Imdialog - Was willst DU? Im Fokus: Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen - CSS Versicherung

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Knappe Ressourcen und unbegrenzte
Wünsche Seite 4

«Soziale Präferenzen sind Stimmungen
unterworfen» Seite 10

                                       dialog
                                       im

                       Was willst DU?
             Im Fokus: Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen

                                                                 Ausgabe
                                                                   1 / 2018
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Echo

Franz Immer

Wem geben wir was?
«Es macht keinen Sinn, jemanden zu operieren, wenn die Transplantation
aussichtslos ist und der Patient im Nachhinein nur vor sich hin vegetiert.»
                                                         Direktor Swisstransplant, Tages-Anzeiger, 17.10.2016

                                       Salvatore Tricarico

                                       First come,
                                       first served
                                        «Kinder haben Vorrang vor älteren Leuten, welche oft
                                        noch eine Teilimmunität durch frühere Impfungen besitzen.»
                                                               Präsident des Verbandes der Haus- und Kinderärzte Ostschweiz,
                                                                                                         Tagblatt, 09.11.2017
SwissHTA

Ich gönn’ dir das!
«Anders als individuelle Präferenzen
beziehen sich soziale Präferenzen
auf das Wohlergehen, (…) oder eben                              Stefan Felder
den gesundheitlichen Nutzen
anderer Personen als des befragten
Individuums selbst.»                                            Weniger Leistungen,
              www.swisshta.ch, Glossar, 15.11.2017              um Kosten zu bremsen
                                                                «Nicht alles, was medizinisch machbar ist, ist für
                                                                die Allgemeinheit auch bezahlbar.»
Simon Hehli
                                                                                    Gesundheitsökonom, www.derbund.ch, 29.01.2017

Ehrliche
Meinung versaut
Politikkarriere
«Die Rationierungsdebatte war einer der Gründe für
die Abwahl von Veronica Schaller (SP) im Folgejahr.»
                                                www.nzz.ch, 10.08.2017
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Editorial/Inhalt

                                                                             Folgen Sie uns auf Twitter:
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                                        Das wollen                                                                                     Lucrezia Meier-Schatz ist
                                                                                                                                       Mitglied des Verwaltungsrats
                                                                                                                                       der CSS.

                                        wir
                                                                               Neben dem Ziel, die Kosten zu dämpfen und der Schweizer Bevölkerung
Inhaltsverzeichnis                                                             eine umfassende Versorgung zu gewährleisten, verfolgt das Bundes­
                                                                               gesetz über die Krankenversicherung (KVG) auch ein Solidaritätsziel: Alle
 4           oziale Präferenzen im
            S                                                                  haben Zugang zu einer qualitativ hochstehenden Gesundheitsver­
            Gesundheitswesen                                                   sorgung, und Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen
            Knappe Ressourcen und unbegrenzte                                  werden bei der Prämienzahlung finanziell entlastet.
            Wünsche
                                                                               Seit vielen Jahrzehnten klagt die Schweiz über die steigenden Kosten im
 7          Standpunkt
                                                                               Gesundheitswesen. Auch mit der Einführung des KVG vor zwanzig
             Von Solidarität und sozialer Präferenz
                                                                               Jahren wurde das Kostendämpfungsziel weit verfehlt. Aber trotz Kosten­-
 8          Hintergrund                                                        wachstum sind Herr und Frau Schweizer bei Umfragen der Meinung,
            Mithilfe der Wissenschaft die Kosten                               die Gesundheitsversorgung sei qualitativ hochstehend und sehr gut. Zwar
            bremsen                                                            scheint das Versorgungsziel erreicht. Aber das Solidaritätsziel gerät mit
10          Im Gespräch                                                       den steigenden Kosten unter Druck. Die Prämien der Grundversicherung
             «Soziale Präferenzen sind Stimmungen                              sind nicht nur für Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Ver­
             unterworfen»                                                      hältnissen kaum mehr verkraftbar, sie belasten auch zunehmend den
                                                                               Mittelstand.
14	Praxis
    Wie verteilen wir fair?
                                                                               Deshalb müssen wir uns der wichtigen 3-W-Frage stellen. Was wollen
15           ie andere Sicht
            D                                                                  wir? Wir müssen wissen, was die Bevölkerung angesichts der begrenzten
            Fairness lässt sich nicht regeln                                   Ressourcen in der Grundversicherung bezahlt haben möchte und was
   Persönlich
16	                                                                           nicht. Diese «sozialen Präferenzen» geben uns die Richtung vor, in die wir
   «Diese Fragen lösen in mir ein Gefühl                                       die soziale Grundversicherung weiterentwickeln können. Denn Politik,
   der Ohnmacht aus»                                                           Bundesämter und kantonale Gesundheitsdirektionen treffen heute leider
                                                                               allzu oft Entscheidungen, die nicht wissenschaftlich fundiert sind.
   Santé!
18	                                                                           Wenn wir eine tragbare, obligatorische Krankenversicherung wollen und
   Gesucht: Ein selbstloser Politiker                                          die Solidarität nicht überstrapaziert werden soll, müssen die Entschei-
19          Wissenschaft                                                      dungen wissenschaftlich fundiert und wirtschaftlich vertretbar sein. Es
             Wider die Gleichmacherei                                          braucht neue Konzepte. Deshalb unterstützt die CSS Versicherung
                                                                               das Projekt zur wissenschaftlichen Erhebung der sozialen Präferenzen
                                                                               (SoPHI) und widmet diese Ausgabe dem Thema.

Impressum
Erscheint dreimal jährlich in deutscher und französischer Sprache. Herausgeber: CSS Versicherung, Tribschenstrasse 21, CH-6002 Luzern,
E-Mail: dialog@css.ch, Internet: www.css.ch, Chefredaktion: Judith Dissler, Roland Hügi; Redaktionelle Mitarbeit, Produktion und Grafik:
Infel Corporate Media, Katharina Rilling (Text) und Peter Kruppa (Art Director) | Bildnachweis: Zeljko Gataric Imhoff, zVg, Getty Images/Tomas
Rodriguez, iStock/Spiderstock, Grafilu, Getty Images/Regine Mahaux | Lithos: n c ag, 8902 Urdorf | Druck: Kromer Print AG, 5600 Lenzburg.
Diese Publikation wird vollständig aus Mitteln aus dem Zusatzversicherungsgeschäft (VVG) finanziert.

                                                                                                                                                 im dialog 1/2018     3
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Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen

Im Gesundheitswesen gelten andere Spielregeln als in der freien Marktwirtschaft.
Die Regeln sind durch die Gesetzgebung festgelegt. Forschung zu diesen
Regeln gibt es jedoch kaum. Wäre es nicht interessant, zu wissen, wofür die Gesell­
schaft in der sozialen Grundversicherung denn das Geld einsetzen möchte?
Von Harry Telser, Barbara Fischer und Michael Schlander

