Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod: Wien (und Österreich-Ungarn) im Ersten Weltkrieg

 
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Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod:
                                                                                     Wien (und Österreich-Ungarn) im Ersten Weltkrieg
                                                                                     Hans-Georg Hofer

                                                                                     Summary
                                                                                     Food crisis, sickness, starvation: Vienna (and Austria-Hungary) in the Great War
                                                                                     This essay focuses on the food crises in Vienna and Austria-Hungary at the time of the
                                                                                     Great War. The transition from the war to the post-war period was particularly difficult for
                                                                                     Vienna. The city more than once came close to a hunger catastrophe. The situation only
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                                                                                     improved in the early 1920s thanks to support from abroad. This contribution first asks
                                                                                     about specific causes and particularities of the food crisis in the Habsburg Empire and
                                                                                     demonstrates that, apart from war-related causes and the Entente’s embargo policies,
                                                                                     mainly political administrative conflicts and asymmetries between the Austrian and Hun-
                                                                                     garian governments were responsible for the desolate food situation. In the Austrian part of
                                                                                     the empire, not only Vienna but other regions too, such as the industrialized parts of Bo-
                                                                                     hemia, suffered from hunger and nutrition-related diseases. Another question that will be
                                                                                     addressed is that of the position Austrian general politics and academic medicine took up
                                                                                     with regard to the “food question”. Roger Cooter and Steve Sturdy proposed that modern
                                                                                     warfare is determined by the dissolution of the boundaries between the civilian and mili-
                                                                                     tary populations – and that medicine plays a prominent part in that.1 Following on from
                                                                                     this, I would like to present the example of the Viennese paediatrician Clemens von
                                                                                     Pirquet whose answer to the famine was a “nutritional system” that he tested at the paedi-
                                                                                     atric hospital of Vienna University before introducing it in other hospitals. Immediately
                                                                                     after the war his hospital was the main venue and headquarters of international relief ef-
                                                                                     forts. The suggestion is to localize Pirquet’s nutritional system within the context of hu-
                                                                                     man-economic interpretation models and rationalization efforts.

                                                                                     Wien, Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg: Annäherungen
                                                                                     Die vergleichende historische Forschung zum Ersten Weltkrieg – und zu-
                                                                                     mal zur Medizin des Ersten Weltkriegs – ist in hohem Maße auf Deutsch-
                                                                                     land, Frankreich und Großbritannien ausgerichtet gewesen. Demgegenüber
                                                                                     ist Österreich-Ungarn nicht oder nur am Rande einbezogen worden. Das
                                                                                     hat unterschiedliche Gründe; einer liegt darin, dass dieses Österreich-
                                                                                     Ungarn so anders war und in herkömmlichen Analyse- und Vergleichska-
                                                                                     tegorien – wie etwa der Nation – nicht adäquat erfasst, geschweige denn
                                                                                     erklärt werden konnte. Keinen anderen Staat Europas kennzeichneten so
                                                                                     vielfältige und widersprüchliche Prozesse der politisch-kulturellen Differen-
                                                                                     zierung und Fragmentierung; Prozesse, die sich im Krieg verschärften und
                                                                                     radikalisierten. In Frankreich und Italien standen im Ersten Weltkrieg zivil-
                                                                                     gesellschaftliche Mobilisierung, Durchhaltevermögen und Opferwillen im
                                                                                     Zeichen der Nation. Deren Erhalt galt es zu verteidigen, deren Vollendung
                                                                                     zu erreichen. Österreich-Ungarn war keine Nation, sondern ein heterogenes
                                                                                     und fragiles Staatengebilde, das aus dem Krieg keine Kohäsionsenergien

                                                                                     1    Cooter/Sturdy (1998), S. 4.

                                                                                     MedGG 31  2013, S. 33-66
                                                                                      Franz Steiner Verlag Stuttgart

                                                                                                                             Franz Steiner Verlag
34                                                            Hans-Georg Hofer

                                                                                     gewinnen konnte. Im Gegenteil – unter den Bedingungen des Krieges wur-
                                                                                     den Konfliktlinien zu Bruchlinien, zu den äußeren Fronten traten innere
                                                                                     hinzu. Am Ende stand der Zusammenbruch.
                                                                                     Über Österreich, Österreich-Ungarn und den Ersten Weltkrieg zu sprechen,
                                                                                     ist somit kompliziert. Kein anderer Staat – von Russland abgesehen – hat
                                                                                     im Ersten Weltkrieg so dramatische Umwälzungen erfahren. 1914 war Ös-
                                                                                     terreich-Ungarn als europäische Großmacht in den Krieg gegangen, mit
                                                                                     über 50 Millionen Einwohnern und einem Staatsgebiet, das von der südli-
                                                                                     chen Adria bis Schlesien und vom Bodensee bis in die Bukowina reichte;
                                                                                     1918 war Deutschösterreich ein verarmter und – nach Wahrnehmung vieler
                                                                                     – kaum überlebensfähiger Kleinstaat mit rund sechs Millionen Bürgern und
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                                                                                     einer völlig überdimensionierten Hauptstadt, in der jeder dritte Einwohner
                                                                                     lebte. Die Fallhöhe dieser Stadt war extrem: Innerhalb weniger Jahre war
                                                                                     Wien nicht mehr kaiserliche Residenzstadt und Zentrum einer europäischen
                                                                                     Großmacht, sondern ein Ort, der kaum mehr zu bieten hatte als vortreffli-
                                                                                     chen »Anschauungsunterricht der nackten Not« (Karl Kraus).2 Die junge
                                                                                     Republik hatte keine einzige gelöste Grenzfrage, war von politischen und
                                                                                     sozialen Spannungen geprägt und nicht zuletzt mit schweren Identitätszwei-
                                                                                     feln belastet. Die provisorische Nationalversammlung hatte im November
                                                                                     1918 Deutschösterreich ausgerufen, das Teil der deutschen Republik wer-
                                                                                     den und auch Deutschböhmen sowie das Sudetenland umfassen sollte. Dies
                                                                                     untersagten jedoch die Siegermächte, die im Friedensvertrag von Saint-
                                                                                     Germain die Republik Österreich festlegten. Oft zitiert wird der Ausspruch
                                                                                     des französischen Ministerpräsidenten Clemenceau: »Der Rest, das ist Ös-
                                                                                     terreich.«3
                                                                                     In diesem Rest Österreich ist, wie schon in den Kriegsjahren selbst, die Er-
                                                                                     nährungsnot das Hauptproblem. Für den Wiener Ernährungsfachmann
                                                                                     Hans Loewenfeld-Russ war Österreich ein »ernährungswirtschaftlicher
                                                                                     Krüppelstaat, der sich nur mit den Prothesen fremder Hilfe mühsam fort-
                                                                                     schleppen« könne.4 Und Herbert Hoover, der Leiter der amerikanischen
                                                                                     Hilfsaktion (und spätere Präsident der Vereinigten Staaten), notierte in sei-
                                                                                     nen Erinnerungen: »Austria was a special case. She was starving and almost
                                                                                     penniless, the peace-makers having given away most of her agricultural ar-
                                                                                     eas to the surrounding states, thereby creating a helpless poorhouse.«5 Die
                                                                                     amerikanischen und europäischen Hilfeleistungen liefen schnell und ver-
                                                                                     gleichsweise großzügig an; kein anderes Land – von Belgien abgesehen,
                                                                                     dem bereits im Krieg Hilfeleistungen zuteil wurden – erhielt, bezogen auf
                                                                                     seine Einwohnerzahl, so umfangreiche Hilfe wie das geschrumpfte Öster-

                                                                                     2    Kraus (1991), S. 94.
                                                                                     3    Konrad/Maderthaner (2008); Hanisch (1994), S. 265-287.
                                                                                     4    Loewenfeld-Russ (1919), S. 11.
                                                                                     5    Hoover (1952), S. 304.

