Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise - Piotr Buras Jonas Grätz
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Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise Piotr Buras Jonas Grätz © Kurt Michel / PIXELIO
Piotr Buras war 2008 Gastforscher an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin als Stipendiat der Volkswagen Stiftung im Rahmen von European Foreign and Security Poli- cy Studies Programme. Jonas Grätz ist Forum Ebenhausen-Stipendiat der Forschungsgruppe Russland/GUS, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin. Kontakt: Cornelius Ochmann Programm Europas Zukunft Bertelsmann Stiftung Telefon: 0049 30 52 00 99-102 Fax: 0049 5241 81 6 81 198 Email: cornelius.ochmann@bertelsmann.de Internet: www.bertelsmann-stiftung.de
Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise | Seite 3 Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise Das Ausbleiben eines Großteils der russischen Gaslieferungen im Januar 2009 offenbar- te abermals die Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union. Da Leitungsverbindun- gen fehlten, konnte intern nicht flexibel auf die Lieferausfälle reagiert werden. Während die Gasspeicher in manchen Mitgliedstaaten „gut gefüllt“1 waren, mussten osteuropäi- sche Staaten wie Bulgarien oder Slowenien den Gasverbrauch rationieren. In der au- ßenpolitischen Dimension war die EU hilflos den russisch-ukrainischen Machtspielen ausgesetzt. Das Fehlen interner und externer Verfahren zur Sicherstellung der Energie- versorgung ist angesichts des Gasstreits vor drei Jahren mehr als verwunderlich. Schon damals stritten sich beide Seiten über angeblich von Russland gelieferte und von der Uk- raine „gestohlene“ Kubikmeter. Schon damals konnten Liefermengen und Beschuldigun- gen über Gasdiebstahl nicht geprüft werden, da unabhängige Beobachter nicht zur Stelle waren. Doch die Idee, eine unabhängige Beobachtermission zu entsenden und sich mit den Streitparteien an einen Tisch zu setzen kam bei der EU-Kommission offenbar erst an Tag acht der zweiten Krise auf.2 Die Krise verdeutlicht – ähnlich wie der Georgienkrieg im Spätsommer 2008 – dass die EU und ihre Mitgliedstaaten nur über begrenzte Möglichkeiten verfügen, auf Russlands politische und ökonomische Elite einzuwirken. Denn unabhängig davon welche Schuld der Ukraine zukommt, hat Gazprom abermals Lieferkürzungen als Mittel zur Interessen- durchsetzung angewandt und diese auf öffentliches Geheiß von Ministerpräsident Putin noch intensiviert, was letztlich zum vollständigen Lieferstopp führte. Damit hat Russland keinen Beitrag zur Vermeidung der Krise geleistet. Darüber können auch die Argumente der von Gazprom engagierten westeuropäischen PR-Agenturen nicht hinwegtäuschen, die der Ukraine so gern die Gesamtschuld für die Krise in die Schuhe schieben möchten. Um zukünftigen Krisen vorzubeugen und größeren Einfluss auf das Verhalten der russi- schen Elite zu erhalten, muss die EU eine geschlossenere Russlandpolitik verfolgen. Dem standen in Vergangenheit scheinbar unüberbrückbare Interessenunterschiede in- nerhalb der EU im Wege. Eine neue EU-Russlandpolitik muss daher bei der EU selbst ansetzen. Eine Stärkung der internen Kohäsion ist dabei Voraussetzung für die außen- politische Handlungsfähigkeit der EU. Da die Mitgliedstaaten vor allem auf bilaterale Kooperation mit Russland setzen kann ei- ne einheitliche europäische Energiepolitik nicht entstehen.3 Russland erhält damit in die- sem zentralen Bereich freie Hand, die EU auseinanderzudividieren. Gleichzeitig wäre ein gemeinsames Auftreten der EU in energiepolitischen Fragen möglicherweise das einzige 1 Gasspeicher gut gefüllt, Pressemitteilung der Bundesregierung, 7.1.2009; http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2009/01/2009-01-07-gasstreit-russland-ukraine.html. 2 Vgl. "Beobachtermission hängt von der Bereitschaft der beiden Streithähne ab", Interview mit EU- Industriekommissar Günter Verheugen auf Deutschlandfunk, 8.1.2009; http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/900893/. 3 Ausführlicher dazu am Beispiel Deutschlands siehe: Westphal, Kirsten 2007: Germany and the EU-Russia E- nergy Dialogue, in: Aalto, P. (Hrsg.): The EU-Russian Energy Dialogue: Securing Europe’s Future Energy Supply?, Aldershot 2007, S. 93-118.
