Aus dem Leben eines 100-Jährigen - Das BGB hatte Geburtstag

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Matthias Aberle, Matthias Kuhnke, Matthias Roth*)

Aus dem Leben eines 100- Jährigen –
Das BGB hatte Geburtstag
„Da steh´ ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.“ [1]. Zu
dieser Erkenntnis kommt man gelegentlich bei dem Versuch, sich ein
Rechtsproblem durch Nachlesen im Bürgerlichen Gesetzbuch zu erschlie-
ßen. Hier stolpert man über kuriose Formulierungen wie den verwirrten
Grenzen, den verrückten Grenzsteinen oder den ausgezogenen Bienen-
schwärmen. Trotz dieser mehrdeutigen Begriffe handelt es sich beim BGB
um ein fundamentales Gesetzbuch mit einer inzwischen mehr als einhun-
dertjährigen wechselvollen Vergangenheit. Die Weiterentwicklung des
Bürgerlichen Rechts im BGB reflektiert gleichzeitig eindrucksvoll die
deutsche Geschichte. Es stellt sich also die Frage: Quo vadis BGB?

Gesetze – kaum sind sie verabschiedet,                             te Kommission führte ab 1890 die Überar-
werden sie schon wieder verändert. In der                          beitung des ersten Entwurfs durch. Diese
heutigen Zeit haben die meisten eine kur-
ze Verfallszeit. Dass es auch anders geht,
zeigt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB).
Seit nunmehr einhundert Jahren regelt es
die privaten Rechtsbeziehungen und ist,
trotz aller Veränderungen, die es erfahren
hat, in seinem Kern erhalten geblieben.

Entstehungsgeschichte des BGB
Das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene
BGB hat die Deutschen bis heute beglei-
tet. Die Wurzeln seiner Entstehung sind
jedoch weitaus früher zu suchen. Schon der
erste Deutsche Juristentag im Jahre 1860
forderte die Rechtseinheit im materiellen
Zivilrecht in den deutschen Ländern. We-
nige Jahre nach der Reichsgründung 1871
begann eine Kommission mit den Arbeiten
zum ersten Entwurf eines BGB. Eine zwei-

*) Gewinner eines Pressewettbewerbs für Vermessungsreferendarin-
nen/Vermessungsreferendare der Länder Brandenburg und Berlin
2000                                                                 Abb.: RGBl. vom 24. August 1896, S. 195

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Arbeiten mündeten 1895 in die Gesetzes-          Die Grundentscheidung aber, ein System
vorlage, die einer eingehenden Beratung        aufeinander aufbauender, abstrakter Rechts-
folgend, am 1. Juni 1896 vom Reichstag         sätze zu schaffen, hat wesentlich zur Dau-
verabschiedet wurde. Nach der Zustim-          erhaftigkeit des BGB beigetragen. Anders
mung des Bundesrats verkündete Kaiser          als einer seiner Vorläufer, das Allgemeine
Wilhelm II. am 24. August 1896 das Bür-        Preußische Landrecht, verzichtet es mit sei-
gerliche Gesetzbuch.                           nen allgemeinen Bestimmungen darauf,
  Die deutschen Juristen hatten also bis       konkrete Einzelfälle zu regeln. Das macht
zum In-Kraft-Treten noch mehr als drei         es möglich, auch solche Fälle unter die Re-
Jahre Zeit, sich auf das neue Gesetz einzu-    gelungen zu subsumieren, an die der Ge-
stellen. Die Reaktionen auf das BGB wa-        setzgeber nicht gedacht hat, oder noch gar
ren sehr unterschiedlich. Während es im        nicht denken konnte. Ein weiteres Instru-
Ausland große Aufmerksamkeit hervorrief,       ment, das zur Flexibilität und Fortentwick-
fand es in der deutschen Öffentlichkeit nur    lung des Gesetzbuchs beiträgt, sind die Ge-
wenig Beachtung. Fachleute fürchteten so-      neralklauseln. Hier sind z.B. die „guten Sit-
gar, dass nach dem 1. Januar 1900 im Deut-     ten“, „Treu und Glauben“ und „wichtiger
schen Reich niemand wissen werde, was          Grund“ zu nennen. Die Interpretation der-
rechtens sei.                                  artiger Generalklauseln birgt aber auch Ge-
  Diese anfangs geäußerten Bedenken ha-        fahren, wie die deutsche Geschichte zeig-
ben sich jedoch nicht bestätigt – im Gegen-    te.
teil, das BGB hat sich bis heute zum bedeu-
tendsten Werk des Privatrechts entwickelt.     Weiterentwicklung des BGB
                                               als Spiegel
Aufbau und Stil des BGB                        der deutschen Geschichte
Der römisch-rechtlichen Einteilung fol-        Seit dem In-Kraft-Treten des BGB sind
gend, gliedert sich das BGB in fünf Bücher:    einhundert Jahre vergangen. In diesen Zeit-
den Allgemeinen Teil, das Recht der            raum fielen zwei Weltkriege und fünf
Schuldverhältnisse, das Sachenrecht, das       grundlegend verschiedene politische Epo-
Familienrecht und das Erbrecht.                chen. Ebenso haben sich die wirtschaftli-
  Kennzeichnend für das BGB ist der hohe       chen und sozialen Lebensbedingungen ge-
Abstraktionsgrad seiner Begriffsbildung,       wandelt. An die Stelle des obrigkeitsstaat-
wie etwa Willenserklärung und Rechtsge-        lichen Kaiserreichs ist die demokratische
schäft. Dieses führt dazu, dass sich das Ge-   und sozialstaatliche Bundesrepublik getre-
setzeswerk dem gemeinen Leser als kom-         ten. Die mehr als 150 Änderungen im
pliziert zugänglich erweist, denn die ge-      Wortlaut des BGB im Laufe der Jahre wa-
wählten Formulierungen sind spröde und         ren auch Ausdruck der sich verändernden
die Vorschriften zum Teil weit verschach-      rechtspolitischen Akzente. Daneben wur-
telt. Wer immer versucht, eine Rechtsfra-      de die Auslegung der Vorschriften durch
ge durch einen kurzen Blick ins BGB zu         die Rechtsprechung ständig fortentwickelt.
beantworten, wird sich schwer tun, was            Um den Wandel in den Formulierungen
zum einen an der wenig eingängigen Spra-       des BGB verstehen und würdigen zu kön-
che liegt, zum anderen aber auch an der        nen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die ver-
Konzeption des Gesetzbuchs.                    schiedenen Epochen.