Knappe Ressourcen und
unbegrenzte Wünsche

                     U
                                          nsere Ressourcen sind begrenzt, nicht   sen besteht in der Schweiz das politische Ziel, dass die
                                          jedoch unsere Wünsche und Bedürf-       gesamte Bevölkerung einen umfassenden Zugang zu
                                          nisse. Dieser grundlegende Konflikt     den Gesundheitsleistungen erhält. Durch eine Kran-
                                          prägt praktisch alle Lebensbereiche     kenversicherung, die für alle obligatorisch ist, mit einem
                                          unserer Gesellschaft. Die begrenzten    relativ moderaten Selbstbehalt, wird das Marktsystem
                                          Ressourcen in Güter und Dienstleis-     reguliert. Die Prämien werden für diejenigen vergüns-
                     tungen umzuwandeln und dann auf die unbegrenzten             tigt, die sie sich nicht leisten können. Die eigentliche
                     Bedürfnisse der Menschen aufzuteilen, stellt dabei eine      Inanspruchnahme der Leistungen ist so für die Betrof-
                     eigentliche Herkulesaufgabe dar, die sich dennoch sel-       fenen praktisch gratis. Die anfallenden Kosten werden
                     ten explizit stellt. In den meisten Fällen vertrauen wir     von der Allgemeinheit über die Versicherungsprämien
                     darauf, dass die Marktwirtschaft dies regelt. In dieser      bezahlt.
                     versuchen verschiedene Unternehmen, im Wettbewerb                 In diesem System verliert der Preis der Dienst-
                     untereinander aus den beschränkten Ressourcen dieje-         leistungen seine Signalwirkung. Da die Preise nicht
                     nigen Produkte und Dienstleistungen anzubieten, wel-         von denen bezahlt werden, welche die Leistungen
                     che die Präferenzen der Kunden am besten befriedigen.        nachfragen, können sie nicht mehr anzeigen, wo die
                         Der Preis spielt im Marktsystem eine zentrale Rolle      Nachfrage besonders hoch oder niedrig ist und wo die
                     für diese dezentrale Steuerung. Ein hoher Preis für Gut      begrenzten Ressourcen am besten eingesetzt werden
                     A zeigt, dass hier eine grosse Nachfrage auf ein knap-       sollen. Der fehlende Preis der Inanspruchnahme führt
                     pes Angebot trifft. Dies ist ein Signal an die Anbieter,     dazu, dass die theoretisch unbegrenzten Bedürfnisse
                                      mehr davon herzustellen. Dafür werden       durchschlagen. Es werden auch Leistungen nachge-
                                      Ressourcen von der Herstellung anderer      fragt, die sehr viel kosten und die Gesundheit nur noch
  In Kürze                            Güter mit geringerer Nachfrage abge-        relativ wenig verbessern. Gerade im Krankheitsfall ist
                                      zogen und neu für die Herstellung von       vielen nur das Allerbeste gut genug.
  • Das Ziel im Gesund-               Gut A eingesetzt. Dies führt dazu, dass          Es erstaunt deshalb nicht, dass die Gesundheits­
    heitswesen ist, allen             die knappen Ressourcen dort eingesetzt      ausgaben stetig steigen und unterdessen fast 12 Pro-
    einen umfassenden                 werden, wo sie für die Menschen jeweils     zent des Bruttoinlandprodukts für das Gesundheits-
    Zugang zu Behandlun-              den grössten Nutzen bringen und ihre        wesen aufgewendet werden. Diese Ressourcen stehen
    gen zu bieten – das               Präferenzen am besten befriedigen.          nicht mehr für andere Zwecke zur Verfügung, zum
    hebelt das Marktsys-                  Dieses System funktioniert an vielen    Beispiel für Verbesserungen im Bildungs- oder Sozial-
    tem aus.                          Stellen  hervorragend. Unzählige Unter-     system. Es gibt dementsprechend viele Bemühungen,
                                      nehmen sorgen dafür, dass wir bei-          die steigenden Kosten mit staatlichen Regulierungen
                                      spielsweise ein Nahrungsmittelangebot       in den Griff zu bekommen. Dabei wird immer weni-
  • Der Preis spielt kaum
                                      haben, das vielfältig, unseren Präferen-    ger vor harten Mitteln zurückgeschreckt. In der letz-
    eine Rolle für die                zen angepasst und dennoch bezahl­       -   ten Zeit forderten deshalb verschiedene Stimmen, die
    Inanspruchnahme der              bar ist. Dasselbe gilt für andere Güter      Leistungen müssten im Gesundheitswesen rationiert
    Leistungen, deshalb              und Dienstleistungen wie Textilien, Autos,   werden, zum Beispiel nach dem Alter der Patien-
    steigen die Kosten               Haarschneiden, Telekommunikation, Ho-        ten. An einigen Stellen wird die Rationierung bereits
    jährlich an.                     ­tellerie und viele mehr.                    umgesetzt. So hatte das Bundesamt für Gesundheit
                                                                                  (BAG) kürzlich den Zugang zu neuen – teuren, aber
  • Mithilfe der sozialen             Planwirtschaft im Gesundheits-              äusserst wirksamen – Hepatitis-C-Medikamenten ein-
    Präferenzen könnte                wesen                                       geschränkt, sodass nur Patienten mit einem fortge-
    erhoben werden, was               Das reine Marktsystem funktioniert je-      schrittenen Leberschaden diese von der Krankenkasse
                                      doch nicht überall. Im Gesundheitswe-       bezahlt bekamen.
    über die obligatorische
    Versicherung bezahlt
    wird und was nicht.
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Rezepte gegen die steigenden
                           Gesundheitskosten?

                                                                                                                                                                                Aktuelle
                                                                                                                                                                               Situation
                                                                                                                                                                                              dämpfung
                           Die Gesundheitskosten in der Schweiz steigen kontinuierlich an.

                                                                                                                                                                                            zur Kosten-
                                                                                                                                                                                           Neues Rezept
                           Insbesondere die steigenden Kosten in der Grundversicherung
                           (OKP) belasten die Schweizer Haushalte immer stärker. Sind die finan-
                           ziellen Mittel beschränkt, muss sich die Gesellschaft Gedanken
                           machen, wie beschränkte Ressourcen fair und sozial verteilt werden.
                           Wissenschaftliche Untersuchungen fehlen bis heute.

                                                                                                                                                                     Leistungskatalog der OKP =                                          Überversorgung und
                                                                                                                                                                           Kosten der OKP                                                Ballast abwerfen,
                                                                                                                                                                                                                                         sinnvolle Leistungen
                                                                                                                                                                     Grenzen setzen für Leistungen sowie
                                                                                                                                                                                                                                         sollen nicht
                                                                                                                                                                         Kosten in der OKP aufgrund
                                                                                                                                                                                                                                         gestrichen werden
                                                                                                                                                                     von wissenschaftlichen Erhebungen

                                                                                                              Offener Leistungskatalog
                                                                                          Der offene Leistungskatalog ist ein Grund, warum die Kosten jährlich
                                                                                                steigen. Es gibt kaum Anreize, weniger zu konsumieren als
                                                                                        notwendig. Ausserdem kommen immer neue Behandlungsmöglichkeiten                                                                Soziale Präferenzen
                                                                                               dazu, ohne dass alte gestrichen werden. Im regulierten Markt                                                  Wie regeln wir den Konflikt zwischen begrenzten
                                                                                         spielt der Preis zudem keine Rolle, da die Preise nicht von denen gezahlt                                            Ressourcen und unbeschränkten Bedürfnissen
                                                                                                           werden, die die Leistungen nachfragen.                                                         der Bevölkerung? Die Wissenschaft erhebt die sozialen
                                                                                                                                                                                                            Präferenzen und definiert so neue gesellschaftliche
                                                                                                                                                                                                                             Gesundheitsziele.

                                                                                                      WZW                                   ELGK
                                                                                           Die Versicherer können mit           Umstrittene Leistungen können
                                                                                         der Prüfung von Wirksamkeit,              von der Eidgenössischen
                                                                                           Zweckmässigkeit und Wirt-              Kommission für allgemeine
                                                                                        schaftlichkeit einen Einfluss auf         Leistungen und Grundsatz-
                                                                                           den Leistungskatalog und             fragen geprüft und aus der OKP
                                                                                         das Kostenwachstum nehmen.                   gestrichen werden.

                   KOF-Prognose Gesundheitsausgaben
                   Obligatorische Krankenversicherung
                   (Gesundheitsausgaben in Mio. CHF)

                   27 498,8                                                  28 872,5                                                      30 257,1                      31 698,2                                                      33 218,1
                   (Total 77 754,3)                                       (Total 80 742,5)                                             (Total 84 029,0)               (Total 87 335,3)                                              (Total 90 384,7)

im dialog 1/2018
                     2015                                                      2016                                                        2017                           2018                                                          2019

5
                                                                                                                                                                                                                                                                  Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen

                   Quelle:
                   https://www.kof.ethz.ch/prognosen-indikatoren/prognosen/kof-gesundheitsausgabenprognose.html
Imdialog - Was willst DU? Im Fokus: Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen - CSS Versicherung
Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen

             Bei dieser Art der Systemregulierung sollten die Präfe-    Mit Gratismeinung ist gemeint, dass Befragte angeben
             renzen der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielen.        können, wie wichtig eine bestimmte Leistung oder Ei-
             Während sich in einem reinen Markt das Marktergebnis       genschaft im Gesundheitswesen ist, ohne dass nega-
             automatisch an den Präferenzen der Marktteilnehmer         tive Konsequenzen damit verbunden sind. So erstaunt
             ausrichtet, muss dies im Gesundheitswesen über eine        es nicht, dass bei normalen Befragungen alles wichtig
             geeignete Regulierung sichergestellt werden. Dazu          ist. Die Bevölkerung pocht beispielsweise auf die Un-
             müssen die sozialen Präferenzen bekannt sein, das heisst   entbehrlichkeit von Originalpräparaten oder die freie
             die Wünsche der Bevölkerung, wie das soziale System        Arztwahl. In der Realität beobachtet man jedoch, dass
             der Krankenversicherung ausgestaltet werden soll.          Patienten bereit sind, Generika anstatt Originalprä-
                                                                        parate zu akzeptieren, wenn sie dafür finanziell ent-
             Unbekannte Grösse                                          schädigt werden. Die freie Arztwahl hat die Mehrheit
             Wie die Schweizer Bevölkerung den Konflikt zwischen        der Schweizer sogar bereits freiwillig aufgegeben. Sie
             begrenzten Ressourcen und unbeschränkten Bedürf-           hat sich für Managed-Care-Modelle ihrer Kranken-
             nissen im Gesundheitswesen regeln möchte, ist heute        versicherer entschieden und sich dabei verpflichtet,
             nicht bekannt. Ist es tatsächlich von der Bevölkerung      im Krankheitsfall nur zu vorher bestimmten Ärzten zu
             akzeptiert, wenn sehr alte oder weniger kranke Per-        gehen (vgl. Artikel S. 19).
             sonen gewisse Leistungen nicht mehr von der Kran-
             kenversicherung vergütet bekommen? Oder ist die            Mit Experimenten zu Lösungen
             Bevölkerung vielleicht sogar dafür, dass noch mehr         Will man die tatsächlichen sozialen Präferenzen erfas-
             Ressourcen ins Gesundheitswesen fliessen, weil sie         sen, muss man deshalb die Befragten vor Entscheidun-
             daraus einen grösseren Nutzen als aus alternativen         gen stellen, bei denen sie sich Verbesserungen zumin-
             Verwendungen zieht?                                        dest hypothetisch erkaufen müssen. Dadurch wird die
                 Soziale Präferenzen zum Gesundheitswesen lassen        Begrenztheit der Ressourcen in der Befragung sichtbar
             sich nicht direkt beobachten, weil eben keine Nachfra-     gemacht. Besonders geeignet für eine solche Befra-
             geentscheidungen für oder gegen Gesundheitsleistun-        gung sind Marktexperimente, die in der wissenschaftli-
             gen zu einem kostendeckenden Preis stattfinden. Es         chen Literatur auch Discrete-Choice-Experimente ge-
             braucht somit Befragungen, um Kenntnis darüber zu          nannt werden. Bei diesen Experimenten werden den
             erhalten, wie die Bevölkerung das Gesundheitswesen         Befragten hypothetische Produkte vorgelegt, die sich
             ausgestaltet haben möchte. Bevölkerungsbefragungen         in ihren Eigenschaften unterscheiden und zwischen
             zum Gesundheitswesen gibt es viele, auch solche, die re-   denen sie sich entscheiden müssen. Es wird also eine
             gelmässig durchgeführt werden. Alle weisen jedoch das      alltägliche Marktsituation simuliert, die den Befragten
             gleiche Problem auf, weshalb sie nicht für die Bestim-     aus anderen Gebieten bestens bekannt ist. Sie müs-
             mung sozialer Präferenzen taugen: Die Befragten kön-       sen keine Meinungen zu spezifischen Eigenschaften
             nen in diesen Befragungen Gratismeinungen äussern.         des Gesundheitswesens abgeben, sie müssen sich nur
                                                                        zwischen unterschiedlichen Szenarien entscheiden.
                                                                        Wenn es viele solche Entscheidungen zwischen ganz
                                                                        unterschiedlichen Szenarien gibt, lassen sich daraus
                                                                        mit statistischen Methoden die Präferenzen der Be-
                                                                        fragten ableiten. Man kann ermitteln, welche Eigen-
                                                                        schaften bei den Entscheiden am wichtigsten oder
                                                                        am wenigsten wichtig waren. Ebenso lassen sich die
                        Mit Gratismeinung ist gemeint,                  Austauschverhältnisse zwischen den Eigenschaften
                           dass Befragte angeben können,                berechnen. Das heisst, wie viel die Befragten bereit
                                                                        wären, von einer Eigenschaft aufzugeben, um von ei-
                    wie wichtig eine bestimmte                          ner anderen Eigenschaft mehr zu erhalten. Wenn eine
                       Leistung oder Eigen­-                            Eigenschaft der Preis ist, zeigt dieses Austauschver-
                   schaft im Gesundheitswesen                           hältnis die Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung für
                              ist, ohne dass negative                   eine Verbesserung in der anderen Eigenschaft.
                        Konsequenzen damit verbunden sind.                   Für die Ermittlung der sozialen Präferenzen im
                                                                        Gesundheitswesen bietet sich ein Marktexperiment
                                                                        an, bei dem sich die Befragten zwischen unterschied-
                                                                        lichen Versicherungsverträgen entscheiden sollen.
                                                                        Dabei kann die heutige Grundversicherung als Aus-
                                                                        gangslage dienen. Dieser werden alternative Versiche-
                                                                        rungsverträge gegenübergestellt, die gewisse Ände-
                                                                        rungen im Leistungskatalog vorsehen. Es könnte zum
                                                                        Beispiel ein neues hypothetisches Medikament geben,
                                                                        das von der Grundversicherung nicht bezahlt würde,
                                                                        aber im alternativen Versicherungsvertrag gedeckt
     Wenn es viele Entscheidungen                                       wäre. Dafür müsste man im Alternativvertrag eine hö-
       zwischen ganz unterschiedlichen                                  here Krankenkassenprämie bezahlen. Da es sich um
    Szenarien gibt, lassen sich daraus mit                              ein Experiment handelt, kann man die Eigenschaften
                                                                        des hypothetischen Medikaments an die genauen
   statistischen Methoden                                               Fragen anpassen, zu denen man die sozialen Präfe-
die Präferenzen der Befragten                                           renzen ermitteln möchte. So könnte das Medikament
            ableiten.                                                   beispielsweise nur bei Krankheiten helfen, die Patien-

6    im dialog 1/2018
Imdialog - Was willst DU? Im Fokus: Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen - CSS Versicherung
Standpunkt

                                            Die Schweizer Bevölkerung ächzt unter den Kosten der obli­
                                            gatorischen Grundversicherung. Das darf nicht sein. Um
                                            diesem Problem Einhalt zu gebieten, müssen wir uns Gedanken
                                            machen. Was soll die obligatorische Grundversicherung
                                            bezahlen? Auf welcher Grundlage wird das entschieden?

                                            Von Solidarität und
                                            sozialer Präferenz
                                            Das Gesundheitswesen basiert auf dem               Mengenwachstum, der ungenügenden
                                            Grundsatz der Solidarität. Das ist richtig, geht   Qualität und dem unbeschränkten
                                            es doch um das Essenziellste, was der              Leistungskatalog Einhalt zu gebieten. Es
                                            Mensch hat: seine Gesundheit. Auch die             stellt sich allerdings die Frage, wie und
                                            CSS Versicherung wurde vor mehr als                auf welcher Grundlage der Hebel angesetzt
    Michel Rudin ist Public Affairs         100 Jahren auf diesem Grundsatz gegrün-            werden könnte, um den Erwartungen
Manager bei der CSS Versicherung.           det. Doch was bedeutet eigentlich                  der Versicherten gerecht zu werden. Und
             michel.rudin@css.ch            Solidarität im Gesundheitssystem? Genau            genau hier bilden die sozialen Präferen­-
                                            hier scheiden sich die Geister. Während            zen eine gute Basis. In Kürze wird eine Studie
                                            einige davon ausgehen, dass das solidarisch        publiziert werden, die erstmals die Haltung
                                            finanzierte Gesundheitswesen für alle              der Schweizer Bevölkerung zu einem
                                            Leistungen aufkommen soll – denn es geht           solidarischen Gesundheitswesen erhoben
                                            ja um das höchste Gut –, gibt es andere,           hat. Diese wird fundierte Antworten auf
                                            die sich für eine Beschränkung auf das             die Fragen liefern, wo denn die Grenzen
                                            Nötige einsetzen. Im Kern sind es diese dia­-      zwischen solidarisch finanziertem
                                            metral unterschiedlichen Erwartungen,              Gesundheitswesen und freiem Gesund-
                                            die schliesslich zur heutigen Blockade im          heitsmarkt zu ziehen seien. Die CSS
                                            Gesundheitswesen geführt haben.                    erhofft sich von den Resultaten eine
                                            Oder anders formuliert: Sämtliche Akteure          Gesundheitspolitik, welche sich vermehrt
                                            und ganz bestimmt die Politik bean­                nach den Erwartungen der Versicher­-
                                            spruchen die Deutungshoheit über die               ten ausrichtet und so Reformblockaden
                                            Solidarität und ihre finanziellen Folgen im        vermeidet. Dies insbesondere auch
                                            Gesundheitswesen der Schweiz.                      deshalb, weil Qualität und Zweckmässig-
                                                                                               keit einer Behandlung besser definiert
                                            Bei einem Kostenanstieg von jährlich               werden können. Die CSS ist überzeugt, dass
                                            durchschnittlich vier Prozent wird der zu          die Diskussion um den Umfang und
                                            leistende Solidarbeitrag immer mehr                Inhalt von solidarisch finanzierten Leistungen
                                            zur Belastung der Menschen. Mit Schön­             mehr Tiefe bekommt und es so gelingen
                                            reden und Kosmetik kann dem Kosten-                kann, die Grenzen klar zu ziehen, politische
                                            wachstum nicht Einhalt geboten werden.             Blockaden zu lösen und damit das
                                            Es braucht grössere Eingriffe, um dem              Wachstum der Prämien einzuschränken.

