Imdialog - Was willst DU? Im Fokus: Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen - CSS Versicherung
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Knappe Ressourcen und unbegrenzte Wünsche Seite 4 «Soziale Präferenzen sind Stimmungen unterworfen» Seite 10 dialog im Was willst DU? Im Fokus: Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen Ausgabe 1 / 2018
Echo Franz Immer Wem geben wir was? «Es macht keinen Sinn, jemanden zu operieren, wenn die Transplantation aussichtslos ist und der Patient im Nachhinein nur vor sich hin vegetiert.» Direktor Swisstransplant, Tages-Anzeiger, 17.10.2016 Salvatore Tricarico First come, first served «Kinder haben Vorrang vor älteren Leuten, welche oft noch eine Teilimmunität durch frühere Impfungen besitzen.» Präsident des Verbandes der Haus- und Kinderärzte Ostschweiz, Tagblatt, 09.11.2017 SwissHTA Ich gönn’ dir das! «Anders als individuelle Präferenzen beziehen sich soziale Präferenzen auf das Wohlergehen, (…) oder eben Stefan Felder den gesundheitlichen Nutzen anderer Personen als des befragten Individuums selbst.» Weniger Leistungen, www.swisshta.ch, Glossar, 15.11.2017 um Kosten zu bremsen «Nicht alles, was medizinisch machbar ist, ist für die Allgemeinheit auch bezahlbar.» Simon Hehli Gesundheitsökonom, www.derbund.ch, 29.01.2017 Ehrliche Meinung versaut Politikkarriere «Die Rationierungsdebatte war einer der Gründe für die Abwahl von Veronica Schaller (SP) im Folgejahr.» www.nzz.ch, 10.08.2017
Editorial/Inhalt Folgen Sie uns auf Twitter: twitter.com/CSSPolitik Das wollen Lucrezia Meier-Schatz ist Mitglied des Verwaltungsrats der CSS. wir Neben dem Ziel, die Kosten zu dämpfen und der Schweizer Bevölkerung Inhaltsverzeichnis eine umfassende Versorgung zu gewährleisten, verfolgt das Bundes gesetz über die Krankenversicherung (KVG) auch ein Solidaritätsziel: Alle 4 oziale Präferenzen im S haben Zugang zu einer qualitativ hochstehenden Gesundheitsver Gesundheitswesen sorgung, und Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen Knappe Ressourcen und unbegrenzte werden bei der Prämienzahlung finanziell entlastet. Wünsche Seit vielen Jahrzehnten klagt die Schweiz über die steigenden Kosten im 7 Standpunkt Gesundheitswesen. Auch mit der Einführung des KVG vor zwanzig Von Solidarität und sozialer Präferenz Jahren wurde das Kostendämpfungsziel weit verfehlt. Aber trotz Kosten- 8 Hintergrund wachstum sind Herr und Frau Schweizer bei Umfragen der Meinung, Mithilfe der Wissenschaft die Kosten die Gesundheitsversorgung sei qualitativ hochstehend und sehr gut. Zwar bremsen scheint das Versorgungsziel erreicht. Aber das Solidaritätsziel gerät mit 10 Im Gespräch den steigenden Kosten unter Druck. Die Prämien der Grundversicherung «Soziale Präferenzen sind Stimmungen sind nicht nur für Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Ver unterworfen» hältnissen kaum mehr verkraftbar, sie belasten auch zunehmend den Mittelstand. 14 Praxis Wie verteilen wir fair? Deshalb müssen wir uns der wichtigen 3-W-Frage stellen. Was wollen 15 ie andere Sicht D wir? Wir müssen wissen, was die Bevölkerung angesichts der begrenzten Fairness lässt sich nicht regeln Ressourcen in der Grundversicherung bezahlt haben möchte und was Persönlich 16 nicht. Diese «sozialen Präferenzen» geben uns die Richtung vor, in die wir «Diese Fragen lösen in mir ein Gefühl die soziale Grundversicherung weiterentwickeln können. Denn Politik, der Ohnmacht aus» Bundesämter und kantonale Gesundheitsdirektionen treffen heute leider allzu oft Entscheidungen, die nicht wissenschaftlich fundiert sind. Santé! 18 Wenn wir eine tragbare, obligatorische Krankenversicherung wollen und Gesucht: Ein selbstloser Politiker die Solidarität nicht überstrapaziert werden soll, müssen die Entschei- 19 Wissenschaft dungen wissenschaftlich fundiert und wirtschaftlich vertretbar sein. Es Wider die Gleichmacherei braucht neue Konzepte. Deshalb unterstützt die CSS Versicherung das Projekt zur wissenschaftlichen Erhebung der sozialen Präferenzen (SoPHI) und widmet diese Ausgabe dem Thema. Impressum Erscheint dreimal jährlich in deutscher und französischer Sprache. Herausgeber: CSS Versicherung, Tribschenstrasse 21, CH-6002 Luzern, E-Mail: dialog@css.ch, Internet: www.css.ch, Chefredaktion: Judith Dissler, Roland Hügi; Redaktionelle Mitarbeit, Produktion und Grafik: Infel Corporate Media, Katharina Rilling (Text) und Peter Kruppa (Art Director) | Bildnachweis: Zeljko Gataric Imhoff, zVg, Getty Images/Tomas Rodriguez, iStock/Spiderstock, Grafilu, Getty Images/Regine Mahaux | Lithos: n c ag, 8902 Urdorf | Druck: Kromer Print AG, 5600 Lenzburg. Diese Publikation wird vollständig aus Mitteln aus dem Zusatzversicherungsgeschäft (VVG) finanziert. im dialog 1/2018 3
Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen Im Gesundheitswesen gelten andere Spielregeln als in der freien Marktwirtschaft. Die Regeln sind durch die Gesetzgebung festgelegt. Forschung zu diesen Regeln gibt es jedoch kaum. Wäre es nicht interessant, zu wissen, wofür die Gesell schaft in der sozialen Grundversicherung denn das Geld einsetzen möchte? Von Harry Telser, Barbara Fischer und Michael Schlander Knappe Ressourcen und unbegrenzte Wünsche U nsere Ressourcen sind begrenzt, nicht sen besteht in der Schweiz das politische Ziel, dass die jedoch unsere Wünsche und Bedürf- gesamte Bevölkerung einen umfassenden Zugang zu nisse. Dieser grundlegende Konflikt den Gesundheitsleistungen erhält. Durch eine Kran- prägt praktisch alle Lebensbereiche kenversicherung, die für alle obligatorisch ist, mit einem unserer Gesellschaft. Die begrenzten relativ moderaten Selbstbehalt, wird das Marktsystem Ressourcen in Güter und Dienstleis- reguliert. Die Prämien werden für diejenigen vergüns- tungen umzuwandeln und dann auf die unbegrenzten tigt, die sie sich nicht leisten können. Die eigentliche Bedürfnisse der Menschen aufzuteilen, stellt dabei eine Inanspruchnahme der Leistungen ist so für die Betrof- eigentliche Herkulesaufgabe dar, die sich dennoch sel- fenen praktisch gratis. Die anfallenden Kosten werden ten explizit stellt. In den meisten Fällen vertrauen wir von der Allgemeinheit über die Versicherungsprämien darauf, dass die Marktwirtschaft dies regelt. In dieser bezahlt. versuchen verschiedene Unternehmen, im Wettbewerb In diesem System verliert der Preis der Dienst- untereinander aus den beschränkten Ressourcen dieje- leistungen seine Signalwirkung. Da die Preise nicht nigen Produkte und Dienstleistungen anzubieten, wel- von denen bezahlt werden, welche