üermessung Brandenburg                                                                - 33 -
Kaiserreich                                    deshalb vor allem das Familien- und Erb-
Bedingt durch den Ausbruch des 1. Welt-        recht. Trotz Fortbestehens des BGB, waren
kriegs, erfolgten Eingriffe in die Eigen-      Rechtswissenschaft und Rechtsprechung
tums- und Vertragsfreiheit. Hintergrund        aufgefordert, es im Geiste der nationalso-
waren Interessen des Staates, das Gesetz als   zialistischen Ideologie auszulegen und zu
Instrument staatlicher Lenkung des Wirt-       handhaben. Hierzu wurden vor allem die
schaftslebens zu mißbrauchen.                  Generalklauseln missbraucht. Andererseits
                                               blieb auf dem Gebiet des Vermögensrechts
Weimarer Republik                              das materielle Recht im wesentlichen un-
Die wirtschaftliche und soziale Not als Fol-   angetastet.
ge des Kriegs erzwang in der Weimarer            Nach Kriegsende wurden die spezifi-
Republik gesetzgeberische Eingriffe in das     schen nationalsozialistischen Gesetze
Miet-, Arbeits-, und Grundstücksrecht. Das     durch die Kontrollratsgesetze der Alliier-
BGB hatte im Bereich des Erbbaurechts          ten aufgehoben und die Gleichheit aller vor
erhebliche Regelungsdefizite. Diese wur-       dem Gesetz wiederhergestellt.
den durch den Erlass der Erbbaurechtsver-
ordnung beseitigt. Große Probleme warf         Das bürgerliche Recht der beiden
auch die Inflation der 20er Jahre auf. Das     deutschen Staaten
BGB bot kein Instrumentarium, um mit der       Die Teilung Deutschlands hatte auf das
Geldentwertung umzugehen. Hier wurde           bürgerliche Recht zunächst keinen Ein-
vom Reichsgericht – im offenen Wider-          fluss. Auf Grund der unterschiedlichen po-
spruch zur Reichsgesetzgebung – eine Ge-       litischen Entwicklung beider deutscher
neralklausel zugunsten der Gläubiger inter-    Staaten, änderte sich aber die Handhabung
pretiert.                                      und später auch die Gesetzgebung.

