Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod: Wien (und Österreich-Ungarn) im Ersten Weltkrieg
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Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod: Wien (und Österreich-Ungarn) im Ersten Weltkrieg Hans-Georg Hofer Summary Food crisis, sickness, starvation: Vienna (and Austria-Hungary) in the Great War This essay focuses on the food crises in Vienna and Austria-Hungary at the time of the Great War. The transition from the war to the post-war period was particularly difficult for Vienna. The city more than once came close to a hunger catastrophe. The situation only Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr improved in the early 1920s thanks to support from abroad. This contribution first asks about specific causes and particularities of the food crisis in the Habsburg Empire and demonstrates that, apart from war-related causes and the Entente’s embargo policies, mainly political administrative conflicts and asymmetries between the Austrian and Hun- garian governments were responsible for the desolate food situation. In the Austrian part of the empire, not only Vienna but other regions too, such as the industrialized parts of Bo- hemia, suffered from hunger and nutrition-related diseases. Another question that will be addressed is that of the position Austrian general politics and academic medicine took up with regard to the “food question”. Roger Cooter and Steve Sturdy proposed that modern warfare is determined by the dissolution of the boundaries between the civilian and mili- tary populations – and that medicine plays a prominent part in that.1 Following on from this, I would like to present the example of the Viennese paediatrician Clemens von Pirquet whose answer to the famine was a “nutritional system” that he tested at the paedi- atric hospital of Vienna University before introducing it in other hospitals. Immediately after the war his hospital was the main venue and headquarters of international relief ef- forts. The suggestion is to localize Pirquet’s nutritional system within the context of hu- man-economic interpretation models and rationalization efforts. Wien, Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg: Annäherungen Die vergleichende historische Forschung zum Ersten Weltkrieg – und zu- mal zur Medizin des Ersten Weltkriegs – ist in hohem Maße auf Deutsch- land, Frankreich und Großbritannien ausgerichtet gewesen. Demgegenüber ist Österreich-Ungarn nicht oder nur am Rande einbezogen worden. Das hat unterschiedliche Gründe; einer liegt darin, dass dieses Österreich- Ungarn so anders war und in herkömmlichen Analyse- und Vergleichska- tegorien – wie etwa der Nation – nicht adäquat erfasst, geschweige denn erklärt werden konnte. Keinen anderen Staat Europas kennzeichneten so vielfältige und widersprüchliche Prozesse der politisch-kulturellen Differen- zierung und Fragmentierung; Prozesse, die sich im Krieg verschärften und radikalisierten. In Frankreich und Italien standen im Ersten Weltkrieg zivil- gesellschaftliche Mobilisierung, Durchhaltevermögen und Opferwillen im Zeichen der Nation. Deren Erhalt galt es zu verteidigen, deren Vollendung zu erreichen. Österreich-Ungarn war keine Nation, sondern ein heterogenes und fragiles Staatengebilde, das aus dem Krieg keine Kohäsionsenergien 1 Cooter/Sturdy (1998), S. 4. MedGG 31 2013, S. 33-66 Franz Steiner Verlag Stuttgart Franz Steiner Verlag
34 Hans-Georg Hofer gewinnen konnte. Im Gegenteil – unter den Bedingungen des Krieges wur- den Konfliktlinien zu Bruchlinien, zu den äußeren Fronten traten innere hinzu. Am Ende stand der Zusammenbruch. Über Österreich, Österreich-Ungarn und den Ersten Weltkrieg zu sprechen, ist somit kompliziert. Kein anderer Staat – von Russland abgesehen – hat im Ersten Weltkrieg so dramatische Umwälzungen erfahren. 1914 war Ös- terreich-Ungarn als europäische Großmacht in den Krieg gegangen, mit über 50 Millionen Einwohnern und einem Staatsgebiet, das von der südli- chen Adria bis Schlesien und vom Bodensee bis in die Bukowina reichte; 1918 war Deutschösterreich ein verarmter und – nach Wahrnehmung vieler – kaum überlebensfähiger Kleinstaat mit rund sechs Millionen Bürgern und Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr einer völlig überdimensionierten Hauptstadt, in der jeder dritte Einwohner lebte. Die Fallhöhe dieser Stadt war extrem: Innerhalb weniger Jahre war Wien nicht mehr kaiserliche Residenzstadt und Zentrum einer europäischen Großmacht, sondern ein Ort, der kaum mehr zu bieten hatte als vortreffli- chen »Anschauungsunterricht der nackten Not« (Karl Kraus).2 Die junge Republik hatte keine einzige gelöste Grenzfrage, war von politischen und sozialen Spannungen geprägt und nicht zuletzt mit schweren Identitätszwei- feln belastet. Die provisorische Nationalversammlung hatte im November 1918 Deutschösterreich ausgerufen, das Teil der deutschen Republik wer- den und auch Deutschböhmen sowie das Sudetenland umfassen sollte. Dies untersagten jedoch die Siegermächte, die im Friedensvertrag von Saint- Germain die Republik Österreich festlegten. Oft zitiert wird der Ausspruch des französischen Ministerpräsidenten Clemenceau: »Der Rest, das ist Ös- terreich.«3 In diesem Rest Österreich ist, wie schon in den Kriegsjahren selbst, die Er- nährungsnot das Hauptproblem. Für den Wiener Ernährungsfachmann Hans Loewenfeld-Russ war Österreich ein »ernährungswirtschaftlicher Krüppelstaat, der sich nur mit den Prothesen fremder Hilfe mühsam fort- schleppen« könne.4 Und Herbert Hoover, der Leiter der amerikanischen Hilfsaktion (und spätere Präsident der Vereinigten Staaten), notierte in sei- nen Erinnerungen: »Austria was a special case. She was starving and almost penniless, the peace-makers having given away most of her agricultural ar- eas to the surrounding states, thereby creating a helpless poorhouse.«5 Die amerikanischen und europäischen Hilfeleistungen liefen schnell und ver- gleichsweise großzügig an; kein anderes Land – von Belgien abgesehen, dem bereits im Krieg Hilfeleistungen zuteil wurden – erhielt, bezogen auf seine Einwohnerzahl, so umfangreiche Hilfe wie das geschrumpfte Öster- 2 Kraus (1991), S. 94. 3 Konrad/Maderthaner (2008); Hanisch (1994), S. 265-287. 4 Loewenfeld-Russ (1919), S. 11. 5 Hoover (1952), S. 304. Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod 35 reich, mit dem man Mitleid hatte, mit dem man aber auch politisch- strategische Interessen verfolgte: The problem of supplying food to Austria was the most difficult of all Central Euro- pean countries. Yet it was self-evident that food must be supplied, not only to prevent starvation, but to prevent the establishment of a hot bed of bolshevism in the very center of Europe.6 Betrachtet man also Österreich-Ungarn und Österreich im zeitlichen Um- feld des Ersten Weltkriegs, so zeigen sich schon auf den ersten Blick (ernäh- rungs-)politische Besonderheiten, die historisch erklärungsbedürftig sind – und die stets auch in einem unmittelbaren und wechselseitigen Verhältnis zur Medizin zu sehen sind. Denn der Hunger im Hinterland sowie die Si- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr cherstellung der Ernährung waren auch für Wiener Universitätsmediziner und Gesundheitspolitiker »unsere auf Jahre hinaus wichtigste Sorge«.7 »Approvisionierungsschwierigkeiten«: Politik und Administration der Ernährungsnot Fasst man die Gründe der prekären Ernährungssituation der Habsburger- monarchie im Ersten Weltkrieg ins Auge, so zeigen sich zunächst Faktoren, die aus den äußeren Kriegsbedingungen abzuleiten sind. Da war zum einen die Blockadepolitik der Entente, die vor allem von 1915 an – mit dem Kriegseintritt Italiens – eine Verschärfung für Österreich-Ungarn mit sich brachte. Durch die Sperrung der Straße von Otranto war für Österreich- Ungarn der Seeweg von Süden durch die Adria nach Triest abgeschnitten; eine Anlieferung von Lebensmitteln zur See (wie beispielsweise aus Argenti- nien, das vor dem Krieg große Mengen an Fleisch lieferte) war damit un- terbunden.8 Zum anderen wurde die landwirtschaftlich bedeutende nordöst- liche Reichshälfte durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen. Insbesonde- re Galizien, von wo ein Großteil des Getreides für Wien und die österreichi- schen Länder kam, war ein stark umkämpfter und verwüsteter Teil der Ost- front.9 Da große Teile der k. u. k. Armee dort eingesetzt waren – und eben auch verpflegt werden mussten –, gingen die rückläufigen galizischen Ge- treidebestände direkt an die Armee. Im Südosten des Reichs verliefen weite- re Fronten, nämlich diejenigen in Serbien und in Rumänien. Auch hier be- einträchtigte der Krieg die Lebensmittelaufbringung massiv und schränkte 6 Surface/Bland (1931), S. 153. Zu Hoover und der Tätigkeit der American Relief Ad- ministration (ARA) im Österreich der Nachkriegszeit siehe Adlgasser (1993). Im di- rekten Vergleich zu Deutschland war die Zahl der zwischen 1919 und 1924 von der ARA an Österreich gelieferten Hilfsgüter mehr als viermal so hoch (260.494 gegen- über 57.716 Tonnen): Surface/Bland (1931), S. 82. 7 Pirquet (1917-1920), Tl. 1, S. 8. 8 Rauchensteiner (1994), S. 142-144. 9 1913 kamen allein aus Galizien 31,2 Prozent der österreichischen Weizenproduktion, 25,8 Prozent Hafer sowie 39,2 Prozent der Ernte an Hülsenfrüchten. Loewenfeld-Russ (1919), S. 9. Franz Steiner Verlag
36 Hans-Georg Hofer die Möglichkeiten, Wien und die österreichischen Gebiete der Donaumo- narchie zu versorgen, ein. Die erhoffte Erleichterung der Ernährungssitua- tion, die man sich auf Seiten der Mittelmächte nach dem Ausscheiden Sow- jetrusslands und dem Schließen eines Separatfriedens mit der Ukraine er- hofft hatte (»Brotfrieden«), trat nicht ein.10 Noch wichtiger als die Berücksichtigung der Absperrungspolitik von außen und die direkten Kriegsschäden in landwirtschaftlichen Gebieten sind je- doch die inneren Konflikte um die Aufbringung und Verteilung der Le- bensmittel, die »Approvisionierung«, wie es im Habsburger-Deutsch hieß. Die Hungerkrisen der österreichischen Reichshälfte waren nicht alleine durch die Kriegsumstände hervorgerufen worden, sondern strukturell be- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr dingt; sie waren die Fortsetzung und Verschärfung von innenpolitischen Spannungen und Konflikten, die bereits in der staatsrechtlichen Kon- struktion von Österreich-Ungarn angelegt waren. Denn der Dualismus der Habsburgermonarchie war nicht nur ein politischer, sondern auch ein wirt- schaftlicher: Die österreichische Reichshälfte Cisleithanien kennzeichnete schwerpunktmäßig Industrie, die ungarische Reichshälfte Transleithanien dagegen Landwirtschaft. Die österreichische Reichshälfte war in ihrer Le- bensmittelversorgung in hohem Maß auf Importe angewiesen, die vor allem aus Galizien und Ungarn kamen. 80 Prozent der von Ungarn ausgeführten Agrarprodukte gingen nach Österreich. Die ungarische Regierung und magyarische Großagrarier hatten Wien und die österreichische Reichshälfte mit Schutzzöllen und weitreichenden Einspruchsrechten in ihrer Hand.11 Hinzu kam eine hochmütige Politik der österreichischen Regierung, die mit einseitig gekündigten Handelsverträgen Nachbarländer politisch und öko- nomisch unter Druck setzen wollte, wie beispielsweise Serbien, das ab 1906 in einem erpresserischen »Schweinekrieg« in die Knie gezwungen werden sollte.12 All dies führte schon vor dem Krieg zu abrupten Preissteigerungen, Engpäs- sen in der Versorgung und Hungerrevolten, die 1911 in den sogenannten »Wiener Septemberunruhen« eskalierten. Die Aufstandsbewegung war Aus- druck der sozialen und wirtschaftlichen Notlage großer Teile der Wiener Bevölkerung (insbesondere der Arbeiterschaft in den Außenbezirken), die sich in einer Kette von Protesten, Zusammenstößen sowie Gewalteskala- tionen entlud und mit Hunderten Verletzten, Toten und Massenverhaf- tungen endete.13 Die Vorkriegseskalation in Wien verdeutlicht und stärkt somit die These von den immanenten Problemen, die Österreich-Ungarn auf dem Gebiet der Ernährung hatte. Der Krieg verschärfte diese struktu- rellen Probleme erheblich. Treffend bemerkt die amerikanische Historikerin 10 Rauchensteiner (1994), S. 541-545. 11 Hanisch (1994), S. 196, 201. 12 Hanisch (1994), S. 199. 13 Maderthaner/Musner (1999). Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod 37 Maureen Healy in ihrer alltagsgeschichtlichen Studie über Wien im Ersten Weltkrieg: »When it came to food, Austria-Hungary was at war with it- self.