        ten in einem gewissen Lebensalter befallen. Man hätte
        also ein Medikament, das nur Kindern oder nur älteren
                                                                     —
                                                                     Prof. Michael Schlander und Dr. Harry Telser leiten
        Patienten hilft, und könnte daraus die sozialen Präfe-       gemeinsam mit einem internationalen Scientific
        renzen im Hinblick auf eine Altersrationierung ableiten.     Steering Committee die SoPHI-Studie. Sie basiert auf
                                                                     den Ergebnissen des SwissHTA-Projekts und des
        Regulierung gemäss Präferenzen                               internationalen URD-(«Evaluation of Ultra-Rare Dis-
        Es gibt mittlerweile bewährte Methoden für die Messung       orders»-)Projekts (beide unter der wiss. Leitung von
        von Präferenzen. Wichtig ist es dabei stets, die Begrenzt-   Michael Schlander, Deutsches Krebsforschungszent-
        heit der Ressourcen sichtbar zu machen. Erst dadurch         rum, Universität Heidelberg, und Institute for Inno-
        zeigt sich, wie das soziale Gesundheitssystem ausgestal-     vation & Valuation in Health Care in Wiesbaden) und
        tet werden muss, damit die Präferenzen der Bevölkerung       der ökonometrischen Expertise und Erfahrung mit
        berücksichtigt werden. Die Kenntnis sozialer Präferen-       DCE-(«Discrete Choice Experiment»-)Methoden von
        zen verbessert die Konsistenz und damit schlussendlich       Polynomics in Olten (Harry Telser, Barbara
        die Akzeptanz der Regulierung im Gesundheitswesen.           Fischer).

                                                                                                                        im dialog 1/2018   7
Imdialog - Was willst DU? Im Fokus: Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen - CSS Versicherung
Hintergrund

Obwohl die Kosten im Gesundheitswesen steigen, wollen Herr und
Frau Schweizer keine Rationierung. Das braucht es vielleicht auch
nicht. Wäre es nicht spannender, zu wissen, was wir denn überhaupt
über die soziale Grundversicherung bezahlt haben wollen und
was allenfalls nicht?
Von Prof. Dr. Michael Schlander, Barbara Fischer und Dr. Harry Telser

Mithilfe der Wissenschaft
die Kosten bremsen

            R                epräsentative Meinungsumfragen zeigen,
                             dass eine grosse Mehrheit der Stimmbür-
                             ger die Rationierung von Gesundheits-
                             leistungen ablehnt. Gleichzeitig ist die
                             Bereitschaft, hohe Steuern oder Zwangs-
              beiträge – das heisst in der Schweiz: hohe Prämien für
              die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP)
                                                                             könnte bewirken, dass bestimmte Patienten(gruppen)
                                                                             im Ergebnis weitgehend oder sogar ganz vom Zugang
                                                                             zu wirksamen Therapien ausgeschlossen würden,
                                                                             weil ihre Behandlung weniger zusätzliche Gesundheit
                                                                             «produzieren» würde.
                                                                                 Konkrete Beispiele von teilweise sehr teuren The-
                                                                             rapien bei seltenen Erkrankungen (wie angeborene
              – zu akzeptieren, offensichtlich begrenzt. Daraus re-          Stoffwechselstörungen von Kindern mit der Folge le-
              sultiert ein Zielkonflikt, der sich einerseits auf die ange-   benslanger Behinderungen) oder von schweren Krebs­
              messene Höhe der gesamten Aufwendungen für das                 erkrankungen zeigen die Brisanz der Problematik. In
              Gesundheitswesen bezieht, andererseits die Frage von           England etwa wird im Rahmen der Evaluation medi-
              Grenzsetzungen innerhalb dieses Systems betrifft.              zinischer Verfahren ein Schwellenwert von 20 000 bis
                                                                             30 000 Pfund für die vermutete maximale Zahlungs-
              Steigerung der Effizienz                                       bereitschaft für ein gewonnenes Lebensjahr (mit ei-
             Viele Politikberater, nicht zuletzt aus der Disziplin der       ner Anpassung für die Lebensqualität) angenommen.
             Gesundheitsökonomie, empfehlen deshalb, die Effizi-             Im Ergebnis werden deshalb viele teure Therapien für
             enz der Mittelverwendung für das Gesundheitswesen               seltene Erkrankungen und neue Krebsmedikamente
             und innerhalb desselben zu maximieren. Die Forde-               negativ bewertet.
                                         rung, eine Ressourcenver-
                                         schwendung zu vermeiden,            Was wollen wir denn?
    In Kürze                             ist auf den ersten Blick trivial    Wir wissen aber aus einer grossen und wachsenden
                                         und nichts anderes als ein          Zahl internationaler Studien, dass dem soziale Normen
    • Die Mehrheit der                   selbstverständlicher      öko-      und Werturteile entgegenstehen. Vielen Menschen ist
      Schweizer Bevölkerung              nomischer und moralischer           es zum Beispiel besonders wichtig, dass Schwerkran-
      findet die Prämien                 Imperativ. Sie wird allerdings      ken Hilfe zuteilwird, auch wenn sie selbst im Gegenzug
      zu hoch, lehnt jedoch              genau dann problematisch,           vielleicht auf die Erstattung von «Bagatellen» verzich-
      Rationierungen ab.                 wenn eine im klassischen            ten müssen – und zwar auch dann, wenn dadurch im
                                         ökonomischen Sinn optima-           Endeffekt Lebensqualität und Lebenszeit nicht summa-
    • Individuen sind bereit,            le «Allokation» (Zuteilung)         risch gesteigert werden können. Mit anderen Worten:
                                         zwar zu einer maximalen             Man ist hier bereit, einen insgesamt kleineren Kuchen
      ihren eigenen,
                                         Pro­ duktion von gesund-            zu akzeptieren, wenn er dafür gerechter verteilt wird.
      individuellen Nutzen
                                         heitsbezogenem         Nutzen       Einer der Gründe für die beobachteten Abweichungen
      zugunsten der                      führt (in diesem Sinne also         von der reinen Theorie liegt darin, dass sich Menschen
      Gesellschaft zurück­               keine Verschwendung statt-          immer dann, wenn es gesundheitlich gleichsam «um
      zustecken (soziale                 findet), aber diese Zuteilung       Kopf und Kragen» geht, nicht (nur) als opportunisti-
      Präferenzen).                      blind bleibt für die Vertei-        sche Eigennutzmaximierer verhalten. Sie zeigen viel-
                                         lung («Distribution») des           mehr soziale Präferenzen, und es gibt keinen überzeu-
    • Die SoPHI-Studie                   Nutzens über verschiedene           genden Grund, diese Erwartungen der Bevölkerung an
      erhebt die sozialen                Personengruppen. Denn sie           ihr Gesundheitswesen zu ignorieren.
     Präferenzen
     wissenschaftlich.
8    im dialog 2/2017
Imdialog - Was willst DU? Im Fokus: Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen - CSS Versicherung
Hintergrund

