Europäische Diplomatie - Mythos Krise

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KAPITEL 6

                Europäische Diplomatie

                           Mythos Krise

Wie geht Europa mit den großen Kräfteverschiebungen in der Welt
um? Ist es überhaupt in der Lage, Akteur auf der internationalen
Bühne zu sein und strategische Diplomatie zu betreiben? Ist es nicht
vielmehr von Krisen geschüttelt und wenden sich die Menschen
nicht von Europa ab? Ein Gespenst geht um in Europa – das Ge-
spenst des Populismus. Auf diese an Karl Marx angelehnte Formel
wird inzwischen der Zustand Europas gebracht.
   In der Tat ist der Stimmenanteil populistischer, vor allem rechts-
populistischer Parteien in den Mitgliedsstaaten der Europäischen
Union in den letzten Jahren gestiegen. In Staaten Mittel- und Osteuro-
pas, Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn, aber auch in Ita-
lien, lag dieser Anteil zeitweise um die 50 Prozent. In Deutschland und
Frankreich kamen populistische Parteien immerhin auf über 20 Pro-
zent. Sie profitieren auch von der Schwäche der etablierten Parteien,
was sich auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai
2019 bestätigte. Eine geeinte politische Kraft in Europa aber bilden sie
nicht, zu unterschiedlich sind die jeweiligen Interessen. Bei den Wah-
len zum Europäischen Parlament im Mai 2019 blieben rechtspopulis-
tische Parteien deutlich hinter den Erwartungen zurück.
   Es ist noch nicht klar, wie tief die Wurzeln des Populismus
reichen. In Deutschland scheint er bisher auch eine Reaktion auf vo-
rübergehende Entwicklungen zu sein. Die „Alternative für Deutsch-
land“ (AfD) begann als Protest gegen die Europäische Wirtschafts-
und Währungsunion. Es war dann aber die Flüchtlingskrise, die der
AfD in Deutschland zu einem Durchbruch verhalf. Im Jahr 2015 er-
fasste das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) fast
eine Million Flüchtlinge. Das berühmte Wort der Bundeskanzlerin
Angela Merkel, „wir schaffen das“, wurde von vielen Bürgern als
Missachtung der „Ängste und Sorgen“ der Bürger gewertet. Hier-
nach wäre Populismus vor allem der Vorwurf an die Eliten, dass sie

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das Volk nicht vertreten. Populisten beanspruchen für sich, den
wahren Volkswillen, den „volonté génerale“ (Jean Jacques Rous-
seau) zu kennen1. Stellt sich aber heraus, dass sie als Regierende
langfristig gar nicht in der Lage sind, ihre Versprechen zu halten
und möglicherweise die gewonnene Macht missbrauchen, verlie-
ren sie an Legitimität. Sie treffen auf Widerstand. Dies zeigen Stu-
dien über populistische und autoritäre Regierungen wie die in der
Türkei, Russland, Brasilien oder Venezuela2. In Europa ruft die Kor-
ruption einiger Eliten und die Einschränkungen von Demokratie
und Rechtsstaat etwa in der Slowakischen Republik, Rumänien
oder Bulgarien den Protest der Bevölkerungen hervor. Was die euro-
päischen Staaten mit einer längeren demokratischen Tradition an-
geht, so gilt die Erkenntnis Niccolò Machiavellis, dass in solchen
Staaten autoritäre Regierungen einen schweren Stand haben: „Der
Herrscher über einen Stadtstaat, der an Freiheit gewöhnt ist, kann
niemals gut schlafen“3.
   Die Flüchtlingskrise verliert jedenfalls ihre Dringlichkeit. Die Eu-
ropäische Grenzschutzagentur Frontex zählte im Jahr 2018 nur noch
150 114 illegale Grenzübertritte in die EU, also nur etwa ein Sechstel
im Vergleich zum sogenannten Krisenjahr 20154. Vor allem das Ab-
kommen der EU mit der Türkei erfüllt seinen Zweck. Die in Deutsch-
land beschlossenen Höchstgrenzen werden gar nicht mehr erreicht.
Selbst die Integration der Flüchtlinge ist erfolgreicher als angenom-
men. Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge-
berverbände, Ingo Kramer, bescheinigte der Bundeskanzlerin, dass
sie mit ihrem Satz, „wir schaffen das“, Recht behalten habe. Von den
ca. 1 Million Menschen, die seit 2015 nach Deutschland gekommen
sind, hatten im Jahr 2018 400 000 einen Ausbildungs- oder Arbeits-
platz5. Der Populismus in Europa braucht zum Überleben mögli-
cherweise ein neues Thema. Er lebt von Mythen. Die „neue Völker-
wanderung nach Europa“ (Hans-Peter Schwarz) hat es nie gegeben.
Die Menschen, die vor den Kriegen in Syrien, dem Irak oder Afgha-
nistan nach Europa flohen, machen weniger als ein Prozent der fast
70 Millionen Flüchtlinge auf der Welt aus.
   Der Brexit ist eine Krise Großbritanniens und nicht Europas6. Sel-
ten in der Geschichte handelte eine große Nation mit einer vor allem
innenpolitisch, gar innerparteilich motivierten Entscheidung so
gegen ihre nationalen Interessen. Bereits vor dem Referendum im
Juni 2016 hatte der britische Schatzkanzler, die Bank von England und

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der Internationale Währungsfonds (IWF) vor einer wirtschaftlichen
Rezession im Königreich gewarnt, sollte die Mehrheit der Briten
einem Austritt aus der EU zustimmen. Diese Mehrheit war dann auch
nur sehr knapp, 51,9 Prozent zu 48,1 Prozent. Ende November 2018 be-
stätigte die britische Regierung offiziell, dass die Wirtschaftsleistung
des Landes nach dem Brexit langfristig um 100 Milliarden Pfund (ca.
114 Milliarden Euro) pro Jahr geringer ausfallen werde. Bei einem „un-
geordneten“ Brexit könne diese Summe sogar bis zu 200 Milliarden
Pfund (ca. 228 Milliarden Euro) steigen. Der Unterschied macht ca.
4 bzw. 8 Prozent des Wohlstands aus7. Der Brexit fügt Großbritannien
großen Schaden zu.
   Die Politiker, die gegen besseres Wissen für ihn warben, handel-
ten verantwortungslos. Sie missbrauchten den Brexit teilweise als
Mittel, um an die Macht zu kommen. Dies gilt vor allem für den im
Juli 2019 zum Premierminister gewählten Boris Johnson. Die briti-
sche Regierung musste aus einer Position der Schwäche heraus mit
der EU über die Bedingungen des Austritts verhandeln. Sie war der
klassische „demandeur“, der wegen der Streitereien zwischen Regie-
rung und Parlament und innerhalb der Regierung noch nicht einmal
genau wusste, was er wollte. Die EU hingegen zeigte sich geschlos-
sen und war handlungsfähig. Keiner ihrer Mitgliedsstaaten stellte
das Prinzip für die Verhandlungen in Frage, keinen Sonderstatus für
Großbritannien zuzulassen und alle vier Freiheiten des Binnen-
marktes der EU ohne Ausnahme zu erhalten (kein „cherry picking“).
Die Verhandlungen über den Brexit sind für alle Mitgliedsstaaten
der EU eine Erfahrung, die weitere Austritte sehr unwahrscheinlich
macht.
   Auch die britische Diplomatie wird durch den Brexit geschwächt.
Sie leidet unter Realitätsverlust und glaubte schließlich sogar, die EU
mit der Drohung eines ungeordneten Austritts unter Druck setzen
zu können. Während der Verhandlungen hatte die britische Regie-
rung die Illusion genährt, dass der Verlust der EU-Mitgliedschaft
durch die angeblich globale Rolle Großbritanniens („Global Britain“)
kompensiert werden kann. Das Commonwealth aber ist eine nostal-
gische Reminiszenz. Sie bietet keinen Rahmen mehr, mit dem sich
Weltpolitik machen lässt. Auch auf die Sonderbeziehung, die „spe-
cial relationship“ zu den USA kann Großbritannien nicht mehr zäh-
len. Sein militärischer Wert für die USA sinkt, seitdem sich die Kriege
in Afghanistan, Syrien und dem Irak dem Ende zuneigen. Die Inter-

