Erster Fall von Alzheimer-krankheit molekular geklärt - entdeckung einer Mutation im Gen PSEN1 bei Auguste Deter

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Erster Fall von Alzheimer-krankheit molekular geklärt - entdeckung einer Mutation im Gen PSEN1 bei Auguste Deter
Erster Fall von Alzheimer-
Krankheit molekular geklärt
Entdeckung einer Mutation im Gen PSEN1 bei Auguste Deter
Von Ulrich Müller, Pia Winter und Manuel B. Graeber

72                                                   Justus-Liebig-Universität Gießen
Erster Fall von Alzheimer-krankheit molekular geklärt - entdeckung einer Mutation im Gen PSEN1 bei Auguste Deter
Erster Fall von Alzheimer-Krankheit molekular geklärt

Die molekulare Aufklärung des
Falles, an dem Alois Alzheimer die
nach ihm benannte Krankheit vor
über 100 Jahren zum ersten Mal be-
schrieben hat, ist Wissenschaftlern
des Instituts für Humangenetik der
Justus-Liebig-Universität Gießen in

                                        I
Zusammenarbeit mit einem Wissen-
                                            n Industriegesellschaften stellt die   Jahr 1906 gelebt. Das Gehirn der Ver-
schaftler des Hirnforschungsinsti-
                                            Alzheimersche Krankheit heute          storbenen wurde dann nach München
tuts der Universität Sydney, Austra-
                                            eines der größten Gesundheits-         gebracht, wo Alois Alzheimer in Emil
lien, gelungen. Die Ergebnisse ihrer
                                        probleme dar. Allein in Deutschland        Kraepelins berühmter Klinik seit 1904
Forschungsarbeit wurden in der          sind zurzeit 1,3 Millionen Menschen        ein Forschungslabor aufbaute. An-
renommierten Zeitschrift „The Lan-      an Morbus Alzheimer erkrankt, und          hand von Gehirnschnitten der Verstor-
cet Neurology“ im Dezember 2012         die Zahl der Erkrankten steigt durch       benen beschrieb Alzheimer die für die
zunächst online und im Februar          eine zunehmende Lebensdauer stän-          Erkrankung charakteristischen mor-
2013 in gedruckter Form publiziert.     dig an. Global werden für das Jahr         phologischen Veränderungen: Neben
                                        2050 mehr als 100 Millionen Demenz-        Amyloid-Plaques zwischen den Zellen
                                        kranke erwartet, wobei ein Großteil an     des Gehirns sah er auch erstmals die
                                        der Alzheimerschen Krankheit leiden        ebenfalls nach ihm benannten Fibril-
                                        wird, wenn man nicht rechtzeitig ein       lenbündel in den Neuronen („neuro­
                                        Gegenmittel findet.                        fibrillary tangles“). Sowohl Plaques
                                          Alois Alzheimer (Abb. 1) hat 1907        als auch „Tangles“ interferieren mit
                                        erstmals die später nach ihm benann-       der normalen Funktion der Nerven-
                                        te Krankheit an der Patientin Auguste      zellen und werden als Ursachen für
                                        Deter (Abb. 2) beschrieben. Auguste        den Nervenzelltod (Neurodegenera­
                                        Deter war 51 Jahre alt, als sie 1901       tion) angeführt. Die bei Auguste Deter
                                        in das damals als „Städtische Irren-       gefundenen morphologischen Verän-
                                        Anstalt Frankfurt a.M.“ bezeichnete        derungen im Gehirn sind typisch für
                                        Krankenhaus wegen Verwirrtheitszu-         schwere Alzheimer-Krankheit (AK).
                                        ständen, Halluzinationen und starkem       Abb. 3 zeigt diese Veränderungen im
                                        Gedächtnisverlust eingewiesen wur-         Gehirn von Auguste Deter.
                                        de. Dort hat sie bis zu ihrem Tod im          Die meisten Fälle von AK haben
                                                                                   eine multifaktorielle Ätiologie, d.h.
                                                                                   verschiedene Genvarianten im Zu-
                                                                                   sammenspiel mit Umweltfaktoren
                                                                                   führen zur Erkrankung. Von den ge-
   Abb. 1: Deutsch-polnische Gedenk-                                               netischen Varianten ist das Allel ε4
tafel für Alois Alzheimer in Breslau,                                              des für Apolipoprotein E kodierenden
wo seine letzte Lebensstation war. An                                              Gens APOE der größte Risikofaktor.
der schlesischen Friedrich-Wilhelm-                                                Von den nicht-genetischen (Umwelt-)
Universität wurde er Direktor der                                                  Faktoren hat fortgeschrittenes Alter
„Königlich Psychiatrischen und                                                     den größten prädisponierenden Ef-
Nervenklinik“.                                                                     fekt. Nur ein kleiner Prozentsatz aller
                                                                                   Alzheimer-Fälle (< 2%) ist auf eine
  Abb. 2: Archivbild von Auguste                                                   Veränderung in einem einzigen Gen
Deter (aus Maurer et al., 1997)                                                    zurückzuführen.

