine Ausnahmezulassung Europa wenig bekannt, da wir daran gewöhnt sind, in Form einer Allgemeinverfügung (AV) der Bun- konfektionierte Händedesinfektionsmittel zu verwen desanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin den, die den europäischen Standards entsprechen, (BAuA).3 Die Allgemeinverfügung basiert auf veröf- d. h. typischerweise eine hygienische Händedesinfek fentlichten Rezepturen, z. B. der WHO und den tion in 30 s bzw. eine chirurgische Händedesinfek- Standardzulassungen des Bundesinstituts für Arz tion in 90 s ermöglichen. neimittel und Medizinprodukte (BfArM).4, 5 In der Praxis ergeben sich jedoch regelmäßig Nachfragen zu den Eigenschaften dieser Desinfektionsmittel, Bestandteile eines alkoholischen Hände- dem Einsatz und den Vor- und Nachteilen einzelner desinfektionsmittels Rezepturen. Im Folgenden wollen wir daher die Alkoholische Händedesinfektionsmittel bestehen WHO-empfohlenen Rezepturen beispielhaft dar- im Wesentlichen aus dem Wirkstoff, in der Regel stellen und auf Vorteile/Nachteile und Gemeinsam- 1-Propanol, Isopropanol (2-Propanol) und/oder keiten/Unterschiede zwischen typischen Rezeptu- Ethanol und Wasser.9 Daneben enthalten die meis- ren der AV hinweisen. ten Rezepturen weitere Bestandteile, die die Eigen- schaften des Mittels beeinflussen. Dazu gehören u. a. Die WHO hat 2009, parallel zum „Internationalen sogenannte Vergällungsmittel, „Rückfetter“, Feucht- Tag der Händehygiene“, zwei Rezepturen (WHO I haltemittel, Farb- und Parfümstoffe sowie Gelie- und WHO II) für Händedesinfektionsmittel veröf- rungsmittel. Die Standardzulassungen verzichten
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 14 auf Zusatzstoffe (außer Vergällungsmitteln) und ▶▶ „Begrenzt viruzid“ wirksam gegen behüllte Viren sind damit reine Wirkstoff-Wasser-Gemische.4, 5 (wie z. B. SARS-CoV-2) nach DIN EN 14476 oder DVV/RKI-Leitlinie (Suspensionstest)17, 18 (DVV = Die WHO-Rezepturen enthalten Glyzerol (Glyze- Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der rin), das als Feuchthaltemittel die Hautfreundlich- Viruskrankheiten) keit verbessern soll sowie Wasserstoffperoxid (H2O2), um die sonst üblicherweise durch Sterilfiltration er- ▶▶ „Begrenzt viruzid PLUS“ wirksam gegen behüllte reichte Bakteriensporenfreiheit zu gewährleisten. Viren sowie die endemischen Ausbruchsviren Adeno-, Noro- und Rotaviren nach DIN EN 14476 (Suspensionstest)17 Voraussetzungen zur Deklaration der Wirksamkeit ▶▶ „Viruzid“ wirksam gegen behüllte Viren sowie Grundvoraussetzung für Händedesinfektionsmittel die meisten unbehüllten Viren wie z. B. Entero für den medizinischen Bereich ist nach deutschen viren nach DIN EN 14476 (Suspensionstest) oder und europäischen Kriterien die Wirksamkeit gegen DVV/RKI-Leitlinie (Suspensionstest)17, 18 Bakterien (die auch Antibiotika-resistente Erreger einschließt) und Hefen. Darüber hinaus kann für Daraus ergibt sich, dass Händedesinfektionsmittel die Mittel zusätzlich eine Wirkung gegen Viren aus- nicht nur gegen behüllte Viren wie SARS-CoV-2 gelobt werden.10, 11 oder auch die klassischerweise im Gesundheits wesen aus Personalschutzgründen relevanten Viren Das bedeutet, dass die bakterizide Wirksamkeit zu- wie HIV, Hepatitis-B-Viren (HBV) und Hepatitis-C- nächst in Suspensionsversuchen und dann in pra- Viren (HCV) wirken, sondern auch den Mindest- xisnahen Tests mit Probanden nach