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essen der USA in der EU kann Großbritannien als Nichtmitglied
nicht mehr vertreten. Schließlich scheint das von Großbritannien
gewünschte bilaterale Handelsabkommen mit den USA für Präsi-
dent Trump keine Priorität zu sein. Der Brexit beruht auf einer Täu-
schung, die der Historiker Christopher Clark so charakterisierte:
„Die vertraute Zukunft in der EU sollte zugunsten von erfundenen
Vergangenheiten eingetauscht werden“8.
   Die EU bleibt an einer Zusammenarbeit mit Großbritannien inte-
ressiert. Die europäische Sicherheitspolitik wird vor allem von den
britischen militärischen Fähigkeiten profitieren, einschließlich der
nuklearen. Großbritannien behält seinen strategischen Wert als Mit-
glied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, als Partner der Eu-
ropäer bei den Verhandlungen mit dem Iran oder im Nahen Osten
überhaupt, beim Kampf gegen den Terrorismus. Großbritannien
aber wird seinen bisherigen Einfluss auf die Gemeinsame Außen-
und Sicherheitspolitik der EU verlieren. Es wird sich als Drittstaat an
der europäischen Diplomatie beteiligen, diese aber nicht im frühe-
ren Maße gestalten können. Dies ist eine strategisch schwächere Po-
sition als vor dem Brexit, ein Schaden für die nationalen Interessen.
   Die europäische Diplomatie kann aus dem Brexit die Lehre
ziehen, dass die Mitgliedschaft eines Staates, der das Ziel einer
„immer engeren Union“ nie teilte, den Handlungsspielraum der EU
beschränken kann. Dies war eigentlich schon klar, als Winston Chur-
chill 1946 die „Vereinigten Staaten von Europa“ forderte, aber nie
daran dachte, dass Großbritannien ein Teil davon sein werde. Das
Vereinigte Königreich ist im Vergleich mit den anderen alten euro-
päischen Nationen der damaligen Europäischen Wirtschaftsge-
meinschaft (EWG) erst sehr spät, sechzehn Jahre nach Gründung
der EWG beigetreten. Es tat dies aus rein wirtschaftlichen Gründen,
der Handel brauchte einen Aufschwung. Der EWG ging es wirt-
schaftlich gut. Großbritannien interessierte sich aber nie für das eu-
ropäische Projekt als solches, bzw. lehnte es grundsätzlich ab. Als die
EU auch politisch immer mehr zusammenrückte, waren ihre Gegner
in Großbritannien alarmiert. Der Vertrag von Maastricht von 1992
wurde nur mit Mühe ratifiziert. Von da an wuchs in Großbritannien
der Widerstand gegen die EU. Ihre Gegner und Befürworter lieferten
sich einen teilweise hässlich ausgetragenen Kulturkampf um die bri-
tische Identität. Die Unabhängigkeitspartei Ukip wurde gegründet.
Sie warb äußerst erfolgreich für den Austritt aus der EU. Der Brexit

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sollte die Souveränität von der EU nach Großbritannien rücküber-
tragen. Der Kern der EU, die vier Grundfreiheiten von Personen,
Waren, Dienstleistungen und Kapital, wurde in Frage gestellt. Es war
klar, dass die EU diesen Kern schützen muss.
    Schließlich ist die angebliche Krise des Euro ein Mythos. Der Euro
ist heute stärker als bei seiner Einführung 2002, er erholte sich weit-
gehend von der Finanzkrise 2008. Diese hätte die EU mit 28 einzel-
nen Währungen wohl kaum überstanden. Das Wachstum in der Eu-
rozone hält an, vor allem in den Staaten, denen der Europäische
Stabilitätsmechanismus (ESM) geholfen und Reformen verordnet
hatte. Selbst Griechenland, das wegen seiner hohen Verschuldung
als einziges Land der Eurozone zeitweilig vor dem Austritt stand,
kann sich wieder auf den internationalen Finanzmärkten mit Geld
versorgen. Die Krise Griechenlands zeigte aber auch, dass nicht der
Euro, sondern die Wettbewerbsfähigkeit, letztlich die innere Ord-
nung der Staaten das Problem ist. Ministerpräsident Alexis Tsipras
legte dies anlässlich der Beendigung des dritten Hilfsprogramms für
sein Land im Sommer 2018 ungewöhnlich offen dar. Er verurteilte „
die Steuerimmunität des großen Reichtums, den verbreiteten Filz
und die Korruption, die Zügellosigkeit einer Reihe von Unterneh-
men und Verlagsgruppen, die jahrelang glaubten, das Land gehöre
ihnen, den Zynismus und die Verachtung einer politischen Elite, die
glaubte, Griechenland sei ihr Lehen und die Griechen ihre getreuen
Untertanen“9. An diesen Zuständen änderte der sozialistische Regie-
rungschef in seiner Amtszeit allerdings kaum etwas.
    Der Euro ist heute die gemeinsame Währung für 340 Millionen
Europäer, drei Viertel aller Europäer hielten ihn im Jahr 2018 für eine
„gute Sache“10. Schließlich ist der Euro die zweite Währung der Welt,
bei Krediten, als Reservewährung. Im internationalen Zahlungsver-
kehr holt der Euro gegenüber dem US Dollar auf. Die Bewältigung
der Eurokrise in der Folge der internationalen Finanzkrise 2008 war
ein weiterer Beweis dafür, dass die EU handlungsfähig ist. Europäi-
scher Stabilitätsmechanismus und die Bankenunion waren ihre Ins-
trumente. Sie werden durch Reformen der Eurozone gestärkt, um
neuen Herausforderungen zu begegnen. Die Aufsicht der Europäi-
schen Zentralbank (EZB) über die großen Banken machen eine wei-
tere Finanzkrise weniger wahrscheinlich. Der gemeinsame Fonds
zur Abwicklung großer zahlungsunfähiger Banken wird von Beiträ-
gen der Banken, nicht von Steuergeldern gefüllt. Dies wiederum

