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Erkenntnisse zur Beschreibung des aktivierten mathematischen Wissens in empirischen Kontexten an einem Beispiel aus der Wahrscheinlichkeitstheorie FELICITAS PIELSTICKER, SIEGEN & INGO W ITZKE, SIEGEN Zusammenfassung: Dieser Artikel verdeutlicht, wie wahrzunehmen und zu verstehen“ (Winter, 1995, der erkenntnistheoretische Ansatz empirischer S. 37) sind. Auch aus diesen Überlegungen vorgela- (Schüler-) Theorien für eine Beschreibung des akti- gerten lerntheoretischen Gründen ist der Bezug auf vierten mathematischen Wissens in empirischen Kon- die uns unmittelbar umgebende physikalische Welt texten, also solchen Kontexten, die auf die uns unmit- für den Mathematikunterricht wichtig. telbar umgebende physikalische Welt („physical Hefendehl-Hebeker formuliert dies wie folgt: space“ Hempel, 1945, „problems from the real word” Pollak & Garfunkel, 2014) bezogen sind, ge- „Die Begriffe und Inhalte der Schule haben ihre phä- nutzt werden kann. Dies geschieht in einer ausführli- nomenologischen Ursprünge überwiegend in der uns chen Darstellung theoretischer Aspekte mit histori- umgebenden Realität. […] Die ontologische Bindung schen Bezügen sowie anschließend an einem Fallbei- an die Realität ist bildungstheoretisch und entwick- lungspsychologisch durch Aufgabe und Ziele der all- spiel zur Wahrscheinlichkeitsrechnung (8. Klasse ei- gemeinbildenden Schule gerechtfertigt […]“ (Hefen- ner Sekundarschule), um somit an eine Diskussion dehl-Hebeker, 2016, S. 16) bzgl. einer „wissenschaftsorientierten Richtung, die auf die Entwicklung mathematischer Theorien aus So sind Arbeits- und Anschauungsmittel, die sich auf realen Kontexten gerichtet ist“ (Kaiser et al., 2015, eben diese Welt beziehen wesentliches Element der S. 361), anzuknüpfen. Unterrichtspraxis, da sie mathematische Zusammen- hänge motivieren, veranschaulichen und begründen Abstract: This article illustrates how the epistemo- können. Dilling (2020) beschreibt, wie Veranschau- logical approach of empirical (student) theories can lichungen, er nennt diese „empirische Settings“ (Dil- be used for a description of the development of math- ling, 2020, S. 1), von Schüler*innen zur Wissensent- ematical knowledge in empirical contexts, i. e. those wicklung empirischer Theorien genutzt werden. Un- contexts that affect the (physical) world immediately ter einer empirischen Theorie versteht man dabei eine surrounding us ("physical space" Hempel, 1945, Theorie, die – wie eine naturwissenschaftliche Theo- "problems from the real word" Pollak & Garfunkel, rie – gewisse Phänomene der Realität beschreibt und 2014). This is done in a presentation of theoretical erklärt. Diese können sich beispielsweise auf Zei- aspects with historical references and then on a case chenblattfiguren im Geometrieunterricht, Kurven im study on probability calculation (8th grade of a sec- Analysisunterricht oder Zufallsexperimente im ondary school), in order to address a discussion re- Stochastikunterricht beziehen. garding a "science-oriented direction that is aimed Unter diesen Prämissen erscheint es notwendig, dass at the development of mathematical theories from die Mathematikdidaktik allgemein und (angehende) real contexts" (Kaiser et al., 2015, p. 361, translated Lehrkräfte im Speziellen über tragfähige didaktische by the authors). Beschreibungsmöglichkeiten für den Umgang mit empirischen Kontexten verfügen. 1. Einleitung und Ziel des Beitrags Ziel dieses Artikels ist es daher, das Verhältnis von Die Beschreibung der Entwicklung mathematischen Mathematik und Empirie und die damit verbundene Wissens an Schnittstellen zur Empirie ist ein in der Komplexität einerseits grundlagentheoretisch, ande- Mathematikdidaktik vieldiskutiertes, komplexes und rerseits durch eine informelle strukturalistische Dar- facettenreiches Thema. Ein wichtiger Aspekt für stellung mit Blick auf ein schulisches Beispiel zur diese Beschreibung ist eine geeignete Darstellung des Verwendung des Begriffes der „Wahrscheinlichkeit“ Verhältnisses von Mathematik und Empirie. Dies ist zu beschreiben. Zur Vorbereitung unserer Analyse mit Blick auf aktuelle Curricula, die dem Realitätsbe- werden im Folgenden zunächst theoretische Grund- zug eine essenzielle Rolle für den Mathematikunter- lagen zur Einordnung und zum Verständnis des von richt zuweisen, notwendig. Sollen Schüler*innen uns vorgestellten Beschreibungsrahmens empirischer doch durch den Mathematikunterricht grundsätzlich Theorien vorangestellt. Die „Entwicklung von The- erfahren, wie „Erscheinungen der Welt um uns, die orie aus der erlebten Wirklichkeit der Lernenden“ uns alle angehen oder angehen sollten, aus Natur, Ge- (Kaiser et al., 2015, S. 361) kann adäquat mithilfe sellschaft und Kultur, in einer spezifischen Art dieses Ansatzes erfolgen. Er ist in diesem Artikel in mathematica didactica 45(2022)1, online first 1
math.did. 45(2022)1 seinen theoretischen Voraussetzungen skizziert und wird in seinen Folgerungen für die Beschreibung der Empirie an einem Beispiel aus dem Unterricht zur Wahrscheinlichkeitsrechnung illustriert. Er wird dann im Weiteren mit Hilfe der Diskussion eines Schulbuchbeispiels sowie Transkripten von Schüler*innen mit Bezug zur Wahrscheinlichkeits- theorie zur Anwendung gebracht. In diesem Fallbei- Abb. 1: Das epistemologische Dreieck: Das Konzept der spiel wird dabei sichtbar, wie Schüler*innen im sel- Wahrscheinlichkeit (Original in Englisch, Steinbring, 2006, S. 138) ben Unterricht zwei unterschiedliche Wahrschein- lichkeitsbegriffe entwickeln. Dabei steht die folgende Die drei Ecken des in Abb. 1 dargestellten epistemo- Frage im Vordergrund: Wie entwickeln Schüler*in- logischen Dreiecks erläutert Steinbring mit einem nen mathematisches Wissen zum Wahrscheinlich- Bezug zur historischen Entwicklung des Wahr- keitsbegriff in empirischen Kontexten? scheinlichkeitsbegriffs. Zu verschiedenen Zeiten wurden demselben Zeichen („sign / symbol“) unter- Die Daten des Fallbeispiels zum Begriff „Wahr- schiedliche Referenzobjekte zugeordnet, was zu ei- scheinlichkeit“ stammen aus dem Dissertationspro- ner kontinuierlichen Entwicklung bzw. Erweiterung jekt der Autorin. Die beiden nach der Darstellung der des Begriffs der Wahrscheinlichkeit führte. Während theoretischen Grundlagen diskutierten Fallgeschich- sich in den historischen Anfängen, Steinbring fol- ten zu den Schülertandems „Kim und Tom“ und „Jan gend, Wahrscheinlichkeiten beispielsweise