Seite 4 | Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise Mittel, um die europäischen Interessen zu wahren und stärker auf die russische Politik einwirken zu können. Vor diesem Hintergrund analysiert dieses Papier die Bedingungen einer effektiveren E- nergieaußenpolitik der EU gegenüber Russland. Dabei wird im Folgenden die These be- gründet, dass die Errichtung eines gemeinsamen Erdgasbinnenmarkts die grundlegende Vorbedingung für eine gemeinsame Energieaußenpolitik und auch für eine kohärentere Russlandpolitik der EU ist. Daneben stärkt ein gemeinsamer Energiemarkt die Robust- heit der EU im Falle von Lieferunterbrechungen. Nach einer Analyse des Problems wird im Folgenden eine Bestandsaufnahme der Diskussion in der EU vorgenommen, wie sie unter französischer Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 geführt wurde. Hier werden die Auswirkungen der verabschiedeten Maßnahmen für die EU-Russlandpolitik unter die Lupe genommen und die weiterhin bestehenden Defizite aufgezeigt. Zum Schluss werden einige Vorschläge zur Stärkung der energieaußenpolitischen Hand- lungsfähigkeit der EU in ihren Beziehungen zu Russland formuliert, die auf in der politi- schen und wissenschaftlichen Diskussion entwickelte Ideen und Konzepte zurückgreifen. Russland als Herausforderung für die Energiesicherheit der EU „Die Frage der EU-Energiesicherheit hat im Kern vor allem mit Gas und Russland zu tun“ – diese knappe Formulierung eines britischen Beobachters4 mag vereinfachend klingen, weist aber auf ein unbestreitbares Problem hin. Russland entwickelte sich in den ver- gangenen Jahren vom Hauptlieferanten von Energieressourcen in die Europäische Uni- on zur größten strategischen Herausforderung, weit über den Energiebereich hinaus. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es wäre verkürzt, sie nur in den innen- und außenpolitischen Entwicklungen in Russland während der Ära Putin zu suchen. Zweifelsohne trugen sie jedoch in den zurückliegenden Jahren maßgeblich zur Herausbildung des „neuen Um- felds der europäischen Energiesicherheit im Gasbereich“5 bei. Zu erwähnen ist zum ei- nen die Stärkung der staatlichen Kontrolle über die nationalen Energieressourcen, deren negative Folgen westliche Konzerne mehrmals zu spüren bekommen haben. Auch die Monopolisierung der Rohstoffexporte durch Gazprom, muss der EU auf Grund der engen Verbindung des Konzerns zum Kreml Anlass zur Sorge geben. Schließlich hat sich auch das internationale Auftreten der Russischen Föderation in den letzten Jahren geändert. In ihrem neuen außenpolitischen Selbstbewusstsein spielt die Rohstoffpolitik eine zentra- le Rolle, nicht zuletzt, weil ihre Ressourcen in anderen Bereichen (Ideologie, Wirt- schaftsmodell) zu kurz greifen, um in der internationalen Politik Einfluss zu haben. Nichtsdestotrotz ist die russische Herausforderung der EU-Energiepolitik in einem breite- ren Kontext zu sehen und beschränkt sich nicht auf die hier skizzierten Probleme. Auf drei weitere Aspekte ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen. Erstens lässt vor allem die infolge abnehmender eigener Ressourcen und wachsender Nachfrage zukünftig steigende Abhängigkeit der EU von Gaslieferungen das EU- Russland-Verhältnis in einem neuen Lichte erscheinen6. Nach den Schätzungen der Eu- 4 David Buchan, Europe’s mid summer blues, Oxford Energy Comment, August 2007, S. 1. 5 Jonathan Stern, The New Security Environment for European Gas: Worsening Geopolitics and Increasing Global Competition for Gas, Oxford Institute for Energy Studies, NG 15, October 2006. 6 Da das Öl auch auf Tankern transportiert und auf internationalen Märkten gekauft werden kann, ist die Frage der Abhängigkeit in diesem Bereich weniger brisant. Folglich beschränkt sich die vorliegende Analyse auf den weitgehend pipelinegebundenen Gassektor, der wesentlich unflexibler ist.
Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise | Seite 5 ropäischen Kommission werden die Gasimporte in die EU von heute 57 Prozent des Verbrauchs auf 83 Prozent im Jahre 2030 steigen7. Gut die Hälfte des importierten Ga- ses stammt dabei heute schon aus Russland, manche EU-Staaten sind vollständig von russischem Gas abhängig. Angesichts steigender Preise, vergrößerter Konkurrenz durch Schwellenländer sowie der Konzentration der Rohstoffe in autoritär oder autokratisch re- gierten Staaten, stellt der Wettbewerb um Energieressourcen eine zunehmend politische Herausforderung für die EU dar.8 Russland kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da es die weltweit größten Gasreserven besitzt. Andererseits wurden die Bedeutung Russlands auch durch mangelnde Investitionen in die Diversifizierung und Entwicklung von Alternativen (verflüssigtes Erdgas) vergrößert. Zwar ist das EU-Russland-Verhältnis interdependent, da Russland gegenwärtig wenig Alternativen zum Export von Erdgas nach Europa hat und die Einnahmen aus Energieexporten benötigt, doch ist diese Inter- dependenz asymmetrisch, da die Einnahmen Russlands aus dem Erdgasexport im Ver- gleich zum Erdöl gering sind,9 die EU derweil jedoch nicht auf das an Pipelines gebun- dene russisches Erdgas, doch schon eher auf Erdöl aus Russland verzichten könnte. Die geringere Verwundbarkeit Russlands hat sich ganz konkret während der Gaskrise im Ja- nuar 2009 gezeigt, die einigen Volkswirtschaften der EU Schaden zufügte, während in Russland keine direkten Folgen sichtbar waren. Zudem sind die russischen Exporte leicht politisch steuerbar, während die Wirtschaftsakteure der EU sich gegen politische Einflussnahme wehren. Diese asymmetrische Abhängigkeit