die Leistungen che die Präferenzen der Kunden am besten befriedigen. nachfragen, können sie nicht mehr anzeigen, wo die Der Preis spielt im Marktsystem eine zentrale Rolle Nachfrage besonders hoch oder niedrig ist und wo die für diese dezentrale Steuerung. Ein hoher Preis für Gut begrenzten Ressourcen am besten eingesetzt werden A zeigt, dass hier eine grosse Nachfrage auf ein knap- sollen. Der fehlende Preis der Inanspruchnahme führt pes Angebot trifft. Dies ist ein Signal an die Anbieter, dazu, dass die theoretisch unbegrenzten Bedürfnisse mehr davon herzustellen. Dafür werden durchschlagen. Es werden auch Leistungen nachge- Ressourcen von der Herstellung anderer fragt, die sehr viel kosten und die Gesundheit nur noch In Kürze Güter mit geringerer Nachfrage abge- relativ wenig verbessern. Gerade im Krankheitsfall ist zogen und neu für die Herstellung von vielen nur das Allerbeste gut genug. • Das Ziel im Gesund- Gut A eingesetzt. Dies führt dazu, dass Es erstaunt deshalb nicht, dass die Gesundheits heitswesen ist, allen die knappen Ressourcen dort eingesetzt ausgaben stetig steigen und unterdessen fast 12 Pro- einen umfassenden werden, wo sie für die Menschen jeweils zent des Bruttoinlandprodukts für das Gesundheits- Zugang zu Behandlun- den grössten Nutzen bringen und ihre wesen aufgewendet werden. Diese Ressourcen stehen gen zu bieten – das Präferenzen am besten befriedigen. nicht mehr für andere Zwecke zur Verfügung, zum hebelt das Marktsys- Dieses System funktioniert an vielen Beispiel für Verbesserungen im Bildungs- oder Sozial- tem aus. Stellen hervorragend. Unzählige Unter- system. Es gibt dementsprechend viele Bemühungen, nehmen sorgen dafür, dass wir bei- die steigenden Kosten mit staatlichen Regulierungen spielsweise ein Nahrungsmittelangebot in den Griff zu bekommen. Dabei wird immer weni- • Der Preis spielt kaum haben, das vielfältig, unseren Präferen- ger vor harten Mitteln zurückgeschreckt. In der letz- eine Rolle für die zen angepasst und dennoch bezahl - ten Zeit forderten deshalb verschiedene Stimmen, die Inanspruchnahme der bar ist. Dasselbe gilt für andere Güter Leistungen müssten im Gesundheitswesen rationiert Leistungen, deshalb und Dienstleistungen wie Textilien, Autos, werden, zum Beispiel nach dem Alter der Patien- steigen die Kosten Haarschneiden, Telekommunikation, Ho- ten. An einigen Stellen wird die Rationierung bereits jährlich an. tellerie und viele mehr. umgesetzt. So hatte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) kürzlich den Zugang zu neuen – teuren, aber • Mithilfe der sozialen Planwirtschaft im Gesundheits- äusserst wirksamen – Hepatitis-C-Medikamenten ein- Präferenzen könnte wesen geschränkt, sodass nur Patienten mit einem fortge- erhoben werden, was Das reine Marktsystem funktioniert je- schrittenen Leberschaden diese von der Krankenkasse doch nicht überall. Im Gesundheitswe- bezahlt bekamen. über die obligatorische Versicherung bezahlt wird und was nicht.
Rezepte gegen die steigenden Gesundheitskosten? Aktuelle Situation dämpfung Die Gesundheitskosten in der Schweiz steigen kontinuierlich an. zur Kosten- Neues Rezept Insbesondere die steigenden Kosten in der Grundversicherung (OKP) belasten die Schweizer Haushalte immer stärker. Sind die finan- ziellen Mittel beschränkt, muss sich die Gesellschaft Gedanken machen, wie beschränkte Ressourcen fair und sozial verteilt werden. Wissenschaftliche Untersuchungen fehlen bis heute. Leistungskatalog der OKP = Überversorgung und Kosten der OKP Ballast abwerfen, sinnvolle Leistungen Grenzen setzen für Leistungen sowie sollen nicht Kosten in der OKP aufgrund gestrichen werden von wissenschaftlichen Erhebungen Offener Leistungskatalog Der offene Leistungskatalog ist ein Grund, warum die Kosten jährlich steigen. Es gibt kaum Anreize, weniger zu konsumieren als notwendig. Ausserdem kommen immer neue Behandlungsmöglichkeiten Soziale Präferenzen dazu, ohne dass alte gestrichen werden. Im regulierten Markt Wie regeln wir den Konflikt zwischen begrenzten spielt der Preis zudem keine Rolle, da die Preise nicht von denen gezahlt Ressourcen und unbeschränkten Bedürfnissen werden, die die Leistungen nachfragen. der Bevölkerung? Die Wissenschaft erhebt die sozialen Präferenzen und definiert so neue gesellschaftliche Gesundheitsziele. WZW ELGK Die Versicherer können mit Umstrittene Leistungen können der Prüfung von Wirksamkeit, von der Eidgenössischen Zweckmässigkeit und Wirt- Kommission für allgemeine schaftlichkeit einen Einfluss auf Leistungen und Grundsatz- den Leistungskatalog und fragen geprüft und aus der OKP das Kostenwachstum nehmen. gestrichen werden. KOF-Prognose Gesundheitsausgaben Obligatorische Krankenversicherung (Gesundheitsausgaben in Mio. CHF) 27 498,8 28 872,5 30 257,1 31 698,2 33 218,1 (Total 77 754,3) (Total 80 742,5) (Total 84 029,0) (Total 87 335,3) (Total 90 384,7) im dialog 1/2018 2015 2016 2017 2018 2019 5 Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen Quelle: https://www.kof.ethz.ch/prognosen-indikatoren/prognosen/kof-gesundheitsausgabenprognose.html
Soziale Präferenzen im Gesundheitswesen Bei dieser Art der Systemregulierung sollten die Präfe- Mit Gratismeinung ist gemeint, dass Befragte angeben renzen der Bevölkerung eine wichtige Rolle spielen. können, wie wichtig eine bestimmte Leistung oder Ei- Während sich in einem reinen Markt das Marktergebnis genschaft im Gesundheitswesen ist, ohne dass nega- automatisch an den Präferenzen der Marktteilnehmer tive Konsequenzen damit verbunden sind. So erstaunt ausrichtet, muss dies im Gesundheitswesen über eine es nicht, dass bei normalen Befragungen alles wichtig geeignete Regulierung sichergestellt werden. Dazu ist. Die Bevölkerung pocht beispielsweise auf die Un- müssen die sozialen Präferenzen bekannt sein, das heisst entbehrlichkeit von Originalpräparaten oder die freie die Wünsche der Bevölkerung, wie das soziale System Arztwahl. In der Realität beobachtet man jedoch, dass der Krankenversicherung ausgestaltet werden soll. Patienten bereit sind, Generika anstatt Originalprä- parate zu akzeptieren, wenn sie dafür finanziell ent- Unbekannte Grösse schädigt werden. Die freie Arztwahl hat die Mehrheit Wie die Schweizer Bevölkerung den Konflikt zwischen der Schweizer sogar bereits freiwillig aufgegeben. Sie begrenzten Ressourcen und unbeschränkten Bedürf- hat sich für Managed-Care-Modelle ihrer Kranken- nissen im Gesundheitswesen regeln möchte, ist heute versicherer entschieden und sich dabei verpflichtet, nicht bekannt. Ist es tatsächlich