«14 Die Illusion vom kurzen Krieg brachte es mit sich, dass im Sommer 1914 kaum Vorkehrungen für die Versorgung der Zivilbevölkerung getroffen wurden. Clemens von Pirquet schrieb rückblickend, in seinem Urteil merk- lich von den Mangelerfahrungen geprägt: In den ersten Monaten wurde in Österreich nicht gespart, nicht mit den Nahrungsmit- teln zurückgehalten. Im Gegenteil! […] Sowohl beim Heer als der Zivilbevölkerung wurde das Leben mit einer Großzügigkeit und einem Fatalismus aufgenommen, die dem Leichtsinn sehr nahe standen.15 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr Schon nach wenigen Monaten zeigten sich die ersten Versorgungsengpässe. Im ersten Kriegsjahr wurde die Streckung der vorhandenen Brotgetreide- vorräte verordnet, im zweiten die Mehl- und Brotkarte eingeführt. Sodann wurde die Liste rationierter Lebensmittel immer länger, die gewährten Ra- tionen immer kleiner, die Konflikte mit Ungarn immer größer. In den Vor- kriegsjahren lieferte Ungarn jährlich über zwei Millionen Tonnen Getreide und Mehl nach Österreich; 1916 waren die Lieferungen auf rund 100.000 Tonnen – und damit ein Zwanzigstel der Vorkriegsmenge – gesunken.16 Auf einen Bruchteil der Vorkriegsmenge reduziert waren auch die Lieferun- gen an Viehbeständen sowie an Milch. Im dritten Kriegsjahr setzten in Wien hektische Bemühungen ein, dem ein- getretenen Ernährungsnotstand durch die Ausweitung von »Verwaltungs- organisationsmöglichkeiten« (Loewenfeld-Russ)17 entgegenzutreten – was konkret die Einrichtung von neuen Behörden, Kommissionen und Aus- schüssen bedeutete. Habsburgs Beamte nutzten nach dem Tode von Kaiser Franz Joseph ihren Einfluss und Gestaltungsspielraum, den ihnen der neue – und in Regierungsbelangen noch recht unerfahrene – Kaiser Karl ein- räumte. Die Einrichtung des k. k. Amtes für Volksernährung sowie des Gemeinsamen Ernährungsausschusses (mit allein beratenden und vermit- telnden Aufgaben)18 zählte ebenso dazu wie die Einsetzung eines neuen un- garischen Ernährungsministers (Prinz Ludwig Windischgrätz), der Wien zu versprechen hatte, die Aufbringung und Verteilung von Nahrungsmitteln aus Ungarn noch konsequenter und notfalls unter Einsatz militärischer Mit- tel voranzutreiben. Ein weiterer Schritt war das kriegswirtschaftliche Er- mächtigungsgesetz (Juli 1917), das »aus Anlass der durch den Kriegszu- 14 Healy (2004), S. 47. 15 Pirquet: Ernährungszustand (1926), S. 151. 16 Breitner (1994), S. 239; Sandgruber (1995), S. 324. 17 Loewenfeld-Russ (1986), S. 86. 18 Unter der Leitung des (zuvor für die Versorgung der Isonzoarmee zuständigen) Gene- rals Ottokar Landwehr: Landwehr (1931), S. 16. Franz Steiner Verlag
38 Hans-Georg Hofer stand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfü- gungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen« suchte und in praxi weitrei- chende und systematische Eingriffe zur besseren Versorgung der Bevölke- rung ermöglichte.19 Die Einrichtung des Volksernährungsamtes sollte die als langsam und in- effizient geltende Kriegsgetreideverkehrsanstalt ablösen und einen organi- satorischen Neubeginn in der Getreideernte ermöglichen. Eine der ersten Maßnahmen des Volksernährungsamtes war daher die (durch eine kaiserli- che Verordnung gesetzlich ermöglichte) Neuorganisation der Ernte auf dem Wege des »Zwangsdruschverfahrens«. Hierbei sollte nach den Prinzipien der »rationellen Wirtschaftsweise« ein effizientes Verfahren zur raschen und Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr gründlichen Erfassung der Ernte entwickelt und von der jeweiligen politi- schen Landesstelle beaufsichtigt werden. Diese wiederum war an die Wei- sungen des Volksernährungsamtes gebunden. Das »Zwangsdruschverfahren« sollte auf allen landwirtschaftlichen Ertrags- flächen auf dem Gebiet der Monarchie zum Einsatz kommen. Unter den Umständen des Krieges und der permanenten Ressourcenverknappung war dieses Verfahren im Kern nichts weniger als ein ehrgeiziges und umfassen- des Rationalisierungsprogramm, das neue arbeitsorganisatorische Prozesse von Industriebetrieben auf die Landwirtschaft zu übertragen suchte. Hierzu zählten die zentral gesteuerte Auswahl und Aussaat von bestimmten Getrei- desorten unter Berücksichtigung der Bodenbeschaffenheit und Größe der Ertragsflächen sowie der zu erwartenden unterschiedlichen Reifeperioden, die möglichst genaue Erfassung aller Produzenten auf allen Ebenen des Grundbesitzes und die Ausarbeitung und Bereitstellung von akkuraten An- bau- und Erntestatistiken. Der Ernteeinsatz war nach exakt vorgegebenen Handlungsabläufen durchzuführen. Jegliche Unterbrechungen sollten ver- mieden werden. Dies bedeutete einen zentral koordinierten Einsatz der Dreschmaschinen, denen zudem ein bevorzugter Status in der Lieferung von Benzin und Kohle eingeräumt wurde. Um einen reibungslosen Ablauf zu sichern, wurde den verantwortlichen Stellen sowie dem Bedienungsper- sonal die Pflicht zur Sicherstellung der Betriebsfähigkeit der Maschinen auf- erlegt; das Bedienungspersonal hatte obendrein für die gesamte Dauer der Ernte für ein und dieselbe Maschine zur Verfügung zu stehen. Ziel des Ver- fahrens war die genaue Festlegung und organisatorische Perfektionierung der Ablieferungsergebnisse bei gleichzeitiger strenger Überwachung der Produzenten und Selbstversorger, um jeglichen »illegalen« Anbau und Ver- brauch des Getreides sowie deren Abzweigung auf dem Transportweg zu verhindern.20 19 Reichsgesetzblatt (1917), S. 739. 20 K. k. Amt für Volksernährung, Erfassung der Ernte des Jahres 1917, 1. Juni 1917. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 1 (Allgemein 1917-1918). Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod 39 Die organisatorischen Neuerungen im Bereich der Ernteaufbringung konn- ten die sich abzeichnende Ernährungskrise anders administrieren; aufhalten konnten sie diese nicht. Die Erfüllung von vorab festgesetzten – und häufig unrealistischen – Erntequoten führte nämlich dazu, dass auch Teile des Saatgutes, die für das nächste Jahr einbehalten werden sollten, abgeführt wurden. Im Januar 1918 etwa berichtete der böhmische Landeskulturrat nach Wien, »dass die 1917ner Ernteerträge an Getreide und Kartoffel da- durch sehr beeinträchtigt worden sind, daß den Landwirten zu wenig Saat- gut belassen wurde«. Trotz der »immer wieder in eindringlichster Weise erhobenen Warnung«, durch übermäßige Anforderung von Getreide und Kartoffeln den allgemeinen Versorgungsdienst nicht zu gefährden, seien die Bestände an Saatgut gegenüber dem Vorjahre erheblich zurückgegangen. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr Dies ließ für das kommende Erntejahr »Schlimmes […] befürchten«.21 Der übergebührliche Aufbrauch von Saatgut war nur ein Problem von vie- len weiteren, die sich trotz Restrukturierungen zeigten. Um die stets knapper werdenden Nahrungsmittel begann zwischen den Ministerien, Militärkom- mandos und zivilen Behörden ein zähes Ringen. Die unter Druck gesetzten ungarischen Behörden verteidigten sich, dass ein Großteil der erwirtschafte- ten Nahrungsmittel von der Armee abgezogen würde und diese somit we- der zur eigenen Versorgung, geschweige denn zur Lieferung nach Öster- reich abgestellt werden könnten. »[Die] Verpflegungssituation bei den Ar- meen erfordert, daß alle im Hinterland verfügbaren Mehlvorräte ohne Rücksicht auf Hinterlandsbedarf zur Armee im Felde abgeschoben wer- den«, lautete im Dezember 1917 eine der Weisungen des Wiener Kriegsmi- nisteriums.22 Dies ließ den Behörden und Kommissionen, die die Versor- gung der Zivilbevölkerung sicherstellen sollten, kaum Spielraum.23 Gleich- zeitig keimte die Hoffnung auf, dass mit Hilfe der Militärs die Durchfüh- rung der Ernte und Verteilung der Vorräte besser durchzusetzen waren. Denn die desolate Versorgungssituation der Armee führte bei den Militär- behörden zur Einsicht, dass die Aufbringung und Sicherstellung der Ernte der militärischen Unterstützung bedurfte. Im Februar 1918 etwa ersuchten mehrere Verwaltungsstellen aus Böhmen, Mähren und der Steiermark in dringlichen Telegrammen an das Ernährungsamt darum, zur Sicherstellung des Saatgutes und vor allem zur Getreideaufbringung militärische Einheiten anzufordern. Die k. k. Statthalterei in Böhmen etwa insistierte darauf, dass 21 Landeskulturrat für das Königreich Böhmen, Deutsche Sektion, an k. k. Amt für Volksernährung, Wien: Sicherung des Saatgutes für den Frühjahrsanbau, 20. Januar 1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 1 (Allgemein 1917-1918). 22 Plaschka/Haselsteiner/Suppan (1974), Bd. 1, S. 209. 23 Der Physiologe Arnold Durig, der sich nach dem Krieg eingehend mit den Ursachen der Ernährungsnot in Wien und Österreich befasste, erhob gegen die Militärs schwere Vorwürfe. Das Verhalten der Armee habe der Ernährungswirtschaft im Allgemeinen und der Zivilbevölkerung im Besonderen »schwere Gewalt angetan«: Durig (1920), S. 357. Franz Steiner Verlag
40 Hans-Georg Hofer zur »Getreideaufbringung und Kartoffelvorratsaufnahme […] zwei Bataillo- nen frontdiensttauglicher Truppen« zum Einsatz kommen sollten.24 Zur Diskussion stand die Aufstellung von speziellen »Getreide-Requisitions- Abteilungen«. Diese Maßnahmen betrafen schwerpunktmäßig, aber nicht nur, den transleithanischen Teil der Monarchie. Im Frühsommer des Jahres zeigte sich, dass die Arbeit der neugeschaffenen »Getreide-Requisitions-Abteilungen« häufig auf Widerstand von Seiten der mitbeteiligten Behörden sowie der landwirtschaftlichen Betriebe stieß. Zu- dem war zwischen den Militärkommandos, dem Volksernährungsamt und den Statthaltereien ein Kompetenzstreit entbrannt, wer für die Bereitstellung und Versorgung der Militärassistenzen in welchem Umfang verantwortlich Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr war. Dennoch wurde der militärische Einsatz zur Einbringung der Ernte im letzten Kriegsjahr noch weiter verstärkt. Auf dem Höhepunkt der Aktion, im Spätsommer 1918, waren in den Ernteregionen und auf den Transport- wegen der Monarchie insgesamt über 250.000 Mann im Einsatz, um die Lebensmittelaufbringung zu sichern, davon knapp 150.000 von österreichi- schen Militärkommandos.25 Die mit militärischer Assistenz und oftmalig auch mit militärischer Gewalt durchgesetzten Beschlagnahmungen hatten weitere Versteckspiele von Vorräten zur Folge, ließen zahlreiche Gerüchte über die Bevorzugung einzelner Regionen und Bezirke entstehen und führ- ten insgesamt zu neuen Konflikten, die im Reichsrat in Wien von den Ab- geordneten in aller Schärfe verhandelt wurden. Dennoch blieb die militä- risch unterstützte Einbringung und Verteilung der Nahrungsmittel ohne größere Eskalation. Auf dem Verhandlungsweg konnte Wien gegenüber Budapest nur wenig erreichen. Die meisten Gesuche der österreichischen Regierung, zur Versor- gung der Zivilbevölkerung oder militärisch relevanter Berufsgruppen (wie etwa der Bahnbediensteten) »einen gewissen Zuschuß aus den Beständen Ungarns zur Verfügung zu stellen«, blieben erfolglos. Ungarn habe, erklärte der Ministerpräsident 1917 in einem Schreiben, »während des gegenwärti- gen Wirtschaftsjahres schon einen ansehnlichen Teil der Ernährungslast übernommen« und sei »in dieser Hinsicht zur äußersten Grenze der eigenen Leistungsfähigkeit angelangt«. Die Nahrungsmittelknappheit habe auch für die Bevölkerung Ungarns »Entbehrungen, Leiden und Schäden« gebracht. Das in diesem Zusammenhang vorgebrachte Argument der ungarischen Regierung, wonach die »hiesigen Zustände entschieden ungünstiger und schwerer geworden sind, als diejenigen der österreichischen Bevölkerung«, entsprach jedoch nicht den Tatsachen.26 Die Zuteilung von Mehlquoten für 24 K. k. Statthalterei in Böhmen an k. k. Amt für Volksernährung, Nachrevision der Getreideaufbringung und Kartoffelvorratsaufnahme, Militärassistenz, 21. Februar 1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 1 (Allgemein 1917-1918). 25 Plaschka/Haselsteiner/Suppan (1974), Bd. 1, S. 213-219, 229. 26 Abschrift einer Note des königlich ungarischen Ministerpräsidenten vom 7. Jänner 1917 an den Herrn k. k. Ministerpräsidenten. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolks- Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod 41 die österreichische Bevölkerung (Nichtselbstversorger, 165 Gramm/Tag) war zu Beginn des Jahres 1918 deutlich niedriger als in Ungarn (220 Gramm/Tag) oder Kroatien/Slawonien (250 Gramm/Tag). Im Juni 1918 erfolgte in Wien eine neuerliche Kürzung der Mehlquote um die Hälfte und somit auf 82,5 Gramm pro Kopf und Tag, während in Ungarn im August eine Erhöhung der Quote auf 240 Gramm Mehl/Tag erreicht werden konn- te.27 Streit bestand auch stets darüber, wie mit den immer geringer werdenden Beständen umzugehen sei: Sollten die Viehbestände zur Fleischerzeugung reduziert oder zur Milchaufbringung belassen werden? Sollte Getreide zu Mehl und Brot verarbeitet oder zumindest in Teilen dem Futtermittel der Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr Tiere beigemengt werden? Letzteres war ein Standardvorwurf an die unga- rische Regierung und gipfelte in dem bösartigen Straßenwitz, ungarische Schweine seien wichtiger als österreichische Menschen.28 Nicht nur zwi- schen der ungarischen und der österreichischen Reichshälfte, sondern auch innerhalb der österreichischen Reichshälfte verschärfte das gegenseitige Misstrauen die Situation. Ottokar Landwehr, der Leiter des Gemeinsamen Ernährungsausschusses, schrieb darüber rückblickend: Im Februar 1917 hatte die Angst vor dem Verhungern es bereits dahin gebracht, dass sich in Österreich nicht nur die einzelnen Kronländer, sondern innerhalb derselben auch die einzelnen Bezirkshauptmannschaften, ja die einzelnen Gemeinden hermetisch gegeneinander abgesperrt hatten.29 Von 1917 an war der Ernährungsnotstand Gegenstand verschärfter Zen- surmaßnahmen des Kriegspressequartiers.30 Mit dem Ernährungsamt und dem Volksgesundheitsministerium wurden die Zensurmaßnahmen genau abgestimmt. »Erörterungen von Ernährungsfragen« und insbesondere die »Wiedergabe von statistischen Aufstellungen in der Öffentlichkeit« seien unbedingt zu vermeiden, und zwar aus drei Gründen. Erstens würden da- durch den Kriegsgegnern detaillierte Informationen über die desolate Situa- tion gegeben und der Erfolg des »Aushungerungskrieges« bestätigt werden: »Das feindliche Ausland macht von derartigen Darstellungen weitgehends- ten Gebrauch.