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stärkt die Legitimität der Eurozone. Die EU zieht ihre Lehren. Sie
vertieft die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, um sie
„resilienter“ zu machen. Hierzu gehört auch, dass die Mitgliedsstaa-
ten Risiken teilen, um sie zu mindern. Die Stärkung der Eurozone ist
auch die Voraussetzung dafür, dass der Euro eine globale Rolle spie-
len kann. Diese Forderung erhob der damalige Präsident der Euro-
päischen Kommission, Jean-Claude Juncker, in seinem Bericht zur
Lage der Union 2018: „Der Euro muss das Gesicht und das Instru-
ment eines neuen, souveränen Europas werden“11. Der Euro wird
hiermit das Mittel einer strategischen Diplomatie der EU.
   Schließlich sind die Bürger Europas selbst gar nicht der Meinung,
dass Europa in der Krise ist. Zwei Drittel von ihnen waren im Jahr
2018 davon überzeugt12, dass die Mitgliedschaft in der EU „eine gute
Sache“ ist und dass ihr Land davon profitiert. Dies ist der höchste
Wert seit 1983. Doppelt so viel Europäer haben ein positives, nicht
negatives Bild der EU. Die Mehrheit von ihnen will für die großen
Herausforderungen der Zeit wie den Terrorismus, die Arbeitslosig-
keit oder den Klimawandel europäische, nicht nationale Lösungen.
Sie erwartet, dass die EU in der Außenpolitik gemeinsam handelt
und ihre Interessen gegenüber den USA, China oder Russland be-
hauptet. Hierbei können nach Auffassung von inzwischen 45 Pro-
zent der Europäer einige Mitgliedsstaaten der EU schneller voran-
gehen, ohne auf andere zu warten. Von einer „Europadämmerung“,
die der vielbeachtete bulgarische Intellektuelle Ivan Krastev13 be-
schwört, kann keine Rede sein. Die Krise Europas ist ein Mythos.

               Die Handlungsfähigkeit Europas

In einer historischen Perspektive ließe sich die europäische Integra-
tion als eine Abfolge von Herausforderungen darstellen, auf die die
Regierungen und Institutionen der Europäischen Gemeinschaft
bzw. der EU jeweils Antworten gefunden haben. Der britische Histo-
riker Arnold Toynbee sieht im Wechsel von Herausforderung und
Antwort („challenge and response“14) ein Bewegungsgesetz der
Geschichte. Die Gründung europäischer Institutionen, wie die des
Europarats 1949 oder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG) 1957, waren Antworten auf die vergangenen Kriege und die

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Notwendigkeit, Europa wiederaufzubauen. Der 1954 unterzeichnete
Vertrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) wurde
aus der Erfahrung des Korea-Kriegs (1950-53) geboren und sollte
der Beitrag der Europäer zur Eindämmung der Sowjetunion sein. Er
scheiterte in der Französischen Nationalversammlung. Der soge-
nannte „Luxemburger Kompromiss“ von 1966 ermöglichte die Rück-
kehr Frankreichs in die EWG, nachdem der französische Staatspräsi-
dent, Charles de Gaulle, eine „Politik des leeren Stuhls“ betrieben
hatte. Das Europäische Währungssystem (EWS) von 1979, Vorläufer
des Euro, war ein Instrument, um mit den vom US Dollar ausgelös-
ten Kursschwankungen der europäischen Währungen umzugehen.
Die Einheitliche Europäische Akte von 1987 und der Vertrag von
Maastricht von 1992 waren Versuche, die Handlungsfähigkeit Euro-
pas zu stärken.
   Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion gibt die Ant-
wort auf gleich mehrere strategische Fragen: Aus französischer Sicht
band sie die starke Deutsche Mark ein. Sie war ein deutscher Beitrag
zur Stärkung der Europäischen Union nach der deutschen Vereini-
gung. Der Euro macht die EU zu einem globalen Akteur im inter­
nationalen Finanzsystem. Es hatte sich in der EU die Einsicht durch-
gesetzt, dass die nationalen Währungen in der Welt allein nicht
bestehen können. Ein weiteres Beispiel sind die verschiedenen Er-
weiterungen der EU nach Osten. Sie waren eine Folge des Endes des
Kalten Kriegs nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und des „eiser-
nen Vorhangs“. Der Beitritt dieser Staaten dehnte den Geltungsbe-
reich der europäischen Regeln in den früheren Machtbereich der
Sowjetunion aus. Der Vertrag von Lissabon von 2009 schließlich
stellte den Versuch dar, das außenpolitische Gewicht der EU zu stär-
ken und sie zu einem Akteur der internationalen Politik zu machen.
   Keiner beschreibt das Bewegungsgesetz der europäischen Integra-
tion besser als der damalige französische Außenminister Robert
Schuman in seiner Erklärung vom 9. Mai 1950: „Europa lässt sich
nicht mit einem Schlag herstellen, auch nicht durch eine Gesamt-
konstruktion (construction d’ensemble). Es wird durch konkrete Er-
gebnisse entstehen, die eine de facto Solidarität (solidarité de fait)
schaffen“15. Die europäische Integration ist ein Lernprozess. Er ist al-
lerdings schwer zu durchschauen: „Wir beschließen etwas, stellen
das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn
es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die

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meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann ma-
chen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt“16.
Der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude
Juncker, der dies einmal in kleiner Runde sagte, mag übertrieben und
den Machtanspruch der Kommission enthüllt haben. Er weist aber
auf die Eigendynamik hin, die die Europäische Integration besitzt.
   Wenn die EU ein Prozess ist, lässt sich die Richtung vorgeben,
nicht aber das Ziel. Die Richtung des Prozesses wird im Vertrag von
Lissabon als die „immer engere Union“ (ever closer union) beschrie-
ben. Dieser Begriff rief viele Missverständnisse hervor. Er lässt offen,
welche Gestalt diese Union annehmen soll. Die EU legte sich weder
auf die „Vereinigten Staaten von Europa“, noch auf das „Europa der
Vaterländer“ fest. Diese Alternative ist genauso falsch wie die zwi-
schen einem entweder gemeinschaftlichen oder intergouvernemen-
talen Europa. Die Warnungen vor einem „Europa, das es nicht gibt“17
laufen ins Leere.
   Die Geschichte der europäischen Integration18 zeigt, dass es vor
allem auf die Handlungsfähigkeit Europas ankommt. Hierin liegt
heute die Legitimität der EU. Handlungsfähigkeit gibt es immer
mehr nur europäisch, immer weniger national. Dies ist der Inhalt
des Begriffs der „europäischen Souveränität“, den Emmanuel Mac-
ron prägte („souveraineté européenne“). Er erinnert nicht von unge-
fähr an die Theorie Jean-Jacques Rousseaus, dass der Souverän durch
einen Gesellschaftsvertrag entsteht, durch den jeder einzelne seine
„natürliche Freiheit“ gegen eine durch Sicherheit und Teilhabe ge-
prägte „staatsbürgerliche Freiheit“ eintauscht. Das Individuum als
Vertragspartner würde im Rahmen einer europäischen Konzeption
von Souveränität durch die Nation ersetzt. Die Nation würde ihre
Souveränität an Europa abgeben und dadurch die „europäische Sou-
veränität“ gewinnen. Diese ist in jedem Fall von Vorteil, weil die na-
tionale Souveränität heute eine Illusion ist. Weil dem so ist, gibt es
auch keinen Gegensatz von nationalem Interesse und europäischer
Integration19.
   Handlungsfähig war die EU immer dann, wenn die Kommission
und die Regierungen von Mitgliedsstaaten zusammengewirkt haben.
Der Euro wurde vor allem von Bundeskanzler Helmut Kohl, Präsi-
dent Francois Mitterrand und dem damaligen Präsidenten der Euro-
päischen Kommission, Jacques Delors, auf den Weg gebracht. Auch
bei der europäischen Finanzkrise stimmten die deutsche und franzö-