                                                                                                                           Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod                                                   35

                                                                                     reich, mit dem man Mitleid hatte, mit dem man aber auch politisch-
                                                                                     strategische Interessen verfolgte:
                                                                                         The problem of supplying food to Austria was the most difficult of all Central Euro-
                                                                                         pean countries. Yet it was self-evident that food must be supplied, not only to prevent
                                                                                         starvation, but to prevent the establishment of a hot bed of bolshevism in the very
                                                                                         center of Europe.6
                                                                                     Betrachtet man also Österreich-Ungarn und Österreich im zeitlichen Um-
                                                                                     feld des Ersten Weltkriegs, so zeigen sich schon auf den ersten Blick (ernäh-
                                                                                     rungs-)politische Besonderheiten, die historisch erklärungsbedürftig sind –
                                                                                     und die stets auch in einem unmittelbaren und wechselseitigen Verhältnis
                                                                                     zur Medizin zu sehen sind. Denn der Hunger im Hinterland sowie die Si-
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                                                                                     cherstellung der Ernährung waren auch für Wiener Universitätsmediziner
                                                                                     und Gesundheitspolitiker »unsere auf Jahre hinaus wichtigste Sorge«.7

                                                                                     »Approvisionierungsschwierigkeiten«: Politik und Administration
                                                                                     der Ernährungsnot
                                                                                     Fasst man die Gründe der prekären Ernährungssituation der Habsburger-
                                                                                     monarchie im Ersten Weltkrieg ins Auge, so zeigen sich zunächst Faktoren,
                                                                                     die aus den äußeren Kriegsbedingungen abzuleiten sind. Da war zum einen
                                                                                     die Blockadepolitik der Entente, die vor allem von 1915 an – mit dem
                                                                                     Kriegseintritt Italiens – eine Verschärfung für Österreich-Ungarn mit sich
                                                                                     brachte. Durch die Sperrung der Straße von Otranto war für Österreich-
                                                                                     Ungarn der Seeweg von Süden durch die Adria nach Triest abgeschnitten;
                                                                                     eine Anlieferung von Lebensmitteln zur See (wie beispielsweise aus Argenti-
                                                                                     nien, das vor dem Krieg große Mengen an Fleisch lieferte) war damit un-
                                                                                     terbunden.8 Zum anderen wurde die landwirtschaftlich bedeutende nordöst-
                                                                                     liche Reichshälfte durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen. Insbesonde-
                                                                                     re Galizien, von wo ein Großteil des Getreides für Wien und die österreichi-
                                                                                     schen Länder kam, war ein stark umkämpfter und verwüsteter Teil der Ost-
                                                                                     front.9 Da große Teile der k. u. k. Armee dort eingesetzt waren – und eben
                                                                                     auch verpflegt werden mussten –, gingen die rückläufigen galizischen Ge-
                                                                                     treidebestände direkt an die Armee. Im Südosten des Reichs verliefen weite-
                                                                                     re Fronten, nämlich diejenigen in Serbien und in Rumänien. Auch hier be-
                                                                                     einträchtigte der Krieg die Lebensmittelaufbringung massiv und schränkte

                                                                                     6   Surface/Bland (1931), S. 153. Zu Hoover und der Tätigkeit der American Relief Ad-
                                                                                         ministration (ARA) im Österreich der Nachkriegszeit siehe Adlgasser (1993). Im di-
                                                                                         rekten Vergleich zu Deutschland war die Zahl der zwischen 1919 und 1924 von der
                                                                                         ARA an Österreich gelieferten Hilfsgüter mehr als viermal so hoch (260.494 gegen-
                                                                                         über 57.716 Tonnen): Surface/Bland (1931), S. 82.
                                                                                     7   Pirquet (1917-1920), Tl. 1, S. 8.
                                                                                     8   Rauchensteiner (1994), S. 142-144.
                                                                                     9   1913 kamen allein aus Galizien 31,2 Prozent der österreichischen Weizenproduktion,
                                                                                         25,8 Prozent Hafer sowie 39,2 Prozent der Ernte an Hülsenfrüchten. Loewenfeld-Russ
                                                                                         (1919), S. 9.

                                                                                                                             Franz Steiner Verlag
36                                                         Hans-Georg Hofer

                                                                                     die Möglichkeiten, Wien und die österreichischen Gebiete der Donaumo-
                                                                                     narchie zu versorgen, ein. Die erhoffte Erleichterung der Ernährungssitua-
                                                                                     tion, die man sich auf Seiten der Mittelmächte nach dem Ausscheiden Sow-
                                                                                     jetrusslands und dem Schließen eines Separatfriedens mit der Ukraine er-
                                                                                     hofft hatte (»Brotfrieden«), trat nicht ein.10
                                                                                     Noch wichtiger als die Berücksichtigung der Absperrungspolitik von außen
                                                                                     und die direkten Kriegsschäden in landwirtschaftlichen Gebieten sind je-
                                                                                     doch die inneren Konflikte um die Aufbringung und Verteilung der Le-
                                                                                     bensmittel, die »Approvisionierung«, wie es im Habsburger-Deutsch hieß.
                                                                                     Die Hungerkrisen der österreichischen Reichshälfte waren nicht alleine
                                                                                     durch die Kriegsumstände hervorgerufen worden, sondern strukturell be-
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                                                                                     dingt; sie waren die Fortsetzung und Verschärfung von innenpolitischen
                                                                                     Spannungen und Konflikten, die bereits in der staatsrechtlichen Kon-
                                                                                     struktion von Österreich-Ungarn angelegt waren. Denn der Dualismus der
                                                                                     Habsburgermonarchie war nicht nur ein politischer, sondern auch ein wirt-
                                                                                     schaftlicher: Die österreichische Reichshälfte Cisleithanien kennzeichnete
                                                                                     schwerpunktmäßig Industrie, die ungarische Reichshälfte Transleithanien
                                                                                     dagegen Landwirtschaft. Die österreichische Reichshälfte war in ihrer Le-
                                                                                     bensmittelversorgung in hohem Maß auf Importe angewiesen, die vor allem
                                                                                     aus Galizien und Ungarn kamen. 80 Prozent der von Ungarn ausgeführten
                                                                                     Agrarprodukte gingen nach Österreich. Die ungarische Regierung und
                                                                                     magyarische Großagrarier hatten Wien und die österreichische Reichshälfte
                                                                                     mit Schutzzöllen und weitreichenden Einspruchsrechten in ihrer Hand.11
                                                                                     Hinzu kam eine hochmütige Politik der österreichischen Regierung, die mit
                                                                                     einseitig gekündigten Handelsverträgen Nachbarländer politisch und öko-
                                                                                     nomisch unter Druck setzen wollte, wie beispielsweise Serbien, das ab 1906
                                                                                     in einem erpresserischen »Schweinekrieg« in die Knie gezwungen werden
                                                                                     sollte.12
                                                                                     All dies führte schon vor dem Krieg zu abrupten Preissteigerungen, Engpäs-
                                                                                     sen in der Versorgung und Hungerrevolten, die 1911 in den sogenannten
                                                                                     »Wiener Septemberunruhen« eskalierten. Die Aufstandsbewegung war Aus-
                                                                                     druck der sozialen und wirtschaftlichen Notlage großer Teile der Wiener
                                                                                     Bevölkerung (insbesondere der Arbeiterschaft in den Außenbezirken), die
                                                                                     sich in einer Kette von Protesten, Zusammenstößen sowie Gewalteskala-
                                                                                     tionen entlud und mit Hunderten Verletzten, Toten und Massenverhaf-
                                                                                     tungen endete.13 Die Vorkriegseskalation in Wien verdeutlicht und stärkt
                                                                                     somit die These von den immanenten Problemen, die Österreich-Ungarn
                                                                                     auf dem Gebiet der Ernährung hatte. Der Krieg verschärfte diese struktu-
                                                                                     rellen Probleme erheblich. Treffend bemerkt die amerikanische Historikerin

                                                                                     10 Rauchensteiner (1994), S. 541-545.
                                                                                     11 Hanisch (1994), S. 196, 201.
                                                                                     12 Hanisch (1994), S. 199.
                                                                                     13 Maderthaner/Musner (1999).

                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod                                               37

                                                                                     Maureen Healy in ihrer alltagsgeschichtlichen Studie über Wien im Ersten
                                                                                     Weltkrieg: »When it came to food, Austria-Hungary was at war with it-
                                                                                     self.«14
                                                                                     Die Illusion vom kurzen Krieg brachte es mit sich, dass im Sommer 1914
                                                                                     kaum Vorkehrungen für die Versorgung der Zivilbevölkerung getroffen
                                                                                     wurden. Clemens von Pirquet schrieb rückblickend, in seinem Urteil merk-
                                                                                     lich von den Mangelerfahrungen geprägt:
                                                                                         In den ersten Monaten wurde in Österreich nicht gespart, nicht mit den Nahrungsmit-
                                                                                         teln zurückgehalten. Im Gegenteil! […] Sowohl beim Heer als der Zivilbevölkerung
                                                                                         wurde das Leben mit einer Großzügigkeit und einem Fatalismus aufgenommen, die
                                                                                         dem Leichtsinn sehr nahe standen.15
Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr

                                                                                     Schon nach wenigen Monaten zeigten sich die ersten Versorgungsengpässe.
                                                                                     Im ersten Kriegsjahr wurde die Streckung der vorhandenen Brotgetreide-
                                                                                     vorräte verordnet, im zweiten die Mehl- und Brotkarte eingeführt. Sodann
                                                                                     wurde die Liste rationierter Lebensmittel immer länger, die gewährten Ra-
                                                                                     tionen immer kleiner, die Konflikte mit Ungarn immer größer. In den Vor-
                                                                                     kriegsjahren lieferte Ungarn jährlich über zwei Millionen Tonnen Getreide
                                                                                     und Mehl nach Österreich; 1916 waren die Lieferungen auf rund 100.000
                                                                                     Tonnen – und damit ein Zwanzigstel der Vorkriegsmenge – gesunken.16
                                                                                     Auf einen Bruchteil der Vorkriegsmenge reduziert waren auch die Lieferun-
                                                                                     gen an Viehbeständen sowie an Milch.
                                                                                     Im dritten Kriegsjahr setzten in Wien hektische Bemühungen ein, dem ein-
                                                                                     getretenen Ernährungsnotstand durch die Ausweitung von »Verwaltungs-
                                                                                     organisationsmöglichkeiten« (Loewenfeld-Russ)17 entgegenzutreten – was
                                                                                     konkret die Einrichtung von neuen Behörden, Kommissionen und Aus-
                                                                                     schüssen bedeutete. Habsburgs Beamte nutzten nach dem Tode von Kaiser
                                                                                     Franz Joseph ihren Einfluss und Gestaltungsspielraum, den ihnen der neue
                                                                                     – und in Regierungsbelangen noch recht unerfahrene – Kaiser Karl ein-
                                                                                     räumte. Die Einrichtung des k. k. Amtes für Volksernährung sowie des
                                                                                     Gemeinsamen Ernährungsausschusses (mit allein beratenden und vermit-
                                                                                     telnden Aufgaben)18 zählte ebenso dazu wie die Einsetzung eines neuen un-
                                                                                     garischen Ernährungsministers (Prinz Ludwig Windischgrätz), der Wien zu
                                                                                     versprechen hatte, die Aufbringung und Verteilung von Nahrungsmitteln
                                                                                     aus Ungarn noch konsequenter und notfalls unter Einsatz militärischer Mit-
                                                                                     tel voranzutreiben. Ein weiterer Schritt war das kriegswirtschaftliche Er-
                                                                                     mächtigungsgesetz (Juli 1917), das »aus Anlass der durch den Kriegszu-

                                                                                     14 Healy (2004), S. 47.
                                                                                     15 Pirquet: Ernährungszustand (1926), S. 151.
                                                                                     16 Breitner (1994), S. 239; Sandgruber (1995), S. 324.
                                                                                     17 Loewenfeld-Russ (1986), S. 86.
                                                                                     18 Unter der Leitung des (zuvor für die Versorgung der Isonzoarmee zuständigen) Gene-
                                                                                        rals Ottokar Landwehr: Landwehr (1931), S. 16.

                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
38                                                             Hans-Georg Hofer

                                                                                     stand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfü-
                                                                                     gungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen« suchte und in praxi weitrei-
                                                                                     chende und systematische Eingriffe zur besseren Versorgung der Bevölke-
                                                                                     rung ermöglichte.19
                                                                                     Die Einrichtung des Volksernährungsamtes sollte die als langsam und in-
                                                                                     effizient geltende Kriegsgetreideverkehrsanstalt ablösen und einen organi-
                                                                                     satorischen Neubeginn in der Getreideernte ermöglichen. Eine der ersten
                                                                                     Maßnahmen des Volksernährungsamtes war daher die (durch eine kaiserli-
                                                                                     che Verordnung gesetzlich ermöglichte) Neuorganisation der Ernte auf dem
                                                                                     Wege des »Zwangsdruschverfahrens«. Hierbei sollte nach den Prinzipien
                                                                                     der »rationellen Wirtschaftsweise« ein effizientes Verfahren zur raschen und
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                                                                                     gründlichen Erfassung der Ernte entwickelt und von der jeweiligen politi-
                                                                                     schen Landesstelle beaufsichtigt werden. Diese wiederum war an die Wei-
                                                                                     sungen des Volksernährungsamtes gebunden.
                                                                                     Das »Zwangsdruschverfahren« sollte auf allen landwirtschaftlichen Ertrags-
                                                                                     flächen auf dem Gebiet der Monarchie zum Einsatz kommen. Unter den
                                                                                     Umständen des Krieges und der permanenten Ressourcenverknappung war
                                                                                     dieses Verfahren im Kern nichts weniger als ein ehrgeiziges und umfassen-
                                                                                     des Rationalisierungsprogramm, das neue arbeitsorganisatorische Prozesse
                                                                                     von Industriebetrieben auf die Landwirtschaft zu übertragen suchte. Hierzu
                                                                                     zählten die zentral gesteuerte Auswahl und Aussaat von bestimmten Getrei-
                                                                                     desorten unter Berücksichtigung der Bodenbeschaffenheit und Größe der
                                                                                     Ertragsflächen sowie der zu erwartenden unterschiedlichen Reifeperioden,
                                                                                     die möglichst genaue Erfassung aller Produzenten auf allen Ebenen des
                                                                                     Grundbesitzes und die Ausarbeitung und Bereitstellung von akkuraten An-
                                                                                     bau- und Erntestatistiken. Der Ernteeinsatz war nach exakt vorgegebenen
                                                                                     Handlungsabläufen durchzuführen. Jegliche Unterbrechungen sollten ver-
                                                                                     mieden werden. Dies bedeutete einen zentral koordinierten Einsatz der
                                                                                     Dreschmaschinen, denen zudem ein bevorzugter Status in der Lieferung
                                                                                     von Benzin und Kohle eingeräumt wurde. Um einen reibungslosen Ablauf
                                                                                     zu sichern, wurde den verantwortlichen Stellen sowie dem Bedienungsper-
                                                                                     sonal die Pflicht zur Sicherstellung der Betriebsfähigkeit der Maschinen auf-
                                                                                     erlegt; das Bedienungspersonal hatte obendrein für die gesamte Dauer der
                                                                                     Ernte für ein und dieselbe Maschine zur Verfügung zu stehen. Ziel des Ver-
                                                                                     fahrens war die genaue Festlegung und organisatorische Perfektionierung
                                                                                     der Ablieferungsergebnisse bei gleichzeitiger strenger Überwachung der
                                                                                     Produzenten und Selbstversorger, um jeglichen »illegalen« Anbau und Ver-
                                                                                     brauch des Getreides sowie deren Abzweigung auf dem Transportweg zu
                                                                                     verhindern.20

                                                                                     19 Reichsgesetzblatt (1917), S. 739.
                                                                                     20 K. k. Amt für Volksernährung, Erfassung der Ernte des Jahres 1917, 1. Juni 1917.
                                                                                        ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 1 (Allgemein 1917-1918).

                                                                                                                            Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod                                              39

                                                                                     Die organisatorischen Neuerungen im Bereich der Ernteaufbringung konn-
                                                                                     ten die sich abzeichnende Ernährungskrise anders administrieren; aufhalten
                                                                                     konnten sie diese nicht. Die Erfüllung von vorab festgesetzten – und häufig
                                                                                     unrealistischen – Erntequoten führte nämlich dazu, dass auch Teile des
                                                                                     Saatgutes, die für das nächste Jahr einbehalten werden sollten, abgeführt
                                                                                     wurden. Im Januar 1918 etwa berichtete der böhmische Landeskulturrat
                                                                                     nach Wien, »dass die 1917ner Ernteerträge an Getreide und Kartoffel da-
                                                                                     durch sehr beeinträchtigt worden sind, daß den Landwirten zu wenig Saat-
                                                                                     gut belassen wurde«. Trotz der »immer wieder in eindringlichster Weise
                                                                                     erhobenen Warnung«, durch übermäßige Anforderung von Getreide und
                                                                                     Kartoffeln den allgemeinen Versorgungsdienst nicht zu gefährden, seien die
                                                                                     Bestände an Saatgut gegenüber dem Vorjahre erheblich zurückgegangen.
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                                                                                     Dies ließ für das kommende Erntejahr »Schlimmes […] befürchten«.21
                                                                                     Der übergebührliche Aufbrauch von Saatgut war nur ein Problem von vie-
                                                                                     len weiteren, die sich trotz Restrukturierungen zeigten. Um die stets knapper
                                                                                     werdenden Nahrungsmittel begann zwischen den Ministerien, Militärkom-
                                                                                     mandos und zivilen Behörden ein zähes Ringen. Die unter Druck gesetzten
                                                                                     ungarischen Behörden verteidigten sich, dass ein Großteil der erwirtschafte-
                                                                                     ten Nahrungsmittel von der Armee abgezogen würde und diese somit we-
                                                                                     der zur eigenen Versorgung, geschweige denn zur Lieferung nach Öster-
                                                                                     reich abgestellt werden könnten. »[Die] Verpflegungssituation bei den Ar-
                                                                                     meen erfordert, daß alle im Hinterland verfügbaren Mehlvorräte ohne
                                                                                     Rücksicht auf Hinterlandsbedarf zur Armee im Felde abgeschoben wer-
                                                                                     den«, lautete im Dezember 1917 eine der Weisungen des Wiener Kriegsmi-
                                                                                     nisteriums.22 Dies ließ den Behörden und Kommissionen, die die Versor-
                                                                                     gung der Zivilbevölkerung sicherstellen sollten, kaum Spielraum.23 Gleich-
                                                                                     zeitig keimte die Hoffnung auf, dass mit Hilfe der Militärs die Durchfüh-
                                                                                     rung der Ernte und Verteilung der Vorräte besser durchzusetzen waren.
                                                                                     Denn die desolate Versorgungssituation der Armee führte bei den Militär-
                                                                                     behörden zur Einsicht, dass die Aufbringung und Sicherstellung der Ernte
                                                                                     der militärischen Unterstützung bedurfte. Im Februar 1918 etwa ersuchten
                                                                                     mehrere Verwaltungsstellen aus Böhmen, Mähren und der Steiermark in
                                                                                     dringlichen Telegrammen an das Ernährungsamt darum, zur Sicherstellung
                                                                                     des Saatgutes und vor allem zur Getreideaufbringung militärische Einheiten
                                                                                     anzufordern. Die k. k. Statthalterei in Böhmen etwa insistierte darauf, dass