DIN EN 1500 standard der bakteriziden und levuroziden Wirk- für die hygienische Händedesinfektion bzw. nach samkeit erfüllen. DIN EN 12791 für die chirurgische Händedesin fektion oder nach VAH-(Verbund für Angewandte Im medizinischen Bereich spielt die benötigte Hygiene-)Methoden bestätigt werden muss.12–14 Einwirkzeit (EWZ) des Desinfektionsmittels eine entscheidende Rolle für die Praktikabilität. Deshalb Ohne eine erfolgreiche praxisnahe Prüfung gegen- sollen Produkte für die hygienische Händedesinfek- über Bakterien dürfen Händedesinfektionsmittel tion innerhalb von 30 s wirksam sein; (30 s EWZ nicht als solche deklariert werden, d. h. nur wenn bedeutet, dass die Hände über die EWZ von 30 s die Wirksamkeit im praxisnahen Test gegeben ist, feucht zu halten sind und das Produkt auf der ge- hat es Sinn weitere Wirkbereiche (z. B. gegen Viren) samten Oberfläche der Hände zu verteilen ist, um zu untersuchen. Viruzidieprüfungen erfolgen vor- die gewünschte Wirksamkeit zu erreichen. Dazu sind läufig nur als Suspensionstest und nicht als praxis- mindestens 3 ml nötig.). naher Test, da es hierfür kein geeignetes behülltes Prüfvirus gibt, das man unbedenklich auf den Hän- den von Probanden einsetzten kann. Voraussetzungen und Anforderungen zur Qualität und Unbedenklichkeit Diese Kriterien sind für Arzneimittel und Biozid Händedesinfektionsmittel können in Deutschland produkte gleich und leiten sich aus den folgenden gegenwärtig als Arzneimittel oder als Biozidprodukt Normen bzw. Leitlinien ab: vertrieben werden. Die Zulassung als Arzneimittel durch das BfArM umfasst die Prüfung der Wirk- ▶▶ Bakterizidie: DIN EN 13727 (Suspensionstest) samkeit, der Unbedenklichkeit und der Qualität. und DIN EN 1500 bzw. DIN EN 12791 (praxis Das bedeutet, dass für Händedesinfektionsmittel naher Test)13–15 nur Wirkstoffe in pharmazeutischer Qualität zum Einsatz kommen dürfen. Diese Anforderung gilt ▶▶ Levurozidie: wirksam gegen Hefen DIN EN auch für die WHO-Formulierungen.6 Aktuell sind 13624 (Suspensionstest)16 noch keine Händedesinfektionsmittel als Biozid
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 15 produkt zugelassen. Alle aktuell am Markt befind seProdukte können aufgrund der Anmeldung nach lichen Biozidprodukte, die als Händedesinfektions- Meldeverordnung der BAuA vertrieben werden, mittel deklariert sind, sind zurzeit noch ohne Zulas- wurden aber bisher keinerlei Prüfungen im Sinne sung sondern aufgrund von Übergangsregelungen einer Zulassung (u. a. Verträglichkeit, Wirksamkeit) verkehrsfähig.19 unterzogen. Das heißt, dass entsprechende Prüfungen dieser Biozide auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenk- Alternativen und Modifikationen der lichkeit noch ausstehen. In der AV der BAuA wur- WHO-Formulierungen den Qualitätsanforderungen für die danach herge- Nachdem sich bereits in der Entwicklungsphase stellten Produkte festgeschrieben. Danach muss der gezeigt hatte, dass die WHO-empfohlenen Formu- Hersteller sicherstellen, dass keine gefährlichen lierungen weder die erforderliche Wirksamkeit für Stoffe in seinem Desinfektionsmittel enthalten die hygienische Händedesinfektion, noch für die chi- sind, z. B. CMR-Stoffe (CMR = kanzerogen, muta- rurgische Händedesinfektion in den gewünschten gen, reproduktionstoxisch) oberhalb von 0,1 % oder Zeiten erreichen konnten, wurden Modifizierungen sensibilisierende