auf einen und Chris“ wurden in regulären Unterrichtssituatio- idealisierten Würfel bezogen und durch Bruchzahlen nen aufgezeichnet. Die zwei Fallgeschichten werden dargestellt wurden, bildeten später statistische Kol- mithilfe einer informellen Beschreibung mit dem lektivei die Gegenstände der Wahrscheinlichkeits- strukturalistischen Ansatz analysiert, d. h. es wird aus lehre, deren relative Häufigkeiten mit Wahrschein- Darstellungs- und Zugänglichkeitsgründen auf eine lichkeiten in Verbindung gebracht wurden. Dies war symbolische formallogische Rekonstruktion verzich- der Fall bis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tet, aber der festgelegte Beschreibungsrahmen ge- schließlich eine axiomatische Grundlegung der nutzt (Witzke, 2009). Wahrscheinlichkeitstheorie im Hilbert’schen Sinne durch Kolmogoroff erfolgte. Ein Lernender, der in 2. Theoretische Grundlagen dieser Komplexität den Wahrscheinlichkeitsbegriff erwerben möchte, muss, so H. Steinbring, das Zei- 2.1 Auffassungen zur Wahrscheinlichkeit in chensystem der Wahrscheinlichkeitstheorie auf im- der Geschichte der Mathematik mer neue Kontexte übertragen können. H. Steinbring (2005) beschreibt in „The Construction Das epistemologische Dreieck stellt nicht nur drei für of New Mathematical Knowledge in Classroom In- didaktische Überlegungen zentrale Begriffe heraus, teraction – An Epistemological Perspective“ das die Ecken “Zeichen“, „Referenz“, „Begriff“, sondern komplexe Verhältnis von Mathematik und Realität beschreibt auch deren Zusammenhang: Jede Ecke mit Hilfe des “epistemologischen Dreiecks”. Wir ge- stiftet Zusammenhang für die beiden anderen Ecken. hen hierauf kurz ein, um unseren Ansatz mathemati- So schafft beispielsweise erst der Begriff die wesent- sche Aushandlungs- und Wissensentwicklungspro- liche Verbindung zwischen Zeichen und Referenz. zesse in empirischen Kontexten zu beschreiben, in ei- nen in der Mathematikdidaktik anerkannten Ansatz Wir möchten diese Erkenntnis auch wie folgt para- einzuordnen und somit den Leser*innen Anknüp- phrasieren: Zeichen und deren Referenzen (Referen- fungspunkte zu ermöglichen. zobjekte) treten in Zeichensystemen bzw. Theorien auf und Theorien sind begriffliche Gebilde. Daher Um die wesentlichen Charakteristika des bekannten könnte man jede der drei historischen Beispiele, die epistemologischen Dreiecks zu erläutern, benutzt Steinbring angibt, jeweils durch eine eigene Theorie Steinbring (2005, S. 25) den Begriff der Wahrschein- beschreiben: eine Theorie über „idealisierte Würfel“, lichkeit als paradigmatisches Beispiel. Da auch unser eine Theorie über statistische Kollektive (van Mises) Fallbeispiel sich auf die Wahrscheinlichkeitsrech- und die Theorie über formal-abstrakte Wahrschein- nung bezieht, passt dieses Beispiel gut zu unseren lichkeiten (Kolmogoroff). folgenden Ausführungen. Es stellt einen Hintergrund für die Analyse unserer Fallgeschichten bereit und Diese drei Beispiele sind auch deshalb instruktiv, deutet die Komplexität des Begriffs der Wahrschein- weil ein weiterer Punkt deutlich wird: Mathematik lichkeit an, die wir auch im Schulunterricht wieder- besitzt in ihrer Geschichte keine einheitlichen episte- finden. Daher sei das epistemologische Dreieck kurz mologischen Grundlagen. Die drei Theorien, die dargestellt. Steinbring zur Erläuterung des epistemologischen 2
F. Pielsticker & I. Witzke Dreiecks verwendet, sind unterschiedlichen Charak- 2.2 Zur strukturalistischen Metatheorie ters. Entstanden ist die Wahrscheinlichkeitstheorie 2.2.1 Ideen und Begriffe des Strukturalis- ursprünglich aus Fragen der Gerechtigkeit von mus Glücksspielen: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun- derts wurde auf der Grundlage eines Briefwechsels Dem grundlagentheoretischen Scope des Themen- zwischen Fermat und Pascal aus dem Jahr 1658 eine heftes „Didaktische Perspektiven auf Verbindungen erste Version einer Theorie von Fairness in solchen von Mathematik und Realität“ folgend, wollen wir, Spielen entwickelt. Es handelte sich aus heutiger ähnlich wie zuvor mit Blick auf das epistemologische Sicht beschrieben um eine normative Theorie, eine Dreieck, zum Verständnis des verwendeten Beschrei- Theorie, in der ein Begriff von Gerechtigkeit festge- bungsinstrumentes „empirischer Theorien“ dieses im legt wurde. Zu der historischen Entwicklung dieser Spiegel seiner Entstehung am inhaltlichen Beispiel Theorie (bzw. einer präzisen Rekonstruktion) in der der Wahrscheinlichkeitsrechnung etwas ausführli- die „idealisierten Würfel“ als paradigmatische Bei- cher darstellen. Dies gibt dem Leser*in wichtige Hin- spiele eine wesentliche Bedeutung hatten, siehe Bur- weise auf die Bedeutung und die Relevanz des für die scheid & Struve, 2000; Burscheid & Struve, 2001. Analyse gewählten Beschreibungsrahmens. Die Theorie über statistische Kollektive von van Mi- Der Strukturalismus ist aus dem Problem entstanden, ses ist hingegen eine rein empirische (naturwissen- inhaltsgebundene, insbesondere empirische (natur- schaftliche) Theorie, besitzt also einen empirisch-de- wissenschaftliche) Theorien präzise zu rekonstruie- skriptiven Charakter. Die Kolmogoroffsche Theorie ren. Bereits in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhun- kann man schließlich als eine formalistische Theorie derts wurde im Wiener Kreis, in dem R. Carnap einer i.S.v. D. Hilbert auffassen. der prominenten Vertreter war, diskutiert, wie man Das Steinbring’sche Beispiel der Wahrscheinlich- wissenschaftliche Theorien von nicht-wissenschaftli- keitstheorie zeigt überdies, wie komplex das Verhält- chen, „metaphysischen“ wie man damals sagte, un- nis von Mathematik und Realität in der Geschichte terscheiden kann. Ein Hauptproblem besteht darin, der Mathematik war. Eine formal-abstrakte Auffas- die Bedeutung wissenschaftlicher Begriffe zu klären, sung von Mathematik, in der die Relationen zwischen um metaphysische Begriffe aus wissenschaftlichen den mathematischen Gegenständen entscheidend Theorien ausschließen zu können. Ein erster Versuch sind und die Natur der Objekte einer Theorie irrele- Carnaps bestand darin, zwischen einer Beobach- vant ist, ist erst von Hilbert Anfang des vorigen Jahr- tungssprache und einer theoretischen Sprache zu dif- hunderts entwickelt worden. Bis zum Erscheinen sei- ferenzieren. Begriffe der theoretischen Sprache, sog. ner „Grundlagen der Geometrie“ im Jahr 1900 war theoretische Begriffe, ließen sich dadurch allerdings Mathematik inhaltlich