FÜR EINEN NEUEN BLICK AUF DAS ÄLTERWERDEN - Überlegungen im Nachgang der Covid-Krise in Frankreich - Bibliothek der ...

 
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                                                 Das Sterben vieler älterer
A R BEI T U N D SOZI A L E GERECH T I GK EI T    Menschen während der
                                                ­Covid-Krise hat in Frankreich
                                                 ein Nachdenken über den Um-

FÜR EINEN NEUEN
                                                 gang mit dem Älterwerden
                                                 angestoßen. Hinterfragt wird
                                                 die Grenzziehung zwischen
                                                 einer »gesunden«, »aktiven«

BLICK AUF DAS                                   Gesellschaft und den »ge-
                                                 brechlichen«, »passiven« Alten.

ÄLTERWERDEN                                     Die Covid-Pandemie offen-
                                                barte, wie sehr wir gewohnt
Überlegungen im Nachgang der Covid-Krise        sind, das Sterben der Alten
                                                und ihre Pflege im Verbor-
in Frankreich                                   genen geschehen zu lassen.

Chloé Morin, Daniel Perron
August 2020
                                                An die Stelle der vorherr-
                                                schenden wirtschaftlichen
                                                Sicht auf das Älterwerden
                                                sollte eine menschliche
                                                Sicht der Fürsorge treten.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Für einen neuen Blick auf das ­Älterwerden

A R BEI T U N D SOZI A L E GERECH T I GK EI T

FÜR EINEN NEUEN
BLICK AUF DAS
­ÄLTERWERDEN
Überlegungen im Nachgang der Covid-Krise
in Frankreich
Schluss mit »Grey bashing« und »Grey washing«

              SCHLUSS MIT »GREY
              BASHING« UND
              »GREY WASHING«
Trauerprozessionen waren in der Zeit der Ausgangsbe-                  und betonten nachdrücklich, dass das Alter keine Schwä-
schränkungen, die zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie                che sei. Der Soziologe Serge Guérin verwies auf die »Gefahr
verhängt waren, kaum sichtbare Handlungen. Die zahlrei-               einer generationenbezogenen Apartheid«2. Die Psychologin
chen Todesopfer mussten – wie auch aus anderen Gründen                Marie de Hennezel sprach sich gegen eine Altersgrenze aus
Verstorbene – im engsten Familienkreis beerdigt werden. Ob            und wies auf den Denkfehler hin, das Alter als Zeichen all-
reich oder arm, mächtig oder unbekannt: Während wir zu                gemeiner Gebrechlichkeit zu betrachten. »In Wirklichkeit
Hause »eingesperrt« waren, wurden wir Zeugen, wie Tau-                gehen Alter und Gebrechlichkeit nicht notwendigerweise
sende unserer Mitbürger_innen starben – bisweilen auch                Hand in Hand«, sagte sie am 16. April 2020 und betonte,
Freunde oder Bekannte. Wir waren fassungslos angesichts               man müsse zwischen den rüstigen und den gebrechlichen
der Brutalität und Plötzlichkeit der Krise. Wir hofften auf den       Alten unterscheiden.
Moment, in dem die Lage wieder unter Kontrolle und ein
Gedenken vor den Grabstätten möglich wäre.                            Tatsächlich zeichnet sich hinter dieser Debatte eine weite-
                                                                      re, noch grundlegendere ab, die wir zweifellos viel zu lange
Für eine Lockerung der Kontaktsperren brauchten wir einen             unter den Teppich gekehrt haben. Es geht darum, welchen
Zeitplan, Prioritäten und Strategien, um die mögliche Über-           Platz wir dem Älterwerden in unseren Gesellschaften einräu-
lastung unseres Gesundheitssystems durch eine befürchtete             men, wenn das Altern nicht mehr als Chance auf ein langes
zweite Welle zu vermeiden. Der französische Staatspräsident           Leben, sondern als Handicap betrachtet wird, das die Alten
Emmanuel Macron hat in seiner Ansprache am 13. April                  daran hindert, dem geltenden Primat der Schnelligkeit und
2020 dafür einige Perspektiven aufgezeigt: Neben der Öff-             der ständigen Bewegung zu folgen, das uns allen abverlangt
nung der Schulen und der Wiederaufnahme der Wirtschafts-              wird. Wie schon bei der Ausbeutung der Natur durch den
tätigkeit benannte er einen Punkt, der seither heftige Debat-         Menschen3 offenbart uns auch COVID-19 unsere kollektiven
ten ausgelöst hat: Wie kann die Kontaktsperre für »Risiko-            Reflexe und Schwachstellen.
gruppen« wie ältere Menschen aufgehoben werden, die am
häufigsten zu Opfern dieser Pandemie werden?                          Die höhere Lebenserwartung, die in den meisten Indust-
                                                                      rieländern bei um die 80 Jahren liegt, ist zu einem Symbol
Schon Aischylos warnte: »Leiden […] stößt dem Sterblichen             unserer Modernität und unseres sozialen und technologi-
halt zu, […] wenn das Leben weit sich in die Länge spannt«.1          schen Fortschritts geworden. Die Corona-Krise hat jedoch
Müssen wir die Ausgangssperre für die Älteren aufrecht-               einen Widerspruch offengelegt: Auf der einen Seite messen
erhalten, um sie zu schützen, auch vor ihrem eigenen Frei-            wir dem Leben und einer hohen Lebenserwartung große Be-
heitsdrang und, wenn nötig, durch Zwang? Das Argument                 deutung bei und legen sogar die Wirtschaft lahm, um Le-
der Rechtsstaatlichkeit, die jede diskriminierende Maßnahme           ben zu retten – ein einmaliger und umso bemerkenswerterer
verbietet – und damit jede allgemeine Altersgrenze –, hätte           Vorgang –, aber wie betrachten und behandeln wir auf der
die Debatte umgehend beenden können. Stattdessen rüttel-              anderen Seite ältere Menschen?
te diese Frage viele Menschen auf, vor allem die Betroffenen,
da hier etwas ganz Grundsätzliches angesprochen wird –                Wir müssen uns eingestehen, dass wir in unserer Gesell-
nämlich der Platz, den das Altern in unserer Gesellschaft             schaft ausgerechnet die alten Menschen, denen wir zwar
einnimmt, und die Art und Weise, wie ältere Menschen be-              sehr verbunden sind, die jedoch nicht mehr unserem Lebens-
handelt werden, die mit einer altersabhängigen Ausgangs-              stil, unserem Konsumverhalten sowie unseren Schönheits-
sperre quasi unter Vormundschaft gestellt würden, als seien           und Produktivitätsansprüchen entsprechen, ohne schlechtes
sie geschäftsunfähig und wüssten nicht, was gut für sie sei.