Stoffe (allergieauslösende Stoffe).3 erprobt. In den Publikationen von Suchomel von Zum Beispiel würden bei ca. 80 Anwendungen pro 2011, 2012 und 2013 wurden Modifikationen der Schicht, d. h. 80 × 3 ml = 240 ml Händedesinfekti- WHO-Rezepturen für die hygienische und die chir- onsmittel maximal 240 µl CMR-Stoffe auf die Haut urgische Händedesinfektion untersucht.7, 8, 25 Dabei gelangen dürfen. Bei der hohen Frequenz der An- wurde zunächst der Wirkstoffgehalt erhöht und in wendung von Händedesinfektionsmitteln im medi- einem zweiten Schritt der Glyzerolgehalt reduziert. zinischen Bereich ist zudem eine gute Verträglich- keit die wesentliche Voraussetzung für eine hohe Der wesentliche Unterschied zwischen den origina- Compliance.2, 9, 20 Für Arzneimittel sollte die Verträg- len und den modifizierten WHO-Formulierungen lichkeit gewährleistet sein, auch wenn aufgrund des besteht im Gehalt an dem jeweiligen Wirkstoff durch die Pandemie bedingten erhöhten Bedarfs (Alkohol). In beiden Fällen ist der Gehalt in der vorübergehend über eine AV des BfArM befristet bis modifizierten Formulierung deutlich erhöht (5,5, zum 30.06.2020 Ausnahmen von den in der Zulas- bzw. 6,1 %), indem der Alkohol in Massenprozent sungsbescheinigung festgelegten Anforderungen und nicht in Volumenprozent angegeben wird. Der möglich sind.21 Ausgesetzt sind danach z. B. die Anteil von Glyzerol wurde ebenfalls variiert, die ge- strengen Vorgaben für die Verpackung und die ringere Konzentration (0,725 % statt 1,45 %) hat aber Sporenfreiheit. nur bei der chirurgischen Händedesinfektion (ins- besondere beim 3-Stundenwert) Einfluss auf die Bei nach AV-BAuA hergestellten Produkten ist die Wirksamkeit.25 Der Gehalt an H2O2 ist in den modi- Überwachung der Qualität durch die Behörden er- fizierten gegenüber den originalen WHO-Formulie- schwert, da sie nur bei der Giftzentrale des Bundes rungen unverändert. instituts für Risikobewertung (BfR) gemeldet wer- den müssen und nicht bei den jeweiligen Landes Die in diesen Publikationen beschriebenen Formu behörden. Der Anwender solcher Produkte sollte lierungen wurden späteren Veröffentlichungen zu- sich deshalb die von der BAuA in der AV vorgeschrie grunde gelegt, da die mangelhafte Wirksamkeit der benen Analysezertifikate für Ethanol bzw. 2-Propanol Originalrezepturen den auf diesem Gebiet forschen- vorlegen lassen. den Wissenschaftlern bekannt war. In den virolo gischen Tests wurde deshalb ebenfalls die Modifika- Infolge des Mangels an pharmazeutisch hergestell- tion mit dem erhöhten Wirkstoff- und verringertem ten Produkten gelangen aber auch Mittel auf den Glyzerolgehalt verwendet, die auch bei der Herstel- Markt, für deren Wirkstoffe keine Erfahrungen bei lung, sowie bei der Anwendung deutliche Vorteile der Händedesinfektion vorliegen. Dazu gehören hat (bessere Anwendungseigenschaften und sparsa- durch Elektrolyse hergestellte Lösungen, die Natri- merer Einsatz des derzeit knappen Glyzerols).22, 26, 27 umhypochlorit und Hypochlorsäure enthalten. Die-