Spiegel der Forschung · Nr. 1/2013                                                                                    73
Erster Fall von Alzheimer-krankheit molekular geklärt - entdeckung einer Mutation im Gen PSEN1 bei Auguste Deter
Müller, Winter, Graeber

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                                                                                         ersten Grades, also Kinder und Ge-
                                                                                         schwister, ein Risiko von 50% haben,
                                                                                         die Genveränderung zu erben und da-
                                                                                         mit ebenfalls an EOAD zu erkranken.
                                                                                         Außer dem Erkrankungsbeginn lassen
                                                                                         sich EOAD und LOAD weder klinisch
                                                                                         noch neuropathologisch voneinander
                                                                                         unterscheiden.
                                                                                            Heute sind drei Gene bekannt, die
                                                                                         mutiert zu EOAD führen können: Die
                                                                                         beiden einander sehr ähnlichen Gene
                                                                                         PSEN1 und PSEN2, die für die Prote-
                                                                                         ine Präsenilin 1 und 2 kodieren, so-
                                                                                         wie das für das „amyloid precursor
                                                                                         protein“ (APP) kodierende Gen APP.
                                                                                         Spaltprodukte des die Zellmem­   bran
   Abb. 3: Zahlreiche Amyloid-             Im Gegensatz zur Großzahl der                 überspannenden APP tragen zur Ent-
Plaques (links in a).                    Fälle von Alzheimer-Krankheit, die              stehung von Amyloid Plaques bei.
Abb. b (rechts) zeigt verschiedene       jenseits des 65. Lebensalters begin-            Das membranständige Protein APP
Formen Alzheimerscher                    nen („late onset Alzheimer disease“,            wird durch die Wirkung von drei Pro-
Neurofibrillen­veränderungen.            LOAD), erkrankte Auguste Deter be-              teasen (der α-, β- und γ-Sekretase)
Bielschowsky-Silberimprägnation.         reits mit Ende 40. Sie litt damit an            prozessiert (Abb. 4). Die β-Sekretase
Primäre Vergrößerung x20 (aus            einer seltenen, bereits vor dem 65.             erzeugt zusammen mit der das APP
Graeber et al., 1998)                    Lebensjahr einsetzenden Variante.               innerhalb der Membran schneidenden
                                         Man spricht von „early onset Alzhei-            γ-Sekretase primär Spaltprodukte von
                                         mer disease“ (EOAD), die nur 5%                 40 Aminosäuren (Amyloid ß-Peptid
                                         aller Fälle von AK ausmacht. Etwas              von 40 Aminosäuren: Aβ40). Funk-
                                         weniger als die Hälfte der EOAD-Fälle           tionsänderungen der γ-Sekretase
                                         wird autosomal dominant vererbt, das            führen zu vermehrter Bildung von
                                         bedeutet, dass die Erkrankung durch             Spaltprodukten von 42 Aminosäuren
                                         eine Veränderung in einem einzigen              (Aβ42), die hochgradig amyloido-