Bevor Macron die Debatte am 17. April nach nur vier Tagen
wieder beendete, meldeten sich zahlreiche Stimmen zu Wort             2   Serge Guérin (2020): »Faut-il prolonger le confinement des se-
                                                                          niors ?«, in: BFM TV, 17. April 2020.
                                                                      3   Vgl. Daniel Perron / Geneviève Rey, One Health : Repenser nos usages
                                                                          de la nature. Une perspective forestière, Fondation Jean-Jaurès, er-
1   Aischylos, Die Perser.                                                scheint in Kürze.

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FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Für einen neuen Blick auf das ­Älterwerden

Gewissen in Pflegeheime abschieben und sie damit aus dem                        DIE ERSTE STUFE DES ABSTIEGS:
Blickfeld verbannen.                                                            DIE BEHANDLUNG VON ÄLTEREN
                                                                                MENSCHEN IN DER ARBEITSWELT
Seit einigen Jahren scheint bereits der Gedanke an das Al-
tern als Tabu einer Lebenseinstellung zu gelten, die den Tod                    Bei genauerer Betrachtung ist unser Verständnis vom Alter
offenkundig aus dem Blick des Menschen verdrängt, den er                        als einer von Leistungseinschränkungen und sozialer Herab-
als eine Grenze erlebt, die nicht nur verschoben, sondern                       stufung geprägten Lebensphase symptomatisch für eine Ge-
gänzlich abgeschafft werden sollte – als wolle man den                          sellschaft, deren Kriterien für die wirtschaftliche und soziale
Menschen aus seiner ursprünglichen Tierhaftigkeit befreien,                     Integration in erster Linie an Schnelligkeit und permanenter
in der er seit Darwin feststeckt. Lifting, Training, spezielle Er-              Anpassungsfähigkeit ausgerichtet sind – eben nicht gerade
nährung – auf verschiedene Weise wird versucht das Unaus-                       Merkmale der körperlichen und geistigen Alterung.
weichliche hinausschieben: den Übergang von körperlicher
Robustheit zur Gebrechlichkeit, die nichts anderes ist als der                  An dieser Stelle muss an eine offensichtliche Tatsache er-
erste Schritt ins Grab. Eine augmented humanity verheißt                        innert werden: Arbeit ist stets begleitet von Anstrengung,
uns, durch die Überwindung unserer körperlichen Natur den                       Schmerz und Verschleiß. Historiker_innen kennen das Ver-
Tod zu besiegen.                                                                hältnis von labor und dolor im Mittelalter gut.5 Der Anth-
                                                                                ropologe Jean-Didier Urbain bringt diesen Zusammenhang
Unser Verhältnis zum Alter, das durch verschiedene politische                   auf den Punkt: »Wann immer die Forderung nach Leistung
Instrumente (Rente, Invalidität, Gesundheitsschutz etc.) ver-                   oder Tempo erhoben wird, verweist der Begriff ›Arbeit‹ auf
sachlicht ist, ist geprägt von einer regelrechten Ideologie, die                die Vorstellung einer zwangsläufig tödlichen Beanspruchung
in der Corona-Krise offenkundig wurde, zu der sich unsere                       und in einem bestimmten Kontext sogar einer aufopfernden
Gesellschaft aber nicht bekennt. Dieser Ideologie zufolge ist                   tödlichen Beanspruchung.«6 Verborgen hinter den objekti-
das Altern ein beständiger Niedergang des vermeintlichen                        ven individuellen Zielen der Emanzipation und Selbstverwirk-