gebunden. Die „Nabelschnur nicht hinreichend charakterisieren. Dies gelang erst der Mathematik zur Realität“ wurde erst mit Erschei- im Strukturalismus (Sneed, 1971; Stegmüller, 1986; nen des Hilbert’schen Werkes „durchschnitten“, wie Balzer, 1982). Da wir uns in unserem Beitrag vor- Freudenthal (1957) es einmal formulierte. nehmlich mit Problemen der Begriffsentwicklung be- schäftigen, gehen wir auf den strukturalistischen Bei- Das epistemologische Dreieck kann nicht nur zur trag zu diesem Punkt – und nur zu diesem – etwas Darstellung der historischen Entwicklung des Wahr- genauer ein. Für weitergehende Anwendungen des scheinlichkeitsbegriffs nützlich sein, sondern gibt Strukturalismus in der Mathematikdidaktik sei auch Hinweise zur Beschreibung der Entwicklung exemplarisch auf Burscheid & Struve (2018), (2020), von mathematischem Wissen von Schüler*innen: So Schlicht (2016) und Stoffels (2020) verwiesen. gibt es, mit Blick auf die historische Entwicklung, keine Notwendigkeit in Auseinandersetzung mit em- Im Strukturalismus werden (vgl. Tab. 1) zwei Arten pirischen Kontexten eine bestimmte Wahrscheinlich- von Begriffen unterschieden: Begriffe, die bzgl. einer keitstheorie zu entwickeln. Um Schüler*innen opti- Theorie T theoretisch sind und solche, die es nicht mal fördern zu können ist es hingegen aber sicherlich sind. Die ersteren werden T-theoretisch genannt, die notwendig, die jeweilige Wahrscheinlichkeitstheorie letzteren T-nicht-theoretisch. Die Bedeutung der letz- präzise beschreiben zu können. Dies kann, wie uns teren ist unabhängig von der Theorie T gegeben. Die der Steinbring’sche Ansatz zeigt, nur mit Hilfe eines Bedeutung der ersteren wird erst in der Theorie T ge- präzisen Begriffssystems gelingen. Um letztgenann- klärt. Für ihre Bestimmung wird also bereits die The- tes zu verdeutlichen folgen nun Darstellungen zur orie T benutzt. Wir geben ein Beispiel, das für die strukturalistischen Metatheorie. folgenden beiden Fallgeschichten relevant ist, den Begriff der Wahrscheinlichkeit.ii Entstanden ist der Begriff der Wahrscheinlichkeit in der Diskussion der Frage, wann ein Glücksspiel ge- recht ist. Ein in der Geschichte der Mathematik viel 3
math.did. 45(2022)1 diskutiertes Beispiel ist in diesem Zusammenhang Grund gibt, das eine Ereignis dem anderen vorzuzie- das „problème des dés“: Was ist der gerechte Einsatz hen. Paradigmatische Beispiele dazu sind Glücks- zweier Spieler A und B, die zwei Würfel solange spiele mit symmetrischen Objekten, etwa Würfeln o- werfen, bis zum ersten Mal die Augensumme 9 (A der allgemeinen platonischen Körpern. Die numeri- gewinnt) bzw. 10 (B gewinnt) erscheint und als Ge- schen Werte der Laplace’schen Wahrscheinlichkei- winn dann der gesamte Einsatz vereinbart ist? Unei- ten beruhen auf den Symmetrien dieser Körper und nig waren sich dazu die Mathematiker Leibniz und sind in diesem Sinne eine geometrisch-physikalische d´Alembert einerseits und andererseits Pascal und Eigenschaft. In einer normativen Theorie, in der ein Galilei (für eine detaillierte Darstellung dieser Dis- Begriff von Gerechtigkeit von Glücksspielen festge- kussion siehe Burscheid & Struve, 2020). legt wird, haben diese Wahrscheinlichkeiten natür- lich eine Bedeutung, die weit über die numerischen Dieses Beispiel von vier prominenten Mathematikern Werte hinausgeht. Die Werte selbst gehören in das zeigt, dass der Begriff der Wahrscheinlichkeit unter Gebiet der Kombinatorik. Erst die Theorie rechtfer- normativen Gesichtspunkten, mit Blick auf den Be- tigt, dass man diese kombinatorischen Werte als griff der Gerechtigkeit, auf verschiedene Arten fest- „Wahrscheinlichkeiten“ bezeichnen kann. gelegt werden kann, also keinesfalls klar ist und auch nicht, wie dies zu geschehen habe. Wenn man dazu Die Bestimmung der numerischen Werte von La- den Begriff der Wahrscheinlichkeit mit relativen place’schen Wahrscheinlichkeiten ist hingegen ein Häufigkeiten in Verbindung bringt, wie man es heut- geometrisch-kombinatorisches Problem. Eine wei- zutage standardmäßig macht, dann vertritt man einen tergehende Fragestellung – etwa eine, die die Fair- speziellen Gerechtigkeitsbegriff, einen physikalisti- ness von Glücksspielen betrifft – ordnet diese in eine schen. Dies kann man machen, es ist aber keineswegs Theorie ein und macht mit Blick auf diese aus La- (vgl. 2.1) notwendig, wie ein Blick in die Geschichte place’schen Wahrscheinlichkeiten theoretische Be- zeigt. griffe. In Schulbüchern wird diese Trennung zwi- schen numerischen Werten, die man aus kombinato- Der Begriff der „Erwartung“ (bzw. Wahrscheinlich- risch-geometrischen Überlegungen erhält, sowie de- keit) war ursprünglich nicht im Sinne von „physika- ren Bedeutung in einer Theorie (einer normativen o- lisch zu erwarten“ gemeint (erst recht nicht „physika- der empirisch-deskriptiven Theorie), nicht immer lisch auf lange Sicht zu erwarten“), sondern i.S.v. hinreichend deutlich, wie wir in Abschnitt 3 detail- „gerechterweise zu erwarten“ und Wahrscheinlich- liert am Beispiel beschreiben werden. keit als „Grad von Gewissheit“ (Jakob Bernoulli: Ars Conjectandi 1713) im Sinne einer moralischen Ge- Man muss aus erkenntnistheoretischer Perspektive wissheit. Da man über Normen trefflich streiten betrachtet, um einen theoretischen Wahrscheinlich- kann, wundert es nicht, dass in der Geschichte ver- keitsbegriff in einem empirischen Kontext einbrin- schiedene Begriffe von Wahrscheinlichkeit diskutiert gen zu können, ihn mit nicht-theoretischen Begriffen wurden (Burscheid & Struve, 2001). Erst innerhalb in geeigneter Weise in Verbindung bringen. Im der jeweiligen Theorien wurde der Begriff der Wahr- Schulunterricht wird dies oftmals versucht, indem scheinlichkeit beschreibbar. Er ist im Sinne des Be- man festlegt, dass man die relative Häufigkeit eines schreibungsrahmens empirischer Theorien ein theo- Ereignisses nach einer bestimmten Anzahl von Ver- retischer Begriff (bzgl. der jeweiligen Theorie). suchen (z. B. n = 100 oder n = 500) als Wahrschein- lichkeit des Ereignisses ansehen möchte – obwohl sie Es sei auch an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dies natürlich nicht ist. In Schulbüchern spricht man nicht nur Mathematiker*innen in der Geschichte ver- manchmal diesbezüglich von einer „statistischen schiedene Auffassungen davon hatten, wann ein Wahrscheinlichkeit“, einem „Schätzwert“ für die ei- Glücksspiel gerecht ist, sondern natürlich auch Schü- gentliche Wahrscheinlichkeit. Dieser