   Abb. 4: Spaltung des membran­
überspannenden Proteins APP durch
Sekretasen. Die innerhalb der Mem­
bran schneidende γ-Sekretase erzeugt                                                     TM
zusammen mit der β-Sekretase                 NH2                                                       COOH            APP
Spaltstücke (Amyloid β-Peptide) von 40
Aminosäuren. Nur ein kleiner Prozent-
satz (unter 20 %) der Spaltprodukte
hat eine Größe von 42 Aminosäuren.                                              Aß
Bei Mutationen in den Genen PSEN1
                                                           DAEFRHDSGYEVHHQKLVFFAEDVGSNKGAIIGLMVGGVVIA
und PSEN2 ist die Funktion der
γ-Sekretase beeinträchtigt, und es                        beta                   alpha                                 gamma

entstehen primär (über 80 %) Amyloid                                                                            40               42
                                                                                                              (80 %)           (20 %)
β-Peptide von 42 Aminosäuren, die          alpha‐Stoffwechselweg
                                                                   sAPP‐alpha
stark amyloidogen sind. Eine weitere
                                                                                          p3
Sekretase (α-Sekretase) spaltet            beta‐Stoffwechselweg    sAPP‐beta
ebenfalls APP, spielt jedoch für die
                                                                                          Aß
Entstehung von Plaques keine Rolle.

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Erster Fall von Alzheimer-Krankheit molekular geklärt

                                                                                     Abb. 5: Krankenakte von Auguste
                                                                                   Deter, die 1996 von Maurer wieder-
                                                                                   entdeckt wurde (aus Maurer et al.,
                                                                                   1997).

                                                                                     Abb. 6: Objektträger mit Gewebe-
                                                                                   schnitt von Auguste Deter, von dem
                                                                                   DNA zur Untersuchung extrahiert
                                                                                   wurde.

gen wirken. Die Präseniline 1 und 2       genome amplification“ (WGA) bezeich-
sind Teil eines Proteinkomplexes, der     net wird. Wir haben zur Amplifikation
zusammen mit weiteren Proteinen           der DNA eine Variante der „multiple
(Nikastrin, APH-1 (anterior phaynx-       displacement amplification“-Methode
defective 1), PEN2 (presenilin enhan-     angewendet. Zunächst wird ein Gewe-
cer2)) die γ-Sektretase bildet. Mutati-   bestückchen vom Objektträger unter
onen in den Genen PSEN1 und PSEN2         sterilen Bedingungen abgekratzt und
führen zu einer gestörten Funktion        das Gewebe denaturiert. Anschließend
der γ-Sekretase und zu vermehrter         werden die kleinen fragmentierten
Bildung von Aβ42.                         DNA-Stückchen ligiert, so dass größe-
  Die Krankengeschichte von Augus-        re Fragmente entstehen, die dann un-
te Deter, die seit 1909 verschollen       ter Verwendung zufällig ausgewählter
war, wurde 1996 in der Abteilung für      Hexamere amplifiziert werden können         Abb. 7: Sequenzchromatogramm
Psychiatrie der Universität Frankfurt     (REPLI-gFFPE kit von Qiagen). Die ge-    von 28 Basenpaaren (bp) von Exon 6
wiederentdeckt (Maurer et al., 1997,      wonnene DNA wurde dann als „tem­         des PSEN1-Gens von Auguste Deter.
Abb. 5). Die wahrscheinlich von Alois     plate“ zur Amplifizierung und Sequen­    Durch die Sequenzierung fand sich
Alzheimer selbst von Auguste Deters       zierung von Bereichen der Gene PSEN1     eine c.526T->C-Substitution. Die
Gehirn angefertigten Schnitte wurden      und PSEN2 verwendet.                     Abbildung zeigt sowohl die Sequenz
1997 von Manuel Graeber im Keller           Bei der Sequenzierung von Exon 6       des Vorwärtsstrangs (a) als auch des
des Instituts für Neuropathologie der     des Gens PSEN1 fand sich an Position     Rückwärtsstrangs (b). Die Mutation
LMU München gefunden (Graeber et          526 ein Austausch der Base Thymin        führt zu einem Aminosäureaustausch
al, 1998). Wir haben eines dieser von     durch Cytosin (c.526T>C). Diese Verän-   Phe176Leu (F/L).
Auguste Deters Gehirn angefertigten       derung führt zur Substitution der Ami-
Präparate (Abb. 6) verwendet, um          nosäure Phenylalanin durch Leucin an
DNA zu isolieren und Mutationsanaly-      Postion 176 des Präsenilin1-Proteins
sen durchzuführen.                        (p.Phe176Leu) (Müller et al., 2012,      guste Deter ist: 1) An Position 176 des
  Durch die Paraffineinbettung, For-      Abb. 7). Exon 6 kodiert im Wesentli-     PSEN1-Gens wurde kein „single nucle-
malin-Fixierung und Färbung der Prä-      chen für die Transmembrandomäne 3        otide polymorphism“ (SNP), also kei-
parate wird die DNA stark geschädigt      von Präsenilin 1. Wir haben den Be-      ne Variante eines Basenpaars in der
und fragmentiert. Um überhaupt ana-       fund in unabhängig voneinander extra-    DNA, beschrieben; 2) Phenylalanin an
lysierbare DNA aus Formalin-fixierten     hierten DNA-Chargen bestätigt.           Position 176 der Transmembran-Do-
Gewebeschnitten gewinnen zu können,         Mehrere Befunde sprechen dafür,        mäne 3 von Präsenilin ist evolutionär
muss die Gesamt-DNA amplifiziert          dass der Phe176Leu-Austausch die         hochgradig konserviert (Abb. 8). Dies
werden, ein Vorgang, der als „Whole       Ursache für die Erkrankung von Au-       spricht dafür, dass diese Aminosäure