von der Bevölkerung im Krankheitsfall nur zu vorher bestimmten Ärzten zu akzeptiert, wenn sehr alte oder weniger kranke Per- gehen (vgl. Artikel S. 19). sonen gewisse Leistungen nicht mehr von der Kran- kenversicherung vergütet bekommen? Oder ist die Mit Experimenten zu Lösungen Bevölkerung vielleicht sogar dafür, dass noch mehr Will man die tatsächlichen sozialen Präferenzen erfas- Ressourcen ins Gesundheitswesen fliessen, weil sie sen, muss man deshalb die Befragten vor Entscheidun- daraus einen grösseren Nutzen als aus alternativen gen stellen, bei denen sie sich Verbesserungen zumin- Verwendungen zieht? dest hypothetisch erkaufen müssen. Dadurch wird die Soziale Präferenzen zum Gesundheitswesen lassen Begrenztheit der Ressourcen in der Befragung sichtbar sich nicht direkt beobachten, weil eben keine Nachfra- gemacht. Besonders geeignet für eine solche Befra- geentscheidungen für oder gegen Gesundheitsleistun- gung sind Marktexperimente, die in der wissenschaftli- gen zu einem kostendeckenden Preis stattfinden. Es chen Literatur auch Discrete-Choice-Experimente ge- braucht somit Befragungen, um Kenntnis darüber zu nannt werden. Bei diesen Experimenten werden den erhalten, wie die Bevölkerung das Gesundheitswesen Befragten hypothetische Produkte vorgelegt, die sich ausgestaltet haben möchte. Bevölkerungsbefragungen in ihren Eigenschaften unterscheiden und zwischen zum Gesundheitswesen gibt es viele, auch solche, die re- denen sie sich entscheiden müssen. Es wird also eine gelmässig durchgeführt werden. Alle weisen jedoch das alltägliche Marktsituation simuliert, die den Befragten gleiche Problem auf, weshalb sie nicht für die Bestim- aus anderen Gebieten bestens bekannt ist. Sie müs- mung sozialer Präferenzen taugen: Die Befragten kön- sen keine Meinungen zu spezifischen Eigenschaften nen in diesen Befragungen Gratismeinungen äussern. des Gesundheitswesens abgeben, sie müssen sich nur zwischen unterschiedlichen Szenarien entscheiden. Wenn es viele solche Entscheidungen zwischen ganz unterschiedlichen Szenarien gibt, lassen sich daraus mit statistischen Methoden die Präferenzen der Be- fragten ableiten. Man kann ermitteln, welche Eigen- schaften bei den Entscheiden am wichtigsten oder am wenigsten wichtig waren. Ebenso lassen sich die Mit Gratismeinung ist gemeint, Austauschverhältnisse zwischen den Eigenschaften dass Befragte angeben können, berechnen. Das heisst, wie viel die Befragten bereit wären, von einer Eigenschaft aufzugeben, um von ei- wie wichtig eine bestimmte ner anderen Eigenschaft mehr zu erhalten. Wenn eine Leistung oder Eigen- Eigenschaft der Preis ist, zeigt dieses Austauschver- schaft im Gesundheitswesen hältnis die Zahlungsbereitschaft der Bevölkerung für ist, ohne dass negative eine Verbesserung in der anderen Eigenschaft. Konsequenzen damit verbunden sind. Für die Ermittlung der sozialen Präferenzen im Gesundheitswesen bietet sich ein Marktexperiment an, bei dem sich die Befragten zwischen unterschied- lichen Versicherungsverträgen entscheiden sollen. Dabei kann die heutige Grundversicherung als Aus- gangslage dienen. Dieser werden alternative Versiche- rungsverträge gegenübergestellt, die gewisse Ände- rungen im Leistungskatalog vorsehen. Es könnte zum Beispiel ein neues hypothetisches Medikament geben, das von der Grundversicherung nicht bezahlt würde, aber im alternativen Versicherungsvertrag gedeckt Wenn es viele Entscheidungen wäre. Dafür müsste man im Alternativvertrag eine hö- zwischen ganz unterschiedlichen here Krankenkassenprämie bezahlen. Da es sich um Szenarien gibt, lassen sich daraus mit ein Experiment handelt, kann man die Eigenschaften des hypothetischen Medikaments an die genauen statistischen Methoden Fragen anpassen, zu denen man die sozialen Präfe- die Präferenzen der Befragten renzen ermitteln möchte. So könnte das Medikament ableiten. beispielsweise nur bei Krankheiten helfen, die Patien- 6 im dialog 1/2018
Standpunkt Die Schweizer Bevölkerung ächzt unter den Kosten der obli gatorischen Grundversicherung. Das darf nicht sein. Um diesem Problem Einhalt zu gebieten, müssen wir uns Gedanken machen. Was soll die obligatorische Grundversicherung bezahlen? Auf welcher Grundlage wird das entschieden? Von Solidarität und sozialer Präferenz Das Gesundheitswesen basiert auf dem Mengenwachstum, der ungenügenden Grundsatz der Solidarität. Das ist richtig, geht Qualität und dem unbeschränkten es doch um das Essenziellste, was der Leistungskatalog Einhalt zu gebieten. Es Mensch hat: seine Gesundheit. Auch die stellt sich allerdings die Frage, wie und CSS Versicherung wurde vor mehr als auf welcher Grundlage der Hebel angesetzt Michel Rudin ist Public Affairs 100 Jahren auf diesem Grundsatz gegrün- werden könnte, um den Erwartungen Manager bei der CSS Versicherung. det. Doch was bedeutet eigentlich der Versicherten gerecht zu werden. Und michel.rudin@css.ch Solidarität im Gesundheitssystem? Genau genau hier bilden die sozialen Präferen- hier scheiden sich die Geister. Während zen eine gute Basis. In Kürze wird eine Studie einige davon ausgehen, dass das solidarisch publiziert werden, die erstmals die Haltung finanzierte Gesundheitswesen für alle der Schweizer Bevölkerung zu einem Leistungen aufkommen soll – denn es geht solidarischen Gesundheitswesen erhoben ja um das höchste Gut –, gibt es andere, hat. Diese wird fundierte Antworten auf die sich für eine Beschränkung auf das die Fragen liefern, wo denn die Grenzen Nötige einsetzen. Im Kern sind es diese dia- zwischen solidarisch finanziertem metral unterschiedlichen Erwartungen, Gesundheitswesen und freiem Gesund- die schliesslich zur heutigen Blockade im heitsmarkt zu ziehen seien. Die CSS Gesundheitswesen geführt haben. erhofft sich von den Resultaten eine Oder anders formuliert: Sämtliche Akteure Gesundheitspolitik, welche sich vermehrt und ganz bestimmt die Politik bean nach den Erwartungen der Versicher- spruchen die Deutungshoheit über die ten ausrichtet und so Reformblockaden Solidarität und ihre finanziellen Folgen im vermeidet. Dies insbesondere auch Gesundheitswesen der Schweiz. deshalb, weil Qualität und Zweckmässig- keit einer Behandlung besser definiert Bei einem Kostenanstieg von jährlich werden können. Die CSS ist überzeugt, dass durchschnittlich vier Prozent wird der zu die Diskussion um den Umfang und leistende Solidarbeitrag immer mehr Inhalt von solidarisch finanzierten Leistungen zur Belastung der Menschen. Mit Schön mehr Tiefe bekommt und es so gelingen reden und Kosmetik kann dem Kosten- kann, die