Die schweizerische SoPHI-Studie                             vention. Andererseits berücksichtigt sie Aspekte wie
Der systematische und konsistente Einbezug sozialer         Risikoaversion und Selbstlosigkeit. So können letzt-
Präferenzen in die Evaluation medizinischer Massnah-        lich die sozialen Präferenzen der Schweizer Stimm-
men setzt voraus, dass diese einer empirischen Über-        bürger erfasst werden. Derzeit befinden sich die Da-
prüfung standhalten und idealerweise quantifizierbar        ten einer repräsentativ angelegten Stichprobe von
sind. Dieses Ziel prägte das Design der «Social Prefe-      1500 Schweizer Stimmbürgern in der Auswertungs-
rences for Health Interventions»- oder kurz SoPHI-Stu-      phase. Die Ergebnisse werden die relative Bedeutung
die. Ermöglicht wurde die Studie in der Schweiz durch       der erfassten Attribute aufzeigen. Es zeichnet sich
paritätische Unterstützung von Krankenversicherern          bereits ab, dass für die Schweizer Bevölkerung neben
(curafutura, SVV) und Industrie (Galenica, Interpharma),    der individuell gewonnenen Lebenszeit und -qualität
deren Vertreter überwiegend schon am SwissHTA-              weitere Merkmale wichtig sind. Es wäre von poten-
Projekt federführend beteiligt waren.                       ziell grosser gesundheitspolitischer Bedeutung, wenn
    In der SoPHI-Studie wird die Methode der Discrete-      diese sozialen Präferenzen Eingang in die Evaluati-
Choice-Experimente (DCE) angewendet, um die soziale         onskriterien medizinischer Interventionen fänden.
Zahlungsbereitschaft für medizinische Interventionen zu
bestimmen, die sich in sieben wesentlichen Kriterien un-
terscheiden: Lebenserwartung und Lebensqualität ohne
Intervention (also Schweregrad der Krankheit), Lebens-
erwartung und Lebensqualität nach der Behandlung (aus
                                                            —
                                                            Prof. Michael Schlander und Dr. Harry Telser leiten
der Differenz ergibt sich die Wirksamkeit der Behand-       gemeinsam mit einem internationalen Scientific
lung), Zahl der behandlungsbedürftigen Patienten (Prä-      Steering Committee die SoPHI-Studie. Sie basiert auf
valenz), Alter der Patienten sowie zusätzliche Kosten bei   den Ergebnissen des SwissHTA-Projekts und des
Aufnahme der Behandlung in den Leistungskatalog der         internationalen URD-(«Evaluation of Ultra-Rare
obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP).            Disorders»-)Projekts (beide unter der wiss. Leitung
    Zu den besonderen Merkmalen der SoPHI-Studie            von Michael Schlander, Deutsches Krebsforschungs-
gehört, dass die Kosten als Kosten pro versicherte          zentrum, Universität Heidelberg, und Institute for
Person (statt je Patient oder je gewonnenes Lebens-         Innovation & Valuation in Health Care in Wiesbaden)
jahr) abgebildet werden. Deshalb wird in der Studie         und der ökonometrischen Expertise und Erfahrung
die «soziale Zahlungsbereitschaft» gemessen. Die-           mit DCE-(«Discrete Choice Experiment»-)Methoden
se erfasst einerseits den individuellen, unmittelbar        von Polynomics in Olten (Harry Telser, Barbara
selbstbezogenen Nutzen einer medizinischen Inter-           Fischer).

        Exkurs in die Wirtschaftstheorie
        In der Wirtschaftstheorie spricht man von sozialen Präferenzen, wenn die
        Akteure neben ihrem materiellen Eigennutz auch Vorlieben für das
        Wohlergehen oder den Erfolg anderer Akteure aufweisen, die das eigene
        Verhalten massgeblich mitbeeinflussen.

                  Homo oeconomicus                                       Soziale Präferenzen

            Verhalten rein am materiellen Eigennutz              M
                                                                    otivation von Menschen, Aspekte
            Kein Empfinden für andere                             für Entscheide zu beachten, die
                                                                   über materiellen Eigennutz hinausgehen

                                                                                                            im dialog 1/2018   9
Imdialog - Was willst DU? Im Fokus: Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen - CSS Versicherung
Im Gespräch

Ist die Erhebung von sozialen Präferenzen ein taugliches Mittel, um zur
Senkung der Gesundheitskosten beizutragen? Christian Affolter,
Verantwortlicher Tarifstrukturen bei der CSS, und Fridolin Marty, Zuständiger
für Gesundheitspolitik bei der economiesuisse, sind sich nicht einig.
Interview: Patrick Rohr

«Soziale Präferenzen sind
Stimmungen unterworfen»

Patrick Rohr: Herr Affolter, die CSS unter-
stützt das Konzept der sozialen Präfe-
                                                                 «Wir haben eine hohe,
renzen, weil Sie der Meinung sind, damit                         aber lange nicht die
liessen sich Kosten sparen. Wie?
Christian Affolter: Ich sage nicht, dass
                                                                 beste Qualität der Welt
mit diesem Modell alles besser wird. Aber                        – aber wir zahlen so
es macht möglich, dass wir die Ver­
sicherten besser verstehen. Wenn wir die
                                                                 viel wie sonst niemand
sozialen Präferenzen kennen, wissen                              für die Gesundheit.»
wir, was die Menschen bereit sind, für die                       Christian Affolter
Gesundheit zu Lasten der sozialen
Krankenversicherung auszugeben und was
nicht. Nicht für die eigene Gesundheit,
sondern für die der anderen. Natürlich hat
man schon heute Hinweise, wenn man
die Kommentarspalten der Boulevard-
presse liest oder die Diskussionen auf
Social Media verfolgt. Aber was fehlt, ist
eine wissenschaftliche Erhebung der
sozialen Präferenzen.

P.R.: Aber haben wir dafür nicht die                             sind, weil wir ja nicht nur Wahlen, sondern
Politik, die die sozialen Präferenzen der                        auch Abstimmungen haben. Ich stelle
Bevölkerung doch kennen müsste?                                  mit Besorgnis fest, dass wir schon heute
C.A.: Ich behaupte jetzt mal, dass die Politik                   immer mehr eine Politik der Demos­-
nicht weiss, wie viel die Menschen                               kopie haben und sich die Politik nur noch
bereit sind, für die Gesundheit der anderen                      nach Umfragen richtet, statt Verant-
auszugeben.                                                      wortung zu übernehmen. Die politische
                                                                 Verantwortung ist nicht ersetzbar, und
P.R.: Herr Marty, wie sehen Sie das? Wäre                        sicher nicht durch ein solches Konzept.
man, wenn man die sozialen Präferen­-                            C.A.: Da muss ich widersprechen. Es
zen erforschen würde, wirklich viel näher                        mag sein, dass die Politik sich immer mehr
bei der Bevölkerung, als die Politik das                         auf populistische oder demoskopische
sein kann?                                                       Grundlagen stützt. Aber das Konzept der
Fridolin Marty: Ich glaube nicht, dass man                       sozialen Präferenzen dient dazu, die
sich von diesem Konzept viel erhoffen                            Rahmenbedingungen, die die Politik setzt,
kann. Vielleicht bringt es etwas mehr                            mit Inhalten zu füllen. Eben genau, um
Transparenz ins System. Aber am Schluss                          mit dogmatischen und parteipolitischen
muss die Politik entscheiden. Und gerade                         Diskussionen aufzuräumen. Ich nenne
in einer direkten Demokratie wie der                             Ihnen ein Beispiel: Wenn wir uns fragen,
Schweiz weiss man sehr genau, was die                            was von der sozialen Krankenversiche-
sozialen Präferenzen der Bevölkerung                             rung bezahlt werden soll, sind die Regeln

10   im dialog 1/2018
Im Gespräch

                                                                                             —
                                                                                             Der Pharmazeut Christian
                                                                                             Affolter (rechts) ist seit 2013
                                                                                             Verantwortlicher Tarifstrukturen
                                                                                             bei der CSS. Davor war er
im KVG festgelegt: Eine Behandlung            versicherung zu bezahlen? Solche Fragen
                                                                                             Leiter der Direktion Gesundheits­-
muss wirksam, zweckmässig und wirtschaft­-    könnte man in Zukunft über die Erfor-          politik beim Bundesamt für
lich sein – das sind die WZW-Kriterien.       schung der sozialen Präferenzen klären.        Gesundheit (BAG) und Leiter der
Die Wirksamkeit lässt sich klar nachweisen.                                                  Abteilung Grundlagen bei
Bei der Wirtschaftlichkeit wird es schon      P.R.: Aber ist das nicht gefährlich, Herr      santésuisse.
schwieriger. Aber wer sagt, ob eine Behand­   Marty? Kann es nicht sein, dass plötzlich
lung zweckmässig ist?                         eine Mehrheit beschliesst, dass eine
                                              Minderheit von einer medizinischen Ver-
                                                                                             —
                                                                                             Der Volkswirtschaftler Fridolin
P.R.: Mein Arzt.                              sorgung ausgeschlossen wird?                   Marty (Mitte) ist beim Dach­
C.A.: Genau.                                  F.M.: Grundsätzlich habe ich grosses Ver-      verband der Wirtschaft economie­
                                              trauen ins Volk. Die Leute wollen einfach      suisse zuständig für Gesund-
                                                                                             heitspolitik. Davor arbeitete
P.R.: Und diese Beurteilung möchten Sie       Fairness. Nehmen wir die Flüchtlingspolitik:
                                                                                             er in verschiedenen Funktionen
künftig der Bevölkerung überlassen?           Solange Flüchtlinge, die in die Schweiz        bei santésuisse und war Mit­-
C.A.: Nein, aber wir möchten die Menschen     kommen, dankbar sind, unser System an­-        glied der Eid­genössischen Arz-
einbeziehen. Neu kommt eine soziale           erkennen, die Sprache lernen, arbeiten         neimittelkommission (EAK).
Perspektive dazu, und die geht über das       wollen – so lange sagen achtzig, neunzig
Individuum hinaus. Nehmen wir als             Prozent der Leute in unserem Land,
Beispiel Viagra: Das Medikament erfüllt die   dass die Flüchtlinge kommen dürfen. Wenn
WZW-Kriterien. Aber wissen wir, ob die        aber Flüchtlinge kommen, die unsere
Gesellschaft überhaupt bereit wäre, Viagra    Kultur nicht gut finden und nicht arbeiten
zu Lasten der obligatorischen Kranken-        wollen, dann ist es vorbei mit der