in einem für Wirtschaft und Gesellschaft zentralen Politikbereich schränkte den außenpolitischen Handlungsspiel- raum der EU und ihrer Mitgliedstaaten in Vergangenheit erheblich ein. Zum zweiten werden die Folgen der EU-Osterweiterung bei der Wahrnehmung des e- nergiepolitischen Russland-Problems weitgehend unterschätzt. Nehmen wir die ideellen Grundlagen der EU ernst, muss das Verständnis von Energiesicherheit seit 2004 neu aufgefasst werden. Es wäre leichtsinnig, die seitdem eingetretenen Veränderungen le- diglich auf die historischen Vorurteile der neuen EU-Mitgliedstaaten gegenüber Russland zu reduzieren. Vielmehr handelt sich dabei um handfeste Interessenunterschiede, die ei- ne „reale energiewirtschaftliche Grundlage“ haben.10 Während die Präsenz Russlands in der Energieversorgung sich in westlichen EU-Mitgliedstaaten weniger dramatisch aus- nimmt (ein Teil von ihnen bezieht das Gas ausschließlich aus anderen Regionen), liegen die MOE-Staaten bei der Abhängigkeit von russischen Lieferungen weit über dem EU- Durchschnitt. Auch ist die Gazprom auf den Energiemärkten der MOE-Staaten viel stär- ker vertreten. Nicht zu übersehen ist auch, dass diese Länder, anders als etwa Deutsch- land oder Frankreich, vom Kreml nie als ebenbürtige Partner angesehen wurden – ein Umstand, der die Wahrnehmung ihrer Sicherheitslage in einem nicht zu unterschätzen- 7 Mitteilung der Kommission and den Europäischen Rat und das Europäische Parlament. Energiepolitik für Euro- pa, Brüssel, den 10.1.2007 KOM(2007), S. 4. 8 Clingendael, Study on Energy Supply and Geopolitics (TREN/C1-06-2002), S. 16. 9 Während die Gazprom 2007 nur ca. 8 Prozent zum föderalen russischen Staatsbudget beisteuerte, trug der Öl- sektor über ein Drittel der Staatseinnahmen bei. Ähnliches gilt für das Wirtschaftswachstum, auch hier ist der Gassektor unbedeutend. Dennoch hat Gazprom hohe Bedeutung für die Subventionierung der russischen Wirt- schaft mit günstigem Erdgas. Quelle: Eigene Berechnungen, basierend auf Steuergesetzen, Daten von Rosstat, dem Föderalen Zolldienst, dem Föderalen Steuerdienst und Gazprom. Derweil behauptete der russische Premier Putin in einem Interview, das am 14.1.2009 auf ARD ausgestrahlt wurde, dass Gazprom nur 5-6 Prozent zum Staatsbudget beisteuern würde. Vgl. Eurasia Daily Monitor, 19.1.2009, http://www.jamestown.org. 10 Vgl. Geden, Oliver 2008: Europas energiepolitischer Selbstbetrug, in: Der Standard, 18.8.2008, S. 31.
Seite 6 | Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise den Maße prägt. Dieser Realität muss auch verstärkt auf der EU-Ebene Rechnung ge- tragen werden. Erstens sind die Interessen und Sorgen der neuen EU-Mitgliedstaaten nicht weniger legitim und für die Definition des europäischen Interesses genauso rele- vant, wie die der Westeuropäer. Zweitens haben die scheinbar „nur“ energiewirtschaftli- chen Probleme in der Tat und speziell aus der Sicht dieser Länder eine enorme (au- ßen)politische Bedeutung. Der außenpolitische Dissens in der EU, allen voran in ihren Beziehungen zu Russland, scheint vorprogrammiert zu sein, solange die EU nicht eine adäquate Antwort auf das energiesicherheitspolitische Dilemma einiger ihrer Mitglieder findet. Ein drittes Problem in den Energiebeziehungen zwischen der EU und Russland liegt in der Disparität der Regeln zwischen europäischem und russischem Energiemarkt und die auf die grundverschiedene Rolle des Staats in beiden Systemen verweisen: Während die EU versucht, einen homogenen internen Markt mit liberalen Regeln für leitungsgebunde- ne Energieträger zu schaffen, wird der Gasmarkt in Russland von einem politisch- ökonomischen Monopolisten beherrscht, der den Zugang kontrolliert, Regeln setzen kann und seit neuestem auch offiziell Lizenzen für die Ausbeutung von Vorkommen ohne Wettbewerb von der Regierung erhält. Der Gegensatz zwischen EU und Russland hat sich in der Vergangenheit einhergehend mit steigenden Energiepreisen nur verschärft. Diese Entwicklung ist insofern problematisch, als sie dem bisherigen zentralen Ansatz der EU zuwider läuft. Er setzte nämlich darauf, die Energiesicherheit indirekt durch ein gemeinsames Regelwerk mit den Energielieferanten zu stärken. Es ging vor allem um die Verbreitung des europäischen marktwirtschaftlichen Modells in anderen Staaten und Regionen. Die Versuche der EU, ihre Partner etwa zur Ratifizierung des Energiecharta- vertrags zu überzeugen, waren Ausdruck dieser Strategie. Vor allem Russland als wich- tigster Lieferant war – vergeblich - Adressat dieser Politik. Russland sah als energierei- ches Land keinen Anlass, sich den von der EU (vom Westen) vorgeschlagenen Regeln des gleichen Wettbewerbs, der Marktliberalisierung, Öffnung der Transitwege und Transparenz unterzuordnen. Seine wichtigsten Ziele, z. B. Zugang zum Downstream- Sektor in der EU oder langfristige Lieferverträge, konnte es in bilateralen Verhandlungen mit den EU-Mitgliedstaaten erreichen. Der EU fehlte das wichtigste Verhandlungsargu- ment, da sie weder einen genuinen gemeinsamen Energiemarkt mit allgemein geltenden Regeln hat, noch – als Folge – über eine gemeinsame Energiepolitik verfügt. Dabei hat die Inhomogenität der Regeln zwischen EU und Russland auch konkrete Nachteile – nicht nur für die Energiesicherheit, sondern auch für die Konzerne, die be- reits in Russland tätig sind. Die russischen Energiekonzerne wissen ihre Funktion als „gatekeeper“ zum russischen Markt geschickt zu nutzen, um ihren Einfluss auf Märkte in Drittländern auszuweiten. Dabei wird der Zugang zum russischen Markt gegen Beteili- gungen in der EU getauscht. Die Regeln des russischen Gasmarktes, die Gazprom eine zentrale Stellung verleihen, werden von Gazprom und der politischen Elite gezielt auf- rechterhalten, um mit Hilfe solcher Deals die Expansion auf andere Märkte zu erleich- tern. Europäische Energiekonzerne, die bereit sind, die Spielregeln der Gazprom zu ak- zeptieren, unterminieren den Politikansatz der EU. Denn dadurch, dass sich die europäi- schen Energiekonzerne auf solche Deals mit Gazprom einlassen, beweisen sie Russ-
Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise | Seite 7 land die Vorteile einer monopolistisch geschlossenen Wirtschaft und bieten den Eliten folglich einen Anreiz zur Aufrechterhaltung der bestehenden Regeln. Dieser kurze Überblick macht deutlich, dass das Russland-Problem der EU- Energiesicherheit keineswegs nur auf die russische Politik zurückzuführen ist. Vielmehr ist es als Folge von vielen Faktoren zu sehen. Die inneren Entwicklungen in der EU (Os- terweiterung), die Vernachlässigung von Diversifizierungsmaßnahmen, die Marktkon- zentration von großen Konzernen, die an einer engeren Verflechtung mit Russland inte- ressiert sind und die daraus resultierenden Schwächen der EU-Energiepolitik trugen maßgeblich dazu bei, dass Russland sich zu einer ernsthaften Herausforderung für die EU entwickelt hat. Die EU verschenkt auf diese Weise ihr transformatorisches Potential gegenüber Russland, da die Mitgliedstaaten jeweils eigene Interessen gegenüber Russ- land verfolgen. Eine handlungsfähige EU-Energieaußenpolitik gegenüber Russland kann nur gelingen, wenn die EU-Mitgliedstaaten das Ziel des gemeinsamen EU-Energiebinnenmarkts (vor allem aber des Gasmarkts), ernst nehmen und seine Realisierung tatkräftig unterstützen. Denn während die strukturellen Unterschiede der Energieversorgung und außenpoliti- schen Differenzen nicht leicht zu überbrücken sind, ist ein Interessenausgleich unter den Mitgliedstaaten am ehesten über eine Homogenisierung der Marktstruktur in der EU, die Schaffung von gemeinsamen Regeln sowie den Ausbau der europäischen Energieinfra- struktur zu erreichen11. Die Diskussion über eine neue Struktur der Energiemärkte in Europa, in der die außen- politische Dimension eine immer prominentere Rolle spielt, hat in den letzten Monaten eine neue Qualität erlangt. Ein Meilenstein war das sog. Dritte Liberalisierungspaket der Europäischen Kommission, das viele Kontroversen hervorgerufen hat, bevor eine politi- sche Einigung über eine Reihe von Reformen Anfang Oktober 2008 erzielt werden konn- te (dem Kompromiss der EU-Mitgliedstaaten muss noch das Europäische Parlament zu- stimmen). Diese Debatte wurde auch von Vorschlägen und Konzepten zur Stärkung der EU-Energiesicherheit zusätzlich angeregt, die nach der Veröffentlichung des zweiten Strategic Energy Review durch die Kommission im November 2008 weiter diskutiert werden. Die EU auf dem Weg zu einem gemeinsamen Energiemarkt Warum ist die Integration der europäischen Gasmärkte so wichtig? Pierre Noël, Energie- experte des European Council on Foreign Relations, wies unlängst darauf hin, dass sie der Schlüssel ist, um drei zentralen Herausforderungen der EU-Energiesicherheit ge- recht zu werden12. Erstens, könnte sie die Differenzen in der Energieversorgung in Ost und West sowie die damit verbundenen Interessengegensätze zwischen den Mitglied- staaten überwinden helfen. Mit der Entwicklung eines gemeinsamen EU-Gasmarktes könnten ihre gegenseitigen Abhängigkeiten gestärkt und eine faktische Solidarität unter ihnen auf den Weg gebracht werden. Zweitens könnte ein gemeinsamer Markt besser auf ähnliche Lieferausfälle wie im Januar 2009 reagieren. Dies wäre einer europäischen Infrastruktur und Krisenmechanismen zu verdanken, die erst mit im durch die Marktinteg- 11 Vgl. Oliver Geden, Energiesolidarität im EU-Reformvertrag. Ein zentraler Baustein der europäischen Energie- politik, SWP-Aktuell 34, Juli 2007; 12 Pierre Noël, Europe needs a single market for natural gas, 15.05,2008, www.ecfr.eu
Seite 8 | Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise ration ihre Wirkung erlangen können. Drittens würde ein gemeinsamer Gasmarkt in der EU auch ihre Verhandlungsposition gegenüber Russland stärken, wenn es um die Aus- arbeitung von gemeinsamen Regeln der Energiezusammenarbeit und das Prinzip der Gegenseitigkeit geht. Man könnte hinzufügen, dass die EU aus der Sackgasse in den Energiebeziehungen zu ihrem wichtigsten Partner herauskommen könnte, sofern sie ü- ber ein klares gemeinsames Regelwerk im Energiebereich verfügt. Im Folgenden wird der Stand der politischen Diskussion zum Energiemarkt in der EU dargestellt, um An- knüpfungspunkte für zukünftige Schritte zu gewinnen. Die Kommission verfolgt mit dem Dritten Liberalisierungspaket für den Strom- und Gas- markt, das im September 2007 vorgelegt wurde, drei Ziele: Beseitigung bestehender Wettbewerbsverzerrungen, Erhöhung der Versorgungssicherheit über Anreize für Inves- titionen in Infrastruktur und Unterstützung bei der Erreichung von Klimaschutzzielen. Die Idee zur Liberalisierung „natürlicher Monopole“ ist nicht neu, sondern wird von der Kom- mission bereits seit Ende der 1980er Jahre verfolgt. Seither wurde der Zugang zu den Netzen schrittweise geöffnet und die Wahlfreiheit der Konsumenten erhöht. Dennoch ist der Markt nicht voll funktionsfähig, da so genannte vertikal integrierte Unternehmen, die gleichzeitig in Erzeugung, Transport und Verkauf von Strom oder Gas tätig sind, effizien- ten Wettbewerb verhindern. So wird der Zugang unabhängiger Versorger zu den Ener- gienetzen durch Informationsvorsprünge und