Schätzwert ler*innen (Schupp, 1986). kann allerdings gravierend von der Wahrscheinlich- Festhalten möchten wir, dass der später nach Laplace keit abweichen; denn die relativen Häufigkeiten benannte Wahrscheinlichkeitsbegriff in der Ge- könnten sich auch nach 100 oder 500 Versuchen an- schichte unabhängig von relativen Häufigkeiten ein- ders entwickeln, als es die Anfangsfolge vermuten geführt wurde. In der Formulierung von E. Czuber lässt. Wissenschaftstheoretisch formuliert: Die Werte (1899, S. 111) sollten in einem gerechten fairen Spiel von theoretischen Begriffen (Funktionen, wie der „gleich mögliche Fälle gleich große Ansprüche auf Wahrscheinlichkeitsfunktion P), die noch nicht hin- die Spieleinlage begründen“. Dies ist ein Grundsatz reichend an nicht-theoretische Begriffe angebunden einer moralischen Auffassung und „gleich möglich“ sind, sind nicht eindeutig bestimmt. So legt im obigen wurde keineswegs mit dem Ergebnis physikalischer Beispiel erst der Beschluss, dass die relative Häufig- Experimente in Verbindung gebracht. Als „Gleich keit eines Ereignisses nach 100 Versuchen dessen mögliche Ereignisse“ wurden solche bezeichnet, für Wahrscheinlichkeit sein soll, den Wert der Funktion die es aus moralischen Gesichtspunkten keinen P eindeutig fest. Auch dies ist ein Problem, welches 4
F. Pielsticker & I. Witzke im Schulunterricht auftreten kann und in folgenden In der strukturalistischen Darstellung einer empiri- Fragen zum Ausdruck kommt: schen Theorie – insbesondere auch einer empirischen Schülertheorie – sind die folgenden Begriffe (Fach- • Welche Rolle spielen die aufgrund von geo- termini) zentral: metrisch-kombinatorischen Überlegungen ermittelten Werte von Laplace’schen Wahr- Fachtermini Erläuterung scheinlichkeiten für frequentistische Wahr- Intendierte sind die durch eine empirische The- scheinlichkeiten? orie beschriebenen und erklärten Anwendungen • Mit anderen Worten: Gilt das Bernoulli’sche Phänomene der Realität. Gesetz der großen Zahlen auch für La- Paradigmatische sind vorbildliche Beispiele für An- place’sche Wahrscheinlichkeiten? wendungen der Theorie und begrün- Beispiele den dabei eine Klasse von intendier- Das ist auf den ersten Blick keineswegs klar und ist ten Anwendungen einer empirischen eine Aussage in einer empirischen Wahrscheinlich- Theorie. keitstheorie (Burscheid & Struve, 2001). Referenzobjekte sind empirische Objekte (Gegen- stände und Objekte der Realität), die 2.2.2 Empirische (Schüler-)Theorien unter einen bestimmten Begriff fallen und im Sinne einer empirischen The- Wissen von Schüler*innen kann mithilfe von Theo- orie als definierend für empirische rien, in der Regel empirischen Theorien, beschrieben Begriffe angesehen werden. werden (Burscheid & Struve, 2018, 2020; Witzke, Nicht- sind solche die bereits in einer Vor- 2009; Schlicht, 2016; Schiffer, 2019; Stoffels, 2020; theorie geklärt sind oder ein Refe- Pielsticker, 2020). Unsere Behauptung ist nicht, dass theoretische renzobjekt in der Realität besitzen Kinder diese Theorien formulieren können, sondern Begriffe (d. h. Objekte der Realität, die unter dass sich Kinder so verhalten, als ob sie über diese diesen Begriff fallen). Theorien verfügen würden. Dabei fassen wir unter ei- ner empirischen Theorie eine Theorie, die Phäno- Theoretische sind Begriffe deren Bedeutung erst mene der Realität beschreibt und erklärt (Sneed, durch die Aufstellung bzw. innerhalb Begriffe einer Theorie geklärt werden können 1971; Stegmüller, 1973; Balzer, 1982). Zu den empi- und die kein empirisches Referen- rischen Theorien zählen alle naturwissenschaftlichen zobjekt besitzen. Theorien, wie z. B. die Newtonsche Mechanik und die Maxwell’sche Elektrodynamik, aber auch bei- Tab. 1: Fachtermini zur Beschreibung empirischer (Schü- ler-)Theorien in empirischen Kontexten. spielsweise ökonomische oder psychologische Theo- rien. Die Theorien können unterschiedliche Größen 2.3 Blick auf den schulischen Mathematik- oder Reichweiten besitzen, so dass auch Alltagstheo- unterricht rien von Kindern dazu zählen (Struve ,1990). Vor den bisher getätigten theoretischen Überlegun- Wie wir im Artikel anhand eines Fallbeispiels aus der gen blicken wir in Abschnitt 3 auf das Verhältnis von Wahrscheinlichkeitsrechnung darstellen wollen, ist Mathematik und Realität im Schulkontext. Dabei fin- es nützlich die strukturalistische Metatheorie (Balzer, det die Terminologie empirischer Theorien (Tab. 1) Sneed & Moulines, 2000; Sneed, 1971; Stegmüller, Anwendung, um dieses Verhältnis präzise beschrei- 1986) heranzuziehen, um empirische (Schüler-) The- ben zu können. Dafür werden insbesondere mit Hilfe orien darzustellen (weitere Ausführungen in Ab- der Termini aus 2.2.1 charakteristische Aspekte der schnitt 2.2.2 und 2.3). Diese bietet u. a. den Vorteil, Wahrscheinlichkeitsrechnung an Schnittstellen von Probleme, die mit dem Erwerb von inhaltlich-gegen- Mathematik und Realität beschrieben. Ziel ist es, da- ständlichen Theorien (also nicht-formalistischen mit exemplarisch die Aussagekraft einer solchen Be- Theorien) verbunden sind, präzise darstellen zu kön- schreibung der Entwicklung mathematischen Wis- nen. Die beiden diesbezüglich von Steinbring aufge- sens in empirischen Kontexten darstellen zu können. führten fachwissenschaftlichen Theorien liegen be- reits in präzise rekonstruierter Form vor: Für die nor- Dazu folgt zunächst die Analyse einer Schulbuch- mative Theorie der Gerechtigkeit von Glücksspielen seite des Schulbuches „Zahlen und Größen“ der 8. findet sich eine strukturalistische Rekonstruktion in Jahrgangsstufe (Sekundarschule), welche wesentli- Burscheid und Struve (2000) und (2001) und für die che Begriffe der Wahrscheinlichkeitstheorie für empirische Theorie von van Mises in Stoffels (2020). Schüler*innen definiert. Für die Schulbuchauto- Die Kolmogoroff’sche Theorie ist hingegen eine for- ren*innen geht es um ein „Lesen und Verstehen“ malistische Theorie und als solche schon explizit und (Zahlen und Größen 8, S. 70, vgl. Abb. 2). Dabei ist präzise durch den Autor der Theorie formuliert wor- zu bemerken, dass es uns dabei an dieser Stelle nicht den. um eine Vollständigkeit der Analyse, sondern um eine Explikation unseres Beschreibungsinstrumentes 5