sozialen Nutzens jedes Einzelnen. Und dieser soziale Nutzen                     lichung wird mit dem Alter und dem Vorwurf des Verlusts
steht wiederum in engem Zusammenhang mit dem wirt-                              der Wettbewerbsfähigkeit zunehmend die »tödliche Seite
schaftlichen Wert, der dem Einzelnen zugesprochen wird.                         der Arbeit« sichtbar, an die Urbain erinnert. Diese Ausgren-
                                                                                zung aus der Arbeitswelt kann somit als »sozialer Tod« erlebt
Wie der Soziologe Alain Mergier gezeigt hat, ist der Renten-                    werden – als Beginn des endgültigen Abstiegs.
eintritt der klassische Zeitpunkt für einen sozialen Abstieg –
zumindest wird dies von einem Teil der Betroffenen so erlebt                    Die Statistiken zum französischen Arbeitsmarkt sind in dieser
oder zumindest befürchtet. Doch schon vor dem Rentenein-                        Hinsicht sehr aufschlussreich. Die Beschäftigungsquote der
tritt findet ein altersbedingter Abstieg bzw. eine Herabstu-                    Männer für das Jahr 2018 reichte von 85 Prozent in der Al-
fung unter den Erwerbstätigen statt – und zwar der älteren                      tersgruppe der 50- bis 54-Jährigen über 75,5 Prozent bei den
Mitarbeiter_innen, deren Erfahrung nicht mehr ausreicht,                        55- bis 59-Jährigen bis hin zu gerade einmal 30,9 Prozent bei
um den vermeintlichen Mangel an Flexibilität, Produktivität                     den 60- bis 64-Jährigen.7 Dieser Rückgang ist drastisch. Das
und Schnelligkeit auszugleichen, und die zunehmend schon                        Rentenalter (das derzeit in Frankreich bei 62 Jahren liegt) er-
vor dem gesetzlichen Rentenalter in den Ruhestand »getrie-                      klärt ihn zwar zum Teil, aber nicht vollständig.
ben« werden. Ihr »Verfallsdatum« rückt dabei immer weiter
nach vorne: Heutzutage ist es nicht ungewöhnlich, dass man                      In seinem Schreiben vom 23. Juli 2019 an Premierminister
in einem Unternehmen bereits als »zu alt« gilt, wenn man                        Édouard Philippe wies der französische Rechnungshof auf
die 45 überschritten hat. Darüber hinaus gibt es auch inner-                    »eine Armutsgefährdung älterer, vom Arbeitsmarkt ausge-
halb der Gruppe der Rentner_innen selbst eine Form der                          schlossener Menschen sowie die damit steigenden Kosten
»Verbannung«, wenn das Alter zunehmend mit Krankheit                            für die Solidargemeinschaft« hin.8 Der Rechnungshof zeigte
und Tod in Verbindung gebracht wird, wie es Céline Lafon-                       sich besorgt über die niedrige Beschäftigungsquote der über
taine erklärt.4 Diese drei Stufen des Abstiegs sollen hier als                  55-Jährigen und die Tatsache, dass diese im Fall von Arbeits-
Ausprägungen einer Ideologie dargestellt werden, die unser                      losigkeit nur schwer eine neue Stelle finden: »Infolge der seit
Verhältnis zum alternden Individuum zunehmend prägt.                            Anfang der 2000er-Jahre erfolgten Rentenreformen ist die
                                                                                Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen zwar deutlich
                                                                                angestiegen: von 36,4 Prozent im Jahr 2003 auf 52,3 Pro-
                                                                                zent im ersten Quartal 2019. Dennoch liegt sie immer noch
                                                                                unter dem EU-Durchschnitt (59,1 Prozent), was auf die nied-