Grenzen klar zu ziehen, politische wachstum nicht Einhalt geboten werden. Blockaden zu lösen und damit das Es braucht grössere Eingriffe, um dem Wachstum der Prämien einzuschränken. ten in einem gewissen Lebensalter befallen. Man hätte also ein Medikament, das nur Kindern oder nur älteren — Prof. Michael Schlander und Dr. Harry Telser leiten Patienten hilft, und könnte daraus die sozialen Präfe- gemeinsam mit einem internationalen Scientific renzen im Hinblick auf eine Altersrationierung ableiten. Steering Committee die SoPHI-Studie. Sie basiert auf den Ergebnissen des SwissHTA-Projekts und des Regulierung gemäss Präferenzen internationalen URD-(«Evaluation of Ultra-Rare Dis- Es gibt mittlerweile bewährte Methoden für die Messung orders»-)Projekts (beide unter der wiss. Leitung von von Präferenzen. Wichtig ist es dabei stets, die Begrenzt- Michael Schlander, Deutsches Krebsforschungszent- heit der Ressourcen sichtbar zu machen. Erst dadurch rum, Universität Heidelberg, und Institute for Inno- zeigt sich, wie das soziale Gesundheitssystem ausgestal- vation & Valuation in Health Care in Wiesbaden) und tet werden muss, damit die Präferenzen der Bevölkerung der ökonometrischen Expertise und Erfahrung mit berücksichtigt werden. Die Kenntnis sozialer Präferen- DCE-(«Discrete Choice Experiment»-)Methoden von zen verbessert die Konsistenz und damit schlussendlich Polynomics in Olten (Harry Telser, Barbara die Akzeptanz der Regulierung im Gesundheitswesen. Fischer). im dialog 1/2018 7
Hintergrund Obwohl die Kosten im Gesundheitswesen steigen, wollen Herr und Frau Schweizer keine Rationierung. Das braucht es vielleicht auch nicht. Wäre es nicht spannender, zu wissen, was wir denn überhaupt über die soziale Grundversicherung bezahlt haben wollen und was allenfalls nicht? Von Prof. Dr. Michael Schlander, Barbara Fischer und Dr. Harry Telser Mithilfe der Wissenschaft die Kosten bremsen R epräsentative Meinungsumfragen zeigen, dass eine grosse Mehrheit der Stimmbür- ger die Rationierung von Gesundheits- leistungen ablehnt. Gleichzeitig ist die Bereitschaft, hohe Steuern oder Zwangs- beiträge – das heisst in der Schweiz: hohe Prämien für die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) könnte bewirken, dass bestimmte Patienten(gruppen) im Ergebnis weitgehend oder sogar ganz vom Zugang zu wirksamen Therapien ausgeschlossen würden, weil ihre Behandlung weniger zusätzliche Gesundheit «produzieren» würde. Konkrete Beispiele von teilweise sehr teuren The- rapien bei seltenen Erkrankungen (wie angeborene – zu akzeptieren, offensichtlich begrenzt. Daraus re- Stoffwechselstörungen von Kindern mit der Folge le- sultiert ein Zielkonflikt, der sich einerseits auf die ange- benslanger Behinderungen) oder von schweren Krebs messene Höhe der gesamten Aufwendungen für das erkrankungen zeigen die Brisanz der Problematik. In Gesundheitswesen bezieht, andererseits die Frage von England etwa wird im Rahmen der Evaluation medi- Grenzsetzungen innerhalb dieses Systems betrifft. zinischer Verfahren ein Schwellenwert von 20 000 bis 30 000 Pfund für die vermutete maximale Zahlungs- Steigerung der Effizienz bereitschaft für ein gewonnenes Lebensjahr (mit ei- Viele Politikberater, nicht zuletzt aus der Disziplin der ner Anpassung für die Lebensqualität) angenommen. Gesundheitsökonomie, empfehlen deshalb, die Effizi- Im Ergebnis werden deshalb viele teure Therapien für enz der Mittelverwendung für das Gesundheitswesen seltene Erkrankungen und neue Krebsmedikamente und innerhalb desselben zu maximieren. Die Forde- negativ bewertet. rung, eine Ressourcenver- schwendung zu vermeiden, Was wollen wir denn? In Kürze ist auf den ersten Blick trivial Wir wissen aber aus einer grossen und wachsenden und nichts anderes als ein Zahl internationaler Studien, dass dem soziale Normen • Die Mehrheit der selbstverständlicher öko- und Werturteile entgegenstehen. Vielen Menschen ist Schweizer Bevölkerung nomischer und moralischer es zum Beispiel besonders wichtig, dass Schwerkran- findet die Prämien Imperativ. Sie wird allerdings ken Hilfe zuteilwird, auch wenn sie selbst im Gegenzug zu hoch, lehnt jedoch genau dann problematisch, vielleicht auf die Erstattung von «Bagatellen» verzich- Rationierungen ab. wenn eine im klassischen ten müssen – und zwar auch dann, wenn dadurch im ökonomischen Sinn optima- Endeffekt Lebensqualität und Lebenszeit nicht summa- • Individuen sind bereit, le «Allokation» (Zuteilung) risch gesteigert werden können. Mit anderen Worten: zwar zu einer maximalen Man ist hier bereit, einen insgesamt kleineren Kuchen ihren eigenen, Pro duktion von gesund- zu akzeptieren, wenn er dafür gerechter verteilt wird. individuellen Nutzen heitsbezogenem Nutzen Einer der Gründe für die beobachteten Abweichungen zugunsten der führt (in diesem Sinne also von der reinen Theorie liegt darin, dass sich Menschen Gesellschaft zurück keine Verschwendung statt- immer dann, wenn es gesundheitlich gleichsam «um zustecken (soziale findet), aber diese Zuteilung Kopf und Kragen» geht, nicht (nur) als opportunisti- Präferenzen). blind bleibt für die Vertei- sche Eigennutzmaximierer verhalten. Sie zeigen viel- lung («Distribution») des mehr soziale Präferenzen, und es gibt keinen überzeu- • Die SoPHI-Studie Nutzens über verschiedene genden Grund, diese Erwartungen der Bevölkerung an erhebt die sozialen Personengruppen. Denn sie ihr Gesundheitswesen zu ignorieren. Präferenzen wissenschaftlich. 8 im dialog 2/2017
Hintergrund Die schweizerische SoPHI-Studie vention. Andererseits berücksichtigt sie Aspekte wie Der systematische und konsistente Einbezug sozialer Risikoaversion und Selbstlosigkeit. So können letzt- Präferenzen in die Evaluation medizinischer Massnah- lich die sozialen Präferenzen der Schweizer Stimm- men setzt voraus, dass diese einer empirischen Über- bürger erfasst werden. Derzeit befinden sich die Da- prüfung standhalten und idealerweise quantifizierbar ten einer repräsentativ angelegten Stichprobe von sind. Dieses Ziel prägte das Design der «Social Prefe- 1500 Schweizer Stimmbürgern in der Auswertungs- rences for Health Interventions»- oder kurz SoPHI-Stu- phase. Die Ergebnisse werden die relative Bedeutung die. Ermöglicht wurde die Studie in der Schweiz durch der erfassten Attribute aufzeigen. Es zeichnet sich paritätische Unterstützung von Krankenversicherern bereits ab, dass für die Schweizer Bevölkerung neben (curafutura, SVV) und Industrie (Galenica, Interpharma), der individuell gewonnenen Lebenszeit und -qualität deren