Spiegel der Forschung · Nr. 1/2013                                                                                    75
Müller, Winter, Graeber

essentiell für eine normale Funktion     dert, zu autosomal dominant vererbter           Durch Veränderung der Struktur von
von Präsenilin 1 ist; und 3) Die be-     EOAD. Auch dieser Befund belegt die           Präsenilin 1 ändert sich die Funk­tion
nachbarte Aminosäure Phenylalanin        funktionelle Bedeutung dieser Region          des Proteinkomplexes γ-Sekretase
an Position 177 führt, wenn verän-       von Präsenilin 1.                             (Abb. 4), es werden vermehrt Amy­

      Die Autoren

      Ulrich Müller, Jahrgang 1952, stu-      ceedings of the National Academy of        in Boston, USA. Die letzten beiden
      dierte von 1971 bis 1977 in Freiburg    Sciences (USA), Annals of Neurolo-         Jahre als Post-Doc verbrachte er im
      Medizin und promovierte 1977 zum        gy, American Journal of Human Ge-          dortigen Labor von Prof. Ulrich Mül-
      Dr. med. Von 1977 bis 1984 war er       netics, Human Molecular Genetics.          ler. Von 1992 bis 1999 baute Prof.
      am Institut für Humangenetik der                                                   Graeber jeweils ein Labor für Mole-
      Universität Freiburg tätig, unterbro-   Pia Winter, Jahrgang 1958, absol-          kulare Neuropathologie an der LMU
      chen durch einen Forschungsauf-         vierte eine Ausbildung zur Medi-           München und dann am Max-Planck
      enthalt am Sloan Kettering Cancer       zinisch-technischen Assistentin in         Institut für Neurobiologie (Abt.
      Center und der Cornell University in    Trier. Seit 1981 ist sie Mitarbeite-       Kreutzberg) auf. 1995: Center of Ex-
      New York von 1979 bis 1980. 1982:       rin am Institut für Humangenetik.          cellence Visiting Scientist Award des
      Habilitation im Fach Humangenetik.      Zunächst war sie beteiligt an For-         National Institute of Neuroscience,
      Mit einem Heisenberg-Stipendium         schungsarbeiten zur Proteinana-            Tokyo, Japan, und Gastwissenschaft-
                                                                                         ler dort im Herbst 1996. 1997 Grün-
                                                                                         dung der Zeitschrift Neurogenetics
                                                                                         gemeinsam mit Prof. Müller und E.
                                                                                         Hoffman. 1998 sieben Monate als
                                                                                         Visiting Clinician an der Mayo Clinic
                                                                                         in Rochester, MN, USA. 1999: Ruf
                                                                                         auf den neuen Lehrstuhl für Neuro-
                                                                                         pathologie an das Imperial College
                                                                                         London/Hammersmith           Hospitals
      ging er an die Genetics Division        lytik mit Schwerpunkt hereditäre           Trust und 2000 Gründung des Uni-
      des Children´s Hospital der Harvard     Amyloidosen, später dann bei der           versity Department of Neuropatho-
      Medical School. Von 1987 bis 1992       Etablierung molekulargenetischer           logy, das er als Chairman leitete und
      war er Assistant und dann Associa-      Methoden. Der Schwerpunkt ih-              im achten Jahr aufgrund ethischer
      te Professor of Pediatrics/Genetics     rer Arbeit seit 2000 sind Beiträge         Bedenken hinsichtlich der dortigen
      an der Harvard Medical School.          zur Erforschung neurogenetischer           Multiple Sklerose- und Parkinson-
      1991: Ruf auf die Professur für Hu-     Erkrankungen wie die Alzheimer             Hirnbanken wieder schloss. Später
      mangentik der Universität Gießen.       Krankheit, ALS und Dystonien.              im selben Jahr (2007) Gründungs-
      Schwerpunkt der Forschung: Neu-                                                    vorsitzender (mit D. Troost, Ams-
      rogenetik, insbesondere Dystonien,      Manuel B. Graeber, Dr. med. (TUM),         terdam) der European Fellowship of
      spinozerebelläre Ataxien, Alzheimer     Dr. med. habil. (LMU) ist ein deutsch-     Neuropathology. 2008: Sabbatical
      Krankheit, Progressive supranukleä-     britischer Neuropathologe und Bar-         und Gewinn eines „Whistleblowing“-
      re Blickparese, amyotrophe Lateral-     net-Cropper Chair of Brain Tumor           Prozesses gegen die 2007-Exekutive
      sklerose. 1994-2004: Präsident der      Research am Brain and Mind Re-             von Imperial College London finan-
      deutschen Gesellschaft für Neuroge-     search Institute (BMRI) der Univer-        ziert von der British Medical Asso-
      netik. Mitgründer und Herausgeber       sität Sydney, Australien. Er war erst      ciation. 2009: Head der Division of
      der Zeitschrift Neurogenetics seit      Doktorand und dann wissenschaft-           Neuropathology, King Fahd Medical
      1997. Seine Forschungsergebnisse        licher Mitarbeiter am Max-Planck-          City, Ministry of Health, Riyadh, KSA
      wurden in renommierten Zeitschrif-      Institut für Psychiatrie in München        und Ruf auf den neuen Lehrstuhl am
      ten publiziert, u.a. in Cell, Nature    (1987-1989), danach drei Jahre Post-       BMRI, den er bis heute innehat, und
      Genetics, Lancet Neurology, Pro-        Doc an der Harvard Medical School          Umzug nach Sydney 2010.