Drittes Reich                                  Das bürgerliche Recht der DDR
Die heftigsten Eingriffe in die Vorschrif-     Als Ausdruck der gewollten Zerstörung der
ten des BGB fanden jedoch während der          Rechtseinheit zur Bundesrepublik und zur
Zeit des Dritten Reichs statt. Die national-   Demonstration der staatlichen Selbststän-
sozialistische Ideologie sah die Umgestal-     digkeit wurde das BGB in der DDR schritt-
tung des Staats und des Rechts auf der         weise außer Kraft gesetzt. Den Höhepunkt
Grundlage des Gemeinschafts- und Rasse-        stellte schließlich die Einführung des Zivil-
gedankens und des Führerprinzips vor. Das      gesetzbuches (ZGB) zum 1. Januar 1976
BGB, das von dem Grundgedanken der             dar. So wurde unter anderem der freie Ge-
Freiheit und Gleichheit aller Bürger aus-      brauch des Eigentums, einer der Grundwer-
ging, war mit dieser Ideologie unvereinbar.    te des bürgerlichen Rechtsstaats, im ZGB
Es wurde als zu konservativ und unpopu-        nicht gewährleistet. Die Verkehrsfeindlich-
lär eingeschätzt und sollte schrittweise       keit des Eigentumsrechts führte dazu, dass
durch ein neues Volksgesetzbuch abgelöst       das Grundeigentum geradezu missachtet
werden. Vorarbeiten hierzu wurden jedoch       wurde. Deutlich wurde dies u.a. durch die
aufgrund des 2. Weltkriegs nie abgeschlos-     Trennung von Grund- und Gebäudeeigen-
sen. Gesetzgeberische Eingriffe, als Aus-      tum – ein Mangel, der heute dringender
druck des politischen Willens, betrafen        denn je behoben werden muss.

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Mit dem Beitritt der DDR zur Bundes-           Grenzabmarkung, Grenz-
republik am 3. Oktober 1990 endete auch          verwirrung ...
die Geschichte des ZGB. Durch den Eini-          Der § 919 versetzt den Grundeigentümer in
gungsvertrag wurde die Einheit auf dem           die Lage, seinen Grundstücksnachbarn an
Gebiet des bürgerlichen Rechts wiederher-        der Abmarkung ihrer gemeinsamen Grund-
gestellt.                                        stücksgrenze zu beteiligen. Im ersten Ent-
                                                 wurf enthielt dieser Paragraph vier Absät-
Das bürgerliche Recht der Bundesre-              ze. Der letzte Absatz traf, vorbehaltlich der
publik Deutschland                               Landesgesetzgebung, Regelungen zur Hin-
Anders als in der DDR ist das BGB in der         zuziehung von Vermessungsbeamten oder
Bundesrepublik das Gesetzbuch im Be-             in besonderen Fällen die Beteiligung ande-
reich des Zivilrechts gewesen und bis heu-       rer Beamter. In der Beratung vom 28. April
te geblieben. Dennoch unterlag es auch in        1884 wurde dieser auf Antrag des König-
der westlich orientierten und durch die          lich bayrischen Ministerialrats v. Schmitt
Marktwirtschaft geprägten Bundesrepublik         gestrichen. Zur Begründung führte er an,
einer Fortentwicklung, die im Wesentli-          dass diese Klausel bereits sinngemäß im
chen durch zwei Faktoren geprägt wurde.          heutigen Absatz zwei enthalten war. Dar-
Hier ist zum einen die Ausrichtung des           über hinaus beantragte Bayern in der Bun-
Bürgerlichen Rechts auf die Wertordnung          desratsdebatte zur Gesetzesvorlage die
des Grundgesetzes zu nennen. Darüber hin-        vollständige Streichung des Paragraphen
aus wurde der gesellschaftlichen Weiter-         „Grenzabmarkung“. Es sah keine Notwen-
entwicklung, die sich durch den techni-          digkeit einer gesamtdeutschen Regelung
schen und wirtschaftlichen Wandel, durch         des privatrechtlichen Abmarkungsan-
die Veränderung der Gesellschaft und nicht       spruchs, sondern war vielmehr der Auffas-
zuletzt durch deren Wertewandel ergeben          sung, dass dieses zweckmäßiger in der
hat, Rechnung getragen. Die Änderungen           Landesgesetzgebung zu regeln wäre. Der
im Familienrecht spiegeln am deutlichsten        Antrag Bayerns fand jedoch keine Unter-
die Veränderung der Gesellschaft (nicht          stützung und wurde vom Bundesrat abge-
nur) in den letzten fünf Jahrzehnten wider.      lehnt. Somit wurde die auch heute noch
  Ebenso wie es das Motiv der Väter des          gültige Formulierung des § 919, einschließ-
BGB war, der politischen Einheit Deutsch-        lich ihrer leichten sprachlichen Verfehlung
lands die Vereinheitlichung des Privat-          „... ein Grenzzeichen verrückt ... geworden
rechts folgen zu lassen, so ist es derzeit der   ist, ...“, in das Gesetzgebungsverfahren ein-
Wunsch und das Ziel, ein gemeinsames             gebracht und verabschiedet.
europäisches Zivilgesetzbuch für das sich           Auch beim Lesen des § 920 stolpert man
vereinende Europa zu schaffen.                   über einen sprachlichen Fauxpas – die ver-
  Dabei dürften die Beratungen zu den ein-       wirrte Grenze. Bei der Beratung des BGB
zelnen Vorschriften ebenso angeregt und          lagen mehrere Anträge zur Änderung des
kontrovers geführt werden wie vor über           ersten Entwurfs vor, der die Materie der
einhundert Jahren. Dies zeigte sich damals       streitigen Grenze behandelte. In dem An-
z.B. auch in den Diskussionen zur Rege-          trag des Königlich sächsischen Oberappel-
lung des privatrechtlichen Abmarkungsan-         lationsgerichtspräsidenten v. Weber wurde
spruchs.                                         hierfür erstmalig der Begriff der Grenzver-