                                                                                5   Vgl. die eindrucksvolle Analyse von Alain Supiot (1994): Critique du
                                                                                    droit du travail, Paris, Presses universitaires de France.
                                                                                6   Jean-Didier Urbain (1998): L’Archipel des morts, Paris, Payot, S. 89.
                                                                                7   Vgl. Dares (2020): Tableau de bord, Activité des seniors et politiques
                                                                                    d’emploi; https://dares.travail-emploi.gouv.fr/IMG/pdf/dares_ta-
                                                                                    bleau_bord_seniors_janvier_2020.pdf
4   Vgl. insbesondere Céline Lafontaine (2008): La société post-mortelle,       8   https://www.ccomptes.fr/system/files/2019-10/20191010-re-
    Paris, Seuil.                                                                   fere-S2019-1878-fins-de-carriere.pdf

                                                                            2
Die erste Stufe des Abstiegs: die Behandlung von älteren Menschen in der Arbeitswelt

rige Beschäftigungsquote in der Altersgruppe der 60- bis                           gen Mitarbeiter_innen ein niedrigeres Gehalt als in ihrer bis-
64-Jährigen zurückzuführen ist (32,2 Prozent im Vergleich                          herigen Beschäftigungszeit zu zahlen – die Differenz solle
zu 45,1 Prozent im EU-Durchschnitt). Ein vorzeitiges Aus-                          dann von der französischen Arbeitsagentur Pôle Emploi aus-
scheiden aus der Arbeitswelt führt häufig zu einer Phase der                       geglichen werden.12 Die Beschäftigung und Gehaltsfortzah-
Nichterwerbstätigkeit am Ende der beruflichen Laufbahn,                            lung von älteren Arbeitnehmer_innen bis zum Renteneintritt
nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit und bevor Rentenansprü-                       würde damit zu einem Teil der Sozialpolitik, die eine Art al-
che geltend gemacht werden können.«                                                tersbedingte Entschädigung für ältere Arbeitnehmer_innen
                                                                                   leisten müsste. Besser kkann man den ökonomischen und
Für den Rechnungshof hat dies zwei Gründe: einerseits der                          sozialen Abstieg der älteren Arbeitnehmer_innen nicht aus-
Verzicht auf eine Politik zur Förderung der Beschäftigung von                      drücken, die dann nur noch so viel produktiven Nutzen hät-
älteren Arbeitnehmer_innen und andererseits die fehlenden                          ten, wie die Solidargemeinschaft ihnen ermöglicht.
Bereitschaft der Unternehmen, auch ohne starke öffentliche
Anreize zu handeln. Das Altersmanagement erweist sich als                          Hier lässt sich auch ein Auseinanderdriften der Werte in
Stiefkind der Arbeitsmarktpolitik: »Das Arbeitsministerium                         der Arbeitswelt beobachten: auf der einen Seite die älteren
geht davon aus, dass die Unternehmen das Thema Alters-                             Arbeitnehmer_innen, die an Wert verlieren, und demgegen-
management selbst in ihre Vereinbarungen über die Per-                             über die Arbeitgeber_innen, die mit zunehmendem Alter an
sonal- und Qualifikationsbedarfsplanung einbeziehen. Da                            Kompetenz und Wert gewinnen. In dm Zusammenhang ist
jedoch Anreize fehlen und es auch keine freiwilligen Verein-                       es interessant, das Durchschnittsalter der älteren Arbeitneh-
barungen gibt, haben die Unternehmen in den letzten Jah-                           mer_innen mit dem der Vorstandsmitglieder von Aktienge-
ren in dieser Frage wenig unternommen.« Es ist bedenklich                          sellschaften zu vergleichen: letzteres liegt bei 54 Jahren.13
ist, dass offenkundig viele der Meinung sind, die öffentliche
Hand trage die Verantwortung dafür, dass ältere Arbeitneh-                         Der Gesetzgeber hat allerdings bereits darauf hingewiesen,
mer_innen in Beschäftigung bleiben – als würden diese von                          wie wichtig das Thema sei: So heißt es in Artikel 1 des Geset-
den Unternehmen zwangsläufig als Ballast empfunden. Der                            zes vom 28. Dezember 2015 über die Anpassung der Gesell-
Präsident des Unternehmerverbandes MEDEF, Geoffroy Roux                            schaft an die Alterung, dass »die Anpassung der Gesellschaft
de Bézieux gestand dies indirekt ein, als er in der Debatte                        an die Alterung ein nationales Gebot und ein vorrangiges