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Erster Fall von Alzheimer-Krankheit molekular geklärt

   Abb. 8: Evolutionäre Konservie-
                                                                      nucleotide sequence           amino acid sequence
rung von Phenylalanin (Phe) an
                                                                                  ꜜ                    ꜜ
Position 176 des PSEN1-Proteins            Homo sapiens               TTGCTGTTCTTTTTTTCATTC         LLFFFSF
(grau unterlegt) sowie benachbarter        Macaca mulatta             TTGCTGTTCTTTTTTTCATTC         LLFFFSF
Aminosäuren. Die entsprechenden            Mus musculus               TTGCTGTTCTTTTTTTCGTTC         LLFFFSF
Nukleotid-Sequenzen sind auch              Bos taurus                 TTGCTGTTCTTTTTCTCATTC         LLFFFSF
angegeben.                                 Gallus gallus              CTGCTTTTCTTTTTTTCATTC         LLFFFSF
                                           Anolis carolinensis        TTGCTTTTCTTTTTTTCATTC         LLFFFSF
                                           Xenopus laevis             TTGCTTTTTTTCTTCTCTTAT         LLFFFSY
                                           Takifugu rubripes          TTGCTTTTCTTCTTCTCCTAC         LLFFFSY
loid beta-Peptide von 42 Aminosäuren       Danio rerio                CTGCTCTTCTTTTTCTCCTTA         LLFFFSL
(Aß42) gebildet, die hochgradig amy-       Drosophila melanogaster    TTGTTGTTCATTTTTACGTAC         LLFIFTY
loidogen wirken und zur Ablagerung         Caenorhabditis elegans     CTTCTTTTCCTATTCACTACA         LLFLFSL
der für Neuronen toxischen Amyloid-
Plaques führen.                           einer möglichen Verwandtschaft mit        Maurer K, Volk S, Gerbaldo H (1997):
   Vor Entdeckung der c.526T>C Muta-      den Wolga-Deutschen widerlegt wer-         Auguste D and Alzheimer’s disease.
tion in PSEN1 wurde spekuliert, dass      den konnte (Müller et al., 2011).          Lancet 349: 1546-1549
Auguste Deter mit den so genannten           Unsere historischen Untersuchun-       Yu CE, Marchani E, Nikisch G, Mül-
Wolga-Deutschen verwandt gewesen          gen haben gezeigt, dass Auguste De-        ler U, Nolte D, Hertel A, Wijsman
sein könnte. Bei den Wolga-Deutschen      ter an der sehr seltenen, durch eine       EM, Bird TD (2010): The N141I mu-
handelt es sich um die Nachfahren ei-     Mutation im PSEN1-Gen verursach-           tation in PSEN2: implications for the
ner aus Hessen, aus der Nähe von Bü-      ten EOAD gelitten hat. Dieser Befund       quintessential case of Alzheimer di-
dingen stammenden Personengruppe,         würde es grundsätzlich ermöglichen,        sease. Arch Neurol 67: 631-633
die in den Jahren um 1760 in das Ge-      Nachfahren von Auguste Deter auf das      Müller U, Winter P, Graeber MB
biet der südlichen Wolga in Russland      Vorliegen der Mutation zu untersu-         (2011): Alois Alzheimer’s case, Au-