«31 Zweitens würden inländische Zeitungsberichte über die ernährung, Karton 47 (Lebensmittel 1917-1919). 27 Plaschka/Haselsteiner/Suppan (1974), Bd. 1, S. 54. 28 Sandgruber (1995), S. 324. 29 Landwehr (1931), S. 22. 30 Nach Erlass des Ministeriums des Inneren vom 12. Oktober 1917 waren »alle Nach- richten über finanzielle, wirtschaftliche oder sonstige Verhältnisse der Monarchie, in welche das feindliche Ausland nicht genauen Einblick nehmen darf […] zu überprü- fen«. Verschärfung der Pressezensur (Abschrift). ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volks- gesundheit, Karton 1593. 31 Als Beleg diente den Beamten des Ernährungsamtes ein Artikel in der französischen Zeitung Le Matin vom 6. Dezember 1917, der ausführlich über »die Not in Wien« be- richtete. Franz Steiner Verlag
42 Hans-Georg Hofer misslichen Ernährungsverhältnisse die Bevölkerung zu »kräftigerem Wider- stande anstacheln«, da die »Wahrscheinlichkeit unseres Niederbruches, durch Hunger erzwungen, auf Grund solcher Nachrichten gewiss nahe ge- rückt erscheint«. Und drittens würden »Zeitungsangaben über das Einlan- gen von Nahrungsmitteln in Wien« in den Kronländern die Auffassung stärken, die Hauptstadt sei bei der Verteilung der Lebensmittel einseitig be- vorzugt worden.32 Vor diesem Hintergrund wurden wiederholt Beschlag- nahmungen ganzer Zeitungsausgaben verfügt: »Die Wiener Tagespresse muss […] unbedingt in die Schranken gewiesen werden.«33 Dabei war dem Volksernährungsamt die desolate Situation vollständig klar. In einer inter- nen Notiz hieß es im August 1918, dass die »Hungersnot furchtbare Folgen für die öffentliche Gesundheit [hat]; die Krankheiten infolge dauernder Un- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr terernährung nehmen immer mehr zu und enden immer häufiger töd- lich«.34 Hunger und »Ernährungsschädigungen« in der österreichischen Reichshälfte Vergleicht man die Situation mit den europäischen Metropolen des Krieges, so stand die Hauptstadt der Habsburgermonarchie deutlich schlechter da: In London wurde die Rationierung von Zucker, Margarine und Fleisch im Februar 1918 eingeführt, während die Brotversorgung bis Ende des Krieges ohne Einschränkungen aufrechterhalten werden konnte.35 Paris hatte von Ende 1917 an mit Zucker und Brot nur zwei rationierte Lebensmittel. In beiden Städten war die Situation ungleich besser als in Wien. Selbst in Ber- lin, das eine schwierige Ernährungslage hatte, waren die Rationierungen zu Kriegsende höher als in Wien, wo zur gleichen Zeit die tägliche Lebensmit- telzuweisung umgerechnet nurmehr rund 800 Kalorien betrug.36 In der k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien wurden Berichte über Ödemerkrankungen »aufgrund schwerer Ernährungsschädigungen« immer häufiger.37 Schon im 32 K. u. k. Kriegspressequartier an k. k. Ernährungsamt, 6. Juni 1918, Ernährungsver- hältnisse und ihre Besprechung. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Präsidi- um, Karton 38. 33 Präsidium des k. k. Amtes für Volksernährung, 17. August 1918, Verbreitung schädi- gender Nachrichten über die österreichische Ernährungslage durch offizielle Stellen und Zeitungen: Gegenmaßnahmen; Beschlagnahmung der Druckschrift Neuer Wiener Volksbote vom 12. Januar 1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Präsidium, Karton 38. 34 Präsidium des k. k. Amtes für Volksernährung, 28. August 1918, Schädliche Wirkung der detaillierten Zeitungsberichterstattung über Approvisionierungsangelegenheiten. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Präsidium, Karton 38. 35 Gregory (2010), S. 412. Vgl. Winter/Robert (1997). 36 Healy (2004), S. 44f. 37 Vor allem in den Arbeiterbezirken im Westen der Stadt: Schiff (1917), S. 1406; Falta (1917), S. 1637. Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod 43 Frühjahr 1917, als man Ödemerkrankungen in jedem zweiten Wiener Be- zirk registriert hatte, war die Zahl an Neuerkrankungen innerhalb von Wo- chen rasant gestiegen, um während der Erntezeit des Sommers für kurze Zeit zurückzugehen. Im Winter und Frühjahr 1918 traten die Erkrankungen erneut massiv unter der Wiener Bevölkerung auf. In der österreichischen Reichshälfte war von der Ernährungskrise freilich nicht nur die Hauptstadt betroffen. In Wiener Neustadt, das viele Industrie- betriebe beherbergte, trieb der Hunger die Fabrikarbeiterinnen und Fabrik- arbeiter zu Arbeitsniederlegungen. Im Herbst 1916 vermeldete das Volks- ernährungsamt, dass sich die Versorgung der Stadt »in einer argen Kalami- tät« befinde und die Vorräte an Mehl, Brot und Kartoffeln nahezu vollstän- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr dig aufgebraucht seien. Dies habe zu Streiks, »passiver Resistenz« und Aus- schreitungen in der Arbeiterschaft geführt, die nach Wien überzugreifen drohten.38 Ähnlich war die Situation in den steirischen Industrieregionen an der Mur und der Mürz. Hier berichteten Werksärzte 1917 nach Wien, dass ein immer größer werdender Anteil der Belegschaft an Hungerkrankheiten leide. Allein unter der Arbeiterschaft des Eisenwerks im kleinen Industrieort Neuberg wurden im ersten Halbjahr 1917 mehr als 300 Fälle von Ödemerkrankungen verzeichnet.39 Aber auch aus anderen, weiter südlich gelegenen Industrieregionen sowie aus den dalmatinischen Hafenstädten Zara (Zadar) und Spalato (Split) erreichten das Volksernährungsamt in Wien »äußerst beunruhigende Berichte« über die Lebensmittelknappheit und die fortdauernden »Approvisionierungsschwierigkeiten«.40 Arbeitet man sich durch die Akten des Ernährungsamtes der Jahre 1917 und 1918, so wird klar: Die größten Ernährungsprobleme der kriegführen- den Monarchie waren in Wien und den industriereichen Randbezirken Böhmens zu verzeichnen. Die Berichte der (im Februar 1917 neuberufenen) Ernährungsinspektoren, die wöchentlich mittels Telegraphie Wien infor- mierten, zeichneten ein genaues Bild der desolaten Ernährungslage sowie der daraus resultierenden Demonstrationen, Streiks und Unruhen in der Bevölkerung. Von Juli 1917 an waren zudem die Amtsärzte der politischen Bezirksbehörden aufgefordert, regelmäßig über Erkrankungsraten in den betroffenen Gemeinden zu berichten; die Zahl der registrierten Erkrankun- gen ging in die Tausende.41 Am 16. Juli richtete der böhmische Arzt A. 38 K. k. Ministerium des Inneren an Ernährungsamt, 23. Oktober 1916, »Approvisio- nierung der Bevölkerung in Wiener Neustadt«. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolks- ernährung, Karton 1 (Allgemein 1917-1918). 39 K. k. steiermärkische Statthalterei an k. k. Ministerium des Inneren, 25. Juli 1917, Oedemkrankheit in Neuberg. ÖStA, AVA, Bestand MdI Sanität, Karton 3117 (Volkskrankheiten). 40 ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 47 (Lebensmittel 1917-1919). 41 K. k. Ministerium des Inneren, 5. Juni 1917, Oedemkrankheiten. ÖStA, AVA, Be- stand MdI Sanität, Karton 3117 (Volkskrankheiten). K. k. Statthalterei in Böhmen an k. k. Ministerium für Volksgesundheit in Wien, 8. September 1918, betr. Oedem- Franz Steiner Verlag
44 Hans-Georg Hofer Holitscher aus Pirkenhammer bei Karlsbad ein Schreiben an den k. k. Obersten Sanitätsrat, aus dem die Folgen und Wirkungen der Unterernäh- rung mit erschreckender Deutlichkeit hervorgingen. Während bis vor wenigen Monaten, so Holitscher, von Unterernährung keine Rede sein konnte, so sei dies seit dem Frühling erst langsam, dann furchtbar rasch anders geworden. Die Abmage- rung und Entkräftung der Arbeiterschaft, besonders der Frauen nimmt schnell zu; Gewichtsabnahmen um 25-30, selbst noch mehr Kilogramm sind nicht selten; es gibt erwachsene mittelgroße Menschen, die 50, selbst unter 50 Kilogramm wiegen. Von Tag zu Tag mehren sich die Fälle von Ödemkrankheit, Ekzemen, Verdauungskrank- heiten aller Art, hochgradiger Blutarmut. Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr Bei den in den Fabriken arbeitenden Männern sei die Menge der gewährten Tageskalorien auf 600 bis 800 gesunken und genüge somit nicht mehr zur Erhaltung des Lebens. Die dramatische Prognose des Arztes sollte die Be- hörde wachrütteln: »Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass dieser Zustand, wenn er noch einige Wochen anhält, zum Zusammenbruch führen m u s s. Es werden Massenerkrankungen eintreten, ein sicher bedeutender Teil der Bevölkerung wird zugrunde gehen.«42 Im Sommer und Herbst 1917 registrierten die Behörden »eine wahre Völ- kerwanderung nach Lebensmitteln«: Verzweifelte Arbeiter aus den nord- böhmischen Kohlenrevieren waren mit ihren Familien aufgebrochen und »durchquerten das Land, um bei bayerischen und oberösterreichischen Bauern – ungeachtet der strengen Grenzsperren – Kartoffeln, Mehl u. dgl. einzutauschen«. Der böhmische Landessanitätsinspektor berichtete von »Scharen in der Ernährung herabgekommener Weiber, Kinder und Greise auf den Bahnhöfen in Neudek, Karlsbad und Plan«; hungernde Menschen, »die oft wochenlang unterwegs sind und im Freien nächtigen«, stets auf der Suche nach Nahrung, die sie erbettelten.43 Als Reaktion darauf gab im De- zember 1917 das Amt für Volksernährung dem Drängen von nord- und westböhmischen Bezirksregierungen bzw. Bürgermeisterämtern nach, »den an Hunger-Oedem erkrankten Personen über ihr mit einem ärztlichen Zeugnis belegtes Ansuchen die wöchentlichen Mehlrationen von 500 auf 625 Gramm zu erhöhen«.44 Krankheit. ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volksgesundheit, Karton 1588 (Infektions- krankheiten). 42 A. Holitscher an k. k. Obersten Sanitätsrat, 16. Juli 1917. ÖStA, AVA, Bestand MdI Sanität, Karton 3117 (Volkskrankheiten). Hervorhebung im Original. 43 K. k. Statthalterei in Böhmen an k. k. Ministerium für Volksgesundheit in Wien, 8. September 1917. ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volksgesundheit, Karton 1588 (Infek- tionskrankheiten). 44 K. k. Amt für Volksernährung an politische Landesbehörden im Kronland Böhmen, 13. Dezember 1917. ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volksgesundheit, Karton 1588 (In- fektionskrankheiten). Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod 45 Für Aufsehen und scharfe Proteste sorgte der Umstand, dass in den west- böhmischen Kurorten die Situation eine ganz andere war. Als Beispiel dafür lässt sich eine Eingabe des Stadtrates von Eger (Cheb) an das Wiener Er- nährungsamt vom 1. August 1917 anführen. In dem Schreiben wurde der Gegensatz zwischen der reichlichen Nahrungsmittelversorgung der Kurgäs- te in den großen Badeorten und der mangelnden Fürsorge für die Kranken der ansässigen Bevölkerung betont. Während die städtische Bevölkerung leiden und vor allem Arme und Kranke kaum noch an Nahrung kommen würden, sei die Situation in den nahen Kurorten von Karlsbad, Marienbad oder Franzensbad eine ganz andere: Während in Eger oft mehrere Tage für die Bevölkerung gar kein Brot erzeugt werden Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr kann, die Bevölkerung in weiten Schichten hungert, kann man in den benachbarten Kurstädten beobachten, wie Kurgäste mit ihrem weißen Kurgebäck ihre Schoßhunde füttern!45 Angesichts dieser »aufreizenden und schnellstens abzustellenden Zustände« verlangte der Stadtrat eine Gleichbehandlung hinsichtlich der Bereitstellung und Zuweisung von Mehl und anderen Nahrungsmitteln. Nicht zufällig wurde Eger im Winter 1917/18 einer jener böhmischen Orte, wo Lebens- mitteldemonstrationen in Unruhen umschlugen. Ernährungsinspektoren, die sich vor Ort ein Bild der Lage machen wollten, sahen sich mit harschen Vorwürfen konfrontiert, dass das Ernährungsamt keine Besserung gebracht habe. Die wachsenden Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Lebensmittel hätten sich »zu kaum mehr zu ertragenden Kalamitäten verdichtet«, berichtete im Winter 1917/18 ein Ernährungsin- spektor aus dem nordböhmischen Reichenberg (Liberec).46 Ähnliche Be- richte erreichten die Behörden auch aus anderen nordböhmischen Städten. Aus Haida wandte sich der Bezirks-Ausschuss mit einem dramatischen Ap- pell an das Volksernährungsamt: Wir sind ohne Brot, Mehl, Kartoffeln, noch sonst etwas, […] von Fett oder Butter seit Monaten keine Rede. […] Alte Leute sterben in großer Menge an Hungerödem, Kin- der erkranken und siechen dahin, dabei treten Scharlach und Blattern auf. Schleunigs- te Hilfe tut not, um das Unglück unseres Bezirks nicht noch größer zu machen und selben zu entvölkern.47 Aus Gablonz, das aufgrund seiner Glashüttenwerke industrielle Bedeutung hatte, berichtete ein Oberbezirksarzt über das »massenhafte Auftreten von Hungeroedem« infolge des »vollkommenen Milch- und Fettmangels« und 45 Stadtrat Eger an k. k. Ministerium für Ernährung [sic!], 1. August 1917. ÖStA, AVA, Bestand MdI Sanität, Karton 3117 (Volkskrankheiten). 46 ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 147 (Ernährungsinspektoren: Le- bensmittelschwierigkeiten allgemein 1917-1918). 47 Bezirks-Ausschuß Haida an k. k. Ministerium für Volksernährung in Wien, 18. April 1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 148 (Ernährungsinspekto- ren: Lebensmittelschwierigkeiten allgemein 1918). Franz Steiner Verlag