                                                                                     21 Landeskulturrat für das Königreich Böhmen, Deutsche Sektion, an k. k. Amt für
                                                                                        Volksernährung, Wien: Sicherung des Saatgutes für den Frühjahrsanbau, 20. Januar
                                                                                        1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 1 (Allgemein 1917-1918).
                                                                                     22 Plaschka/Haselsteiner/Suppan (1974), Bd. 1, S. 209.
                                                                                     23 Der Physiologe Arnold Durig, der sich nach dem Krieg eingehend mit den Ursachen
                                                                                        der Ernährungsnot in Wien und Österreich befasste, erhob gegen die Militärs schwere
                                                                                        Vorwürfe. Das Verhalten der Armee habe der Ernährungswirtschaft im Allgemeinen
                                                                                        und der Zivilbevölkerung im Besonderen »schwere Gewalt angetan«: Durig (1920), S.
                                                                                        357.

                                                                                                                       Franz Steiner Verlag
40                                                                Hans-Georg Hofer

                                                                                     zur »Getreideaufbringung und Kartoffelvorratsaufnahme […] zwei Bataillo-
                                                                                     nen frontdiensttauglicher Truppen« zum Einsatz kommen sollten.24 Zur
                                                                                     Diskussion stand die Aufstellung von speziellen »Getreide-Requisitions-
                                                                                     Abteilungen«. Diese Maßnahmen betrafen schwerpunktmäßig, aber nicht
                                                                                     nur, den transleithanischen Teil der Monarchie.
                                                                                     Im Frühsommer des Jahres zeigte sich, dass die Arbeit der neugeschaffenen
                                                                                     »Getreide-Requisitions-Abteilungen« häufig auf Widerstand von Seiten der
                                                                                     mitbeteiligten Behörden sowie der landwirtschaftlichen Betriebe stieß. Zu-
                                                                                     dem war zwischen den Militärkommandos, dem Volksernährungsamt und
                                                                                     den Statthaltereien ein Kompetenzstreit entbrannt, wer für die Bereitstellung
                                                                                     und Versorgung der Militärassistenzen in welchem Umfang verantwortlich
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                                                                                     war. Dennoch wurde der militärische Einsatz zur Einbringung der Ernte im
                                                                                     letzten Kriegsjahr noch weiter verstärkt. Auf dem Höhepunkt der Aktion,
                                                                                     im Spätsommer 1918, waren in den Ernteregionen und auf den Transport-
                                                                                     wegen der Monarchie insgesamt über 250.000 Mann im Einsatz, um die
                                                                                     Lebensmittelaufbringung zu sichern, davon knapp 150.000 von österreichi-
                                                                                     schen Militärkommandos.25 Die mit militärischer Assistenz und oftmalig
                                                                                     auch mit militärischer Gewalt durchgesetzten Beschlagnahmungen hatten
                                                                                     weitere Versteckspiele von Vorräten zur Folge, ließen zahlreiche Gerüchte
                                                                                     über die Bevorzugung einzelner Regionen und Bezirke entstehen und führ-
                                                                                     ten insgesamt zu neuen Konflikten, die im Reichsrat in Wien von den Ab-
                                                                                     geordneten in aller Schärfe verhandelt wurden. Dennoch blieb die militä-
                                                                                     risch unterstützte Einbringung und Verteilung der Nahrungsmittel ohne
                                                                                     größere Eskalation.
                                                                                     Auf dem Verhandlungsweg konnte Wien gegenüber Budapest nur wenig
                                                                                     erreichen. Die meisten Gesuche der österreichischen Regierung, zur Versor-
                                                                                     gung der Zivilbevölkerung oder militärisch relevanter Berufsgruppen (wie
                                                                                     etwa der Bahnbediensteten) »einen gewissen Zuschuß aus den Beständen
                                                                                     Ungarns zur Verfügung zu stellen«, blieben erfolglos. Ungarn habe, erklärte
                                                                                     der Ministerpräsident 1917 in einem Schreiben, »während des gegenwärti-
                                                                                     gen Wirtschaftsjahres schon einen ansehnlichen Teil der Ernährungslast
                                                                                     übernommen« und sei »in dieser Hinsicht zur äußersten Grenze der eigenen
                                                                                     Leistungsfähigkeit angelangt«. Die Nahrungsmittelknappheit habe auch für
                                                                                     die Bevölkerung Ungarns »Entbehrungen, Leiden und Schäden« gebracht.
                                                                                     Das in diesem Zusammenhang vorgebrachte Argument der ungarischen
                                                                                     Regierung, wonach die »hiesigen Zustände entschieden ungünstiger und
                                                                                     schwerer geworden sind, als diejenigen der österreichischen Bevölkerung«,
                                                                                     entsprach jedoch nicht den Tatsachen.26 Die Zuteilung von Mehlquoten für

                                                                                     24 K. k. Statthalterei in Böhmen an k. k. Amt für Volksernährung, Nachrevision der
                                                                                        Getreideaufbringung und Kartoffelvorratsaufnahme, Militärassistenz, 21. Februar
                                                                                        1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 1 (Allgemein 1917-1918).
                                                                                     25 Plaschka/Haselsteiner/Suppan (1974), Bd. 1, S. 213-219, 229.
                                                                                     26 Abschrift einer Note des königlich ungarischen Ministerpräsidenten vom 7. Jänner
                                                                                        1917 an den Herrn k. k. Ministerpräsidenten. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolks-

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod                                                 41

                                                                                     die österreichische Bevölkerung (Nichtselbstversorger, 165 Gramm/Tag)
                                                                                     war zu Beginn des Jahres 1918 deutlich niedriger als in Ungarn (220
                                                                                     Gramm/Tag) oder Kroatien/Slawonien (250 Gramm/Tag). Im Juni 1918
                                                                                     erfolgte in Wien eine neuerliche Kürzung der Mehlquote um die Hälfte und
                                                                                     somit auf 82,5 Gramm pro Kopf und Tag, während in Ungarn im August
                                                                                     eine Erhöhung der Quote auf 240 Gramm Mehl/Tag erreicht werden konn-
                                                                                     te.27
                                                                                     Streit bestand auch stets darüber, wie mit den immer geringer werdenden
                                                                                     Beständen umzugehen sei: Sollten die Viehbestände zur Fleischerzeugung
                                                                                     reduziert oder zur Milchaufbringung belassen werden? Sollte Getreide zu
                                                                                     Mehl und Brot verarbeitet oder zumindest in Teilen dem Futtermittel der
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                                                                                     Tiere beigemengt werden? Letzteres war ein Standardvorwurf an die unga-
                                                                                     rische Regierung und gipfelte in dem bösartigen Straßenwitz, ungarische
                                                                                     Schweine seien wichtiger als österreichische Menschen.28 Nicht nur zwi-
                                                                                     schen der ungarischen und der österreichischen Reichshälfte, sondern auch
                                                                                     innerhalb der österreichischen Reichshälfte verschärfte das gegenseitige
                                                                                     Misstrauen die Situation. Ottokar Landwehr, der Leiter des Gemeinsamen
                                                                                     Ernährungsausschusses, schrieb darüber rückblickend:
                                                                                         Im Februar 1917 hatte die Angst vor dem Verhungern es bereits dahin gebracht, dass
                                                                                         sich in Österreich nicht nur die einzelnen Kronländer, sondern innerhalb derselben
                                                                                         auch die einzelnen Bezirkshauptmannschaften, ja die einzelnen Gemeinden hermetisch
                                                                                         gegeneinander abgesperrt hatten.29
                                                                                     Von 1917 an war der Ernährungsnotstand Gegenstand verschärfter Zen-
                                                                                     surmaßnahmen des Kriegspressequartiers.30 Mit dem Ernährungsamt und
                                                                                     dem Volksgesundheitsministerium wurden die Zensurmaßnahmen genau
                                                                                     abgestimmt. »Erörterungen von Ernährungsfragen« und insbesondere die
                                                                                     »Wiedergabe von statistischen Aufstellungen in der Öffentlichkeit« seien
                                                                                     unbedingt zu vermeiden, und zwar aus drei Gründen. Erstens würden da-
                                                                                     durch den Kriegsgegnern detaillierte Informationen über die desolate Situa-
                                                                                     tion gegeben und der Erfolg des »Aushungerungskrieges« bestätigt werden:
                                                                                     »Das feindliche Ausland macht von derartigen Darstellungen weitgehends-
                                                                                     ten Gebrauch.«31 Zweitens würden inländische Zeitungsberichte über die