über die Rentenreform dem Generalsekretär des Gewerk-                              Ziel aller staatlichen Politikbereiche ist«. Allerdings stellt das
schaftsbunds CFDT, Laurent Berger, antwortete, dass »es                            Gesetz vor allem auf den Verlust der Autonomie ab und re-
derzeit keinen Anreiz für Arbeitgeber_innen und Arbeitneh-                         duziert das Thema Alterung damit vor allem auf die letzten
mer_innen gebe, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen«9.                              Lebensjahre, statt die allgemeine Problematik der alternden
                                                                                   Bevölkerung zu berücksichtigen. Bei der Frage der Alterung
Tatsächlich scheinen das Gehalt der älteren Angestellten                           verdrängt die Politik den Übergang von der Erwerbstätig-
und ihre angeblich geringere Leistungsfähigkeit die wahren                         keit in die Nichterwerbstätigkeit, reduziert Alterung auf den
Gründe zu sein, weshalb Unternehmen diese Mitarbeiter_                             »Verlust der Autonomie« älterer Menschen und beschränkt
innen nicht mehr beschäftigen wollen. Hinzu kommt eine                             sich auf die Behindertenpolitik, Alten- und Pflegeheime,
objektive Tatsache, nämlich die mit fortschreitendem Alter                         Regelungen für Pflegekräfte und Ähnliches. Das Gesetz be-
zunehmende Zahl von Krankmeldungen. So wies Roux de                                kräftigt damit, wenn auch nur stillschweigend, eine Sicht auf
Bézieux im Oktober 2018 darauf hin, dass »ältere Arbeit-                           das Alter, in der der Einzelne auf seine produktive Leistung
nehmer häufiger und länger als andere Mitarbeiter krank-                           reduziert ist.
geschrieben werden. Infolgedessen sind die Leistungen beim
Krankentagegeld bei den über 50-Jährigen stark angestie-                           Die zwangsweise frühverrenteten, also arbeitslosen »Er-
gen (+ 21,2 %). Und diese Zahl wird noch weiter steigen.«10                        werbstätigen« werden zwar nicht immer zahlreicher, aber
                                                                                   doch zumindest für immer längere Zeiträume an den Rand
Lohnsenkungen können diese Senior_innen verständlicher-                            des Arbeitsmarktes gedrängt. So sind 64 Prozent der Lang-
weise nur schwer akzeptieren, sehen sie sich doch in einer                         zeitarbeitslosen über 50 Jahre alt. Allein die Stellenanzeigen
»libidinalen« Wirtschaft ihrer geplanten Obsoleszenz gegen-                        zeugen davon, dass für einige Unternehmen das Jungsein
über.11 Diese Sicht ist so wirkungsmächtig, dass der französi-                     ein Pluspunkt und Berufserfahrung ein Makel ist, zum Bei-
sche Arbeitgeberverband Medef bereits vorgeschlagen hat,                           spiel wenn die Integration des künftigen Neuzugangs in ein
dass es Unternehmen erlaubt werden sollte, über 55-jähri-                          »junges und dynamisches Team« angepriesen wird. Dies
                                                                                   ist nicht mehr weit von einer »Diskriminierung bei der Ein-
                                                                                   stellung« gemäß Artikel L.1132-1 des Arbeitsgesetzbuchs
9  Geoffroy Roux de Bézieux (2019): »Die Unternehmen müssen große
   Anstrengungen bei der Beschäftigung von älteren Arbeitnehmern
   machen«, in: Europe 1, 28. Oktober 2019; https://www.europe1.fr/                12 Vgl. Anaïs Bouissou (2019): »Chômage : la proposition choc du Me-
   politique/geoffroy-roux-de-bezieux-les-entreprises-auront-a-faire-                 def pour favoriser l’emploi des seniors«, in: RTL, 19. April 2019;
   un-gros-effort-sur-lemploi-des-seniors-3927954                                     https://www.rtl.fr/actu/politique/chomage-proposition-choc-me-
10 Geoffroy Roux de Bézieux im Figaro (2018): »L’effort doit être collec-             def-contre-inemploi-seniors-7797460207
   tif«, in: Medef, 17. Oktober 2018; https://www.medef.com/fr/actuali-            13 Wobei dieses aufgrund der hinzugekommenen – oft jüngeren –
   tes/geoffroy-roux-de-bezieux-au-figaro-leffort-doit-etre-collectif                 Frauen in den letzten Jahren noch gesunken ist. Vgl. Gesetz Nr. 2011-
11 Vgl. Jean-François Lyotard (1974): L’Économie libidinale, Paris, Les Édi-          103 vom 27. Januar 2011 über die gleichberechtigte Vertretung von
   tions de Minuit; Gilles Dostaler / Bernard Maris (2009): Capitalisme et            Frauen und Männern in Verwaltungs- und Aufsichtsräten und über
   pulsion de mort, Paris, Albin Michel.                                              berufliche Gleichstellung, Art. 225-18-1.C.