math.did. 45(2022)1 an einem Beispiel geht. Zusätzlich kann das Schul- 2.3.2 Analyse der Schulbuchseite buchbeispiel gut den folgenden Blick auf empirische Dass der Erwerb des Wahrscheinlichkeitsbegriffs Daten aus dem Unterricht (vgl. 3.) einleiten, da es durch gewisse epistemologische Hürden (Sierpinska, sich um das Schulbuch der betrachteten Schüler*in- 1992) gekennzeichnet ist und es mithin in der Natur nen handelt. der Sache liegt, dass dieser damit auch verständli- Zur Einleitung folgt nun zunächst eine kurze Be- cherweise sowohl von Lehrenden als auch von Ler- schreibung des Situationskontextes der Datenerhe- nenden als herausfordernd wahrgenommen wird, bung. stellen beispielsweise Eichler und Vogel (2013, S. 147-168), Krüger, Sill und Sikora (2015, S. 233- 2.3.1 Situationskontext 247), sowie Burscheid und Struve (2020, S. 19-22) Das betrachtete Fallbeispiel zur Beschreibung der heraus. Die Bezüge zwischen historisch-erkenntnis- Entwicklung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs be- theoretischer und Schüler*innen-Ebene können de- zieht sich auf eine Unterrichtssituation einer 8. tailliert beispielsweise im Rahmen der Diskussion Klasse (Sekundarschule in NRW). Die betrachtete der historischen Entwicklung des empirischen Geset- Klasse wurde über ein Schuljahr regelmäßig mit di- zes der großen Zahlen nachvollzogen werden (Bur- gitalen Medien, vorrangig mit der 3D-Druck-Tech- scheid & Struve, 2020), die wir in 2.2.2 nur andeuten nologie, unterrichtet. Als wichtiges Hilfsmittel zum konnten. Design dreidimensionaler Körper war den Schü- Um einen Eindruck zu erhalten, wie die Wahrschein- ler*innen dabei das kostenfrei erhältliche CAD-Pro- lichkeitsrechnung im Unterricht der später in Ab- gramm Tinkercad™ bekannt, welches wir in Ab- schnitt 3. betrachteten Schüler*innen eingeführt schnitt 2.4 kurz skizzieren. wurde, schauen wir nun zunächst in das Schulbuch Die Daten unseres Fallbeispiels sind dem Dissertati- „Zahlen und Größen 8“ (2015, S. 70, vgl. Abb. 2). In- onsprojekt der Autorin entnommen und wurden im teressant ist für uns, wie das Schulbuch den Begriff Herbst 2018 erhoben und dabei mithilfe eines herme- der Wahrscheinlichkeit einführt und welches Ver- neutisch-deskriptiven Vorgehens aufbereitet, da ein ständnis von Wahrscheinlichkeit für Lernende poten- besonderes Interesse sowohl dem (empirischen) ziell angeregt wird. Kontext, als auch einer Beschreibung der verbunde- Auf der Schulbuchseite (vgl. Abb. 2) der Einheit nen Sinnzusammenhänge (Bauersfeld, 1983; 1985) „Zufall und Wahrscheinlichkeiten“ geht es allgemein galt. Dieses Vorgehen war gekennzeichnet von Ele- gesprochen um den eigentlich normativen Aspekt der menten des Case-Study-Ansatzes (Stake, 1995) zur Fairness von Losverfahren. Das Verfahren, welches Identifikation von Schlüsselszenen, dem Konzept der Philip im Beispiel 1 vorschlägt wird dort als „fair“ Subjektiven Erfahrungsbereiche (Bauersfeld, 1983) deklariert, das Verfahren, das Güven in Beispiel 2 zur Identifikation von Schülertheorien und einer ana- propagiert, als nicht fair. Die beiden Losverfahren lytischen Untersuchung mithilfe der Terminologie können wir als Anwendungen einer potentiellen em- des strukturalistischen Theoriekonzepts (vgl. 2.2). Im pirischen Theorie über Losverfahren mit physikali- Sinne einer multiple-instrumental Case Study (Stake, schen Objekten beschreiben, genauer über das Wer- 1995) sind wir der Forschungsfrage, wie entwickeln fen einer Münze und das Werfen einer Heftzwecke. Schüler*innen mathematisches Wissen zum Wahr- Es handelt sich dabei um intendierte Anwendungen, scheinlichkeitsbegriff in empirischen Kontexten, die als paradigmatische Beispiele fungieren, die wie nachgegangen. Mit Blick auf die Erzeugung von In- wir wissen für den weiteren Mathematikunterricht formativität bzw. eines tieferen Verständnisses des prägend sind. Münzen, wie Heftzwecken (und dazu Cases sind Schlüsselszenen ausgewählt („Case stu- die Kugeln in der Urne, wie Würfel, die auf der Seite dies are undertaken to make the case understand- dargestellt werden) fungieren als Objekte des Mathe- able”, Stake, 1995, S. 85). Mithilfe der Subjektiven matikunterrichts, an denen wesentliche Eigenschaf- Erfahrungsbereiche nach Bauersfeld (1983), be- ten der Wahrscheinlichkeitsrechnung festgemacht schränkt auf kognitive Aspekte, wurde das Schüler- bzw. motiviert und erläutert werden. Sie lassen sich wissen geordnet und anschließend einer analytischen mit Blick auf Tab. 1 als konstituierende empirische Untersuchung in empirischen Theorien mithilfe der Referenzobjekte von empirischen Theorien über Terminologie des Strukturalismus (vgl. 2.2) zuge- Wahrscheinlichkeit im Schulkontext beschreiben. führt. Sie bilden sozusagen die kontextuelle empirische In diesem Beitrag stellen wir insbesondere den drit- Rahmung der Zufallsexperimente. Dabei können wir ten Schritt der Untersuchung mithilfe der Terminolo- ein diffiziles Verhältnis von nicht-theoretischen Be- gie des strukturalistischen Theoriekonzepts dar. griffen (beispielsweise Kopf und Zahl) und einem theoretischen Begriff der Wahrscheinlichkeit (oder dem unmöglichen Ergebnis) beschreiben: 6
F. Pielsticker & I. Witzke Abb. 2: „Zufall und Wahrscheinlichkeiten“ im Schulbuch Zahlen und Größen 8, S. 70 (Abdruck mit freundlicher Genehmi- gung des Cornelsen-Verlags) 7
math.did. 45(2022)1 Bei einem Münzwurf, so wird (wenn wir die Seite Stelle im Sinne von Tab. 1 abermals eindeutig als the- von oben nach unten lesen, Kasten C) zunächst fest- oretisch beschreiben: Der Grenzwert ist für die Schü- gestellt, sind die Ergebnisse Kopf und Zahl „mög- ler*innen weder in einer Vortheorie geklärt noch an- lich“. Dann wird konstatiert, dass diese beiden Er- hand eines empirischen Vorgangs begreifbar – er gebnisse „gleich wahrscheinlich“ seien und das Ver- wird erst durch theoretische Überlegungen innerhalb fahren „fair“. In diesem normativen Kontext (vgl. der Wahrscheinlichkeitstheorie verständlich. 