                                                                                         ernährung, Karton 47 (Lebensmittel 1917-1919).
                                                                                     27 Plaschka/Haselsteiner/Suppan (1974), Bd. 1, S. 54.
                                                                                     28 Sandgruber (1995), S. 324.
                                                                                     29 Landwehr (1931), S. 22.
                                                                                     30 Nach Erlass des Ministeriums des Inneren vom 12. Oktober 1917 waren »alle Nach-
                                                                                        richten über finanzielle, wirtschaftliche oder sonstige Verhältnisse der Monarchie, in
                                                                                        welche das feindliche Ausland nicht genauen Einblick nehmen darf […] zu überprü-
                                                                                        fen«. Verschärfung der Pressezensur (Abschrift). ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volks-
                                                                                        gesundheit, Karton 1593.
                                                                                     31 Als Beleg diente den Beamten des Ernährungsamtes ein Artikel in der französischen
                                                                                        Zeitung Le Matin vom 6. Dezember 1917, der ausführlich über »die Not in Wien« be-
                                                                                        richtete.

                                                                                                                        Franz Steiner Verlag
42                                                                Hans-Georg Hofer

                                                                                     misslichen Ernährungsverhältnisse die Bevölkerung zu »kräftigerem Wider-
                                                                                     stande anstacheln«, da die »Wahrscheinlichkeit unseres Niederbruches,
                                                                                     durch Hunger erzwungen, auf Grund solcher Nachrichten gewiss nahe ge-
                                                                                     rückt erscheint«. Und drittens würden »Zeitungsangaben über das Einlan-
                                                                                     gen von Nahrungsmitteln in Wien« in den Kronländern die Auffassung
                                                                                     stärken, die Hauptstadt sei bei der Verteilung der Lebensmittel einseitig be-
                                                                                     vorzugt worden.32 Vor diesem Hintergrund wurden wiederholt Beschlag-
                                                                                     nahmungen ganzer Zeitungsausgaben verfügt: »Die Wiener Tagespresse
                                                                                     muss […] unbedingt in die Schranken gewiesen werden.«33 Dabei war dem
                                                                                     Volksernährungsamt die desolate Situation vollständig klar. In einer inter-
                                                                                     nen Notiz hieß es im August 1918, dass die »Hungersnot furchtbare Folgen
                                                                                     für die öffentliche Gesundheit [hat]; die Krankheiten infolge dauernder Un-
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                                                                                     terernährung nehmen immer mehr zu und enden immer häufiger töd-
                                                                                     lich«.34

                                                                                     Hunger und »Ernährungsschädigungen« in der österreichischen
                                                                                     Reichshälfte
                                                                                     Vergleicht man die Situation mit den europäischen Metropolen des Krieges,
                                                                                     so stand die Hauptstadt der Habsburgermonarchie deutlich schlechter da:
                                                                                     In London wurde die Rationierung von Zucker, Margarine und Fleisch im
                                                                                     Februar 1918 eingeführt, während die Brotversorgung bis Ende des Krieges
                                                                                     ohne Einschränkungen aufrechterhalten werden konnte.35 Paris hatte von
                                                                                     Ende 1917 an mit Zucker und Brot nur zwei rationierte Lebensmittel. In
                                                                                     beiden Städten war die Situation ungleich besser als in Wien. Selbst in Ber-
                                                                                     lin, das eine schwierige Ernährungslage hatte, waren die Rationierungen zu
                                                                                     Kriegsende höher als in Wien, wo zur gleichen Zeit die tägliche Lebensmit-
                                                                                     telzuweisung umgerechnet nurmehr rund 800 Kalorien betrug.36 In der k. k.
                                                                                     Gesellschaft der Aerzte in Wien wurden Berichte über Ödemerkrankungen
                                                                                     »aufgrund schwerer Ernährungsschädigungen« immer häufiger.37 Schon im

                                                                                     32 K. u. k. Kriegspressequartier an k. k. Ernährungsamt, 6. Juni 1918, Ernährungsver-
                                                                                        hältnisse und ihre Besprechung. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Präsidi-
                                                                                        um, Karton 38.
                                                                                     33 Präsidium des k. k. Amtes für Volksernährung, 17. August 1918, Verbreitung schädi-
                                                                                        gender Nachrichten über die österreichische Ernährungslage durch offizielle Stellen
                                                                                        und Zeitungen: Gegenmaßnahmen; Beschlagnahmung der Druckschrift Neuer Wiener
                                                                                        Volksbote vom 12. Januar 1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Präsidium,
                                                                                        Karton 38.
                                                                                     34 Präsidium des k. k. Amtes für Volksernährung, 28. August 1918, Schädliche Wirkung
                                                                                        der detaillierten Zeitungsberichterstattung über Approvisionierungsangelegenheiten.
                                                                                        ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Präsidium, Karton 38.
                                                                                     35 Gregory (2010), S. 412. Vgl. Winter/Robert (1997).
                                                                                     36 Healy (2004), S. 44f.
                                                                                     37 Vor allem in den Arbeiterbezirken im Westen der Stadt: Schiff (1917), S. 1406; Falta
                                                                                        (1917), S. 1637.

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod                                               43

                                                                                     Frühjahr 1917, als man Ödemerkrankungen in jedem zweiten Wiener Be-
                                                                                     zirk registriert hatte, war die Zahl an Neuerkrankungen innerhalb von Wo-
                                                                                     chen rasant gestiegen, um während der Erntezeit des Sommers für kurze
                                                                                     Zeit zurückzugehen. Im Winter und Frühjahr 1918 traten die Erkrankungen
                                                                                     erneut massiv unter der Wiener Bevölkerung auf.
                                                                                     In der österreichischen Reichshälfte war von der Ernährungskrise freilich
                                                                                     nicht nur die Hauptstadt betroffen. In Wiener Neustadt, das viele Industrie-
                                                                                     betriebe beherbergte, trieb der Hunger die Fabrikarbeiterinnen und Fabrik-
                                                                                     arbeiter zu Arbeitsniederlegungen. Im Herbst 1916 vermeldete das Volks-
                                                                                     ernährungsamt, dass sich die Versorgung der Stadt »in einer argen Kalami-
                                                                                     tät« befinde und die Vorräte an Mehl, Brot und Kartoffeln nahezu vollstän-
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                                                                                     dig aufgebraucht seien. Dies habe zu Streiks, »passiver Resistenz« und Aus-
                                                                                     schreitungen in der Arbeiterschaft geführt, die nach Wien überzugreifen
                                                                                     drohten.38 Ähnlich war die Situation in den steirischen Industrieregionen an
                                                                                     der Mur und der Mürz. Hier berichteten Werksärzte 1917 nach Wien, dass
                                                                                     ein immer größer werdender Anteil der Belegschaft an Hungerkrankheiten
                                                                                     leide. Allein unter der Arbeiterschaft des Eisenwerks im kleinen Industrieort
                                                                                     Neuberg wurden im ersten Halbjahr 1917 mehr als 300 Fälle von
                                                                                     Ödemerkrankungen verzeichnet.39 Aber auch aus anderen, weiter südlich
                                                                                     gelegenen Industrieregionen sowie aus den dalmatinischen Hafenstädten
                                                                                     Zara (Zadar) und Spalato (Split) erreichten das Volksernährungsamt in
                                                                                     Wien »äußerst beunruhigende Berichte« über die Lebensmittelknappheit
                                                                                     und die fortdauernden »Approvisionierungsschwierigkeiten«.40
                                                                                     Arbeitet man sich durch die Akten des Ernährungsamtes der Jahre 1917
                                                                                     und 1918, so wird klar: Die größten Ernährungsprobleme der kriegführen-
                                                                                     den Monarchie waren in Wien und den industriereichen Randbezirken
                                                                                     Böhmens zu verzeichnen. Die Berichte der (im Februar 1917 neuberufenen)
                                                                                     Ernährungsinspektoren, die wöchentlich mittels Telegraphie Wien infor-
                                                                                     mierten, zeichneten ein genaues Bild der desolaten Ernährungslage sowie
                                                                                     der daraus resultierenden Demonstrationen, Streiks und Unruhen in der
                                                                                     Bevölkerung. Von Juli 1917 an waren zudem die Amtsärzte der politischen
                                                                                     Bezirksbehörden aufgefordert, regelmäßig über Erkrankungsraten in den
                                                                                     betroffenen Gemeinden zu berichten; die Zahl der registrierten Erkrankun-
                                                                                     gen ging in die Tausende.41 Am 16. Juli richtete der böhmische Arzt A.