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sische Regierung sich eng mit der Kommission ab. Inzwischen aber
sind es immer mehr die Regierungen im Europäischen Rat, die das
Schicksal der EU bestimmen. Sie wirkten bei der Lösung der Euro-
krise zusammen und ließen sich dabei von der deutschen und fran-
zösischen Regierung führen. Diese Entwicklung ist aber eben keine
Renationalisierung der europäischen Politik, sondern eher eine Eu-
ropäisierung der nationalen Politik20. Mit der Stärkung des Europäi-
schen Rates aber kommt die Verteilung der Macht in der EU ins Spiel.
Sie ist eine klassische Frage der Diplomatie. In der EU stellt sie sich in
anderer Weise als in der internationalen Politik.
   Der Fortschritt der europäischen Integration hängt nicht so sehr
davon ab, dass unter Beteiligung von möglichst vielen Mitgliedsstaa-
ten mühsam Kompromisse erreicht werden, sondern davon, dass
große und einflussreiche Mitgliedsstaaten in Führung gehen21. Die
neuen Regeln der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit verla-
gern den Schwerpunkt auf die größeren Mitgliedsstaaten. Deutsch-
land, Frankreich, Großbritannien und Italien, am besten noch mit
Unterstützung von Spanien und Polen, wären zusammen grundsätz-
lich in der Lage, einen Konsens zustande bringen, um Europa voran-
zubringen. Hierfür müssen aber einige dieser großen Staaten bereit
sein, Koalitionen zu bilden. Dies waren in der Vergangenheit vor
allem Deutschland und Frankreich. Großbritannien hingegen nutzte
sein Gewicht wiederholt dazu, Fortschritte der Integration zu ver-
hindern. Insofern wird es nach dem Brexit leichter sein, Koalitionen
zu bilden. Italien mit einer populistischen Regierung musste erfah-
ren, dass sein Gewicht als Gründernation der EU geschwächt wird,
wenn es sich gegen die EU stellt. Polen steht oft abseits der Verhand-
lungen. Es setzt deshalb sein Gewicht kaum in Einfluss um. Bei den
mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU insgesamt
zeigt sich immer mehr, dass sie von anderen politischen Erfahrun-
gen bestimmt werden als die westeuropäischen. Sie bewältigen auf
unterschiedliche Art das Erbe des Kommunismus und gehen ihre
eigenen Wege. Polen und Ungarn zeigen sich von den Rechtsstaats-
verfahren der EU wenig beeindruckt. Andererseits ist dieses Instru-
ment der EU ein Mittel, um die eigenen Prinzipien zur Geltung zu
bringen. Hierauf beruht ja schließlich die Glaubwürdigkeit der EU,
die wiederum Grundlage ihrer Handlungsfähigkeit ist.
   Es gilt inzwischen nicht mehr als Tabu, dass einige Mitglieds-
staaten in bestimmten Fragen vorangehen, auch wenn andere nicht

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folgen. Selbst Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicher-
heitspolitik sind nicht mehr ausgeschlossen. Der ehemalige Präsi-
dent der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, und seine
Nachfolgerin, Ursula von der Leyen, fordern sie nachdrücklich. Hier-
bei gab es schon vor einiger Zeit einen Paradigmenwechsel, für den
die Gedanken der deutschen Politiker Wolfgang Schäuble und Karl
Lamers von 199422 vielleicht so richtungsweisend waren wie die Er-
klärung von Robert Schuman. Um die Handlungsfähigkeit der
EU zu stärken gingen Lamers und Schäuble über die damals schon
gängigen Formeln einer „variablen Geometrie“ oder „mehrerer Ge-
schwindigkeiten“ der EU hinaus. Sie forderten einen „festen Kern“
von fünf bis sechs „integrationsorientierten“ Mitgliedsstaaten, die
Fortschritte der europäischen Integration in Gang setzen sollten. Von
diesem Vorschlag bis zur Überlegung von Bundeskanzlerin Angela
Merkel und Präsident Emmanuel Macron, einen Europäischen Si-
cherheitsrat nach Vorbild des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
einzurichten, führt eine gerade Linie. Schäuble und Lamers wollten
einen offenen Kern. Sie dachten aber wohl in erster Linie an die
Gründungsmitglieder der EU. Den „Kern des festen Kerns“ aber soll-
ten Deutschland und Frankreich bilden. Sie seien der Motor der eu-
ropäischen Integration. Überzeugend ist die Begründung: Die Rolle
des Motors liege im nationalen Interesse beider Staaten. Deutsch-
land wolle den Fortschritt der europäischen Integration, weil diese
die „Mittellage“ des Landes in Europa für die anderen Mitgliedsstaa-
ten der EU erträglich mache. Für Frankreich sei die europäische Inte-
gration auch ein Mittel, eine Hegemonie Deutschlands zu verhin-
dern.
   Die Frage politischer Führung stellt sich vor allem für die europä-
ische Diplomatie. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler
schlug vor, dass Deutschland als „Macht in der Mitte“23 Europas eine
solche Führung übernimmt. Ihr obliege es, Europa zusammenzuhal-
ten. Deutschland sei nach den verschiedenen Erweiterungen der EU
nicht nur geographisch im Zentrum Europas. Es nehme auch eine
politische Position ein, in der sich der in der Eurokrise gezeigte Ein-
fluss mit dem Bewusstsein verbinde, Verantwortung auch in der
Außen- und Sicherheitspolitik zu übernehmen. Die USA, die ihre
Aufmerksamkeit von Europa nach Asien verlagern, sehen Deutsch-
land inzwischen als regionale Ordnungsmacht, die die europäische
Diplomatie vor allem gegenüber Russland bestimmt.