Vertreter überwiegend schon am SwissHTA- weitere Merkmale wichtig sind. Es wäre von poten- Projekt federführend beteiligt waren. ziell grosser gesundheitspolitischer Bedeutung, wenn In der SoPHI-Studie wird die Methode der Discrete- diese sozialen Präferenzen Eingang in die Evaluati- Choice-Experimente (DCE) angewendet, um die soziale onskriterien medizinischer Interventionen fänden. Zahlungsbereitschaft für medizinische Interventionen zu bestimmen, die sich in sieben wesentlichen Kriterien un- terscheiden: Lebenserwartung und Lebensqualität ohne Intervention (also Schweregrad der Krankheit), Lebens- erwartung und Lebensqualität nach der Behandlung (aus — Prof. Michael Schlander und Dr. Harry Telser leiten der Differenz ergibt sich die Wirksamkeit der Behand- gemeinsam mit einem internationalen Scientific lung), Zahl der behandlungsbedürftigen Patienten (Prä- Steering Committee die SoPHI-Studie. Sie basiert auf valenz), Alter der Patienten sowie zusätzliche Kosten bei den Ergebnissen des SwissHTA-Projekts und des Aufnahme der Behandlung in den Leistungskatalog der internationalen URD-(«Evaluation of Ultra-Rare obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP). Disorders»-)Projekts (beide unter der wiss. Leitung Zu den besonderen Merkmalen der SoPHI-Studie von Michael Schlander, Deutsches Krebsforschungs- gehört, dass die Kosten als Kosten pro versicherte zentrum, Universität Heidelberg, und Institute for Person (statt je Patient oder je gewonnenes Lebens- Innovation & Valuation in Health Care in Wiesbaden) jahr) abgebildet werden. Deshalb wird in der Studie und der ökonometrischen Expertise und Erfahrung die «soziale Zahlungsbereitschaft» gemessen. Die- mit DCE-(«Discrete Choice Experiment»-)Methoden se erfasst einerseits den individuellen, unmittelbar von Polynomics in Olten (Harry Telser, Barbara selbstbezogenen Nutzen einer medizinischen Inter- Fischer). Exkurs in die Wirtschaftstheorie In der Wirtschaftstheorie spricht man von sozialen Präferenzen, wenn die Akteure neben ihrem materiellen Eigennutz auch Vorlieben für das Wohlergehen oder den Erfolg anderer Akteure aufweisen, die das eigene Verhalten massgeblich mitbeeinflussen. Homo oeconomicus Soziale Präferenzen Verhalten rein am materiellen Eigennutz M otivation von Menschen, Aspekte Kein Empfinden für andere für Entscheide zu beachten, die über materiellen Eigennutz hinausgehen im dialog 1/2018 9
Im Gespräch Ist die Erhebung von sozialen Präferenzen ein taugliches Mittel, um zur Senkung der Gesundheitskosten beizutragen? Christian Affolter, Verantwortlicher Tarifstrukturen bei der CSS, und Fridolin Marty, Zuständiger für Gesundheitspolitik bei der economiesuisse, sind sich nicht einig. Interview: Patrick Rohr «Soziale Präferenzen sind Stimmungen unterworfen» Patrick Rohr: Herr Affolter, die CSS unter- stützt das Konzept der sozialen Präfe- «Wir haben eine hohe, renzen, weil Sie der Meinung sind, damit aber lange nicht die liessen sich Kosten sparen. Wie? Christian Affolter: Ich sage nicht, dass beste Qualität der Welt mit diesem Modell alles besser wird. Aber – aber wir zahlen so es macht möglich, dass wir die Ver sicherten besser verstehen. Wenn wir die viel wie sonst niemand sozialen Präferenzen kennen, wissen für die Gesundheit.» wir, was die Menschen bereit sind, für die Christian Affolter Gesundheit zu Lasten der sozialen Krankenversicherung auszugeben und was nicht. Nicht für die eigene Gesundheit, sondern für die der anderen. Natürlich hat man schon heute Hinweise, wenn man die Kommentarspalten der Boulevard- presse liest oder die Diskussionen auf Social Media verfolgt. Aber was fehlt, ist eine wissenschaftliche Erhebung der sozialen Präferenzen. P.R.: Aber haben wir dafür nicht die sind, weil wir ja nicht nur Wahlen, sondern Politik, die die sozialen Präferenzen der auch Abstimmungen haben. Ich stelle Bevölkerung doch kennen müsste? mit Besorgnis fest, dass wir schon heute C.A.: Ich behaupte jetzt mal, dass die Politik immer mehr eine Politik der Demos- nicht weiss, wie viel die Menschen kopie haben und sich die Politik nur noch bereit sind, für die Gesundheit der anderen nach Umfragen richtet, statt Verant- auszugeben. wortung zu übernehmen. Die politische Verantwortung ist nicht ersetzbar, und P.R.: Herr Marty, wie sehen Sie das? Wäre sicher nicht durch ein solches Konzept. man, wenn man die sozialen Präferen- C.A.: Da muss ich widersprechen. Es zen erforschen würde, wirklich viel näher mag sein, dass die Politik sich immer mehr bei der Bevölkerung, als die Politik das auf populistische oder demoskopische sein kann? Grundlagen stützt. Aber das Konzept der Fridolin Marty: Ich glaube nicht, dass man sozialen Präferenzen dient dazu, die sich von diesem Konzept viel erhoffen Rahmenbedingungen, die die Politik setzt, kann. Vielleicht bringt es etwas mehr mit Inhalten zu füllen. Eben genau, um Transparenz ins System. Aber am Schluss mit dogmatischen und parteipolitischen muss die Politik entscheiden. Und gerade Diskussionen aufzuräumen. Ich nenne in einer direkten Demokratie wie der Ihnen ein Beispiel: Wenn wir uns fragen, Schweiz weiss man sehr genau, was die was von der sozialen Krankenversiche- sozialen Präferenzen der Bevölkerung rung bezahlt werden soll, sind die Regeln 10 im dialog 1/2018
Im Gespräch — Der Pharmazeut Christian Affolter (rechts) ist seit 2013 Verantwortlicher Tarifstrukturen bei der CSS. Davor war er im KVG festgelegt: Eine Behandlung versicherung zu bezahlen? Solche Fragen Leiter der Direktion Gesundheits- muss wirksam, zweckmässig und wirtschaft- könnte man in Zukunft über die Erfor- politik beim Bundesamt für lich sein – das sind die WZW-Kriterien. schung der sozialen Präferenzen klären. Gesundheit (BAG) und Leiter der Die Wirksamkeit lässt sich klar nachweisen. Abteilung Grundlagen bei Bei der Wirtschaftlichkeit wird es schon P.R.: Aber ist das nicht gefährlich, Herr santésuisse. schwieriger. Aber wer sagt, ob eine Behand Marty? Kann es nicht sein, dass plötzlich lung zweckmässig ist? eine Mehrheit beschliesst, dass eine Minderheit von einer medizinischen Ver- — Der Volkswirtschaftler Fridolin P.R.: Mein Arzt. sorgung ausgeschlossen wird? Marty (Mitte) ist beim Dach C.A.: Genau. F.M.: Grundsätzlich habe ich grosses Ver- verband der Wirtschaft economie trauen ins Volk. Die Leute wollen einfach suisse zuständig für Gesund- heitspolitik. Davor arbeitete P.R.: Und diese Beurteilung möchten Sie Fairness. Nehmen wir die Flüchtlingspolitik: er in verschiedenen Funktionen künftig der Bevölkerung überlassen? Solange Flüchtlinge, die in die Schweiz bei santésuisse und war Mit- C.A.: Nein, aber wir möchten die Menschen kommen, dankbar sind, unser System an- glied der Eidgenössischen Arz- einbeziehen. Neu kommt eine soziale erkennen, die Sprache lernen, arbeiten neimittelkommission (EAK). Perspektive dazu, und die geht über das wollen – so lange sagen achtzig, neunzig Individuum hinaus. Nehmen wir als Prozent der Leute in unserem Land, Beispiel Viagra: Das Medikament erfüllt die dass die Flüchtlinge kommen dürfen. Wenn WZW-Kriterien. Aber wissen wir, ob die aber Flüchtlinge kommen, die unsere Gesellschaft überhaupt bereit wäre, Viagra Kultur nicht gut finden und nicht arbeiten zu Lasten der obligatorischen Kranken- wollen, dann ist es vorbei mit der im dialog 1/2018 11