                                                                                     38 K. k. Ministerium des Inneren an Ernährungsamt, 23. Oktober 1916, »Approvisio-
                                                                                        nierung der Bevölkerung in Wiener Neustadt«. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolks-
                                                                                        ernährung, Karton 1 (Allgemein 1917-1918).
                                                                                     39 K. k. steiermärkische Statthalterei an k. k. Ministerium des Inneren, 25. Juli 1917,
                                                                                        Oedemkrankheit in Neuberg. ÖStA, AVA, Bestand MdI Sanität, Karton 3117
                                                                                        (Volkskrankheiten).
                                                                                     40 ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 47 (Lebensmittel 1917-1919).
                                                                                     41 K. k. Ministerium des Inneren, 5. Juni 1917, Oedemkrankheiten. ÖStA, AVA, Be-
                                                                                        stand MdI Sanität, Karton 3117 (Volkskrankheiten). K. k. Statthalterei in Böhmen an
                                                                                        k. k. Ministerium für Volksgesundheit in Wien, 8. September 1918, betr. Oedem-

                                                                                                                       Franz Steiner Verlag
44                                                                Hans-Georg Hofer

                                                                                     Holitscher aus Pirkenhammer bei Karlsbad ein Schreiben an den k. k.
                                                                                     Obersten Sanitätsrat, aus dem die Folgen und Wirkungen der Unterernäh-
                                                                                     rung mit erschreckender Deutlichkeit hervorgingen.
                                                                                     Während bis vor wenigen Monaten, so Holitscher, von Unterernährung
                                                                                     keine Rede sein konnte, so sei dies
                                                                                          seit dem Frühling erst langsam, dann furchtbar rasch anders geworden. Die Abmage-
                                                                                          rung und Entkräftung der Arbeiterschaft, besonders der Frauen nimmt schnell zu;
                                                                                          Gewichtsabnahmen um 25-30, selbst noch mehr Kilogramm sind nicht selten; es gibt
                                                                                          erwachsene mittelgroße Menschen, die 50, selbst unter 50 Kilogramm wiegen. Von
                                                                                          Tag zu Tag mehren sich die Fälle von Ödemkrankheit, Ekzemen, Verdauungskrank-
                                                                                          heiten aller Art, hochgradiger Blutarmut.
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                                                                                     Bei den in den Fabriken arbeitenden Männern sei die Menge der gewährten
                                                                                     Tageskalorien auf 600 bis 800 gesunken und genüge somit nicht mehr zur
                                                                                     Erhaltung des Lebens. Die dramatische Prognose des Arztes sollte die Be-
                                                                                     hörde wachrütteln: »Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass dieser Zustand,
                                                                                     wenn er noch einige Wochen anhält, zum Zusammenbruch führen m u s s.
                                                                                     Es werden Massenerkrankungen eintreten, ein sicher bedeutender Teil der
                                                                                     Bevölkerung wird zugrunde gehen.«42
                                                                                     Im Sommer und Herbst 1917 registrierten die Behörden »eine wahre Völ-
                                                                                     kerwanderung nach Lebensmitteln«: Verzweifelte Arbeiter aus den nord-
                                                                                     böhmischen Kohlenrevieren waren mit ihren Familien aufgebrochen und
                                                                                     »durchquerten das Land, um bei bayerischen und oberösterreichischen
                                                                                     Bauern – ungeachtet der strengen Grenzsperren – Kartoffeln, Mehl u. dgl.
                                                                                     einzutauschen«. Der böhmische Landessanitätsinspektor berichtete von
                                                                                     »Scharen in der Ernährung herabgekommener Weiber, Kinder und Greise
                                                                                     auf den Bahnhöfen in Neudek, Karlsbad und Plan«; hungernde Menschen,
                                                                                     »die oft wochenlang unterwegs sind und im Freien nächtigen«, stets auf der
                                                                                     Suche nach Nahrung, die sie erbettelten.43 Als Reaktion darauf gab im De-
                                                                                     zember 1917 das Amt für Volksernährung dem Drängen von nord- und
                                                                                     westböhmischen Bezirksregierungen bzw. Bürgermeisterämtern nach, »den
                                                                                     an Hunger-Oedem erkrankten Personen über ihr mit einem ärztlichen
                                                                                     Zeugnis belegtes Ansuchen die wöchentlichen Mehlrationen von 500 auf
                                                                                     625 Gramm zu erhöhen«.44

                                                                                          Krankheit. ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volksgesundheit, Karton 1588 (Infektions-
                                                                                          krankheiten).
                                                                                     42 A. Holitscher an k. k. Obersten Sanitätsrat, 16. Juli 1917. ÖStA, AVA, Bestand MdI
                                                                                        Sanität, Karton 3117 (Volkskrankheiten). Hervorhebung im Original.
                                                                                     43 K. k. Statthalterei in Böhmen an k. k. Ministerium für Volksgesundheit in Wien, 8.
                                                                                        September 1917. ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volksgesundheit, Karton 1588 (Infek-
                                                                                        tionskrankheiten).
                                                                                     44 K. k. Amt für Volksernährung an politische Landesbehörden im Kronland Böhmen,
                                                                                        13. Dezember 1917. ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volksgesundheit, Karton 1588 (In-
                                                                                        fektionskrankheiten).

                                                                                                                          Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod                                                 45

                                                                                     Für Aufsehen und scharfe Proteste sorgte der Umstand, dass in den west-
                                                                                     böhmischen Kurorten die Situation eine ganz andere war. Als Beispiel dafür
                                                                                     lässt sich eine Eingabe des Stadtrates von Eger (Cheb) an das Wiener Er-
                                                                                     nährungsamt vom 1. August 1917 anführen. In dem Schreiben wurde der
                                                                                     Gegensatz zwischen der reichlichen Nahrungsmittelversorgung der Kurgäs-
                                                                                     te in den großen Badeorten und der mangelnden Fürsorge für die Kranken
                                                                                     der ansässigen Bevölkerung betont. Während die städtische Bevölkerung
                                                                                     leiden und vor allem Arme und Kranke kaum noch an Nahrung kommen
                                                                                     würden, sei die Situation in den nahen Kurorten von Karlsbad, Marienbad
                                                                                     oder Franzensbad eine ganz andere:
                                                                                         Während in Eger oft mehrere Tage für die Bevölkerung gar kein Brot erzeugt werden
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                                                                                         kann, die Bevölkerung in weiten Schichten hungert, kann man in den benachbarten
                                                                                         Kurstädten beobachten, wie Kurgäste mit ihrem weißen Kurgebäck ihre Schoßhunde
                                                                                         füttern!45
                                                                                     Angesichts dieser »aufreizenden und schnellstens abzustellenden Zustände«
                                                                                     verlangte der Stadtrat eine Gleichbehandlung hinsichtlich der Bereitstellung
                                                                                     und Zuweisung von Mehl und anderen Nahrungsmitteln. Nicht zufällig
                                                                                     wurde Eger im Winter 1917/18 einer jener böhmischen Orte, wo Lebens-
                                                                                     mitteldemonstrationen in Unruhen umschlugen.
                                                                                     Ernährungsinspektoren, die sich vor Ort ein Bild der Lage machen wollten,
                                                                                     sahen sich mit harschen Vorwürfen konfrontiert, dass das Ernährungsamt
                                                                                     keine Besserung gebracht habe. Die wachsenden Schwierigkeiten bei der
                                                                                     Beschaffung der Lebensmittel hätten sich »zu kaum mehr zu ertragenden
                                                                                     Kalamitäten verdichtet«, berichtete im Winter 1917/18 ein Ernährungsin-
                                                                                     spektor aus dem nordböhmischen Reichenberg (Liberec).46 Ähnliche Be-
                                                                                     richte erreichten die Behörden auch aus anderen nordböhmischen Städten.
                                                                                     Aus Haida wandte sich der Bezirks-Ausschuss mit einem dramatischen Ap-
                                                                                     pell an das Volksernährungsamt:
                                                                                         Wir sind ohne Brot, Mehl, Kartoffeln, noch sonst etwas, […] von Fett oder Butter seit
                                                                                         Monaten keine Rede. […] Alte Leute sterben in großer Menge an Hungerödem, Kin-
                                                                                         der erkranken und siechen dahin, dabei treten Scharlach und Blattern auf. Schleunigs-
                                                                                         te Hilfe tut not, um das Unglück unseres Bezirks nicht noch größer zu machen und
                                                                                         selben zu entvölkern.47
                                                                                     Aus Gablonz, das aufgrund seiner Glashüttenwerke industrielle Bedeutung
                                                                                     hatte, berichtete ein Oberbezirksarzt über das »massenhafte Auftreten von
                                                                                     Hungeroedem« infolge des »vollkommenen Milch- und Fettmangels« und

                                                                                     45 Stadtrat Eger an k. k. Ministerium für Ernährung [sic!], 1. August 1917. ÖStA, AVA,
                                                                                        Bestand MdI Sanität, Karton 3117 (Volkskrankheiten).
                                                                                     46 ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 147 (Ernährungsinspektoren: Le-
                                                                                        bensmittelschwierigkeiten allgemein 1917-1918).
                                                                                     47 Bezirks-Ausschuß Haida an k. k. Ministerium für Volksernährung in Wien, 18. April
                                                                                        1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 148 (Ernährungsinspekto-
                                                                                        ren: Lebensmittelschwierigkeiten allgemein 1918).