ausgewandert sind. Im späten 19. und      chen. Über das Schicksal des einzigen      guste D., did not carry the N141I
frühen 20. Jahrhundert sind viele Wol-    Kindes, einer Tochter, von Auguste De-     mutation in PSEN2 characteristic
ga-Deutsche in die USA emigriert.         ter ist jedoch nichts bekannt.             of Alzheimer disease in Volga Ger-
   Bei den Wolga-Deutschen tritt             Es ist eine Ironie der Medizin-Ge-      mans. Arch Neurol 68: 1210-1211
durch eine Mutation im Gen PSEN2          schichte, dass die Alzheimer-Krank-       Müller U, Winter P, Graeber MB
(c.422A>T) EOAD häufig auf. Das           heit, von der die LOAD-Variante ein        (2013): A presenilin 1 mutation in
häufige Vorkommen der früh einset-        enormes Gesundheitsproblem in den          the first case of Alzheimer´s disease.
zenden Variante der Alzheimer Krank-      westlichen Industriestaaten darstellt,     The Lancet Neurology 12: 129-130
heit bei dieser Population geht auf ei-   ausgerechnet an einer extrem seltenen      (doi:10.1016/S1474-4422(12)70307-1)
nen „founder effect“ zurück, d.h. eine    Variante (autosomal dominante EOAD)
oder mehrere Vorfahren der Wolga-         dieser heute so häufigen Krankheit ent-
Deutschen trugen die zu EOAD füh-         deckt worden ist. Schließlich beendet     KONTAKT
rende PSEN2-Mutation, die sich infol-     die molekulare Aufklärung des ersten      Prof. Dr. Ulrich Müller
                                                                                    Justus-Liebig-Universität
ge autosomal dominanter Vererbung         Alzheimer-Falles endgültig alle Speku-
                                                                                    Institut für Humangenetik
in der Population ausgebreitet hat. Da    lationen über die Ursache der Krank-      Schlangenzahl 14
Auguste Deter wie auch die Vorfah-        heit von Alois Alzheimers Patientin. •    35392 Gießen
ren der Wolga-Deutschen aus Hessen                                                  Telefon: 0641 99-41601
                                                                                    Ulrich.Mueller@humangenetik.med.uni-
stammte und an EOAD erkrankt war,
                                          ǺǺ
                                                                                    giessen.de
wurde spekuliert, dass sie aus dersel-             LITERATUR
ben Population stammen könnte, von
der ein Teil an die Wolga ausgewan-       Graeber MB, Kösel S, Grasbon-Frodl
dert ist (Yu et al., 2010). Wir haben      E, Möller HJ, Mehraein P (1998):
untersucht, ob die c.422A>T-Mutation       Histopathology and APOE genotype
in PSEN2 bei Auguste Deter vorliegt.       of the first Alzheimer disease pa-
Diese Mutation fand sich bei Auguste       tient, Auguste D. Neurogenetics 1:
Deter nicht, wodurch die Hypothese         223-228

Spiegel der Forschung · Nr. 1/2013                                                                                        77
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