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FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Für einen neuen Blick auf das ­Älterwerden

entfernt. Laut dem Jahresbericht des Vereins Solidarités nou-                   völkerungsgruppe, sowohl in Bezug auf ihre soziale und wirt-
velles face au chômage unterstellen die Personalverantwort-                     schaftliche Situation als auch auf ihren Gesundheitszustand.
lichen neben einem angeblichen Mangel an Anpassungsfä-                          Nach Angaben der Direction de la recherche, des études, de
higkeit auch, dass ältere Kandidat_innen sich schwieriger in                    l’évaluation et des statistiques (DREES) gab es in Frankreich
junge Teams integrieren ließen14, schwieriger zu führen und                     Ende 2016 – die Bezieher_innen von Hinterbliebenenrente
(bei gleicher Qualifikation) teurer seien.15 Interessant ist auch,              mit eingerechnet – mehr als 17 Millionen Rentner_innen.18
dass bei Angestellten zwei oder drei Jahre vor dem gesetz-                      Im Jahr 2030 wird es insgesamt 20 Millionen Menschen im
lichen Rentenalter die einvernehmlichen Beendigungen von                        Alter von 60 Jahren und darüber geben, im Jahr 2060 fast
Arbeitsverträgen 25 Prozent der beendeten unbefristeten                         24 Millionen.
Verträge ausmachen – im Vergleich zu 16 Prozent bei jünge-
ren Angestellten, wie Jean-Paul Domergue, einer der Auto-                       Diese von der Wirtschaftswelt, aber auch von der Politik vor-
ren des Berichts, hervorhebt.16                                                 genommene Assoziierung von »Alter« mit »Ruhestand«
                                                                                sollte hinterfragt werden: Der Ruhestand entspricht nicht
                                                                                in erster Linie einem bestimmten Alter oder Gesundheits-
DIE ZWEITE STUFE DES ABSTIEGS:                                                  zustand, sondern dem Wechsel des sozialen Status. Ältere
DER EINTRITT IN DEN RUHESTAND                                                   Personen wären so vor allem »unproduktiv« entsprechend
                                                                                der Logik des Arbeitsmarktes. Ähnlich wie die erste Stufe
Unsere Sicht auf das Alter ist zunehmend von einer engen                        des sozialen Abstiegs, der von den Betroffenen oft leidvoll
wirtschaftlichen Perspektive geprägt, welche die Bürger_in-                     als Herabstufung empfunden wird, stellt in einem Land, in
nen auf bloße Arbeitskräfte reduziert. Dabei werden den Ar-                     dem die Arbeit mehr als anderswo eine integrative soziale
beitnehmer_innen grundsätzlich Eigenschaften zugeschrie-                        Funktion besitzt und dem Einzelnen erlaubt, seinen Platz in
ben, die für das Unternehmen einen mit der Zeit abnehmen-                       der Gesellschaft einzunehmen, der Übergang in den Ruhe-
den Grenznutzen haben. Anders ausgedrückt hat das Alter                         stand eine Art zweite »Verbannung« dar – bzw. die erste,
einen ökonomischen Wert, der ab einem bestimmten Zeit-                          für diejenigen, die ihre berufliche Laufbahn als Erwerbstätige
punkt negativ wird.                                                             beenden konnten.19