überhöhte Nutzungsentgelte behindert. Auch das Ziel der Erhöhung der Versorgungssicherheit kann mit den gegebenen Struktu- ren nur unzureichend erreicht werden, da vertikal integrierte Unternehmen nicht in genü- gendem Maße in die Infrastruktur investieren, etwa dort, wo dies ihren Interessen als Er- zeuger schaden würde. Primäres Ziel des gegenwärtig in der EU verhandelten Dritten Liberalisierungspakets ist es daher, ein Anreizsystem zu entwickeln, das die Präferenzen der Marktteilnehmer von Besitzstandswahrung auf Wettbewerbsorientierung umstellt und eine diskriminierungs- freie Nutzung der Netze durch unabhängige Produzenten gewährleistet. Zentrales und umstrittenes Mittel dazu ist die Herauslösung des Netzbetriebs aus den vertikal integrier- ten Unternehmen (sog. Entflechtung). Ursprünglich war von der Kommission vorgese- hen, die vertikal integrierten Konzerne zum Verkauf ihrer Netze zu zwingen. Die voll- ständige Eigentumsentflechtung stellt die effizienteste Lösung des Problems dar, da auf diese Weise keine Interessenkonflikte zwischen Netzbetreiber und Mutterkonzern mehr bestehen und sich der Betreiber voll auf seine Aufgabe – die Bereitstellung von Trans- portdienstleistungen – konzentrieren kann. Das Resultat wäre eine wesentlich pluralisti- schere Struktur auf den mitgliedstaatlichen Energiemärkten, die auch weniger konzent- rierte Interessen im Energiebereich zur Folge hat. Zudem könnte die Bildung von über- regionalen Netzbetreibern zu einer verstärkten Europäisierung der Interessen im Ener- giebereich führen. Diese Faktoren würden die nationalstaatliche Fragmentierung der In- teressen verringern und damit eine kohärentere Energieaußenpolitik der EU ermögli- chen. Ein weiteres von der Kommission vorgeschlagenes Kompromissmodell sah die Benennung eines unabhängigen Netzbetreibers vor, bei dem die Aktien weiterhin von ei- nem vertikal integrierten Unternehmen gehalten werden können, die Rechte zur Führung und Veränderung des Netzes jedoch vollständig beim Netzbetreiber liegen würden.
Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise | Seite 9 Im Energieministerrat vom Juni 2008 einigte man sich nach Drängen von Deutschland und Frankreich darauf, zu den zwei von der Kommission vorgeschlagenen Entflech- tungsmodellen ein Drittes hinzuzufügen, das die vertikal integrierten Konzerne erhält, jedoch eine weitgehende Regulierung zur Sicherstellung der Unabhängigkeit des Netz- betreibers vorsieht. Damit sich die Marktmacht der vertikal integrierten Unternehmen nicht auf ihre Märkte auswirkt, setzten kleinere und mittelgroße Staaten wie die Nieder- lande, Dänemark, Portugal, Spanien und Polen im Energieministerrat am 10. Oktober 2008 ein vollständiges Verbot zur Übernahme von entflochtenen Netzbetreibern durch vertikal integrierte Unternehmen durch. Vertikal integrierte Konzerne können demnach nicht auf die Märkte von EU-Staaten expandieren, die das vollständige Entflechtungs- modell gewählt haben. Auf der Ratssitzung im Oktober einigte man sich auch auf Kriterien für Investitionen aus Nicht-EU-Staaten. Es ging dabei um Maßnahmen zum Schutz der europäischen Netz- betreiber vor Übernahmen ausländischer vertikal integrierter Energiekonzerne, um nach erfolgter Entflechtung nicht wiederum Wettbewerbsverzerrungen durch Übernahmen aus dem Ausland hinnehmen zu müssen. Zunächst war eine „Gegenseitigkeitsklausel“ im Gespräch, die unter anderem von Balten, Polen, Niederländern, dem Europäischen Par- lament und der Kommission favorisiert wurde. Die Klausel sah vor, Investoren aus Dritt- ländern die Kontrolle über EU-Netzbetreiber generell zu verbieten, sofern nicht ein Ab- kommen mit dem Herkunftsland des Investors über gegenseitige Marktöffnung besteht.13 Da diese Klausel hauptsächlich auf Gazprom zielte, deren Strategie, wie bereits erwähnt, darauf gerichtet ist, sich zunehmend im Endkundengeschäft der EU zu etablieren, wurde die sog. Gegenseitigkeitsklausel auch mit „Gazprom-Klausel“ paraphrasiert. Auf Druck von Deutschland wurde die „Gegenseitigkeitsklausel“ jedoch im Oktober ge- strichen. In der nun beschlossenen Fassung werden Unternehmen aus Nicht-EU- Staaten den EU-Unternehmen gleichgestellt und müssen lediglich dieselben Kriterien der Entflechtung erfüllen, um die Kontrolle an einem Netz erwerben zu können. Gegenseitige Marktöffnung ist nicht mehr erforderlich. Die Genehmigung einer Übernahme durch aus- ländische Investoren erfolgt dabei durch die Mitgliedstaaten, nicht wie ursprünglich vor- gesehen durch die Europäische Kommission oder die vom Europäischen Parlament fa- vorisierte „Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden“ (ACER), in der alle Staaten eine Stimme haben.14. Bezüglich der Maßnahmen, die direkt auf die Erhöhung der Versorgungssicherheit abzie- len, ist nach Ansicht der Kommission eine engere Verflechtung der nationalen Energie- märkte das geeignete Mittel, um die Verwundbarkeit zu reduzieren15. Eine stärkere Ver- netzung nationaler Energiemärkte würde Anreize für Investitionen in den Ausbau der Transportwege und Speicherkapazitäten schaffen und neuen Anbietern auf dem Markt gleiche Chancen gewähren. Gäbe es ein gesamteuropäisches Gasleitungsnetz, könnte das Gas in allen Ländern aus alternativen Richtungen geliefert werden. In der aktuellen Diskussion über die EU-Energiesicherheit sorgt allerdings die Frage nach der erwünsch- 13 Vgl. Überarbeitete EU-Energiestrategie: Versorgungssicherheit im Vordergrund, in: EurActiv, 20.10.08, http://www.euractiv.com. 14 Vgl. Energy Council: Council Ties Up Loose Ends on Energy Markets, in: European Report, 14.10.08.