Im Gespräch stabil sind und Stimmungen unterworfen sein können. C.A.: Und wäre das schlimm? F.M.: Ich sage nicht, dass das schlimm ist. Ich sage nur: Wenn man eine solche Studie macht, muss man sich bewusst sein, dass das eine Momentaufnahme ist und dass soziale Präferenzen Dynamiken unterliegen. Darum muss die Politik in der Verantwortung bleiben. C.A.: Natürlich wäre es theoretisch möglich, dass das Resultat einer Umfrage der Verfassung widerspricht, dass der Schutz von Minderheiten verletzt würde und so weiter. Aber die Diskussion wird sowieso geführt, bis jetzt einfach am Stammtisch. Wir wollen, dass man die wissenschaftlich gestützte Haltung der Bevölkerung kennt. P.R.: Und wie untersucht man das wissenschaftlich? C.A.: Man präsentiert den Leuten Auswahl- fragestellungen. Man fragt also zum Bei- spiel: Soll man die Behandlung von jungen Menschen vor die Behandlung von alten Menschen stellen? Oder man fragt: Wo ist eine Lebensverlängerung um ein paar Wochen, die möglicherweise Zehntausende, vielleicht hunderttausend Franken kostet, sinnvoller? Bei einem Jungen, der noch einen Monat braucht, um alles zu regeln und sich von der Familie zu verabschie- den, oder bei einem Achtzigjährigen, der noch die Geburt seines Grosskinds er leben möchte? F.M.: Heikle Fragen! P.R.: Aber dafür hätte man endlich Antworten auf diese Fragen, Herr Marty! Man wüsste, wie die Leute denken. F.M.: Ja, aber es geht nicht ohne politische Verantwortung. Wenn ich als Bürger interviewt werde, muss ich ja keine Ver- antwortung tragen. Ich muss weder etwas zahlen noch für etwas geradestehen. Unterstützung. Dasselbe gilt im Kranken- Das finde ich problematisch. und Gesundheitsbereich: Wenn man weiss, jemand kann nichts für seine Krank- P.R.: Aber hat die Politik ihre Verantwor- heit und er macht auch alles, um gesund tung in den letzten Jahren denn wirk- zu werden, dann ist die Unterstützung da. lich wahrgenommen? Die Gesundheits- kosten steigen ins Unermessliche. P.R.: Wenn er in den Augen der Bevölke- F.M.: Die Kosten sind ganz offensichtlich rung aber selber schuld ist, wie man nicht zu hoch. Das Stimmvolk hat noch das bei Aidskranken lange sagte, dann jede Vorlage, die die Kosten reduzieren wird es schon schwieriger. wollte, verworfen. Die Leute wollen die F.M.: Das ist genau das Problem, das Leistungen, und sie sind bereit, dafür weiss man. Wobei bei Aids die Akzeptanz «Es wird nichts pas zu zahlen. Das Problem sind die Prämien zum Glück inzwischen da ist. verbilligungen, sie haben sich nicht im sieren, weil viele vom Gleichschritt mit den Kosten entwickelt. Des- P.R.: Aber es können neue Krankheiten System profitieren halb ist die Belastung für weniger be- kommen, bei denen die Menschen güterte Personen stark gestiegen. Die Frage sogenannt «selber schuld» sind, und da und in der Politik jeder ist, ob es nicht sinnvoller wäre, die Prä- könnte sich die Stimmung eben gegen weiss, er könnte sich mienverbilligungen zu erhöhen oder sie eine Gruppe richten? zumindest nicht zu senken. F.M.: Genau. Man muss sich bewusst die Finger verbrennen.» C.A.: Das ist doch eine Nebelgranate! Wir sein, dass die sozialen Präferenzen nicht Christian Affolter fahren gerade das System an die Wand! 12 im dialog 1/2018
Im Gespräch F.M.: Das stimmt nicht. pflegeversicherung, die OKP, kostet zahlen so viel wie sonst niemand für die C.A.: Doch. Ganz einfach, weil die Aus uns 40 Milliarden Franken. Das BIP wächst Gesundheit. gaben mit dem Faktor zwei bis drei um zwei Prozent, also um 12 Milliarden F.M.: Gut, ich komme Ihnen ein bisschen gegenüber den Löhnen wachsen. Irgend- Franken. Wenn jetzt die OKP um zehn entgegen. Was ich gesagt habe, bezieht wann kann man das nicht mehr zahlen. Prozent wachsen würde, was es noch nie sich auf die Vergangenheit. Ich sage nicht, F.M.: Die Löhne sind nicht das Einzige, was gab, wären das vier Milliarden. Also dass es bis in alle Ewigkeit so bleibt; den Wohlstand einer Gesellschaft aus- nur ein Drittel des Betrages, um den das es kann durchaus mal kippen, und Kosten- macht. Wir haben auch Kapitaleinkommen. BIP gewachsen ist. Ist das nun finan senkungsvorlagen können mehrheits- zierbar oder nicht? fähig werden. Aber dann wird die Politik P.R.: Da reden wir jetzt aber von einer C.A.: Eine solche Rechnung finde ich schon korrigierend eingreifen. kleinen Schicht, Herr Marty. Viele grenzwertig! C.A.: Das glaube ich eben nicht. Man merkt Menschen haben Mühe, sich die Gesund- F.M.: Mir geht es ja auch nicht darum, die doch die Unzufriedenheit der Leute heitskosten noch zu leisten. Kostenentwicklung generell kleinzureden. schon jetzt – und zwar immer spätestens F.M.: Ich sage, das System kann es sich Ich sage nur: Aus irgendeinem Grund dann, wenn die nächste Prämienrunde leisten, nicht jeder einzelne Haushalt. Das hat das Volk noch nie Ja gesagt zu einer kommt. Und auch die Qualitätsdiskussion ist mir schon bewusst. Kostensenkungsmassnahme. fängt langsam an. Die Erwartung, dass die Verantwortlichen im System etwas P.R.: Und die, die es sich nicht leisten P.R.: Und was ist dieser Grund? machen, ist also schon heute durchaus da. können, brauchen dann Prämien F.M.: Dass wir uns als Gesellschaft das Aber es wird nichts passieren, weil viele verbilligungen, womit die Allgemeinheit Gesundheitswesen leisten können. vom System profitieren und in der Politik die Lasten trägt und das Problem nur C.A.: Nein, das Problem ist, die Menschen jeder weiss, er könnte sich die Finger verschoben wird. haben ein Informationsdefizit: Fragen verbrennen. Im Gesundheitswesen gibt es F.M.: Das Problem ist einfach noch nicht so Sie mal am Stammtisch, was für eine Quali- politisch keinen Blumentopf zu gewinnen. gross, dass wir es uns als Gesellschaft tät wir in unserem Gesundheitswesen Es bräuchte