46 Hans-Georg Hofer der »vollkommen unzulänglichen Verköstigung der Kriegsküchen«.48 Da die Beamten des Ernährungsamtes kaum mehr tun konnten, als auf zukünf- tige Lieferungen zu vertrösten, ging der Stadtrat von Gablonz einen unge- wöhnlichen Weg: Er richtete sein Hilfegesuch direkt an den Kaiser.49 Doch auch die im Rahmen der »Kaiserhilfe« für die Notstandsgebiete verspro- chenen Waggons mit Mehl aus Ungarn und der Ukraine trafen nicht – oder nur vereinzelt und mit großer Verzögerung – in den hungernden Städten ein. Die Verzögerung der Zufuhr von Lebensmitteln erklärte sich nicht al- lein mit dem Hinweis auf organisatorische Probleme. Die Bahnbediensteten litten selbst an Unterernährung und Erschöpfung und waren vielfach nicht in der Lage, für einen reibungslosen Ablauf des Zugverkehrs zu sorgen.50 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr »Wir treiben einer entsetzlichen Not entgegen«: Kriegsende in Wien Gegen Kriegsende verschärfte sich die Situation noch einmal, als sich neue Staaten ausriefen und auf offenen Konfrontationskurs mit der Metropole des kollabierenden Habsburgerreichs gingen. Wien bezog nahezu seine ge- samte Lebensmittelversorgung aus den östlichen und nordöstlichen Teilen der Monarchie; aber von November 1918 an waren nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt neue Staaten entstanden, die ihre Grenzen abriegelten. Die Stadt, im äußersten Osten von »Deutschösterreich« gelegen, war nach Osten hin abgeschnitten. Für die Versorgung von Wien hatte dies dramati- sche Konsequenzen. Die Milchzulieferung hatte vor dem Kriege 960.000 Liter Milch täglich betragen. Im Dezember 1918 kamen nur noch durch- schnittlich 70.000 bis 75.000 Liter Milch am Tag nach Wien; dies waren unter zehn Prozent der Vorkriegslieferungen.51 Die Wiener Märkte »bieten jetzt ein Bild tieftraurigen Elends«, berichtete die Arbeiter-Zeitung am 15. Januar 1919. In der Wiener Großmarkthalle waren am Tag zuvor nur noch insgesamt 210 Kilogramm Rindfleisch im Angebot gewesen.52 48 Bericht des k. k. Oberbezirksarztes Adolf Metzl, Neuauftreten von Hungerödem im politischen Bezirk Gablonz an der Neiße, 15. Dezember 1917. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 147 (Ernährungsinspektoren: Lebensmittelschwierigkei- ten allgemein 1917-1918). 49 Die Versorgung von Gablonz mit Lebensmitteln sei »derzeit tatsächlich nicht güns- tig«, bestätigte Anton Höfer, Leiter des Amtes für Volksernährung, Kaiser Karl: »Alleruntertänigster Vortrag des treugehorsamsten mit der Leitung des Amtes für Volksernährung betrauten Ministers Generalmajors Anton Höfer«, 26. Februar 1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 147 (Ernährungsinspektoren: Le- bensmittelschwierigkeiten allgemein 1917-1918). 50 K. k. Eisenbahnministerium an k. u. k. Kriegsministerium, 3. Dezember 1916 (Ab- schrift). ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 47 (Lebensmittel 1917- 1919). 51 Die Milchnot. In: Arbeiter-Zeitung Nr. 28 vom 27. Jänner 1919, S. 4. 52 Die Lebensmittelmärkte. In: Arbeiter-Zeitung Nr. 14 vom 15. Jänner 1919, S. 7. Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod 47 Auch hier lohnt es sich, die Schwierigkeiten genauer anzusehen. Um beim Beispiel der Milchversorgung zu bleiben: Schon während des Krieges hat- ten aus allen Teilen der Monarchie die politischen Bezirksbehörden von zunehmenden Schwierigkeiten berichtet, und zwar nicht nur im Hinblick darauf, wer an welche Stellen wie viel Milch abzuliefern hatte. Die Milch- knappheit warf vor allem die Frage auf, wozu die Milch verarbeitet werden sollte – war sie als Milch selbst zu konsumieren, sollte sie zu Butter verar- beitet werden, um Fettzuweisungen zu erhöhen – oder sollten die Milch- kühe geschlachtet werden, um in der Not die Fleischkontingente aufstocken zu können? 1918 begann angesichts der ständig sinkenden Milchmengen zwischen den Zentralbehörden, den politischen Bezirken des Umlandes, den Bahnhofsstationen und den Milchbetrieben ein zähes Ringen um das Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr vollständig durcheinandergeratene »Milchaufbringungssystem«. In Wien versuchte das Ernährungsamt mit verschärften Erlassen die Milch- lieferungen aus dem Umland zu steigern. Städte wie das mährische Znaim (Znojmo), das inmitten eines Milchproduktionsgebietes lag, wollten es aber auf keinen Fall hinnehmen, dass die Zuteilungsquoten niedriger angesetzt wurden als für Wien.53 Der Deutschvolkliche Arbeiterbund richtete ein scharfes Protestschreiben an das Ernährungsamt: Durch die hohen Abga- ben der Molkereien stehe die Stadt vor einer Katastrophe, »denn nicht ge- nug dass die Molkereien die Milch bis zwei Drittel der produzierten Menge aus unserem Bezirk nach Wien liefert, so kommen noch die Wiener herauf und kaufen und tauschen was eben noch vorhanden ist«.54 Die »maßlose Milchhamsterei« der Wiener Bevölkerung rufe den »größten Unmut« her- vor, protestierte der Znaimer Gemeinderat in einem weiteren Schreiben.55 Umgekehrt hegten die Zentralstellen in Wien den Verdacht, dass die Milchaufbringung in Znaim von Seiten der Molkereien und der Stadtge- meinde hintertrieben werde. Oftmalig erreichte nur ein Bruchteil der festge- setzten Milchmenge Wien, was sich trotz wiederholten telefonischen Nach- fragens nicht aufklären ließ. Die k. k. mährische Statthalterei gab dies ge- genüber dem Ernährungsamt offen zu, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass die von Wien festgesetzten Kontingente schlichtweg unrealistisch wa- ren und von den Milchbetrieben nicht erfüllt werden konnten. Zudem hät- ten die permanenten Änderungen der Kontingente »eine vollkommen un- übersichtliche Situation« hervorgerufen.56 Daran anknüpfend wiesen auch 53 K. k. Bezirkshauptmannschaft Znaim an k. k. mährische Statthalterei in Brünn, 24. Februar 1918, betr. Milchregelung. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 51 (Milch). 54 Deutschvolklicher Arbeiterbund »Eiche« in Znaim, Protest gegen den Erlass des Am- tes für Volksernährung in Wien über Milchversorgung, 28. Februar 1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 51 (Milch). 55 Gemeinderat Znaim, Straßenkundgebungen in Znaim, 8. Mai 1918 (Abschrift). ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 51 (Milch). 56 K. k. mährische Statthalterei an k. k. Amt für Volksernährung, 9. März 1918, Po- litischer Bezirk und Stadtgemeinde Znaim, Milchregelung. ÖStA, AdR, Bestand Franz Steiner Verlag