In dieser Sichtweise markiert der Eintritt in den Ruhestand                     Und so pendelt der Diskurs in Politik und Wirtschaft sehr
eine wichtige Wegmarke – in Frankreich vielleicht noch mehr                     häufig zwischen zwei Extremen hin und her: Auf der einen
als anderswo. Obwohl viele Erwerbstätige dem Ruhestand                          Seite wird Empathie bekundet und Aussagen über unsere
wie einem goldenen Zeitalter entgegensehen, das für Muße                        älteren Mitbürger_innen sind voll von edlen Gefühlen, die
und die Befreiung von den Lasten der Arbeit steht, insbe-                       jedoch oft in Wehklagen abgleiten, vermutlich um ein dif-
sondere den Strapazen, dem psychischen Druck, aber auch                         fuses schlechtes Gewissen zu beschwichtigen, das durch die
der mangelnden Anerkennung, wird diese Wegmarke von                             einvernehmliche, kollektive soziale Abwertung entstanden
den Betroffenen längst nicht nur als Erleichterung empfun-                      ist: Wie bei jeder Person, die als von Natur aus »fragil« gilt,
den. Louis-Vincent Thomas zufolge »wird trotz der steigen-                      werden in langatmigen Reden die – tatsächlichen – positiven
den Lebenserwartung und der Möglichkeiten, das Renten-                          Eigenschaften unserer älteren Mitbürger_innen wie Weis-
eintrittsalter vorzuverlegen, der Ruhestand oft mit Altsein im                  heit, Erfahrung und der Sinn für den Austausch zwischen
sozialen Sinne gleichgesetzt«17.                                                den Generationen betont. Da dieser Diskurs alle einbeziehen
                                                                                möchte, werden sowohl die Komplexität der eigentlich hete-
Denn obwohl es vielen in dieser neuen Lebensphase gut                           rogenen Gruppe als auch die Mängel, die doch jeder Mensch
geht und sie nicht das Gefühl haben, mit dem Übergang in                        hat, geleugnet. Paradebeispiele dafür sind die gütige Groß-
die Nichterwerbstätigkeit »alt zu werden«, erleben Rentner_                     mutter und wunderbare Köchin oder der Großvater, der mu-
innen dennoch, wie sie von der Gesellschaft – insbesondere                      tig im Krieg gekämpft hat und hinter seiner Raubeinigkeit
und in zunehmendem Maße von der Geschäftswelt und der                           und Schweigsamkeit ein großes Herz verbirgt. Die Funktion
Politik – plötzlich anders wahrgenommen werden. Darüber                         der Rentner_innen wird darauf reduziert, ein Objekt der Lie-
erwecken Statistiken den Eindruck, dass, wenn vom »Alter«                       be ihrer Nachkommen zu sein.
die Rede ist, vorrangig Rentner_innen gemeint sind. Dabei
sind die Rentner_innen eine große und sehr heterogene Be-                       Das andere Extrem, das angeblich genau dieses Pathos ver-
                                                                                meiden will, besteht darin, das Alter möglichst positiv darzu-
                                                                                stellen, wobei es allerdings auf seine wirtschaftliche Dimen-
                                                                                sion reduziert wird. Die Rentner_innen werden so zu ewi-
14 Vgl. Delphine Dauvergne (2019): »Je suis le plus âgé au travail : com-
   ment trouver ma place dans une équipe de jeunes ?«, in: Notre                gen Urlauber_innen, zu Konsument_innen von Waren und
   temps, 20. Dezember 2019; https://www.notretemps.com/retraite/
   emploi/le-plus-age-au-travail-trouver-ma-place-dans-une-equipe-de-
   jeunes,i199320
15 Vgl. Barometer des Arbeitsmarktzugangs nach Altersgruppen 2018.              18 Vgl. DREES (2018): Les retraitéset les retraites; https://drees.solidari-
16 Vgl. Guillaume Le Nagard (2019): »L’impossible retour à l’emploi des            tes-sante.gouv.fr/IMG/pdf/retraites_2018.pdf
   seniors au chômage«, in: Notre temps, 20. Dezember 2019; https://            19 Vgl. hierzu Jérôme Fourquet / Alain Mergier / Chloé Morin (2018):
   www.notretemps.com/retraite/emploi/retour-emploi-chomeurs-seni-                 Inutilité ou absence de reconnaissance : de quoi souffrent les sala-
   ors,i203103                                                                     riés français ?, Fondation Jean-Jaurès, 3. Oktober 2018; https://jean-­
17 Louis-Vincent Thomas (1975): Anthropologie de la mort, Paris, Payot,            jaures.org/nos-productions/inutilite-ou-absence-de-reconnaissance-
   S. 49.                                                                          de-quoi-souffrent-les-salaries-francais