nicht einmal neue Regeln, nicht mehr leisten könnten. Machen wir haben. Alle werden sagen: Wir haben eine wir haben schon genug Regeln. Aber man eine einfache Rechnung: Das Bruttoin- super Qualität! Aber das stimmt nicht. müsste endlich einmal die durchsetzen, landprodukt, das BIP, beträgt 600 Milliarden Wir haben eine hohe, aber lange nicht die die es schon gibt, zum Beispiel die genann Franken. Die obligatorische Kranken beste Qualität der Welt – aber wir ten WZW-Kriterien. Die sozialen Präfe renzen geben uns mehr Argumente dafür. P.R.: Also übernimmt die Politik aus lauter Angst die Verantwortung eben doch nicht, Herr Marty? F.M.: Die Politik macht ihren Job. Aber tatsächlich, bei der Umsetzung der Regeln, «Die politische Ver namentlich jenen des Krankenversiche- antwortung ist rungsgesetzes, hapert es. Man sieht zwar die Lücken der Umsetzung, aber statt nicht ersetzbar, und sie zu füllen, macht man neue Gesetze und sicher nicht durch Regulierungen. Trotzdem vertraue ich auf unser politisches System. Es ist erfolg ein solches Konzept.» reich und kippt nicht gleich, wenn es Fridolin Marty neue Strömungen gibt. — Der Journalist und Fotograf Patrick Rohr leitet eine eigene Agentur für Kommunikations- beratung und Medienproduktionen. Bis 2007 war er Moderator beim Schweizer Fern sehen (u.a. «Arena», «Quer»). im dialog 1/2018 13
Praxis Es gibt Situationen, in denen medizinische Leistungen knapp sind und der Zugang zu Prävention, Diagnose oder Behandlung nicht immer garantiert ist. Wie verteilen wir diese Ressourcen fair? Eine Studie der ETH Zürich zeigt, wie Laien und Ärzte das beurteilen. Von Dr. Pius Krütli Wie verteilen wir fair? K nappe medizinische Ressourcen zeigen sich heute exemplarisch beim Mangel an Spenderorganen. Ein anderes Beispiel lei- tet sich aus der Kostendiskussion im Ge- sundheitswesen ab. Wem sollen Leistun- gen wie Gelenkersatz (eine Lebensqualität fördernde, jedoch nicht lebensnotwendige Massnahme) zugeteilt Prinzipien werden als ethisch vertretbar beurteilt, und je nach Situation eignen sie sich besser oder weniger gut für die faire Zuordnung von knappen medizinischen Leistungen. So werden beispielsweise Prinzipien wie die «Kränksten zuerst» oder «first come, first served» (Warteliste) von einigen anerkannten Medizinethikern abgelehnt. Sie argumentieren, dass dabei die Progno- werden, wenn die Mittel nicht mehr für alle Nachfrager se bzw. der Krankheitsverlauf nicht beurteilt wird oder ausreichen? dass Wartelisten anfällig auf Missbrauch sind. Es braucht Regeln, um die knappen Leistungen Dies steht in Kontrast zur Beurteilung solcher Prinzi- möglichst fair zu verteilen. Diese sollten ethischen pien durch medizinische Laien und teilweise auch Ärzte. Standards entsprechen, einen medizinischen Nutzen In einer aktuellen Onlinestudie beurteilten u.a. Allge- erzeugen, praktikabel und von den Mitgliedern einer meinmediziner und medizinische Laien die Fairness von Gesellschaft akzeptiert sein. neun Verteilungsprinzipien in drei unterschiedlichen Es gibt eine Reihe solcher Verteilungsprinzipien Situationen medizinischer Knappheit. Die Abbildung wie «Zufall», «Kränkste zuerst», «Jüngere vor Älte- zeigt hier «Lebensqualität verbessernde medizinische ren», «Warteliste», «Prognose» usw. Nicht alle diese Leistungen». Beide – Ärzte und Laien – finden es sehr fair, wenn die Kränksten diese Leistung zuerst erhalten, wenn es nicht für alle reicht. Die «Warteliste» schliesst in dieser Hinsicht bei Laien am zweitbesten ab, woge- gen dieses Prinzip bei Ärzten eher umstritten ist. Bei den Wie beurteilen wir die Kriterien übrigen Prinzipien sieht das Muster bei beiden Gruppen für die Verteilung von knappen ähnlich aus. «Verhalten» als Massgabe für die Verteilung knapper Leistungen scheint in beiden Gruppen umstrit- medizinischen Leistungen? ten. Das gilt auch für das Prinzip «Jüngere vor Älteren». Resultate der Untersuchung von Meinungen von Allgemein «Kostenbeitrag» (diejenigen bevorzugen, die mehr an medizinern und med. Laien über die Verteilung von Leistungen, die Kosten zahlen), «gesellschaftliche Leistung in der die die Lebensqualität verbessern (wie künstliche Hüftgelenke). Vergangenheit» und auch «Zufall» schneiden punkto Fairness bei beiden Gruppen nicht gut ab. Allgemeinmediziner (n=212) Med. Laien (n=822) Was lernen wir daraus? Erstens, für die unterschied- KRÄNK lichen Situationen, bei denen medizinische Knappheit REIHE auftauchen kann, braucht es Regeln, wie medizinische VERHA Leistungen fair verteilt werden sollten. Für die Zutei- PROGN lung von Spenderorganen haben viele Länder Regu- KOMBI larien aufgestellt. Wie medizinische Leistungen bei JÜNGE knapper werdenden Mitteln verteilt werden, dazu gibt KOSTE es kaum Untersuchungen – und vielleicht auch noch ZUFAL DIENS zu wenig Diskussionen. Zweitens gibt es viele verschiedene Prinzipien, wie 0% 25 % 50 % 75 % 100 % 0% 25 % 50 % 75 % 100 % solche Leistungen fair verteilt werden können. Da alle Priorisierungsprinzipien Bewertung der Fairness Prinzipien ihre Vor- und Nachteile haben, sind Spezifi- (% der Teilnehmer/-innen) KRÄNK = Kränkste zuerst zierungen nötig. (grösste Alltagseinschränkung) REIHE = Reihenfolge der Anmeldung Und drittens, was Ethiker als fair beurteilen, muss 7 6 5 4 3 2 1 (Wartelisten) sehr gar nicht nicht zwingend auch dem entsprechen, was in der VERHA = Kein Selbstverschulden PROGN = Lebenserwartung gerecht/fair gerecht/fair Realität als fair beurteilt wird. Deshalb braucht es eine KOMBI = Kombination von Prinzipien Ausbalancierung der unterschiedlichen Perspektiven. (Jüngere zuerst, Prognose, Zufall) JÜNGE = Jüngere zuerst KOSTE = Wesentliche Kostenbeteiligung ZUFAL = Zufall/Verlosung DIENS = Dienste an Gesellschaft — Dr. Pius Krütli ist Co-Direktor des Transdisciplinarity (in Vergangenheit) Lab (TdLab), einer Gruppe am Departement Umwelt- Quelle: angepasst von Krütli et al. 2016. How to Fairly Allocate Scarce Medical Resources: Ethical Argumentation under Scrutiny by systemwissenschaften der ETH Zürich, die sich mit der Health Professionals and Lay People. Plos one 11/7. Schnittstelle Wissenschaft/Gesellschaft beschäftigt. 14 im dialog 1/2018