                                                                                                         im dialog 1/2018   11
Im Gespräch

                                                                        stabil sind und Stimmungen unterworfen
                                                                        sein können.
                                                                        C.A.: Und wäre das schlimm?
                                                                        F.M.: Ich sage nicht, dass das schlimm ist.
                                                                        Ich sage nur: Wenn man eine solche
                                                                        Studie macht, muss man sich bewusst sein,
                                                                        dass das eine Momentaufnahme ist
                                                                        und dass soziale Präferenzen Dynamiken
                                                                        unterliegen. Darum muss die Politik in
                                                                        der Verantwortung bleiben.
                                                                        C.A.: Natürlich wäre es theoretisch möglich,
                                                                        dass das Resultat einer Umfrage der
                                                                        Verfassung widerspricht, dass der Schutz
                                                                        von Minderheiten verletzt würde und
                                                                        so weiter. Aber die Diskussion wird sowieso
                                                                        geführt, bis jetzt einfach am Stammtisch.
                                                                        Wir wollen, dass man die wissenschaftlich
                                                                        gestützte Haltung der Bevölkerung kennt.

                                                                        P.R.: Und wie untersucht man das
                                                                        wissenschaftlich?
                                                                        C.A.: Man präsentiert den Leuten Auswahl­-
                                                                        fragestellungen. Man fragt also zum Bei­-
                                                                        spiel: Soll man die Behandlung von jungen
                                                                        Menschen vor die Behandlung von alten
                                                                        Menschen stellen? Oder man fragt: Wo ist
                                                                        eine Lebensverlängerung um ein paar
                                                                        Wochen, die möglicherweise Zehntausende,
                                                                        vielleicht hunderttausend Franken kostet,
                                                                        sinnvoller? Bei einem Jungen, der noch
                                                                        einen Monat braucht, um alles zu regeln
                                                                        und sich von der Familie zu verabschie-
                                                                        den, oder bei einem Achtzigjährigen, der
                                                                        noch die Geburt seines Grosskinds er­
                                                                        leben möchte?
                                                                        F.M.: Heikle Fragen!

                                                                        P.R.: Aber dafür hätte man endlich
                                                                        Antworten auf diese Fragen, Herr Marty!
                                                                        Man wüsste, wie die Leute denken.
                                                                        F.M.: Ja, aber es geht nicht ohne politische
                                                                        Verantwortung. Wenn ich als Bürger
                                                                        interviewt werde, muss ich ja keine Ver-
                                                                        antwortung tragen. Ich muss weder
                                                                        etwas zahlen noch für etwas geradestehen.
Unterstützung. Dasselbe gilt im Kranken-                                Das finde ich problematisch.
und Gesundheitsbereich: Wenn man
weiss, jemand kann nichts für seine Krank-                              P.R.: Aber hat die Politik ihre Verantwor-
heit und er macht auch alles, um gesund                                 tung in den letzten Jahren denn wirk­-
zu werden, dann ist die Unterstützung da.                               lich wahrgenommen? Die Gesundheits-
                                                                        kosten steigen ins Unermessliche.
P.R.: Wenn er in den Augen der Bevölke-                                 F.M.: Die Kosten sind ganz offensichtlich
rung aber selber schuld ist, wie man                                    nicht zu hoch. Das Stimmvolk hat noch
das bei Aidskranken lange sagte, dann                                   jede Vorlage, die die Kosten reduzieren
wird es schon schwieriger.                                              wollte, verworfen. Die Leute wollen die
F.M.: Das ist genau das Problem, das                                    Leistungen, und sie sind bereit, dafür
weiss man. Wobei bei Aids die Akzeptanz      «Es wird nichts pas­       zu zahlen. Das Problem sind die Prämien­
zum Glück inzwischen da ist.                                            verbilligungen, sie haben sich nicht im
                                             sieren, weil viele vom     Gleichschritt mit den Kosten entwickelt. Des­-
P.R.: Aber es können neue Krankheiten        System profitieren         halb ist die Belastung für weniger be­-
kommen, bei denen die Menschen                                          güterte Personen stark gestiegen. Die Frage
sogenannt «selber schuld» sind, und da       und in der Politik jeder   ist, ob es nicht sinnvoller wäre, die Prä-
könnte sich die Stimmung eben gegen          weiss, er könnte sich      mienverbilligungen zu erhöhen oder sie
eine Gruppe richten?                                                    zumindest nicht zu senken.
F.M.: Genau. Man muss sich bewusst           die Finger verbrennen.»    C.A.: Das ist doch eine Nebelgranate! Wir
sein, dass die sozialen Präferenzen nicht    Christian Affolter         fahren gerade das System an die Wand!

12   im dialog 1/2018
Im Gespräch

F.M.: Das stimmt nicht.                        pflegeversicherung, die OKP, kostet           zahlen so viel wie sonst niemand für die
C.A.: Doch. Ganz einfach, weil die Aus­        uns 40 Milliarden Franken. Das BIP wächst     Gesundheit.
gaben mit dem Faktor zwei bis drei             um zwei Prozent, also um 12 Milliarden        F.M.: Gut, ich komme Ihnen ein bisschen
gegenüber den Löhnen wachsen. Irgend-          Franken. Wenn jetzt die OKP um zehn           entgegen. Was ich gesagt habe, bezieht
wann kann man das nicht mehr zahlen.           Prozent wachsen würde, was es noch nie        sich auf die Vergangenheit. Ich sage nicht,
F.M.: Die Löhne sind nicht das Einzige, was    gab, wären das vier Milliarden. Also          dass es bis in alle Ewigkeit so bleibt;
den Wohlstand einer Gesellschaft aus-          nur ein Drittel des Betrages, um den das      es kann durchaus mal kippen, und Kosten-
macht. Wir haben auch Kapitaleinkommen.        BIP gewachsen ist. Ist das nun finan­         senkungsvorlagen können mehrheits­-
                                               zierbar oder nicht?                           fähig werden. Aber dann wird die Politik
P.R.: Da reden wir jetzt aber von einer        C.A.: Eine solche Rechnung finde ich          schon korrigierend eingreifen.
kleinen Schicht, Herr Marty. Viele             grenzwertig!                                  C.A.: Das glaube ich eben nicht. Man merkt
Menschen haben Mühe, sich die Gesund-          F.M.: Mir geht es ja auch nicht darum, die    doch die Unzufriedenheit der Leute
heitskosten noch zu leisten.                   Kostenentwicklung generell kleinzureden.      schon jetzt – und zwar immer spätestens
F.M.: Ich sage, das System kann es sich        Ich sage nur: Aus irgendeinem Grund           dann, wenn die nächste Prämienrunde
leisten, nicht jeder einzelne Haushalt. Das    hat das Volk noch nie Ja gesagt zu einer      kommt. Und auch die Qualitätsdiskussion
ist mir schon bewusst.                         Kostensenkungsmassnahme.                      fängt langsam an. Die Erwartung, dass
                                                                                             die Verantwortlichen im System etwas
P.R.: Und die, die es sich nicht leisten       P.R.: Und was ist dieser Grund?               machen, ist also schon heute durchaus da.
können, brauchen dann Prämien­                 F.M.: Dass wir uns als Gesellschaft das       Aber es wird nichts passieren, weil viele
verbilligungen, womit die Allgemeinheit        Gesundheitswesen leisten können.              vom System profitieren und in der Politik
die Lasten trägt und das Problem nur           C.A.: Nein, das Problem ist, die Menschen     jeder weiss, er könnte sich die Finger
verschoben wird.                               haben ein Informationsdefizit: Fragen         verbrennen. Im Gesundheitswesen gibt es
F.M.: Das Problem ist einfach noch nicht so    Sie mal am Stammtisch, was für eine Quali­-   politisch keinen Blumentopf zu gewinnen.
gross, dass wir es uns als Gesellschaft        tät wir in unserem Gesundheitswesen           Es bräuchte nicht einmal neue Regeln,
nicht mehr leisten könnten. Machen wir         haben. Alle werden sagen: Wir haben eine      wir haben schon genug Regeln. Aber man
eine einfache Rechnung: Das Bruttoin-          super Qualität! Aber das stimmt nicht.        müsste endlich einmal die durchsetzen,
landprodukt, das BIP, beträgt 600 Milliarden   Wir haben eine hohe, aber lange nicht die     die es schon gibt, zum Beispiel die genann­
Franken. Die obligatorische Kranken­­          beste Qualität der Welt – aber wir            ten WZW-Kriterien. Die sozialen Präfe­
                                                                                             renzen geben uns mehr Argumente dafür.