Seite 10 | Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise ten Reichweite der Europäisierung für Kontroversen. Während die Mitgliedstaaten, die einen besonderen Wert auf die Energiesicherheit legen (z. B. Polen), eine Koordinierung und Mitfinanzierung der Infrastrukturprojekte auf der EU-Ebene befürworten, setzt sich etwa Deutschland für eine weitgehende Beibehaltung der nationalstaatlichen Kompeten- zen und der zentralen Rolle der Konzerne im Energiesektor ein. So setzt Polen vor allem auf effiziente Solidaritätsmechanismen und gemeinsames Risikomanagement in der EU, während die Bundesregierung allein die Erhöhung der Energieeffizienz als den eigentli- chen Schlüssel zur Stärkung der Energiesicherheit ansieht. Eine Reihe von Vorschlägen wurde im Oktober 2008 von der französischen EU-Ratspräsidentschaft unterbreitet16. Angesichts der Ereignisse im Januar 2009 kann erwartet werden, dass die Diskussion über Versorgungssicherheit unter tschechischer Präsidentschaft forciert wird. Für eine wirkliche Stärkung der europäischen Energieaußenpolitik sind die bisherigen Beschlüsse unzureichend. Während die Zerschlagung vertikal integrierter Konzerne und die „Gegenseitigkeitsklausel“ verhindert wurden, konnte mit der Verankerung des Über- nahmeverbots lediglich die Koexistenz verschiedener Entflechtungsmodelle gesichert werden. Die positiven Auswirkungen einer vollständigen Entflechtung werden im von Deutschland und Frankreich vorgeschlagenen Modell dabei z. T. verschenkt: Bei guter Regulierung kann zwar ein weitgehend diskriminierungsfreier Zugang zu bestehenden Netzen gewährleistet werden. Investitionsanreize in die Netze und damit ein positiver Ef- fekt für die Energiesicherheit entstehen hier jedoch nicht automatisch und erfordern ver- stärkte regulatorische Eingriffe, da das vertikal integrierte Unternehmen weitgehende Rechte in der Finanzplanung behält. Deutlich wird zudem, dass das Modell erheblichen regulatorischen Aufwand nach sich zieht. Hinzu kommt, dass das Funktionieren des Marktes im dritten Modell erheblich von der Tätigkeit der jeweils nationalen Regulie- rungsbehörden abhängt. Eine strenge Durchführung der Richtlinie könnte die Eigentü- merschaft über den Netzbetreiber ökonomisch so unattraktiv machen, dass sich die Konzerne am Ende für einen Verkauf des Netzbetreibers entscheiden. So könnte die Entflechtung ganz ohne die von den Konzernen verdammte „Enteignung“ zu Stande kommen. Ein anderes Szenario, in der die Regulierung auf den Erhalt vertikal integrierter Konzerne abzielt, ist jedoch wahrscheinlicher. Während die Beschlüsse zu den Entflechtungsmodellen gegenüber den ursprünglichen Plänen die wünschenswerte Pluralisierung und Europäisierung der energiewirtschaftli- chen Interessen erschweren, hat das Scheitern der Gegenseitigkeitsklausel direkte Fol- gen für die Energieaußenpolitik. Gazprom erhält auf diese Weise weiterhin die Möglich- keit, durch Gründung von operativ unabhängigen Tochterunternehmen Kontrollpakete zu erwerben, während der russische Markt verschlossen bleibt. Die Chance, im Zuge der Binnenmarktreform mit Hilfe der Gegenseitigkeitsklausel den Einfluss Gazproms zu be- grenzen und gleichzeitig Potentiale aufzubauen, um die Regeln auf dem russischen E- nergiemarkt zu verändern, wurde damit vertan. Abwenden könnte dies nur noch der Ein- 15 So steht es laut Medienberichten in der aktuellen Version des Strategic Energy Review. Vgl. Überarbeitete EU- Energiestrategie: Versorgungssicherheit im Vordergrund, 20. Oktober 2008, http://www.euractiv.com/. 16 Council of the European Union, Draft report to the European Council on energy security – Presidency briefing, Brussels, 8 October 2008, 13827/1/08 REV 1.
Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise | Seite 11 spruch des Europäischen Parlaments, das bei der Richtlinie mitentscheidet und sich in erster Lesung für eine starke Gegenseitigkeitsklausel ausgesprochen hat. Während in der EU Staaten und Institutionen versuchen, sich mühsam über einen Kom- promiss zu verständigen, verfolgt Gazprom selbst eine eigene Gegenseitigkeitsregel in den „strategischen Partnerschaften“ mit großen europäischen Energieversorgern. Ge- genseitigkeit wird hier jedoch nicht auf Regeln bezogen, die homogenisiert werden sol- len, sondern auf individuelle Tauschbeziehungen, die sich nach den relativen Machtver- hältnissen der Spieler richten. Tauschmittel der EU-Versorger sind dabei Beteiligungen an Unternehmen oder das Abtreten von Marktanteilen an Gazprom. Diese kann ihrer- seits aus der Funktion als Regulator des Zugangs zum russischen Markt Kapital schla- gen. So trat vor kurzem etwa der italienische Energiekonzern ENI der Gazprom einen Anteil am libyschen Erdölfeld „Elephant“ ab, nur um im Gegenzug die Zusage der Gazprom zu erhalten, das Gas der im Vorjahr erworbenen Firma „Arktikgaz“ in Russland transportieren und verkaufen zu dürfen.17 Denn die Eigentumsrechte an einem Gasfeld sind nicht viel wert, wenn einem der Monopolist den Zugang zu Pipelines verwehrt. Deut- lich wird wiederum, dass Gazprom aus der Kontrolle über den Zugang zum russischen Markt Vorteile für seine globale Expansion zieht. Die Inkohärenz zwischen einem weit- gehend liberalisierten Energiemarkt der EU und dem immer stärker geschlossenen rus- sischen Markt erhöht die Macht der Gazprom gegenüber europäischen Versorgern wei- ter. Daher wäre eine starke Gegenseitigkeitsklausel die logische Antwort auf die Liberali- sierung des Binnenmarkts und auch im Interesse der europäischen Versorger, wie z. B. von der europäischen Branchenvereinigung Eurogas betont wird.18 Schlussfolgerungen Die Mitgliedstaaten haben in den letzten Monaten wichtige Schritte unternommen, um die EU in der Energieaußenpolitik handlungsfähiger zu machen. Sie bilden den dritten – neben den nicht minder wichtigen Zielen der Nachhaltigkeit und Effizienz – Pfeiler der europäischen Energiepolitik. Allerdings sind die bislang getroffen Maßnahmen weiterhin unzureichend und lassen viel Spielraum für eine mehr oder weniger effektive Umsetzung auf nationalstaatlicher Ebene. Gleichzeitig wird das Energieproblem zu einem der wich- tigsten Zankäpfel innerhalb der EU, wie die Diskussionen über die Diversifizierung der Importwege, Ostseepipeline oder Klimaschutz zeigen. Sein Konfliktpotential tangiert auch andere Politikbereiche, allen voran die Außenpolitik. Vor allem aber sind die beste- henden Defizite der europäischen Energiepolitik für Irritationen, Schwächen und Inkohä- renzen der EU-Russlandpolitik verantwortlich. Um die innere Kohäsion und damit auch die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU im Energiebereich zu stärken, sind insbesondere folgende Schritte notwendig: • Gegenseitigkeitsklausel. Die Gegenseitigkeitsklausel sollte in der Richtlinie ver- ankert werden. Dabei sollten auch generelle rechtliche Anforderungen an die Marktöffnung im Herkunftsland formuliert werden, die dann in bilateralen Ver- handlungen konkretisiert werden können. Dabei dürfen sich die Akteure in der EU nicht von Drohungen der russischen Regierung einschüchtern lassen, dass so- 17 Vgl. „Gazprom“ kupil „Slona“, in: Kommersant’’, No. 177 vom 1.10.2008.
Seite 12 | Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise wohl zukünftige asset swaps als auch bereits bestehende Investitionen russischer Energiekonzerne in der EU „gefährdet“19 oder Energieströme nach Asien umge- lenkt würden. Diese Äußerungen bringen nichts anderes als die Angst zum Aus- druck, dass die EU hier eine geschlossene Haltung einnehmen könnte. Der Erd- gasmarkt der EU ist der größte, bei weitem lukrativste und am besten erschlosse- ne Markt für Gazprom, weshalb sie zur Finanzierung und Verwirklichung ihrer globalen Ambitionen nicht anders kann, als auf diesen Markt vorzudringen. Zu- dem wird es – eine Einigung über Preise vorausgesetzt – wohl nicht vor 2020 die Möglichkeit geben, Gas aus Westsibirien nach China umzuleiten.20 Hinzu kommt die durch die Finanzkrise verschärfte Angewiesenheit der im Ausland hoch ver- schuldeten Gazprom auf den EU-Markt als Devisenquelle. Die Gegenseitigkeits- klausel bietet darum die einmalige Chance, nicht nur eine fallbasierte Öffnung des russischen Erdgassektors durch einzelne Tauschgeschäfte, sondern eine gene- relle Öffnung durch Vereinbarung gemeinsamer Regeln zu erreichen. Die bisheri- ge, auf fallbasiertem Tauschhandel bestehende Gegenseitigkeit, die Beteiligun- gen im Energiebereich als Tauschobjekt ansieht, würde ersetzt durch allgemein geltende Investitionsregeln.21 Gazprom könnte dann nicht mehr wie bisher als ga- tekeeper zum russischen Markt fungieren, wodurch ihr das Potential für Tausch- geschäfte der bisherigen Art genommen würde. Gegenüber der jetzigen Situation, in der Investitionen europäischer Konzerne in