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6. Europäische Diplomatie                             179
   Auf den ersten Blick ist die These Münklers einleuchtend.
Deutschland ist das Land, das von der europäischen Integration
wirtschaftlich und politisch am meisten profitiert. Nationales und
europäisches Interesse fallen zusammen. Deshalb kann Deutsch-
land Vertrauen erwarten, wenn es politische Führung ausübt. Die
Eurokrise zeigte aber auch, dass Deutschland ein „verwundbarer He-
gemon“ (Münkler) ist, dessen Vergangenheit immer noch Gegen-
kräfte auf den Plan ruft. Deutschland ist sich dessen bewusst, was
wiederum seine Führungsrolle annehmbar macht. Europa ist von
einer „Rückkehr der deutschen Frage“ (Dominik Geppert) weit ent-
fernt. Inzwischen wird Deutschland von seinen Nachbarn eher für
seine Zurückhaltung kritisiert und an seine Verantwortung erinnert.
Ausgerechnet der damalige polnische Außenminister Radoslaw Si-
korski ermahnte im Jahr 2011 die Bundesregierung: „Deutsche Macht
fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“24.
   Deutschland aber kann und sollte diese Rolle nicht allein über-
nehmen. Die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass ihr
Motor immer wieder Deutschland und Frankreich zusammen
waren. Nur beide Staaten zusammen konnten die Unterstützung an-
derer Mitglieder für die Ziele Europas gewinnen. Deutschland und
Frankreich waren nicht deshalb der Motor der europäischen Integ-
ration, weil sie gleiche Interessen vertreten, sondern im Gegenteil:
Ihre unterschiedlichen Interessen sorgten dafür, dass die Vielfalt der
Interessen der anderen Mitgliedsstaaten der EU berücksichtigt
wurde. Heute sind sich beide Staaten darin einig, dass die EU ihre
Handlungsfähigkeit auch in der Außen- und Sicherheitspolitik stär-
ken, „weltpolitikfähig“ werden muss, wie der ehemalige Präsident
der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker dies forderte.
Deutschland und Frankreich sind bereit, hierbei schneller als an-
dere Mitgliedsstaaten voranzugehen. Der französische Präsident
Emmanuel Macron sprach dies in seiner programmatischen Rede in
der Sorbonne im September 2017 klar aus: „Gehen wir also in Rich-
tung dieser Differenzierung, dieser Avantgarde, dieses europäischen
Kerns“25.
   Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Deutschland und Frank-
reich heute wieder Fortschritte der europäischen Integration gerade
in einem Bereich suchen, der als Kern nationaler Interessen angese-
hen wird, der Außen- und Sicherheitspolitik. Dabei stand die Idee,
Europa über die Fragen Sicherheit und Verteidigung zu einen, am

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180                  6. Europäische Diplomatie

Anfang der europäischen Integration. Der Plan des französischen
Premierministers, René Pleven, für eine Europäische Verteidigungs-
gemeinschaft (EVG) wurde 1952 in die Nationalversammlung ein-
gebracht. Er war am Schuman-Plan orientiert. Damals ist das Vor-
haben an der Frage der deutschen Beteiligung an der künftigen Eu-
ropäischen Armee und der damit verbundenen Wiederbewaffnung
Deutschlands gescheitert. Heute knüpfen beide Staaten an die
­Tradition der EVG wieder an. War der Élysee-Vertrag von 1963 noch
 der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich gewidmet,
 stellte 56 Jahre später sein Nachfolger, der „Aachener Vertrag“ vom
 Januar 2019, die Handlungsfähigkeit Europas durch eine „starke Ge-
 meinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (Art. 1) an die erste
 Stelle26. Europa soll „eigenständig handeln“ können (Art. 3). Der be-
 reits 1988 gegründete Deutsch-Französische Verteidigungs- und Si-
 cherheitsrat soll diese Entwicklung steuern und tritt auf Ebene der
 Regierungschefs zusammen.
     Sicherheit ist die neue raison d’être der europäischen Integra-
 tion. Präsident Emmanuel Macron fordert ein „Europa, das schützt“
 (l’Europe qui protège). Die französische Regierung rief nach den
 terroristischen Anschlägen in Paris im November 2015 zum ersten
 Mal den Verteidigungsfall aus, gemäß dem Vertrag von Lissabon
 (Artikel 42.7). Sicherheit ist inzwischen auch das wichtigste Anlie-
 gen der Bevölkerungen in Europa27. Dabei allerdings verschoben
 sich die Dringlichkeiten. Terrorismus und Flüchtlingskrise rangie-
 ren in der Skala weiter hinten. In den Vordergrund rücken Cyber-
 Attacken als Bedrohung, gefolgt von Bürgerkriegen in der europäi-
 schen Nachbarschaft und der Auflösung der internationalen
 Ordnung. Letztere ist als wahrgenommene Bedrohung neu und
 kann nicht anders als mit der Politik des amerikanischen Präsiden-
 ten erklärt werden. Deutschland und Frankreich können sich als
 Motor der europäischen Integration auch in der Sicherheitspolitik
 bestätigt fühlen. Die Bevölkerung Europas sieht beide Staaten als
 Schlüsselpartner für die Sicherheit.
     Es ist die Sicherheitspolitik, in der europäische Integration an
 Tempo gewinnt28. „Wir sind in den letzten zwei Jahren schneller vo-
 rangekommen als in den sechzig Jahren davor“, schrieb die Europäi-
 sche Kommission im Juni 2017 in einem Dokument über die Zukunft
 der europäischen Verteidigung29. Bereits im August 2016 hatten
 die Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Frank-Walter

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6. Europäische Diplomatie                             181
Steinmeier und Jean-Marc Ayrault, vorgeschlagen, das im Vertrag
von Lissabon angelegte Instrument der „Ständigen Strukturierten
Zusammenarbeit“ (PESCO) für die gemeinsame Sicherheits- und
Verteidigungspolitik zu nutzen. Artikel 42 und 46 des Vertrages
bedeuten nichts weniger, als dass Mitgliedsstaaten der EU mit
„anspruchsvolleren“ militärischen Fähigkeiten, die zu militärischen
„Missionen mit höchsten Anforderungen“ bereit sind, untereinan-
der „weitergehende Verpflichtungen“ eingehen, als dies zu 28 mög-
lich wäre30. Nur diese Staaten entscheiden über diese Einsätze, auch
wenn sie im Rahmen der EU stattfinden. PESCO ermöglicht also
eine Koalition der Willigen, die die EU auch militärisch handlungs-
fähig machen kann. Der deutsch-französischen Initiative schlossen
sich im Dezember 2017 25 Mitgliedsstaaten der EU an.
   Deutschland und Frankreich bewiesen sich deshalb als Motor der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, weil sie in der Lage
waren, untereinander Kompromisse einzugehen. Deutschland wollte
vor allem eine inclusive PESCO, bei der möglichst viele Mitglieds-
staaten der EU beteiligt sind. Frankreich setzte auf strenge Kriterien
der Beteiligung, also auf die militärische Handlungsfähigkeit. Dies
zeigt sich vor allem in der Europäischen Interventionsinitiative (EII)
Präsident Macrons. Sie soll sich zu einer europäischen Eingreiftruppe
entwickeln mit eigenem Budget und eigener militärischer Doktrin.
Damit ginge sie über den Rahmen der EU hinaus. Deshalb stimmte
Deutschland erst nach einigem Zögern zu.
   Inzwischen aber machte sich die Bundeskanzlerin vor dem Euro-
päischen Parlament sogar den Begriff der „Europäischen Armee“ zu
eigen. Emmanuel Macron begrenzt die Handlungsfähigkeit einer
Europäischen Armee nicht nur auf zivile und militärische Missio-
nen, wie die EU sie bereits durchführt. Er gibt der EU in der Zukunft
sogar eine Rolle in der kollektiven Verteidigung: „Gegenüber Russ-
land, das an unseren Grenzen steht und gezeigt hat, dass es bedroh-
lich sein kann, brauchen wir ein Europa, das sich allein und souve-
rän verteidigt, ohne nur von den USA abhängig zu sein“31. Hiermit
bricht Macron ein Tabu, zumindest den bisherigen Konsens der EU,
dass die kollektive Verteidigung ausschließlich Aufgabe der NATO
sei. Dieser Konsens wird bisher auch von Deutschland mitgetragen.
Die aufgeregte öffentliche Diskussion über die Zukunft der NATO
lässt übersehen, dass Deutschland und Frankreich eine politische
Reform der Organisation befürworten.