                                                                                                                        Franz Steiner Verlag
46                                                                  Hans-Georg Hofer

                                                                                     der »vollkommen unzulänglichen Verköstigung der Kriegsküchen«.48 Da
                                                                                     die Beamten des Ernährungsamtes kaum mehr tun konnten, als auf zukünf-
                                                                                     tige Lieferungen zu vertrösten, ging der Stadtrat von Gablonz einen unge-
                                                                                     wöhnlichen Weg: Er richtete sein Hilfegesuch direkt an den Kaiser.49 Doch
                                                                                     auch die im Rahmen der »Kaiserhilfe« für die Notstandsgebiete verspro-
                                                                                     chenen Waggons mit Mehl aus Ungarn und der Ukraine trafen nicht – oder
                                                                                     nur vereinzelt und mit großer Verzögerung – in den hungernden Städten
                                                                                     ein. Die Verzögerung der Zufuhr von Lebensmitteln erklärte sich nicht al-
                                                                                     lein mit dem Hinweis auf organisatorische Probleme. Die Bahnbediensteten
                                                                                     litten selbst an Unterernährung und Erschöpfung und waren vielfach nicht
                                                                                     in der Lage, für einen reibungslosen Ablauf des Zugverkehrs zu sorgen.50
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                                                                                     »Wir treiben einer entsetzlichen Not entgegen«: Kriegsende in Wien
                                                                                     Gegen Kriegsende verschärfte sich die Situation noch einmal, als sich neue
                                                                                     Staaten ausriefen und auf offenen Konfrontationskurs mit der Metropole
                                                                                     des kollabierenden Habsburgerreichs gingen. Wien bezog nahezu seine ge-
                                                                                     samte Lebensmittelversorgung aus den östlichen und nordöstlichen Teilen
                                                                                     der Monarchie; aber von November 1918 an waren nur wenige Kilometer
                                                                                     außerhalb der Stadt neue Staaten entstanden, die ihre Grenzen abriegelten.
                                                                                     Die Stadt, im äußersten Osten von »Deutschösterreich« gelegen, war nach
                                                                                     Osten hin abgeschnitten. Für die Versorgung von Wien hatte dies dramati-
                                                                                     sche Konsequenzen. Die Milchzulieferung hatte vor dem Kriege 960.000
                                                                                     Liter Milch täglich betragen. Im Dezember 1918 kamen nur noch durch-
                                                                                     schnittlich 70.000 bis 75.000 Liter Milch am Tag nach Wien; dies waren
                                                                                     unter zehn Prozent der Vorkriegslieferungen.51 Die Wiener Märkte »bieten
                                                                                     jetzt ein Bild tieftraurigen Elends«, berichtete die Arbeiter-Zeitung am 15.
                                                                                     Januar 1919. In der Wiener Großmarkthalle waren am Tag zuvor nur noch
                                                                                     insgesamt 210 Kilogramm Rindfleisch im Angebot gewesen.52

                                                                                     48 Bericht des k. k. Oberbezirksarztes Adolf Metzl, Neuauftreten von Hungerödem im
                                                                                        politischen Bezirk Gablonz an der Neiße, 15. Dezember 1917. ÖStA, AdR, Bestand
                                                                                        BMfVolksernährung, Karton 147 (Ernährungsinspektoren: Lebensmittelschwierigkei-
                                                                                        ten allgemein 1917-1918).
                                                                                     49 Die Versorgung von Gablonz mit Lebensmitteln sei »derzeit tatsächlich nicht güns-
                                                                                        tig«, bestätigte Anton Höfer, Leiter des Amtes für Volksernährung, Kaiser Karl:
                                                                                        »Alleruntertänigster Vortrag des treugehorsamsten mit der Leitung des Amtes für
                                                                                        Volksernährung betrauten Ministers Generalmajors Anton Höfer«, 26. Februar 1918.
                                                                                        ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 147 (Ernährungsinspektoren: Le-
                                                                                        bensmittelschwierigkeiten allgemein 1917-1918).
                                                                                     50 K. k. Eisenbahnministerium an k. u. k. Kriegsministerium, 3. Dezember 1916 (Ab-
                                                                                        schrift). ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 47 (Lebensmittel 1917-
                                                                                        1919).
                                                                                     51 Die Milchnot. In: Arbeiter-Zeitung Nr. 28 vom 27. Jänner 1919, S. 4.
                                                                                     52 Die Lebensmittelmärkte. In: Arbeiter-Zeitung Nr. 14 vom 15. Jänner 1919, S. 7.

                                                                                                                           Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod                                            47

                                                                                     Auch hier lohnt es sich, die Schwierigkeiten genauer anzusehen. Um beim
                                                                                     Beispiel der Milchversorgung zu bleiben: Schon während des Krieges hat-
                                                                                     ten aus allen Teilen der Monarchie die politischen Bezirksbehörden von
                                                                                     zunehmenden Schwierigkeiten berichtet, und zwar nicht nur im Hinblick
                                                                                     darauf, wer an welche Stellen wie viel Milch abzuliefern hatte. Die Milch-
                                                                                     knappheit warf vor allem die Frage auf, wozu die Milch verarbeitet werden
                                                                                     sollte – war sie als Milch selbst zu konsumieren, sollte sie zu Butter verar-
                                                                                     beitet werden, um Fettzuweisungen zu erhöhen – oder sollten die Milch-
                                                                                     kühe geschlachtet werden, um in der Not die Fleischkontingente aufstocken
                                                                                     zu können? 1918 begann angesichts der ständig sinkenden Milchmengen
                                                                                     zwischen den Zentralbehörden, den politischen Bezirken des Umlandes,
                                                                                     den Bahnhofsstationen und den Milchbetrieben ein zähes Ringen um das
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                                                                                     vollständig durcheinandergeratene »Milchaufbringungssystem«.
                                                                                     In Wien versuchte das Ernährungsamt mit verschärften Erlassen die Milch-
                                                                                     lieferungen aus dem Umland zu steigern. Städte wie das mährische Znaim
                                                                                     (Znojmo), das inmitten eines Milchproduktionsgebietes lag, wollten es aber
                                                                                     auf keinen Fall hinnehmen, dass die Zuteilungsquoten niedriger angesetzt
                                                                                     wurden als für Wien.53 Der Deutschvolkliche Arbeiterbund richtete ein
                                                                                     scharfes Protestschreiben an das Ernährungsamt: Durch die hohen Abga-
                                                                                     ben der Molkereien stehe die Stadt vor einer Katastrophe, »denn nicht ge-
                                                                                     nug dass die Molkereien die Milch bis zwei Drittel der produzierten Menge
                                                                                     aus unserem Bezirk nach Wien liefert, so kommen noch die Wiener herauf
                                                                                     und kaufen und tauschen was eben noch vorhanden ist«.54 Die »maßlose
                                                                                     Milchhamsterei« der Wiener Bevölkerung rufe den »größten Unmut« her-
                                                                                     vor, protestierte der Znaimer Gemeinderat in einem weiteren Schreiben.55
                                                                                     Umgekehrt hegten die Zentralstellen in Wien den Verdacht, dass die
                                                                                     Milchaufbringung in Znaim von Seiten der Molkereien und der Stadtge-
                                                                                     meinde hintertrieben werde. Oftmalig erreichte nur ein Bruchteil der festge-
                                                                                     setzten Milchmenge Wien, was sich trotz wiederholten telefonischen Nach-
                                                                                     fragens nicht aufklären ließ. Die k. k. mährische Statthalterei gab dies ge-
                                                                                     genüber dem Ernährungsamt offen zu, wies aber gleichzeitig darauf hin,
                                                                                     dass die von Wien festgesetzten Kontingente schlichtweg unrealistisch wa-
                                                                                     ren und von den Milchbetrieben nicht erfüllt werden konnten. Zudem hät-
                                                                                     ten die permanenten Änderungen der Kontingente »eine vollkommen un-
                                                                                     übersichtliche Situation« hervorgerufen.56 Daran anknüpfend wiesen auch