2.1) könnte man die „Gleichwahrscheinlichkeit“ der Es könnten sich für die Schüler*innen in diesem Zu- beiden Ereignisse exnegativo begründen: Es gibt kei- sammenhang zwei Fragen stellen, die den Zusam- nen Grund, warum die eine Seite der Münze vor der menhang von normativem und empirisch-deskripti- anderen ausgezeichnet sei. Die Münze ist aufgrund vem Zugang betreffen: Was haben relative Häufig- ihrer geometrisch-physikalischen Struktur ein sym- keiten mit Fairness zu tun? Und: Handelt es sich bei metrisches empirisches Objekt mit zwei kongruenten den Wahrscheinlichkeiten, die im Schulbuch den Seiten. Wenn es also keinen Grund gibt, eine der bei- Ausfällen beim Münzwurf und beim Heftzwecken- den Ergebnisse eines Münzwurfes vorzuziehen, wurf zugeordnet werden, um denselben (Wahr- wenn also in diesem Sinne Kopf und Zahl gleich scheinlichkeits-)Begriff? möglich sind, so ist die „Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines der beiden 50% oder 1/2. Dies ist ein Laplace-Wahrscheinlichkeiten bestimmt man im Ma- typisches Beispiel für ein Laplace-Experiment (und thematikunterricht gewöhnlich aufgrund geomet- Laplace’sche Wahrscheinlichkeiten). Solche Wahr- risch-physikalischer Symmetrien von Körpern. Sie scheinlichkeiten bestimmt man mittels geometrisch- kann man dann in normativen Situationen verwen- kombinatorischer Überlegungen. den, etwa bei der Beurteilung der Fairness von Los- vorschlägen. Eine Bedeutung erhalten diese Werte, wenn es um normative Fragen der Fairness geht, die hier also ver- Wahrscheinlichkeiten von Ergebnissen von Zufalls- bunden werden mit empirisch-deskriptiven Aspek- experimenten, die nicht Laplacesch sind, bestimmt ten. man dagegen mit Hilfe von relativen Häufigkeiten. Das Werfen einer Heftzwecke, also eines empiri- Mit Blick auf das vorliegende Schulbuch ist zu be- schen Referenzobjektes, das als paradigmatisches obachten, dass ein Zusammenhang zwischen diesen Beispiel potentiell konstituierend ist für empirische beiden Wahrscheinlichkeitsbegriffen nicht herge- (Schüler-) Theorien über Wahrscheinlichkeit, ist tat- stellt wird. Dadurch könnten den Schüler*innen und sächlich kein Laplace-Experiment, weil die beiden Leser*innen, abweichend von den Intentionen der möglichen Ergebnisse unterschiedliche Wahrschein- Schulbuchautor*innen, zwei verschiedene (empiri- lichkeiten besitzen; der Grund hierfür ist die physika- sche) Schülertheorien unter Berücksichtigung der lische Gestalt der Heftzwecke. Diese Einsicht würde thematisierten normativen Aspekte nahegelegt wer- aufgrund der Überlegungen zum Münzwurf (Beispiel den: 1, vgl. Abb. 2) eigentlich schon genügen, um das (a) eine geometrisch-kombinatorische Theorie zur zweite im Buch vorgeschlagene Losverfahren, näm- Bestimmung der Anzahl von gleichmöglichen Ergeb- lich das Werfen einer Heftzwecke (Beispiel 2, vgl. nissen, die sich in Vorstellungen zu idealen Zufalls- Abb. 2), als unfair abzulehnen. Die Unfairness des objekten (die auf empirische Objekte übertragen wer- Vorschlages wird aber im Schulbuch nicht explizit den) begründet und auf diese Weise einen Wahr- mit Symmetrie-Überlegungen begründet (analog zur scheinlichkeitsbegriff auf „nicht-experimentelle“ Begründung der Fairness eines Münzwurfes), son- Weise für die normative Frage der Fairness konstitu- dern mit Wahrscheinlichkeiten: „Der Vorschlag ist iert. nicht fair, weil die Ergebnisse … nicht gleich wahr- scheinlich sind“ (Abb. 2). Die Wahrscheinlichkeit (b) eine Theorie über vielfach ausgeführte Zufallsex- von Ergebnissen mit nicht-symmetrischen Objekten perimente, die relative Häufigkeiten als „Schätzwert“ wird schließlich als eine Art „Grenz-Wert“ einge- (D, vgl. Abb. 2) für Wahrscheinlichkeiten verwendet. führt, dem sich die relativen Häufigkeiten nähern: Diese Wahrscheinlichkeiten können in einem norma- „Die relative Häufigkeit eines Ergebnisses nähert tiven Kontext einen „physikalistischen“ Fairnessbe- sich bei einer großen Anzahl von Versuchen einem griff begründen. Wert an“ (D, vgl. Abb. 2). Diese Vorstellung knüpft Diese beiden möglichen empirischen Schülertheo- an das sog. Empirische Gesetz der großen Zahlen an, rien, beide machen grundsätzlich Aussagen über em- dass die relative Häufigkeit eines Ereignisses gegen pirische Referenzobjekte vor normativen Fragestel- dessen Wahrscheinlichkeit konvergiert (vgl. Freu- lungen, haben ähnliche epistemologische Grundla- denthal, 1972). Diese Auffassung war auch in der Ge- gen wie die entsprechenden historischen Theorien, schichte der Wahrscheinlichkeitstheorie weit verbrei- tet. Damit lässt sich die Wahrscheinlichkeit an dieser 8
F. Pielsticker & I. Witzke Abb. 3: Arbeitsoberfläche des CAD-Programms Tinkercad™ die wir in Abschnitt 2.2 beschrieben haben. Wir wer- Wahrscheinlichkeit in einer empirischen Theorie den sehen, dass sie im Unterricht auch zu ähnlichen festgelegt werden soll. Nur bei einem begründeten Problemen führen. Verdacht zur Annahme (C, vgl. Abb. 2), dass Ergeb- nisse nicht gleich wahrscheinlich sind, „muss [tat- Betonen möchten wir noch einmal die verschiedenen sächlich] experimentiert“ und schließlich geschätzt Bedeutungen des Begriffs „Wahrscheinlichkeit“ auf werden (B & D, vgl. Abb. 2), womit wiederum auf der Schulbuchseite. Es ist aus geometrisch-kombina- einen (anderen), aber ebenso theoretischen Wahr- torischer Sicht angemessen, die Wahrscheinlichkeit scheinlichkeitsbegriff verwiesen wird. für die beiden Seiten der Münze (C, vgl. Abb. 2) mit 1/2 und 1/2 festzulegen – ohne zu experimentieren. In diesem Abschnitt wird die Schulbuchseite mit Würden tatsächlich relative Häufigkeiten für das Bei- Blick auf verschiedene Auffassungen (Bedeutungen) spiel „Münzwurf“ in realen Zufallsexperimenten er- vom Wahrscheinlichkeitsbegriff diskutiert. Auf der mittelt, so wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Schulbuchseite wird dabei auch das „unmögliche Er- sich mit Blick auf die durchgeführten Testreihen eignis“ (vgl. Abb. 2) erwähnt. Die Frage, welchen eben keine Gleichverteilung ergibt. Ebenso würden Status ein unmögliches Ereignis hat, ist eine Detail- sich diese Werte bei steigender Versuchsanzahl stän- frage, die für den Leser konkret an der Beschreibung dig verändern. Damit wird der Wahrscheinlichkeits- der Schülerdiskussionen verdeutlicht wird. begriff hier also bewusst zunächst als ein theoreti- Dass diese Probleme für Schüler*innen zu kognitiven scher Begriff in einer empirischen Theorie einge- Konflikten an Schnittstellen von „Realität“ und „Ma- führt, d. h. er erhält seine Bedeutung erst innerhalb thematik“ führen können (wie schon in der Ge- selbiger durch Definition. Dieses Problem themati- schichte der Mathematik, vgl. 2.1), erscheint wenig siert das Schulbuch nicht. überraschend. Diesbezügliche Aushandlungspro- Insgesamt liegt es aber damit nahe, dass auf diese zesse der Schüler*innen dazu bilden den zentralen Weise zwei verschiedene Begriffe von Wahrschein- Ausgangspunkt und Beobachtungsgegenstand des lichkeit vermittelt werden, die beide im Sinne der je- betrachteten Fallbeispiels (vgl. 3.). weiligen empirischen Theorie als theoretische zu be- Nachfolgend skizzieren wir zunächst die wichtigsten schreiben sind; in (a) als „Setzung“ mit Blick auf ge- Funktionen der Programmoberfläche des Designpro- ometrisch-kombinatorische Aspekte, begründet grammes für 3D-Druckobjekte Tinkercad™, welches durch Symmetrieüberlegungen und in (b) als von den Schüler*innen in Vorbereitung der in 3. fol- „Schätzwert“ auf Grund vielfach ausgeführter Zufall- genden analysierten Szenen verwendet wurde um sexperimente. manipulierte Spielwürfel zu erstellen, bzw. in den un- Hierzu passt, dass auch der Begriff des „Experimen- tenstehenden Transkripten, in den Äußerungen der tes“ bzw. des „Experimentierens“ unterschiedlich betrachteten Schüler*innen immer wieder auftaucht. verwendet wird. So ist ein Laplace-Experiment ein Darüber hinaus sind einige Funktionen des Program- Experiment, bei dem eigentlich gar nicht (zur Be- mes (vgl. Abb. 3)iii entscheidend für eine angemes- stimmung der Wahrscheinlichkeit) experimentiert sene Einschätzung der Analyse. werden soll, sondern durch Setzung eine 9