                                                                                             P.R.: Also übernimmt die Politik aus
                                                                                             lauter Angst die Verantwortung eben
                                                                                             doch nicht, Herr Marty?
                                                                                             F.M.: Die Politik macht ihren Job. Aber
                                                                                             tatsächlich, bei der Umsetzung der Regeln,
«Die politische Ver­                                                                         namentlich jenen des Krankenversiche-
antwortung ist                                                                               rungsgesetzes, hapert es. Man sieht zwar
                                                                                             die Lücken der Umsetzung, aber statt
nicht ersetzbar, und                                                                         sie zu füllen, macht man neue Gesetze und
sicher nicht durch                                                                           Regulierungen. Trotzdem vertraue ich
                                                                                             auf unser politisches System. Es ist erfolg­
ein solches Konzept.»                                                                        reich und kippt nicht gleich, wenn es
Fridolin Marty                                                                               neue Strömungen gibt.

                                                                                             —
                                                                                             Der Journalist und Fotograf Patrick Rohr
                                                                                             leitet eine eigene Agentur für Kommunikations-
                                                                                             beratung und Medienproduktionen. Bis
                                                                                             2007 war er Moderator beim Schweizer Fern­
                                                                                             sehen (u.a. «Arena», «Quer»).

                                                                                                                     im dialog 1/2018   13
Praxis

Es gibt Situationen, in denen medizinische Leistungen knapp sind und
der Zugang zu Prävention, Diagnose oder Behandlung nicht immer
garantiert ist. Wie verteilen wir diese Ressourcen fair? Eine Studie der ETH
Zürich zeigt, wie Laien und Ärzte das beurteilen.
Von Dr. Pius Krütli

Wie verteilen wir fair?

              K             nappe medizinische Ressourcen zeigen
                            sich heute exemplarisch beim Mangel an
                            Spenderorganen. Ein anderes Beispiel lei-
                            tet sich aus der Kostendiskussion im Ge-
                            sundheitswesen ab. Wem sollen Leistun-
               gen wie Gelenkersatz (eine Lebensqualität fördernde,
               jedoch nicht lebensnotwendige Massnahme) zugeteilt
                                                                                           Prinzipien werden als ethisch vertretbar beurteilt, und
                                                                                           je nach Situation eignen sie sich besser oder weniger
                                                                                           gut für die faire Zuordnung von knappen medizinischen
                                                                                           Leistungen. So werden beispielsweise Prinzipien wie
                                                                                           die «Kränksten zuerst» oder «first come, first served»
                                                                                           (Warteliste) von einigen anerkannten Medizinethikern
                                                                                           abgelehnt. Sie argumentieren, dass dabei die Progno-
               werden, wenn die Mittel nicht mehr für alle Nachfrager                      se bzw. der Krankheitsverlauf nicht beurteilt wird oder
               ausreichen?                                                                 dass Wartelisten anfällig auf Missbrauch sind.
                  Es braucht Regeln, um die knappen Leistungen                                  Dies steht in Kontrast zur Beurteilung solcher Prinzi-
               möglichst fair zu verteilen. Diese sollten ethischen                        pien durch medizinische Laien und teilweise auch Ärzte.
               Standards entsprechen, einen medizinischen Nutzen                           In einer aktuellen Onlinestudie beurteilten u.a. Allge-
               erzeugen, praktikabel und von den Mitgliedern einer                         meinmediziner und medizinische Laien die Fairness von
               Gesellschaft akzeptiert sein.                                               neun Verteilungsprinzipien in drei unterschiedlichen
                  Es gibt eine Reihe solcher Verteilungsprinzipien                         Situationen medizinischer Knappheit. Die Abbildung
               wie «Zufall», «Kränkste zuerst», «Jüngere vor Älte-                         zeigt hier «Lebensqualität verbessernde medizinische
               ren», «Warteliste», «Prognose» usw. Nicht alle diese                        Leistungen». Beide – Ärzte und Laien – finden es sehr
                                                                                           fair, wenn die Kränksten diese Leistung zuerst erhalten,
                                                                                           wenn es nicht für alle reicht. Die «Warteliste» schliesst
                                                                                           in dieser Hinsicht bei Laien am zweitbesten ab, woge-
                                                                                           gen dieses Prinzip bei Ärzten eher umstritten ist. Bei den
Wie beurteilen wir die Kriterien                                                           übrigen Prinzipien sieht das Muster bei beiden Gruppen
für die Verteilung von knappen                                                             ähnlich aus. «Verhalten» als Massgabe für die Verteilung
                                                                                           knapper Leistungen scheint in beiden Gruppen umstrit-
medizinischen Leistungen?                                                                  ten. Das gilt auch für das Prinzip «Jüngere vor Älteren».
Resultate der Untersuchung von Meinungen von Allgemein­                                    «Kostenbeitrag» (diejenigen bevorzugen, die mehr an
medizinern und med. Laien über die Verteilung von Leistungen,                              die Kosten zahlen), «gesellschaftliche Leistung in der
die die Lebensqualität verbessern (wie künstliche Hüftgelenke).
                                                                                           Vergangenheit» und auch «Zufall» schneiden punkto
                                                                                           Fairness bei beiden Gruppen nicht gut ab.
Allgemeinmediziner (n=212)                        Med. Laien (n=822)
                                                                                                Was lernen wir daraus? Erstens, für die unterschied-
                                          KRÄNK                                            lichen Situationen, bei denen medizinische Knappheit
                                          REIHE
                                                                                           auftauchen kann, braucht es Regeln, wie medizinische
                                          VERHA
                                                                                           Leistungen fair verteilt werden sollten. Für die Zutei-
                                          PROGN
                                                                                           lung von Spenderorganen haben viele Länder Regu-
                                          KOMBI
                                                                                           larien aufgestellt. Wie medizinische Leistungen bei
                                          JÜNGE
                                                                                           knapper werdenden Mitteln verteilt werden, dazu gibt
                                          KOSTE
                                                                                           es kaum Untersuchungen – und vielleicht auch noch
                                          ZUFAL
                                          DIENS
                                                                                           zu wenig Diskussionen.
                                                                                                Zweitens gibt es viele verschiedene Prinzipien, wie
0%     25 %     50 %       75 %   100 %           0%     25 %    50 %       75 %   100 %
                                                                                           solche Leistungen fair verteilt werden können. Da alle
Priorisierungsprinzipien                          Bewertung der Fairness                   Prinzipien ihre Vor- und Nachteile haben, sind Spezifi-
                                                  (% der Teilnehmer/-innen)
KRÄNK =	Kränkste zuerst                                                                   zierungen nötig.
         (grösste Alltagseinschränkung)
REIHE =	Reihenfolge der Anmeldung                                                              Und drittens, was Ethiker als fair beurteilen, muss
                                                   7 6     5     4      3     2     1
         (Wartelisten)
                                                  sehr                         gar nicht
                                                                                           nicht zwingend auch dem entsprechen, was in der
VERHA = Kein Selbstverschulden
PROGN = Lebenserwartung                           gerecht/fair              gerecht/fair   Realität als fair beurteilt wird. Deshalb braucht es eine
KOMBI =	Kombination von Prinzipien                                                        Ausbalancierung der unterschiedlichen Perspektiven.
         (Jüngere zuerst, Prognose, Zufall)
JÜNGE = Jüngere zuerst
KOSTE = Wesentliche Kostenbeteiligung
ZUFAL = Zufall/Verlosung
DIENS =	Dienste an Gesellschaft
                                                                                           —
                                                                                           Dr. Pius Krütli ist Co-Direktor des Transdisciplinarity
         (in Vergangenheit)
                                                                                           Lab (TdLab), einer Gruppe am Departement Umwelt-
Quelle: angepasst von Krütli et al. 2016. How to Fairly Allocate
Scarce Medical Resources: Ethical Argumentation under Scrutiny by                          systemwissenschaften der ETH Zürich, die sich mit der
Health Professionals and Lay People. Plos one 11/7.                                        Schnittstelle Wissenschaft/Gesellschaft beschäftigt.