Epidemiologisches Bulletin 19 | 2020 7. Mai 2020 16 Im Unterschied zu den originalen Rezepturen lie- ▶▶ WHO-Formulierung II modifiziert mit 75% gen für die modifizierten WHO-Formulierungen (w/w) 2-Propanol, entspricht 81,3 % (v/v) Nachweise der bakteriziden Wirksamkeit im praxis- nahen Test für eine Einwirkzeit von 30 s zur hygie- ▶▶ 70 % (v/v) 2-Propanol nischen Händedesinfektion vor.7 Die Modifikatio- nen die neben dem erhöhten Wirkstoffgehalt zu- ▶▶ 80 % (v/v) Ethanol sätzlich weniger Glyzerol enthalten sind zudem für die chirurgische Händedesinfektion geeignet, aller- Bei den Viruzidieprüfungen mit der modifizierten dings nach einer Einwirkzeit von 5 min (statt der ge- WHO-Formulierung I wurde eine geringfügig klei- wohnten 90 s).25 nere Ethanolkonzentration als in den Untersuchun- gen zur bakteriziden Wirksamkeit eingesetzt – Die modifizierten Formulierungen, und nicht die 85,0 % (v/v) statt 85,5 % (v/v). Da diese Rezeptur Originalrezepturen, wurden z. B. auch in einem bereits in sehr starker Verdünnung begrenzt viruzid WHO-Projekt, in dem u. a. der Einfluss der Hände- wirksam war, können die Ergebnisse für die Bestä- desinfektion auf nosokomiale Infektionen in drei tigung der Wirksamkeit der modifizierten WHO- afrikanischen Staaten untersucht wurde, angewen- Formulierung I (entspricht Rezeptur 2 der AV der det.28 BAuA) gegen behüllte Viren dienen. 70 % (v/v) 2-Propanol ist in der RKI-Liste als begrenzt viruzid Weitere Alternativen sind die Standardzulassungen, eingetragen. die nur den jeweiligen Wirkstoff (Alkohol) in Wasser enthalten. Bei den Standardzulassungen ist zu be- Die reinen alkoholischen Lösungen wurden zusätz- achten, dass aufgrund der AV des BfArM die in der lich von Rabenau et al. mit Vacciniavirus und MVA Monografie geforderte Sporenfreiheit ausgesetzt ist (Modified Vacciniavirus Ankara) geprüft. Dabei war (und auch kein H2O2 zugesetzt wird) und dass durch Ethanol ab 50 % und 2-Propanol ab 40 % in einer den fehlenden Gehalt an Glyzerol eine Austrocknung Minute wirksam, so dass die begrenzt viruzide Wirk der Haut verstärkt sein könnte. samkeit der reinen Wirkstoff-Wasser-Gemische bei 80 % (v/v) Ethanol bzw. 70 % (v/v) 2-Propanol in Nicht unerwähnt soll bleiben, dass in der AV auch 30 s sehr wahrscheinlich gegeben ist.23 eine 70 % (v/v) 1-Propanollösung für den ausschließ- lichen Einsatz durch professionelle Anwender Beide modifizierten WHO-Formulierungen erwie- aufgeführt ist. Aufgrund des u. a. toxikologischen sen sich zusätzlich gegenüber den Coronaviren Profils kommt nach Meinung der Autoren dieser SARS-CoV-1, MERS-CoV und SARS-CoV-2 sowie Alternative keine relevante Rolle zu. HCV, Influenzavirus A(H1N1), Zikavirus und Ebola- virus in 30 s als wirksam.22 Wirksamkeitsnachweise für Rezepturen Für die originalen WHO-Formulierungen und 70 % alkoholischer Biozidprodukte nach (v/v) Ethanol ist für die bakterizide Wirksamkeit im BAuA-AV vom 9.4.2020 3 praxisnahen Test eine längere EWZ von 2 × 30 s Die Wirksamkeit in 30 s ist sowohl für die bakteri- erforderlich. Virologische Prüfungen zum Nach- zide als auch die begrenzt viruzide Wirksamkeit für weis der „begrenzt viruziden“ Wirksamkeit liegen folgende Lösungen belegt: 4, 5, 7, 22 für diese Formulierungen nicht vor. Für beide For- mulierungen ist lediglich die Wirksamkeit gegen ▶▶ WHO-Formulierung I modifiziert mit 80 % Bovines Virusdiarrhoe-Virus (BVDV) und HCV (w/w)* Ethanol, entspricht 85,5 % (v/v)** belegt.24 Die WHO-Formulierung I auf Ethanolbasis war zudem gegen die Prüfviren des Wirkbereichs „be- * w/w weight/weight (Massenprozent) grenzt viruzid PLUS“ (Adeno- und murines Noro ** volume/volume (Volumenprozent) virus) wirksam.24
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