math.did. 45(2022)1 2.4 CAD-Programm: Tinkercad™ Einfügen einer gefüllten Pyramide im Inneren eines Würfels). Auf diese Weise entstand eine Vielzahl un- Das CAD-Programm Tinkercad™ gehört zu den Di- terschiedlich manipulierter Spielwürfel (vgl. Abb. 4). rekt-Modellierungsprogrammen (Dilling & Witzke, 2019), da hier geometrische Körper auf einer Arbeits- Den Abschluss der Unterrichtseinheit „The evil ebene (vgl. Abb. 3) verschoben und durch Ziehen ONE“ bildete die Aufgabe „Such den Superwürfel“. einzelner Elemente (Flächen, Pfeile) direkt verändert Dabei galt es für die Schülertandems und abschlie- werden können. Das ermöglicht einen intuitiven und ßend die Klasse als Ganze, den „besten“ Spielwürfel schnellen Zugang für ein gerade anfängliches Arbei- (im Sinne des Gewinnausgangs des Spiels) zu küren. ten mit CAD-Software im Unterricht. Aus einer Dabei galt es den normativen Aspekt zu berücksich- Randleiste des Programms Tinkercad™ können vor- tigen, dass die Manipulation nicht zu auffällig sein gefertigte (geometrische) Körper ausgewählt werden, solle. Dies mag erklären, dass beispielsweise keine die dann zur Erstellung von 3D-Druck-Modellen ge- der Schüler*innen einen Würfel ohne „1“ konstruier- nutzt werden können. Diese regelmäßigen geometri- ten. Nachbefragungen ergaben, dass dieser dann „of- schen Körper (wie bspw. auch ein Ikosaeder), die auf fensichtlich“ nicht als „echter“ Spielwürfel gegolten die Arbeitsebene von Tinkercad™ gezogen werden, hätte. Hieran ließe sich thematisieren, dass der Be- können in Größe und Lage leicht durch Ziehen ver- griff des unmöglichen Ereignisses für Schüler*innen ändert werden. Auch die präzise Veränderung von eine besondere erkenntnistheoretische Herausforde- Längen (in mm) ist möglich. Gleichzeitig kann der rung in der Wahrscheinlichkeitsrechnung darstellt geometrische Körper auch an Pfeilen um die x-, y-, (Pielsticker, 2020). oder z-Achse gedreht werden (vgl. Abb. 3). Mit Blick auf die ganze Einheit konnten wir beobach- ten, wie sich im Folgenden zeigt, dass die unter- 3. Fallbeispiel in empirischen Kontexten schiedlich manipulierten Spielwürfel (vgl. Abb. 4) 3.1 Wahrscheinlichkeit im Beispiel mani- substanzielle inhaltliche Aushandlungsprozesse und pulierte Spielwürfel Bedeutungskonstruktionen in Bezug auf den Wahr- scheinlichkeitsbegriff unter den Schüler*innen an- Im Rahmen einer Unterrichtseinheit, die sich zeitlich regten. an die Thematisierung der oben diskutierten Schul- buchseite anschloss, hatten die 22 Schüler*innen der Spielwürfel E 20-seitiger Spielwürfel untersuchten 8. Klasse einer Sekundarschule den Auftrag, in Schülertandems, innerhalb einer Spielsi- tuation „The evil ONE“ (vgl. für die exakte Spielan- leitung Abb. 5) jeweils einen Spielwürfel so zu ent- wickeln (bzw. zu manipulieren), dass er die Gewinn- chance im Spiel erhöhen würde. Die Unterrichtsein- heit „The evil ONE“ umfasste 5 Mathematikstunden (jeweils 60min pro Unterrichtsstunde) in einem Zeit- raum von ca. 3 Wochen. Als Equipment standen den Schüler*innen dazu schuleigene Laptops mit WLAN-Zugang (für das webbasierte Programm Tin- Spielwürfel K kercad™) sowie drei 3D-Drucker zur Verfügung. Weiterhin konnten die Schüler*innen der Klasse be- reits auf einige Erfahrungswerte mit der 3D-Druck- Abb. 4: Auswahl „manipulierter“ Spielwürfel der unter- suchten 8. Klasse (Pielsticker, 2020, S. 358) Technologie zurückgreifen (für detailliertere Infor- mationen zum Erhebungskontext, siehe Pielsticker, Besonders diskutiert wurde unter den betrachteten 2020). Die Problemstellung war demnach im Desig- Schüler*innen ein 20-seitiger Spielwürfel (vgl. Abb. nen und Drucken von Würfeln gegeben, für welche 4), der im Rahmen der Unterrichtseinheit von einem die Wahrscheinlichkeit die Augenzahl 1 zu würfeln Schülertandem erstellt worden war. Zwei Schülertan- möglichst gering ausfallen sollte.iv Mithilfe der 3D- dems waren führend bei dieser Diskussion, die im re- Druck-Technologie konnten die Schülertandems zu- gulären Mathematikunterricht stattfand: Das Schü- nächst im Rahmen der Möglichkeiten der Designsoft- lertandem bestehend aus Kim und Tom und das ware einen hinsichtlich Form, Bezeichnung und Ge- Schülertandem Jan und Chris (Namen geändert). Wir wichtsverteilung angepassten Spielwürfel mithilfe konnten in der Situation beobachten, wie beide Schü- des CAD-Programms Tinkercad™ entwickeln und lertandems in ihrer Diskussion über den 20-seitigen anschließend mit dem 3D-Drucker herstellen (bspw. Würfel dem Begriff der „Wahrscheinlichkeit“ inner- eine Verlagerung des Schwerpunktes durch eine in- halb ihrer jeweiligen empirischen Theorien eine Be- nere Verstärkung einer Würfelwand oder durch das deutung zuwiesen. 10