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182                   6. Europäische Diplomatie

   Die deutsch-französischen Initiativen wirken wie eine Antwort
auf die dreifache Herausforderung, der sich die EU gegenübersieht:
Die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine dauern an. Die Politik
des „America First“ zwingt Europa zu selbständigem Handeln. Der
Brexit stellt die Frage nach der Zukunft der europäischen Diploma-
tie. PESCO wurde drei Tage nach dem Referendum über den Brexit
angekündigt. Der Austritt Großbritanniens aus der EU wird einer-
seits als Verlust für die europäische Diplomatie beklagt. Neben
Frankreich besitzt Großbritannien die stärksten militärischen Fähig-
keiten in der EU, einschließlich von Nuklearwaffen. Es stellte sie aber
andererseits bisher kaum in den Dienst der EU. Was die Beiträge zu
militärischen Missionen der EU angeht, so steht Großbritannien an
fünfter, bei den Beiträgen zu zivilen Missionen der EU an siebter
Stelle. Schwerer wiegt, dass Großbritannien in der Vergangenheit
wichtige Initiativen zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU blo-
ckierte. Dies gilt für die Finanzierung der Europäischen Verteidi-
gungsagentur und vor allem für das Europäische Hauptquartier zur
Planung und Führung militärischer und ziviler Missionen der EU.
Letzteres konnte erst im Zuge der Verhandlungen über den Brexit auf
den Weg gebracht werden und durfte wegen des britischen Ein-
spruchs auch nicht Hauptquartier, sondern nur „Militärische Pla-
nungs- und Führungsfähigkeit“ (MPCC) heißen. Der Brexit kann also
auch eine Chance für die europäische Integration in der Außen- und
Sicherheitspolitik unter deutsch-französischer Führung sein.
   Ein Schwerpunkt der deutsch-französischen Zusammenarbeit
wird die europäische Diplomatie gegenüber Russland sein. Beide
Staaten üben gemeinsam im sogenannten „Normandie-Format“
die politische Führung bei den Verhandlungen mit Russland und
der Ukraine über den Krieg im Donbass aus. Die USA überlassen
damit eine zentrale Frage der europäischen Sicherheit der EU, ver-
treten durch Deutschland und Frankreich. Innerhalb dieses For-
mats geht die Initiative von Deutschland aus. Es tritt jedoch mit
Frankreich immer gemeinsam auf, um jeden Verdacht eines deut-
schen Sonderwegs gegenüber Russland zu vermeiden. Deutsch-
land und Frankreich teilen dabei die Doppelstrategie, die seit dem
Harmel-Konzept der NATO von 1967 gilt. Der Wortlaut dieses Kon-
zepts wirkt bis heute aktuell: Gegenüber Russland müsse die NATO
einerseits „ausreichende militärische Stärke“ zeigen, um „abschre-
ckend zu wirken“. Andererseits brauche sie „Fortschritte in Rich-

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6. Europäische Diplomatie                              183
tung auf dauerhafte Beziehungen, mit deren Hilfe die grundlegen-
den politischen Fragen gelöst werden können“. Deutschland und
Frankreich sorgen gemeinsam dafür, dass die wichtigste Botschaft
des Harmel-Konzepts nicht in Vergessenheit gerät: „Militärische
Sicherheit und eine Politik der Entspannung stellen keinen Wider-
spruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung dar“ 32. Deutschland
ist inzwischen eine Rahmennation bei der NATO-Präsenz in Mit-
tel- und Osteuropa. Ihm ist auch zu verdanken, dass die EU ge-
schlossen hinter den Sanktionen gegen Russland steht. Beides nä-
herte Deutschland und Frankreich in der Russlandpolitik einander
an. Die Aufregung darüber, dass Präsident Macron einen Dialog
mit Russland fordert, ist kaum zu verstehen.
    Übernimmt Frankreich jetzt die Führung in der Ostpolitik, als
deren „Erfinder“ Deutschland gilt? Die Einladung Präsident Putins in
die Sommerresidenz Präsident Macrons einige Tage vor dem
G7-Gipfel in Biarritz im August 2019 wurde jedenfalls als eine histori-
sche Wende der französischen Russlandpolitik aufgefasst. Schließ-
lich war Russland nach der Annexion der Krim aus diesem Kreis der
Industriestaaten ausgeschlossen worden. Die Rede, die Macron kurz
nach dem Treffen im Fort Brégancon vor seinen Botschafterinnen
und Botschaftern hielt, lassen keinen Zweifel daran, dass es sich um
eine strategische Entscheidung handelt: Macron ruft dazu auf, „die
Beziehungen mit Russland sehr grundlegend, sehr grundlegend (!)
neu zu denken“33. Seine Begründung enthüllt einen Ansatz der Diplo-
matie, der aus deutscher Sicht typisch französisch ist, sich jedenfalls
von der deutschen Diplomatie deutlich unterscheidet. Frankreich
übernimmt bewusst in der europäischen Diplomatie die Führung in
einer Frage, deren Bedeutung über Europa hinausgeht. Dies ist schon
ein Ziel für sich. Der Präsident stellt sich selbst in die Tradition gaul-
listischer Außenpolitik: Das „Europa von Lissabon bis Wladiwostok“,
das er beschwört, ähnelt der Formel de Gaulles vom „Europa vom At-
lantik bis zum Ural“ geht aber darüber hinaus. Präsident Putin nahm
dies dankbar auf. Zweitens aber nennt Macron in aller Klarheit die
Interessen, die nicht nur Frankreich, sondern Europa gemeinsam mit
Russland verfolgen kann, vor allem eine eigenständige Politik gegen-
über dem Iran, Einfluss bei einer Friedenslösung in Syrien, und
schließlich die Lösung des Konflikts in der Ukraine. Von globaler
strategischer Bedeutung aber ist sein Argument, dass Russland nicht
in die Arme Chinas getrieben werden dürfe.