48 Hans-Georg Hofer die Vertreter der Molkereien jegliche Schuld von sich. Durch das konstante Sinken der Bestände sowie die zurückgehenden Melkungen könnten die auferlegten Milchquoten schlichtweg nicht erfüllt werden. Ein weiteres Problem waren Lagerung und Transport. Durch die Verspätung der Milch- abfuhren mit »unterernährtem Pferdemateriale« müsse mit dem Sauerwer- den der Milch gerechnet werden. In den Sammelstellen fehle es zudem an Kohle für die Erzeugung von Kunsteis, um die Kühlung der vorrätigen Milch zu gewährleisten.57 Bis Ende des Krieges kam der Streit über die Zu- teilung der Milch nicht zur Ruhe. Im Wiener Ernährungsamt sah man den Auflösungstendenzen und der »Nationalstaatsbildung« mit der größten Sor- ge entgegen: »Unsere Macht ist zu Ende und alle Befehle […] sind fruchtlos – es gehorcht niemand mehr«, schrieb Sektionschef Hans Loewenfeld-Russ Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr am 20. Oktober 1918 an seinen Vater. »Wir treiben einer entsetzlichen Not entgegen.«58 Die Angst vor dem drohenden Hungertod war in Wien allgegenwärtig; dies zeigen Briefe, die verzweifelte Frauen an ihre Männer im Felde schrieben.59 Wie im Schützengraben an der Front wurde in den Straßen der Stadt passi- ves Erdulden der Situation zum Kennzeichen des Kriegsalltages. Franz Werfel bemerkte über die Frauen, die tagtäglich vor den Bäckerläden für lange Zeit Schlange standen: »Abgehärtet und ergeben wie die Männer im Schützengraben, stehen sie ihre Zeit aus.«60 Die Nahrungsmittelknappheit und der Kampf ums tägliche Brot ließen unter den Frauen Wiens das Ge- fühl entstehen, jegliche Sicherheiten des Hinterlandes verloren zu haben und harten Kriegsalltag bewältigen zu müssen. Da wirkte es fast wie ein Hohn, dass aus Sicht der Armee und der Militärmedizin die Ernährungs- probleme des Hinterlandes auch ihre positiven Seiten hatten. Noch im Frühjahr 1918 argumentierte der Militärarzt Erich Schneider wie folgt: Der Krieg als kolossaler Ernährungsversuch an unserem Hinterlande hat gezeigt, daß das Volk bei einer stark verminderten Gesamtnahrungszufuhr und recht geringer Ei- weißmenge gesund und arbeitsfähig bleibt, ja, daß es in vieler Hinsicht gesünder ist, als es im Frieden unter dem Einflusse verschiedener Ausschweifungen und törichter Gewohnheiten auf dem Gebiete der Ernährung wie auf anderen Gebieten gewesen ist.61 Nicht nur die Knappheit der Lebensmittel an sich war für die Wiener Be- völkerung ein großes Problem. Auch deren stetige Qualitätsverschlechte- BMfVolksernährung, Karton 51 (Milch). 57 K. k. mährische Statthalterei an k. k. Amt für Volksernährung, 9. März 1918, Po- litischer Bezirk und Stadtgemeinde Znaim, Milchregelung. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 51 (Milch). 58 Loewenfeld-Russ (1986), S. 109. 59 Healy (2004), S. 41f. 60 Werfel (1988), S. 313. 61 Schneider (1918), S. 318. Franz Steiner Verlag
Ernährungskrise, Krankheit, Hungertod 49 rung durch fragwürdige Ersatzmittel machte die Bewältigung des Kriegsall- tages immer schwieriger.62 Das sehnlichst erwartete Einfahren eines neuen Lebensmittelzuges auf einem der Wiener Bahnhöfe war immer häufiger eine große Enttäuschung: Denn in den Waggons befand sich nichts anderes als verfaultes Dörr-Gemüse. Die in den Zeitungen »schamlos angepriesenen Suppenmassen« linderten den Hunger der Menschen nicht. Diese enthiel- ten, wie die Untersuchungsanstalt für Lebensmittel feststellte, »nichts ande- res als gesalzenes und etwas gefärbtes Wasser«.63 Im März 1918 meldete die Behörde, dass aus ekelerregenden Rohmaterialien – und zwar aus Knochen, welche in den Haushaltungen gesammelt worden sind, erfahrungsgemäß zumeist aus dem Hauskeh- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 08.06.2022 um 01:39 Uhr richt und den Küchenabfällen ausgelesen sind und in mehr oder weniger fauligem und übelriechendem Zustande in die Fabrik gelangen, welche die Verarbeitung besorgt, Speisefett und Suppenwürze herzustellen versucht wird. Von Beamten der Untersuchungsanstalt zur Rede gestellt, rechtfertigte sich das Unternehmen damit, dass »doch die Präparate sterilisiert seien«.64 Das Vorgehen gegen diese und ähnliche Missstände war unter den Bedin- gungen des Krieges nahezu aussichtslos: Strafanzeigen blieben ohne Wir- kung, da Gerichtsverfahren – wenn sie überhaupt in Gang gesetzt wurden – viel zu lange dauerten. Ebenso erschien eine Überwachung bzw. ein Verbot der fauligen und übelriechenden Substanzen und Surrogate kaum durch- setzbar, da diese stets unter neuen Namen erneut in Umlauf gebracht wur- den. Im Frühjahr 1918 konstatierte das Amt für Volksernährung eine »um sich greifende Anarchie der Lebensmittelversorgung«, der Einhalt zu gebieten als völlig aussichtslos eingeschätzt wurde.65 In Schleichhandel und Korruption waren Teile der Wiener Ärzteschaft direkt eingebunden. Verbürgt ist der Fall des Wiener Neurologen Alfred Fuchs, Chefarzt der Spezialklinik für Kopfschussverletzte, der für seinen Haushalt Patienten als Dienstpersonal engagierte, die für ein Taschengeld täglich vor Bäcker- und Fleischläden anstanden und diverse Besorgungen erledigten. Im Gegenzug hielt Fuchs seine schützende Hand über diese Männer und schrieb für sie immer neue 62 Breitner (1994), S. 244-246; Franc (2011), S. 73-82. 63 K. k. Untersuchungsanstalt für Lebensmittel in Wien an k. k. Ministerium des Inne- ren, 16. März 1917, weitergeleitet an k. k. Ministerium für Volksgesundheit, 13. Sep- tember 1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volksgesundheit, Karton 1593. 64 K. k. Ministerium für Volksgesundheit, 16. März 1918, Mißstände im Lebensmittel- verkehr; schwindelhafter Vertrieb von Surrogaten. ÖStA, AdR, Bestand BMfsV Volksgesundheit, Karton 1593. 65 K. k. Amt für Volksernährung, Überwachung des Lebensmittelverkehres, 20. April 1918. ÖStA, AdR, Bestand BMfVolksernährung, Karton 47 (Lebensmittel 1917- 1919). Franz Steiner Verlag
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