F. Pielsticker & I. Witzke Abb. 5: Spiel „The evil One” (Pielsticker, 2019, S. 6) „Augensumme“ wären beim vorliegenden 20-seiti- Grundlage der folgenden Analyse sind Transkripte gen Würfel nicht gleichverteilt. (Transkriptionsregeln nach Meyer, 2010) von zuvor videographierten Unterrichtssituationen und Leitfa- Zunächst verdeutlichen wir im Folgenden Kims Ar- deninterviews mit den Schülertandems. In der be- gumentation mit einem Transkriptauszug aus einem schriebenen Einheit wurde jede Unterrichtsstunde vi- Interview das mit dem Schüler nach der Mathematik- deographiert und nach jeder Unterrichtsstunde ein stunde, in der sie die manipulierten Spielwürfel sys- Leitfadeninterview mit den Schülertandems geführt. tematisch testen konnten, geführt wurde. Wie oben bereits erwähnt, waren zwei Schülertan- dems führend bei der Diskussion um den (verzerrten Min. Schüler Text – darauf werden in 3.1.1, (3) eingehen) 20-seitiger Das wo wir den Würfel, ich und Spielwürfel (vgl. Abb. 4) und für unsere weitere Ana- Tom, haben ja gesagt, dass man lyse. erkennt, dass man die Eins nicht würfeln kann, weil dieser Würfel Wir werden in diesem Zusammenhang im Sinne des nicht ist wie die z. B. der (nimmt ei- in 2.3.2 beschriebenen potenziellen Deutungskon- nen sechsseitigen manipulierten fliktes einen besonderen Fokus darauf richten, was Spielwürfel „K“ in die Hand. vgl. die Schüler unter „gleichwahrscheinlich“ verstehen. Abb. 4) und der (nimmt noch einen 12:05 Kim weiteren Spielwürfel „E“, vgl. Abb. Dabei könnten für die betrachteten Schüler die fol- 4 in die Hand). Die sind ja auf allen genden Fragen im Vordergrund stehen: Seiten gleich. Es ergibt immer sie- ben und hier (nimmt den 20-seiti- • Welche Symmetrieeigenschaften erfüllt der gen Spielwürfel in die Hand) ist, 20-seitige Würfel und handelt es sich um ein finde ich keine Struktur drin. Und die Eins ist auch noch auf einer Laplace-Experiment? schlechteren Position, so dass man sie nicht richtig würfeln kann. • Wie kann man mit Hilfe relativer Häufigkei- ten Wahrscheinlichkeiten bestimmen? Tab. 2: Transkriptausschnitt von Kim zum 20-seitigen Spielwürfel aus dem Interview mit dem Schüler. 3.1.1 Fallgeschichte: Schülertandem Kim und Tom Ausschlaggebend ist in Kims Argumentation, dass die Eins mit dem 20-seitigen Spielwürfel überhaupt Im nachfolgenden Transkriptausschnitt argumentie- nicht gewürfelt werden könne. Er führt in diesem Zu- ren Kim und Tom – die individuellen manipulierten sammenhang Argumente an, die gegen die Annahme Würfel waren zu diesem Zeitpunkt bereits erstellt – einer Laplace-Verteilung angesehen werden (vgl. für einen Ausschluss des 20-seitigen Spielwürfels für 2.3.2). In seinen Augen kann die Eins bei diesem 20- die Kür des „besten“ Würfels. Dies geschieht vor seitigen Spielwürfel nicht gewürfelt werden, da „die dem Hintergrund, dass sie im Gegensatz zum Erstel- Eins […] auch noch auf einer schlechteren Position“ ler des Würfels, dem Schüler Chris, in dem der Tab. (Tab. 2, 12:05) ist. Dieser Eindruck wird im Video 2 vorangegangenen Unterrichtsgespräch annehmen durch Gesten verstärkt, die darauf hinweisen, dass er und vertreten, die Verteilung der Ergebnisse 11
math.did. 45(2022)1 den vorliegenden Würfel hinsichtlich seines Schwer- punktes als verzogen ansieht – darauf werden wir später noch genauer eingehen. Zusätzlich beobachtet er, dass „keine Struktur drin ist“ (Tab. 2, 12:05), und der Würfel daher ungeeignet für das Spiel sei. Diese beiden Sachverhalte sind für Kim wesentliche Indi- zien dafür, dass man nicht davon ausgehen kann, dass es sich um einen im Sinne des Spiels bzw. Arbeits- Abb. 6: Würfelnetz auftrages „zulässigen“ Würfel handelt, weil man bei- Dieses Muster, bzw. eine solche (mathema- spielsweise die Manipulation direkt erkennen würde, tisch) arithmetische Grundstruktur kann Kim da die Eins nie fiele (vgl. Tab. 2). Dem Schulbuch für den 20-seitigen Spielwürfel nicht erken- folgend müsste man dann also tatsächlich zunächst nen und kommentiert „und hier (nimmt den experimentieren und einen Schätzwert bestimmen, 20-seitigen Spielwürfel in die Hand) ist, um im Folgenden Aussagen über Wahrscheinlichkei- finde ich, keine Struktur drin“ (Tab. 2, ten machen zu können. Kims Aussagen bereiten da- 12:05). Das Muster (vgl. Abb. 6) – „Es ergibt bei, im Gegensatz zu Chris, eher nicht auf eine La- immer sieben.“ (Tab. 2, 12:05), auf das Kim place-Wahrscheinlichkeit, sondern eher auf einen referenziert, ist dabei wohl auf selbstständige Schätzwert über relative Häufigkeiten vor. Dabei empirische Beobachtungen zurückzuführen, fungiert der 20-seitige Spielwürfel während der ge- da es nach Aussage der Lehrkraft, nicht zu- samten Argumentationslinie als wesentliches empiri- vor im Unterricht thematisiert wurde. sches Referenzobjekt. Der Schüler Kim bezieht sich dabei auf unterschiedliche mögliche Aspekte: (3) Mit seiner Formulierung „und hier (nimmt den 20-seitigen Spielwürfel in die Hand) ist, (1) Kim kontrastiert den vorliegenden 20-seiti- finde ich, keine Struktur drin. Und die Eins gen Würfel mit der Bemerkung „Die sind ja ist auch noch auf einer schlechten Position“ auf allen Seiten gleich.“ (Tab. 2, 12:05) an zielt Kim wohl auf zwei Aspekte: Zum einen einem sechsseitigen Spielwürfel und bezieht das Argument aus (2), zum andern, dass der sich dabei wohl auf die symmetrisch verteil- 20-seitige Spielwürfel kein regelmäßiges ten bzw. ausbalancierten Seitenflächen bei Ikosaeder ist und der Schwerpunkt (auf einem üblichen sechsseitigen Würfel. Dieser Grund eines unsauberen Drucks) verschoben ist für ihn offensichtlich ein paradigmati- ist. Dieser Aspekt ist dem Schüler eminent sches Beispiel, das hier zur Argumentation wichtig und lässt ihn daran zweifeln, ob der herangezogen wird. Der vorliegende 20-sei- Würfel für das Spiel überhaupt zulässig bzw. tige Würfel ist aber aus seiner Sicht in we- geeignet wäre. Es ist davon auszugehen, dass sentlichen strukturellen empirischen Merk- er (im Gegensatz zu Chris) an gleichwahr- malen nicht hinreichend ähnlich – man scheinlichen Ergebnissen „Augensumme“ würde eine Manipulation aus seiner Sicht un- im Sinne einer apriori angenommenen La- mittelbar erkennen. Mit Blick auf einen mög- place-Verteilung für den vorliegenden 20- lichen, sich daran anschließenden Wahr- seitigen Spielwürfel zweifeln würde. Für die scheinlichkeitsbegriff, wäre hier der zuvor in Argumentation stellt Kim schließlich den 20- (b) geschilderte zu vermuten. Es würde aus seitigen Spielwürfel auf die Tischplatte und seiner Sicht wohl eines experimentellen Zu- zwar so, dass das Ergebnis „1“ gezeigt wird ganges bedürfen, um belastbare Aussagen (vgl. Abb. 7), und schließt auf Grund der Be- zur Wahrscheinlichkeit machen zu können. schaffenheit des Würfels, dass dieses auf (2) Ein weiterer Aspekt kann in Kims Formulie- rung „Es ergibt immer sieben.“ (Tab. 2, 12:05) gesehen werden. Kim scheint hier eine empirische Beobachtung am Spielwür- „1“ fel miteinzubeziehen. Schauen wir auf ein Würfelnetz (vgl. Abb. 6) eines paradigmati- schen sechsseitigen Spielwürfels, so können wir erkennen, dass die gegenüberliegenden Ziffern [(5 + 2), (3 + 4) und (6 + 1)] in der Summe jeweils sieben ergeben. Abb. 7: 20-seitiger Spielwürfel auf der Tischplatte 12
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