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184                   6. Europäische Diplomatie

   Der französische Präsident sucht die Annäherung an Russland, um
die Handlungsfähigkeit Europas in der Diplomatie zu stärken. Hierfür
kehrt er allerdings zu einer Strategie zurück, die durch das neue Selbst-
verständnis Russlands als eigenständige Großmacht obsolet scheint,
der Strategie eines europäischen Systems der Sicherheit, zu dem Russ-
land gehöre: „Wir sind in Europa und Russland auch“34. Diese Formel
wiederum erinnert an das Diktum des Architekten der deutschen Ost-
politik, Egon Bahr, nämlich dass Russland „unverrückbar“ sei. Es trifft
bei Russland inzwischen einen Nerv, wenn es nur als „europäische
Macht“ bezeichnet wird. Für Macron ist dies aber nicht nur eine Tatsa-
che, er betreibt in dieser Hinsicht eine Diplomatie der Verführung:
„Wir müssen Russland an Europa andocken, denn aufgrund seiner Ge-
schichte und seiner Geografie ist es eine europäische Macht. Je mehr
wir dies betonen, umso mehr wird es europäisch sein“35.
   Es ist nicht auszuschließen, dass das französische Signal die russi-
sche Verhärtung lockerte in einer Frage, in der sich vor allem Frank-
reich und Deutschland engagieren, dem Verhältnis zwischen Russ-
land und der Ukraine. Knapp drei Wochen, nachdem Präsident Putin
Macron gegenüber einen „Anlass zur Hoffnung“ für dieses Verhältnis
sah, kam es zu einem umfangreichen Austausch von Gefangenen zwi-
schen beiden Seiten, auch der im Jahr zuvor in der Straße von Kertsch
festgenommenen ukrainischen Seeleute. Putin hatte den Austausch
dann als einen „guten Schritt in Richtung einer Normalisierung“ ange-
kündigt. Präsident Selenskyj wiederum versteht offensichtlich besser
als sein Vorgänger, dass mit einem Krieg in der östlichen Ukraine und
einem feindlich gesinnten Russland die Ukraine keinen Erfolg haben
kann. So stellte er den Austausch als Werk beider Präsidenten dar und
verzichtete auf jede Rhetorik von Sieg und Niederlage. Nicht nur Prä-
sident Putin, sondern auch die Ukrainer, die Selenskyj bei Parlaments-
und Präsidentschaftswahlen mit einer großen Mehrheit ihre Zustim-
mung gaben, scheinen dieses Signal zu verstehen36.
   Schließlich gelang es Deutschland und Frankreich sogar, den tra-
ditionellen Konflikt ihrer Interessen über die russischen Gaslieferun-
gen nach Europa zu überwinden. Der Kompromiss im Streit über das
deutsch-russische North-Stream 2 Projekt ist ihnen zu verdanken.
Die Interessen waren deshalb unterschiedlich, weil Deutschland
nach dem Verzicht auf Atomenergie und Kohleförderung für seine
Energieversorgung auch auf Russland angewiesen ist, während
Frankreich mit seinen Atomkraftwerken weitgehend autark ist. Der

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6. Europäische Diplomatie                             185
Kompromiss stärkt nicht nur die EU und ihre Regeln für den Energie-
markt. Frankreich machte sich zum Anwalt der baltischen Staaten
und Polens, die den russischen Einfluss in Europa am meisten fürch-
ten. „Ich lehne jede Blockbildung in Europa ab“, sagte Präsident Ma-
cron im April 201837. Diese Rolle kam früher eher Deutschland zu.
Die Voraussetzungen für eine komplementäre deutsch-französische
Führung bei einer neuen europäischen Ostpolitik sind gut.
   Im Nahen Osten spielen Deutschland und Frankreich unter-
schiedliche Rollen, verfolgen aber weitgehend übereinstimmende
Interessen. Frankreich war im Nahen Osten lange vor Deutschland
präsent. Nach dem Ende des Osmanischen Reiches war es Schutz-
macht in Syrien und dem Libanon. Im Libanon behält Frankreich
bis heute Einfluss, wird aber dort durch Syrien und über die Hisbol-
lah durch den Iran herausgefordert. Den Krieg in Syrien wollte
Frankreich als Gelegenheit zum Sturz Präsident Assads nutzen.
Auch Deutschland konnte sich zuerst eine Zukunft Syriens mit
Assad nicht vorstellen. Es war aber nicht bereit, sich an Einsätzen
der Luftstreitkräfte gegen die syrische Regierung zu beteiligen, die
Frankreich zusammen mit den USA und Großbritannien führen
wollte. Bundeskanzlerin Merkel hatte dabei wohl auch das Schicksal
Libyens vor Augen, das nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi
im Chaos versunken war. In den aktuellen Verhandlungen über Sy-
rien müssen Deutschland und Frankreich anerkennen, dass Präsi-
dent Assad Verhandlungspartner ist.
   Ein weiteres gemeinsames deutsch-französisches Interesse ist die
Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. Frankreich war durch
die Anschläge im eigenen Land nach 2015 erschüttert worden.
Deutschland hatte im gleichen Jahr den Höhepunkt der Flüchtlings-
krise erlebt, die vor allem durch den Krieg in Syrien ausgelöst worden
war. Im Kampf gegen den IS ist Frankreich mit 1200 Soldaten an der
von den USA geführten Koalition beteiligt, ca. 200 Spezialkräfte waren
in Syrien im Einsatz. Deutschland unterstützte an der Seite Frank-
reichs mit Aufklärungs- und Tankflugzeugen die Koalition, rüstet und
bildet die kurdischen Streitkräfte im Irak aus38. Die Peschmerga setz-
ten dem IS wohl den stärksten Widerstand entgegen. Auch nach sei-
ner militärischen Niederlage in Syrien ist der IS aber zu terroristi-
schen Anschlägen in der Lage. Er verfügte nach Angaben der
amerikanischen Regierung Anfang 2019 noch über eine Kriegskasse
von fast einer halben Milliarde US-Dollar und ca. 18 000 Kämpfer39.

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186                  6. Europäische Diplomatie

   Deutschland und Frankreich werden bei einer politischen Lösung
für Syrien eine Rolle spielen, vielleicht sogar mit gemeinsamen Initi-
ativen. Beide Staaten waren die einzigen Vertreter der EU beim Gip-
fel von Istanbul im Oktober 2018 mit der Türkei und Russland. Die
deutsch-französische Rolle sollte eine politische sein und sich nicht
auf humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau beschränken. Es war
der deutsche Außenminister, der diesen Ehrgeiz formulierte: „Ich
habe mich dafür eingesetzt, dass wir nicht nur zu den Runden einge-
laden werden, in denen es ums Geld geht“. Deutschlands Rolle sieht
er darin, „Brücken zu bauen zwischen den Russen und Iranern auf
der einen und den Amerikanern, Europäern und Saudis auf der an-
deren Seite“40. Im Gegensatz zu den USA unterhalten Deutschland
und Frankreich seit den Verhandlungen mit dem Iran über sein Nuk-
learprogramm Beziehungen zu dem Land, die sie für politische Lö-
sungen nutzen können. Sie halten an dem Abkommen nach der Kün-
digung durch die USA fest und halten sich so Möglichkeiten der
Diplomatie offen. Deutschland und Frankreich sind diejenigen euro-
päischen Staaten, die auf zwei der Schlüsselmächte für die Zukunft
Syriens und im Nahen Osten Einfluss ausüben können, Russland und
den Iran. Die EU ist der wichtigste Handelspartner für beide Staaten.
   Schließlich aber sind die jüngsten iranisch-amerikanischen Span-
nungen im Golf eine Bewährungsprobe für die europäische Hand-
lungsfähigkeit. Deutschland und Frankreich erwogen eine gemein-
same Beobachtungs- oder sogar Schutzmission. Die Freiheit und
Sicherheit der Handelswege vor allem in der Straße von Hormuz ist
ein europäisches Kerninteresse. Die amerikanische Mission verfolgt
das gleiche Ziel aber gründet auf einer Strategie, die Deutschland
und Frankreich nicht teilen, der Strategie des „maximalen Drucks“
auf den Iran. Die deutschen und französischen Marinen wären zu
einer eigenständigen Mission in der Lage.41 Die deutsche Beteiligung
aber scheiterte vorerst am Primat der Innenpolitik.
   Auch die Entwicklung des israelisch-palästinensischen Konflikts
bringt die Positionen Deutschlands und Frankreichs näher zueinan-
der. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind zwar
immer noch „im Spannungsfeld von Einzigartigkeit und Normalität“42.
Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte die Sicherheit Israels zur
deutschen „Staatsräson“, was eine enge sicherheitspolitische Zusam-
menarbeit43 nach sich zieht. Deutschland hatte mit Frankreich zu-
sammen bereits 1980 die „Erklärung von Venedig“ der damaligen EG