üermessung Brandenburg                                                                  - 35 -
wirrung eingebracht. Letztendlich fand         möglicherweise wieder ein modernes und
auch diese mehrdeutige Formulierung Ein-       fortschrittliches Gesetzeswerk einen juristi-
gang in das BGB und ist bis heute Bestand      schen Meilenstein setzen.
geblieben.
                                               Literaturverzeichnis und Quellen-
... und weitere Kuriositäten                   angabe
Aber nicht nur die zuvor genannten Formu-      Dr. Achilles, Dr. Spahn, Dr. Gebhardt:
lierungen, sondern auch die Existenz gan-      „Protokolle der Kommission für die zwei-
zer Paragraphen lassen den Leser schmun-       te Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen
zeln oder zumindest verwundert den Kopf        Gesetzbuchs. Band III. Sachenrecht“,
schütteln. So befinden sich in den §§ 961-     1899, S. 124-131
964 ausführliche Regelungen, wann z.B.         Bohl, Elke: „Was Rechtens ist“, Frankfur-
ein ausziehender Bienenschwarm herren-         ter Allgemeine Zeitung, 8. Januar 2000
los wird und dass sogar der Eigentümer         Horn, Professor Dr. Norbert: „Ein Jahrhun-
eines Bienenschwarms bei der Verfolgung        dert Bürgerliches Gesetzbuch“, NJW 2000,
fremde Grundstücke betreten darf. Auch         Heft 1, S. 40-46
lässt sich in § 921 eine Erläuterung finden,
                                               Jakobs, Horst Heinrich: „Die Beratung des
wodurch Grundstücke voneinander ge-
                                               Bürgerlichen Gesetzbuchs“, 1985, S. 499-
schieden werden.
                                               505
   Diese und andere Paragraphen, die auf-
grund ihrer Historie durchaus zweckmäßig       Köhler, Prof. Dr. Helmut: „Einführung“,
aber heutzutage antiquiert wirken, lassen      Bürgerliches Gesetzbuch, München: Beck-
den Schluss zu, dass dem BGB trotz der un-     Texte im dtv, 44. Auflage 1999, S. VII-
unterbrochenen Weiterentwicklung nicht         XXX
mehr das Etikett eines modernen Gesetzes       Roth, Herbert: „J. von Staudingers Kom-
angeheftet werden kann. Vielmehr gibt es       mentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit
sogar Stimmen, die die eine oder andere        Einführungsgesetz und Nebengesetzen.
Regelung des Zivilrechts der ehemaligen        Drittes Buch. Sachenrecht“, Berlin: Sellier-
DDR als zeitgemäßer ansehen und eine           de Gruyter, 13. Bearbeitung 1996, S. 696-
„Verjüngungskur“ des BGB wünschen.             712
                                               Ohne Verfasser: „Motive zu dem Entwur-
Quo vadis BGB?                                 fe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das
Diesem Spagat – der Weiterentwicklung          Deutsche Reich. Band III. Sachenrecht“,
der deutschen Gesellschaft zu folgen und       Amtliche Ausgabe 1888, S. 268-277
gleichzeitig europäisches Recht aufzuneh-      [1] Goethes Werke, Volksausgabe in 18
men – wird sich das BGB in den nächsten            Bänden, herausgegeben von Eduard
Jahren unterziehen müssen. Vorreiter sind          Engel; 6. Band, S. 28; Hesse und Bek-
derzeit Verordnungen und Richtlinien der           ker Verlag Leipzig
Europäischen Union, die unmittelbar gel-
ten bzw. der Umsetzung in nationales
Recht bedürfen. Wenn in einigen Jahrzehn-                                               þ
ten vielleicht ein „Europäisches Gesetz-
buch für Zivilrecht“ entstanden ist, wird

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