Die andere Sicht Die Spielregeln im Sport sind immer auch ein Abbild der Gesell schaft. Unihockey-Schiedsrichterin Sandra Zurbuchen (32) über schwierige Entscheide, Grauzonen und Glaubwürdigkeit. Von Manuela Specker Fairness lässt sich nicht regeln I n Sandra Zurbuchens Leben geht es oft um Fragen der Gerechtigkeit. Sie ist Rechtsan- wältin bei der Steuerverwaltung des Kantons Bern, und sie pfeift national wie international Unihockey-Spiele auf höchster Ebene. Der gewichtige Unterschied: Im Sport muss die 32-jährige Schiedsrichterin Entscheide innert Sekundenbruchtei- len fällen. Aber weder in steuerlichen Fragen noch im Sport sind die Regeln in Stein gemeisselt. «Sie haben sich über all die Jahre hinweg entwickelt und werden laufend angepasst», sagt Sandra Zurbuchen. So starr Reglemente scheinen, so sehr sind sie letztlich ein Abbild der Gesellschaft, ihrer Präferenzen und ihrer Vorstellungen von Fairness. Im Unihockey werden die Spielregeln alle vier Jahre überarbeitet und vom internationalen Verband für verbindlich erklärt. Lange war es erlaubt, den Ball dem eigenen Goalie zu- rückzuspielen. Heute muss Sandra Zurbuchen in einem solchen Fall abpfeifen. «Diese neue Regel hat das Spiel schneller und dynamischer gemacht», sagt sie. Ein an- deres Beispiel: Sind zwei Spieler bereit für den Check, «Ich habe nie nur die gehen sie also auf Augenhöhe in den Zweikampf, lässt Regeln im Hinterkopf, sie das Spiel laufen. «Die Spieler sind heute viel ath- letischer und trainieren häufiger. Entsprechend ist das sondern frage mich Spiel physischer geworden. Das muss sich in der Ausle- auch immer, warum ein gung der Regeln widerspiegeln», so Sandra Zurbuchen. Das heisst zugleich, dass die Spielsituationen selten Spieler entsprechend eindeutige Entscheide zulassen. Daran ändert auch das reagiert.» 109-seitige Regelwerk nichts. «Meistens befinde ich mich in der Grauzone.» Das ist der Fairness förderlich – Sandra Zurbuchen statt dass die Spielleitung allwissend auftritt. Wenn sich Sandra Zurbuchen und ihre Schieds- richterpartnerin zum Beispiel nicht sicher sind, wer zuletzt den Ball berührt hat, fragen sie bei den Spie- wie die Spieler ihre Grenzen ausgetestet haben. Das lern nach und kriegen oft eine ehrliche Antwort. Fair- sei aber keine Folge davon gewesen, dass sie als Frau play zeigt sich also nicht in den Regeln, sondern wie ein Männerspiel geleitet habe. «So ergeht es allen, die solche Situationen gehandhabt werden. Dazu gehört neu in der Rolle des Schiedsrichters sind.» Ein guter für Sandra Zurbuchen zwingend, ein Gespür für das Schiedsrichter ist also nicht nur in den Regeln sattel- ganze Spiel zu haben. Foul ist nicht gleich Foul: Viel- fest, sondern hat viel Menschenkenntnis. Entscheide, leicht steigt ein Spieler hart in den Zweikampf ein, weil die auf dieser Grundlage gefällt werden, fördern die er vorher selber ständig gefoult wurde? «Ich habe nie Eigenverantwortung bei den Spielern – genau darauf nur die Regeln im Hinterkopf, sondern frage mich auch kommt es beim Fairplay an. immer, warum ein Spieler entsprechend reagiert. Das ist für mich die Grundlage für ein faires Spiel.» Klar muss sie im richtigen Moment Autorität aus- — Sandra Zurbuchen (32) ist Rechtsanwältin bei der Steuer- strahlen. «Glaubwürdigkeit ist das A und O.» Gerade verwaltung des Kantons Bern und pfeift nationale zu Beginn ihrer Schiedsrichterkarriere hat sie gemerkt, wie internationale Unihockey-Spiele auf höchster Ebene. im dialog 1/2018 15
Persönlich Sind die Gesundheitskosten in der Schweiz zu hoch? Wie sollten wir die knapper werdenden Gelder der Grundversicherung gezielt einsetzen? Wer muss Lösungen finden? Ich versuche, Antworten zu finden – es fällt mir nicht leicht! Von Beat Schürmann «Diese Fragen lösen in mir ein Gefühl der Ohnmacht aus» D ie junge Frau am Telefon hat mir erklärt, worum es in diesem Beitrag geht. Die Gesundheitskosten in der Grundver- sicherung steigen jährlich um gut vier Prozent an – das ist für viele Haushalte ein Problem. Deshalb diskutiert die Politik im Moment Kostenbremsen. Es gibt viele Ideen, wie die Kosten Verspricht eine Behandlung dem Patienten zusätzliche Lebensjahre, wer soll dann behandelt werden? Und die Antwortmöglichkeiten: a) jüngere Patienten, b) mittel- alte Patienten, c) alte Patienten oder d) alle Patienten haben die gleiche Priorität. Tendenziell neige ich zur Antwort, dass jüngeren Menschen eine höhere Priorität gegeben werden soll. gebremst werden können. Über eine Begrenzung des Aber ist das fair? Ich merke, diese Fragen lösen in mir jährlichen Wachstums der Gesundheitskosten, indem ein Gefühl der Ohnmacht aus. gewisse Parameter im System verändert werden oder wir die Gesellschaft fragen, was sie denn über die so- Das aktuelle System ziale Grundversicherung bezahlt haben will. Doch wie Ich habe heute die Möglichkeit, einen Teil meiner Wahl- soll Letzteres gemessen werden? Über soziale Präfe- freiheit freiwillig abzugeben, um so Prämien einzuspa- renzen, erklärt mir die Frau. Die Bürgerinnen und Bür- ren. Über ein alternatives Versicherungsmodell sowie ger werden anhand eines wissenschaftlich erarbeiteten die Höhe meiner Franchise kann ich mich einschränken Fragenkatalogs zu ihren Präferenzen befragt – zu ihrer und erhalte tiefere Prämien. Indem ich mehr Risiko auf Meinung, wem oder wann beispielsweise sehr teu- mich nehme, kann ich mein Budget anders einteilen. Ich re Medikamente oder Behandlungen bezahlt werden selber mache dies – aufgrund meiner medizinischen sollen. Eine Frage lautet dann zum Beispiel wie folgt: Vorgeschichte – nicht. Ich habe meinen Hausarzt, den ich frei wähle, und die tiefste Franchise. Mir ist der sozi- ale Gedanke, die Solidarität und die Umverteilung zwi- schen Jungen und Alten sowie Gesunden und Kranken, sehr wichtig. Die soziale Grundversicherung ist mei- nes Erachtens eine Säule des sozialen Friedens in der Schweiz. Können und müssen wir diese soziale Grund- versicherung über soziale Präferenzen verändern? Gerechtfertigte Kosten Grundsätzlich glaube ich, dass unser Gesundheitswe- sen sehr gut ist und wir für unser Geld viel bekommen. Mache ich den direkten Vergleich mit Grossbritanni- en, wo ich längere Zeit lebte und arbeitete, dürfen wir uns nicht beklagen. Die Wartelisten in England waren teilweise so lang, dass Patienten starben, bevor sie die Behandlung bekamen – von solchen Zuständen habe ich in der Schweiz noch nie gehört. Die Kosten sind sicher hoch, aber uns geht es auch gut. Ich bin gerne «Eine kleine, einfache bereit, für ein gutes Gesundheitssystem viel auszuge- Frage wird zur Büchse ben. Und ich finde es nach wie vor wichtig, dass es eine Umverteilung gibt. Die Prämienverbilligung ist für der Pandora – die ich mich unbestritten und muss unbedingt Familien mit nicht öffnen kann und will.» Kindern oder Personen am Existenzminimum zugu- 16 im dialog 1/2018
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