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6. Europäische Diplomatie                             187
auf den Weg gebracht, die den Palästinensern grundsätzlich das
Selbstbestimmungsrecht zuspricht. Bis heute leistet Deutschland
unter den europäischen Staaten die meiste finanzielle Unterstützung
für die palästinensischen Autonomiegebiete und ihre Behörde.
Deutschland, Frankreich und Großbritannien verurteilten im Jahr
2011 die israelische Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten in
einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (VNSR).
Deutschland und Frankreich halten unbeirrt an der Zwei-Staaten Lö-
sung fest, auch wenn diese immer unwahrscheinlicher wird. Inzwi-
schen äußert die Bundesregierung unverhohlen Kritik an der israeli-
schen Siedlungspolitik und an den Spekulationen Ministerpräsident
Netanjahus über die Annexion von Teilen der Westbank während des
Wahlkampfs im Jahr 201944. Während die USA durch die Nahostpoli-
tik Präsident Trumps als Vermittler zwischen Israel und den Palästi-
nensern unglaubwürdig werden, vergrößert sich der Raum für euro-
päische, vor allem für deutsch-französische Initiativen im Nahen
Osten.
   Schließlich würde die europäische Diplomatie würde ihr politi-
sches Gewicht durch eine weltweite Präsenz der EU erhöhen. Hierbei
spielt Frankreich eine besondere Rolle. Es bringt nicht nur seine Er-
fahrungen als Kolonialmacht, sondern seine überseeischen Länder
und Territorien ein. Die französische Marine operiert mit Stützpunk-
ten und Schiffen in einem maritimen Territorium, das Frankreich zur
zweitgrößten Seemacht der Welt nach den USA macht. Französische
Schiffe führen Manöver in der südchinesischen See durch, um die
Freiheit der Meere zu verteidigen, allerdings weniger offensiv als ame-
rikanische Schiffe dies tun. Frankreich besitzt eine Strategie zur mari-
timen Sicherheit auch in Übersee, was eine Voraussetzung für eine
globale Handlungsfähigkeit der EU ist. Frankreich könnte zusammen
mit Großbritannien als eine Art Treuhänder europäischer Sicher-
heitsinteressen im sogenannten Indo-Pazifik auftreten45. Großbritan-
nien erarbeitet eine „Indo-Pazifik“ Strategie und baut seinen Marine-
stützpunkt in Bahrein für Operationen seines Flugzeugträgers im
Indischen Ozean aus. In Südostasien besitzt es Stützpunkte in Singa-
pur und Brunei und schloss mit Australien, Neuseeland, Malaysia und
Singapur ein sogenanntes „Fünf-Mächte-Verteidigungsabkommen“
ab. Der Brexit verstärkt den britischen Ehrgeiz, als „Global Britain“ au-
ßerhalb Europas präsent zu sein. Frankreich wiederum ist an militäri-
scher Zusammenarbeit mit Großbritannien interessiert. Deutschland

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188                  6. Europäische Diplomatie

allerdings dachte über eine globale militärische Präsenz bisher nicht
ernsthaft nach und sollte dies jetzt nachholen. Frankreich kann die
deutsche Kompetenz in den Beziehungen zu Russland und China
durch seine Erfahrungen in der Zusammenarbeit zwischen Nord und
Süd ergänzen. Die Gruppe der 79 afrikanischen, karibischen und pazi-
fischen Staaten (AKP), die mit der EU vertraglich verbunden ist, bil-
det mit den 28 EU Staaten eine Mehrheit bei Abstimmungen in der
Generalversammlung der Vereinten Nationen. Die Weltpolitik kommt
zur EU „über die Ränder“ zurück46.
   Die Grenzen der Handlungsfähigkeit der EU liegen weniger in der
Außen- und Sicherheitspolitik als in der Innenpolitik. Deutschland
und Frankreich sind hierfür die besten Beispiele. Das größte Hinder-
nis für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik liegt
in den Voraussetzungen, unter denen die Regierungen über den Ein-
satz ihrer Streitkräfte beschließen. In Frankreich entscheidet der
Präsident. Die Assemblée Nationale hat hierauf wenig Einfluss. In
Deutschland gilt der Parlamentsvorbehalt. Der Bundestag hat die
Einsätze der Bundeswehr zu beschließen, auch wenn die deutschen
Streitkräfte Teil eines multinationalen Einsatzes sind. Der Bundes-
tag verweist darauf, dass dieses Verfahren bisher keine Verzögerun-
gen der Entscheidungsprozesse bewirkt habe. Er verkennt aber das
Problem, dass Partner wie vor allem Frankreich sich wegen des Par-
lamentsvorbehalts nicht grundsätzlich auf eine deutsche Beteili-
gung bei einem Einsatz verlassen können. Hierunter leidet das Ver-
trauen und die Handlungsfähigkeit der Regierungen und damit der
europäischen Diplomatie.
   Dies gilt auch für die deutsch-französische Führung in der Euro-
zone. Sowohl die AfD in Deutschland als auch der Front National in
Frankreich verdanken ihren Aufschwung ursprünglich der Kritik am
Euro. Für die AfD war die Europäische Wirtschafts- und Währungs-
union eine „Transferunion“ auf Kosten Deutschlands. Für den Front
National bedeutete sie den Verlust der nationalen Souveränität und
die Hegemonie Deutschlands. Es war für Präsident Macron unter
diesen Bedingungen nicht einfach, Deutschland eine Stärkung der
Eurozone vorzuschlagen. Sein Elan wurde zusätzlich dadurch beein-
trächtigt, dass er lange Zeit keine Antwort der deutschen Regierung
auf seine Vorschläge bekam. Die Bundesregierung war durch die Dif-
ferenzen innerhalb der großen Koalition gelähmt. Sie hatte aber vor-
her beim französischen Partner wirtschaftliche Reformen ange-

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