Russland von undurchsichtigen und personalisierten Deals abhängig sind und zudem jederzeit revidiert werden kön- nen, wäre dies ein gewaltiger Fortschritt – die „win-win-Situation“ von der in den EU-Russland-Beziehungen so gerne gesprochen wird. Diese gemeinsamen Re- geln könnten etwa im nächsten Partnerschafts- und Kooperationsabkommen ver- ankert werden. • Entflechtung. Die vollständige Eigentumsentflechtung stellt die beste Lösung für die Probleme des europäischen Energiemarkts dar und kann zu einer einheitli- cheren Energieaußenpolitik der EU führen. In Staaten, die sich für den Erhalt ver- tikal integrierter Konzerne entscheiden, muss die Umsetzung der Richtlinie auf europäischer Ebene sehr genau überprüft werden, um ein Funktionieren des Marktes zu gewährleisten. • Koordination auf der EU-Ebene. Um die Position der EU insgesamt in Verhand- lungen zu stärken, wurde gefordert, einen einheitlichen Rahmen für Energiever- handlungen mit Russland zu schaffen. Da dies auf Grund der Vielzahl an Unter- nehmen und nationalen Interessen in der EU sehr schwer zu erreichen ist, könn- ten erste Schritte durch EU-weite Standards für Verhandlungen im Energiebe- reich, die die horizontale Koordination der Versorger fördern, und Informations- 18 Vgl. Press Release, Eurogas, 24.09.2007, http://www.eurogas.org/ . 19 Vgl. EU-Russia Energy Dialogue, Ninth Progress Report, Oktober 2008, http://ec.europa.eu/energy/russia/joint_progress/doc/progress9_en.pdf; 21.10.08, S. 5. 20 Die 2006 nach dem Gasstreit mit der Ukraine erfolgte Ankündigung der Altai-Pipeline nach China, die für die EU bestimmtes Gas nach China umleiten könnte, war lediglich eine politische Deklaration Putins. Inzwischen drängt Gazprom darauf, das Projekt einzustellen und aus dem staatlichen Entwicklungsprogramm zu streichen. Vgl. Vspomnil o Rossii, in: Vedomosti, 2.10.2008. 21 Vgl. Rokas Grajauskas, “Gazprom-Clause” and the Issue of Russia’s Europeanization, Centre for Eastern Geopolitical Studies, EU-Russia Pulse, Number 1 (2) 2008 October 23, www.cegs.lt
Energiepolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach der Gaskrise | Seite 13 pflichten der Unternehmen an die Kommission unternommen werden.22 Hilfreich wäre außerdem, die regionale Koordination anzuregen23 und multilaterale Formen der Energieverhandlungen zu fördern, die etwa auch Transitstaaten einbeziehen. • Effektive Governance der Energiemärkte. Die vorgeschlagenen Maßnahmen er- fordern eine Reihe von ordoliberalen Maßnahmen auf nationalstaatlicher und eu- ropäischer Ebene. Die Regulierungsbehörden müssen in zentralen Fragen inter- venieren, um das sozial erwünschte Funktionieren der Marktkräfte zu erreichen. Dabei geht es nicht um eine etatistische Regulierung der Energiemärkte, sondern Maßnahmen, die einerseits den Wettbewerb erst ermöglichen, indem sie die be- stehenden oligopolistischen Strukturen überwinden; andererseits dem Ziel der Energiesicherheit eine ihm gebührende Bedeutung geben. Der klassische Fall für regulatorische Eingriffe sind Infrastrukturprojekte, die alternative Trassen und Zu- gangspunkte für Gaslieferungen nach Europa bereitstellen können und die regio- nale Vernetzung fördern24. Dazu müssen die in der Richtlinie vorgesehenen Re- gelungen zur Netzplanung effektiv und notfalls auch gegen Interessen des Netz- eigentümers umgesetzt werden. • Infrastrukturprojekte. Um verstärkte Investitionen in die europäische Energieinfra- struktur zu ermöglichen, sollte das TEN-Budget ausgebaut werden, um nicht nur Machbarkeitsstudien, sondern auch konkrete Projekte mitfinanzieren zu können. Dies gilt auch für die Investitionen in Speicherkapazitäten und Netzverbindungen. Entsprechende Vorschläge wurden u. a. von der polnischen Regierung unterbrei- tet und sollen im Rahmen der Diskussion über den Strategic Energy Review dis- kutiert werden25. Auch sollten die nationalen Infrastrukturprojekte stärker und un- ter Einbeziehung der Kommission miteinander koordiniert werden, damit das Ziel der europäischen Solidarität nicht von nationalen Alleingängen unterminiert wird. Die Regierungen der Mitgliedstaaten sollten darüber hinaus bereit sein, Risiken von Investitionsprojekten, die im Interesse der europäischen Energieversorgung liegen (z. B. Nabucco-Pipeline), zu übernehmen, etwa durch Kaufgarantien von bestimmten Gasmengen26. 22 Vgl. Helm, Dieter 2007: The Russian Dimension and Europe’s External Energy Policy, Oxford, S. 55. 23 Vgl. Finon, Dominique and Locatelli, Catherine 2008: Russian and European gas interdependence: Could con- tractual trade channel geopolitics?, in: Energy Policy 36: 1, 423-442. 24 Vgl. Daniel Gros, The money benefits of diversification, in: Katinka Barysch (ed.), Pipelines, Politics and Power. The Future of EU-Russia Energy Relations, Centre for European Reform, October 2008, S. 79-80. 25 Poland’s stance on the EU energy policy in respect of security of energy supply , non paper 2008. 26 Vgl. John Roberts, Going for Gas, Georgia, Russia and Energy, The World Today, October 2008, S. 14-16.
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