                                                                                     53 K. k. Bezirkshauptmannschaft Znaim an k. k. mährische Statthalterei in Brünn, 24.
                                                                                        Februar 1918, betr. Milchregelung. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton
                                                                                        51 (Milch).
                                                                                     54 Deutschvolklicher Arbeiterbund »Eiche« in Znaim, Protest gegen den Erlass des Am-
                                                                                        tes für Volksernährung in Wien über Milchversorgung, 28. Februar 1918. ÖStA,
                                                                                        AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 51 (Milch).
                                                                                     55 Gemeinderat Znaim, Straßenkundgebungen in Znaim, 8. Mai 1918 (Abschrift). ÖStA,
                                                                                        AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 51 (Milch).
                                                                                     56 K. k. mährische Statthalterei an k. k. Amt für Volksernährung, 9. März 1918, Po-
                                                                                        litischer Bezirk und Stadtgemeinde Znaim, Milchregelung. ÖStA, AdR, Bestand

                                                                                                                      Franz Steiner Verlag
48                                                                   Hans-Georg Hofer

                                                                                     die Vertreter der Molkereien jegliche Schuld von sich. Durch das konstante
                                                                                     Sinken der Bestände sowie die zurückgehenden Melkungen könnten die
                                                                                     auferlegten Milchquoten schlichtweg nicht erfüllt werden. Ein weiteres
                                                                                     Problem waren Lagerung und Transport. Durch die Verspätung der Milch-
                                                                                     abfuhren mit »unterernährtem Pferdemateriale« müsse mit dem Sauerwer-
                                                                                     den der Milch gerechnet werden. In den Sammelstellen fehle es zudem an
                                                                                     Kohle für die Erzeugung von Kunsteis, um die Kühlung der vorrätigen
                                                                                     Milch zu gewährleisten.57 Bis Ende des Krieges kam der Streit über die Zu-
                                                                                     teilung der Milch nicht zur Ruhe. Im Wiener Ernährungsamt sah man den
                                                                                     Auflösungstendenzen und der »Nationalstaatsbildung« mit der größten Sor-
                                                                                     ge entgegen: »Unsere Macht ist zu Ende und alle Befehle […] sind fruchtlos
                                                                                     – es gehorcht niemand mehr«, schrieb Sektionschef Hans Loewenfeld-Russ
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                                                                                     am 20. Oktober 1918 an seinen Vater. »Wir treiben einer entsetzlichen Not
                                                                                     entgegen.«58
                                                                                     Die Angst vor dem drohenden Hungertod war in Wien allgegenwärtig; dies
                                                                                     zeigen Briefe, die verzweifelte Frauen an ihre Männer im Felde schrieben.59
                                                                                     Wie im Schützengraben an der Front wurde in den Straßen der Stadt passi-
                                                                                     ves Erdulden der Situation zum Kennzeichen des Kriegsalltages. Franz
                                                                                     Werfel bemerkte über die Frauen, die tagtäglich vor den Bäckerläden für
                                                                                     lange Zeit Schlange standen: »Abgehärtet und ergeben wie die Männer im
                                                                                     Schützengraben, stehen sie ihre Zeit aus.«60 Die Nahrungsmittelknappheit
                                                                                     und der Kampf ums tägliche Brot ließen unter den Frauen Wiens das Ge-
                                                                                     fühl entstehen, jegliche Sicherheiten des Hinterlandes verloren zu haben
                                                                                     und harten Kriegsalltag bewältigen zu müssen. Da wirkte es fast wie ein
                                                                                     Hohn, dass aus Sicht der Armee und der Militärmedizin die Ernährungs-
                                                                                     probleme des Hinterlandes auch ihre positiven Seiten hatten. Noch im
                                                                                     Frühjahr 1918 argumentierte der Militärarzt Erich Schneider wie folgt:
                                                                                          Der Krieg als kolossaler Ernährungsversuch an unserem Hinterlande hat gezeigt, daß
                                                                                          das Volk bei einer stark verminderten Gesamtnahrungszufuhr und recht geringer Ei-
                                                                                          weißmenge gesund und arbeitsfähig bleibt, ja, daß es in vieler Hinsicht gesünder ist,
                                                                                          als es im Frieden unter dem Einflusse verschiedener Ausschweifungen und törichter
                                                                                          Gewohnheiten auf dem Gebiete der Ernährung wie auf anderen Gebieten gewesen
                                                                                          ist.61
                                                                                     Nicht nur die Knappheit der Lebensmittel an sich war für die Wiener Be-
                                                                                     völkerung ein großes Problem. Auch deren stetige Qualitätsverschlechte-

                                                                                          BMfVolksernährung, Karton 51 (Milch).
                                                                                     57 K. k. mährische Statthalterei an k. k. Amt für Volksernährung, 9. März 1918, Po-
                                                                                        litischer Bezirk und Stadtgemeinde Znaim, Milchregelung. ÖStA, AdR, Bestand
                                                                                        BMfVolksernährung, Karton 51 (Milch).
                                                                                     58 Loewenfeld-Russ (1986), S. 109.
                                                                                     59 Healy (2004), S. 41f.
                                                                                     60 Werfel (1988), S. 313.
                                                                                     61 Schneider (1918), S. 318.

                                                                                                                           Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod                                                49

                                                                                     rung durch fragwürdige Ersatzmittel machte die Bewältigung des Kriegsall-
                                                                                     tages immer schwieriger.62 Das sehnlichst erwartete Einfahren eines neuen
                                                                                     Lebensmittelzuges auf einem der Wiener Bahnhöfe war immer häufiger eine
                                                                                     große Enttäuschung: Denn in den Waggons befand sich nichts anderes als
                                                                                     verfaultes Dörr-Gemüse. Die in den Zeitungen »schamlos angepriesenen
                                                                                     Suppenmassen« linderten den Hunger der Menschen nicht. Diese enthiel-
                                                                                     ten, wie die Untersuchungsanstalt für Lebensmittel feststellte, »nichts ande-
                                                                                     res als gesalzenes und etwas gefärbtes Wasser«.63 Im März 1918 meldete die
                                                                                     Behörde,
                                                                                         dass aus ekelerregenden Rohmaterialien – und zwar aus Knochen, welche in den
                                                                                         Haushaltungen gesammelt worden sind, erfahrungsgemäß zumeist aus dem Hauskeh-
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                                                                                         richt und den Küchenabfällen ausgelesen sind und in mehr oder weniger fauligem und
                                                                                         übelriechendem Zustande in die Fabrik gelangen, welche die Verarbeitung besorgt,
                                                                                         Speisefett und Suppenwürze herzustellen versucht wird.
                                                                                     Von Beamten der Untersuchungsanstalt zur Rede gestellt, rechtfertigte sich
                                                                                     das Unternehmen damit, dass »doch die Präparate sterilisiert seien«.64
                                                                                     Das Vorgehen gegen diese und ähnliche Missstände war unter den Bedin-
                                                                                     gungen des Krieges nahezu aussichtslos: Strafanzeigen blieben ohne Wir-
                                                                                     kung, da Gerichtsverfahren – wenn sie überhaupt in Gang gesetzt wurden –
                                                                                     viel zu lange dauerten. Ebenso erschien eine Überwachung bzw. ein Verbot
                                                                                     der fauligen und übelriechenden Substanzen und Surrogate kaum durch-
                                                                                     setzbar, da diese stets unter neuen Namen erneut in Umlauf gebracht wur-
                                                                                     den.
                                                                                     Im Frühjahr 1918 konstatierte das Amt für Volksernährung eine »um sich
                                                                                     greifende Anarchie der Lebensmittelversorgung«, der Einhalt zu gebieten als
                                                                                     völlig aussichtslos eingeschätzt wurde.65 In Schleichhandel und Korruption
                                                                                     waren Teile der Wiener Ärzteschaft direkt eingebunden. Verbürgt ist der
                                                                                     Fall des Wiener Neurologen Alfred Fuchs, Chefarzt der Spezialklinik für
                                                                                     Kopfschussverletzte, der für seinen Haushalt Patienten als Dienstpersonal
                                                                                     engagierte, die für ein Taschengeld täglich vor Bäcker- und Fleischläden
                                                                                     anstanden und diverse Besorgungen erledigten. Im Gegenzug hielt Fuchs
                                                                                     seine schützende Hand über diese Männer und schrieb für sie immer neue

                                                                                     62 Breitner (1994), S. 244-246; Franc (2011), S. 73-82.
                                                                                     63 K. k. Untersuchungsanstalt für Lebensmittel in Wien an k. k. Ministerium des Inne-
                                                                                        ren, 16. März 1917, weitergeleitet an k. k. Ministerium für Volksgesundheit, 13. Sep-
                                                                                        tember 1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volksgesundheit, Karton 1593.
                                                                                     64 K. k. Ministerium für Volksgesundheit, 16. März 1918, Mißstände im Lebensmittel-
                                                                                        verkehr; schwindelhafter Vertrieb von Surrogaten. ÖStA, AdR, Bestand BMfsV
                                                                                        Volksgesundheit, Karton 1593.
                                                                                     65 K. k. Amt für Volksernährung, Überwachung des Lebensmittelverkehres, 20. April
                                                                                        1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 47 (Lebensmittel 1917-
                                                                                        1919).

                                                                                                                         Franz Steiner Verlag
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