14    im dialog 1/2018
Die andere Sicht

Die Spielregeln im Sport sind immer auch ein Abbild der Gesell­
schaft. Unihockey-Schiedsrichterin Sandra Zurbuchen (32)
über schwierige Entscheide, Grauzonen und Glaubwürdigkeit.
Von Manuela Specker

Fairness lässt sich
nicht regeln

          I         n Sandra Zurbuchens Leben geht es oft um
                    Fragen der Gerechtigkeit. Sie ist Rechtsan-
                    wältin bei der Steuerverwaltung des Kantons
                    Bern, und sie pfeift national wie international
                    Unihockey-Spiele auf höchster Ebene. Der
          gewichtige Unterschied: Im Sport muss die 32-jährige
          Schiedsrichterin Entscheide innert Sekundenbruchtei-
          len fällen. Aber weder in steuerlichen Fragen noch im
          Sport sind die Regeln in Stein gemeisselt. «Sie haben
          sich über all die Jahre hinweg entwickelt und werden
          laufend angepasst», sagt Sandra Zurbuchen.
               So starr Reglemente scheinen, so sehr sind sie
          letztlich ein Abbild der Gesellschaft, ihrer Präferenzen
          und ihrer Vorstellungen von Fairness. Im Unihockey
          werden die Spielregeln alle vier Jahre überarbeitet und
          vom internationalen Verband für verbindlich erklärt.
          Lange war es erlaubt, den Ball dem eigenen Goalie zu-
          rückzuspielen. Heute muss Sandra Zurbuchen in einem
          solchen Fall abpfeifen. «Diese neue Regel hat das Spiel
          schneller und dynamischer gemacht», sagt sie. Ein an-
          deres Beispiel: Sind zwei Spieler bereit für den Check,                  «Ich habe nie nur die
          gehen sie also auf Augenhöhe in den Zweikampf, lässt                     Regeln im Hinterkopf,
          sie das Spiel laufen. «Die Spieler sind heute viel ath-
          letischer und trainieren häufiger. Entsprechend ist das                  sondern frage mich
          Spiel physischer geworden. Das muss sich in der Ausle-                   auch immer, warum ein
          gung der Regeln widerspiegeln», so Sandra Zurbuchen.
               Das heisst zugleich, dass die Spielsituationen selten               Spieler entsprechend
          eindeutige Entscheide zulassen. Daran ändert auch das                    reagiert.»
          109-seitige Regelwerk nichts. «Meistens befinde ich
          mich in der Grauzone.» Das ist der Fairness förderlich –                 Sandra Zurbuchen
          statt dass die Spielleitung allwissend auftritt.
               Wenn sich Sandra Zurbuchen und ihre Schieds-
          richterpartnerin zum Beispiel nicht sicher sind, wer
          zuletzt den Ball berührt hat, fragen sie bei den Spie-       wie die Spieler ihre Grenzen ausgetestet haben. Das
          lern nach und kriegen oft eine ehrliche Antwort. Fair-       sei aber keine Folge davon gewesen, dass sie als Frau
          play zeigt sich also nicht in den Regeln, sondern wie        ein Männerspiel geleitet habe. «So ergeht es allen, die
          solche Situationen gehandhabt werden. Dazu gehört            neu in der Rolle des Schiedsrichters sind.» Ein guter
          für Sandra Zurbuchen zwingend, ein Gespür für das            Schiedsrichter ist also nicht nur in den Regeln sattel-
          ganze Spiel zu haben. Foul ist nicht gleich Foul: Viel-      fest, sondern hat viel Menschenkenntnis. Entscheide,
          leicht steigt ein Spieler hart in den Zweikampf ein, weil    die auf dieser Grundlage gefällt werden, fördern die
          er vorher selber ständig gefoult wurde? «Ich habe nie        Eigenverantwortung bei den Spielern – genau darauf
          nur die Regeln im Hinterkopf, sondern frage mich auch        kommt es beim Fairplay an.
          immer, warum ein Spieler entsprechend reagiert. Das
          ist für mich die Grundlage für ein faires Spiel.»
               Klar muss sie im richtigen Moment Autorität aus-        —
                                                                       Sandra Zurbuchen (32) ist Rechtsanwältin bei der Steuer­-
          strahlen. «Glaubwürdigkeit ist das A und O.» Gerade          verwaltung des Kantons Bern und pfeift nationale
          zu Beginn ihrer Schiedsrichterkarriere hat sie gemerkt,      wie internationale Unihockey-Spiele auf höchster Ebene.

                                                                                                                        im dialog 1/2018   15
Persönlich

Sind die Gesundheitskosten in der Schweiz zu hoch? Wie sollten wir die knapper
werdenden Gelder der Grundversicherung gezielt einsetzen? Wer muss
Lösungen finden? Ich versuche, Antworten zu finden – es fällt mir nicht leicht!
Von Beat Schürmann

«Diese Fragen lösen
in mir ein Gefühl
der Ohnmacht aus»

          D                 ie junge Frau am Telefon hat mir erklärt,
                            worum es in diesem Beitrag geht. Die
                            Gesundheitskosten in der Grundver-
                            sicherung steigen jährlich um gut vier
                            Prozent an – das ist für viele Haushalte
             ein Problem. Deshalb diskutiert die Politik im Moment
             Kostenbremsen. Es gibt viele Ideen, wie die Kosten
                                                                        Verspricht eine Behandlung dem Patienten zusätzliche
                                                                        Lebensjahre, wer soll dann behandelt werden? Und die
                                                                        Antwortmöglichkeiten: a) jüngere Patienten, b) mittel-
                                                                        alte Patienten, c) alte Patienten oder d) alle Patienten
                                                                        haben die gleiche Priorität.
                                                                            Tendenziell neige ich zur Antwort, dass jüngeren
                                                                        Menschen eine höhere Priorität gegeben werden soll.
             gebremst werden können. Über eine Begrenzung des           Aber ist das fair? Ich merke, diese Fragen lösen in mir
             jährlichen Wachstums der Gesundheitskosten, indem          ein Gefühl der Ohnmacht aus.
             gewisse Parameter im System verändert werden oder
             wir die Gesellschaft fragen, was sie denn über die so-     Das aktuelle System
             ziale Grundversicherung bezahlt haben will. Doch wie       Ich habe heute die Möglichkeit, einen Teil meiner Wahl-
             soll Letzteres gemessen werden? Über soziale Präfe-        freiheit freiwillig abzugeben, um so Prämien einzuspa-
             renzen, erklärt mir die Frau. Die Bürgerinnen und Bür-     ren. Über ein alternatives Versicherungsmodell sowie
             ger werden anhand eines wissenschaftlich erarbeiteten      die Höhe meiner Franchise kann ich mich einschränken
             Fragenkatalogs zu ihren Präferenzen befragt – zu ihrer     und erhalte tiefere Prämien. Indem ich mehr Risiko auf
             Meinung, wem oder wann beispielsweise sehr teu-            mich nehme, kann ich mein Budget anders einteilen. Ich
             re Medikamente oder Behandlungen bezahlt werden            selber mache dies – aufgrund meiner medizinischen
             sollen. Eine Frage lautet dann zum Beispiel wie folgt:     Vorgeschichte – nicht. Ich habe meinen Hausarzt, den
                                                                        ich frei wähle, und die tiefste Franchise. Mir ist der sozi-
                                                                        ale Gedanke, die Solidarität und die Umverteilung zwi-
                                                                        schen Jungen und Alten sowie Gesunden und Kranken,
                                                                        sehr wichtig. Die soziale Grundversicherung ist mei-
                                                                        nes Erachtens eine Säule des sozialen Friedens in der
                                                                        Schweiz. Können und müssen wir diese soziale Grund-
                                                                        versicherung über soziale Präferenzen verändern?

                                                                        Gerechtfertigte Kosten
                                                                        Grundsätzlich glaube ich, dass unser Gesundheitswe-
                                                                        sen sehr gut ist und wir für unser Geld viel bekommen.
                                                                        Mache ich den direkten Vergleich mit Grossbritanni-
                                                                        en, wo ich längere Zeit lebte und arbeitete, dürfen wir
                                                                        uns nicht beklagen. Die Wartelisten in England waren
                                                                        teilweise so lang, dass Patienten starben, bevor sie die
                                                                        Behandlung bekamen – von solchen Zuständen habe
                                                                        ich in der Schweiz noch nie gehört. Die Kosten sind
                                                                        sicher hoch, aber uns geht es auch gut. Ich bin gerne
«Eine kleine, einfache                                                  bereit, für ein gutes Gesundheitssystem viel auszuge-
Frage wird zur Büchse                                                   ben. Und ich finde es nach wie vor wichtig, dass es
                                                                        eine Umverteilung gibt. Die Prämienverbilligung ist für
der Pandora – die ich                                                   mich unbestritten und muss unbedingt Familien mit
nicht öffnen kann und will.»                                            Kindern oder Personen am Existenzminimum zugu-

16   im dialog 1/2018
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