                                                                            4
Die dritte Stufe des Abstiegs: wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit und fehlende Sichtbarkeit

Dienstleistungen und zur Chance für die »Silver Economy«,                       Tod unter Quarantäne. Den Tod wohlgemerkt, der bis in die
als stelle der Konsum den einzigen sozialen Nutzen des Men-                     zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein vor allem in Form
schen dar, der ihm seine Würde wiedergeben und seinem Le-                       von plötzlichen und manchmal schweren Infektionskrank-
ben, das im Laufe der Jahre immer schneller verblasst, einen                    heiten auftrat. Heutzutage lauert der Tod hingegen viel öfter
Sinn verleihen kann.                                                            in degenerativen Erkrankungen, die häufig eine lange Pfle-
                                                                                gezeit mit sich bringen. Oder nochmals in den Worten von
Zum Beleg dieser These von »auf Konsument_innen re-                             Céline Lafontaine: »Da das Alter mit Tod und Degeneration
duzierten Alten« sei daran erinnert, dass in Frankreich der                     assoziiert wird, erscheint es als ein Makel, als eine Geißel,
mittlere Lebensstandard der Rentner_innen etwas höher                           die unbedingt bekämpft werden muss.« Zu Recht bemerkt
liegt als der der Gesamtbevölkerung, während ihre Armuts-                       Lafontaine, dass zwischen Alter und Krankheit nicht mehr so
quote nur halb so hoch ist (6,6 Prozent gegenüber 14,2 Pro-                     deutlich getrennt wird, weshalb wir alle mehr oder weniger
zent). Nimmt man alle Rentensysteme mit unmittelbarem                           bewusst eine Grenze zwischen der »gesunden«, »aktiven«
Anspruch zusammen, betrug die durchschnittliche Rente in                        Gesellschaft auf der einen sowie dem Alter auf der anderen
Frankreich Ende 2016 monatlich 1.389 Euro brutto.                               Seite ziehen.

Dieser zweite Abstieg beruht auf derselben Logik wie der
erste: Da die Gesellschaft die Menschen quasi monetarisiert                     DIE DRITTE STUFE DES ABSTIEGS:
und nur noch aus wirtschaftlicher Sicht betrachtet, sind sie                    WIRTSCHAFTLICHE
lediglich Gehälter und Produktionsmittel, Konsument_innen                       BEDEUTUNGSLOSIGKEIT UND FEHLENDE
und Produzent_innen. In dieser Logik werden Rentner_innen                       SICHTBARKEIT
nur noch zu »halben Bürger_innen«, da sie zwar konsumie-
ren, aber keine monetarisierbaren Güter mehr produzieren.                       Die Zahl der Menschen über 85 Jahre wird von heute 1,4
Dies wurde in der Corona-Krise erkennbar: Zwar verloren                         Millionen auf fünf Millionen im Jahr 2060 steigen. 2016 leb-
durch die Ausgangsbeschränkungen zahlreiche Vereine ihre                        ten in Frankreich mehr als 600.000 ältere Menschen in 7.500
vielen helfenden Hände – Rentner_innen, die sich als Frei-                      Altenpflegeheimen und fast 760.000 pflegebedürftige ältere
willige engagierten –, doch der Zusammenbruch dieser Öko-                       Menschen erhielten Leistungen eines häuslichen Hilfs- und
nomie des sozialen Zusammenhalts und des Teilens, dessen                        Betreuungsdienstes. Bis 2050 wird es in Frankreich 2,2 Mil-
Auswirkungen durch nicht verteilte Mahlzeiten und hand-                         lionen pflegebedürftige Menschen geben; 2017 waren es
lungsunfähige private Vereine durchaus spürbar waren, wur-                      1,3 Millionen.
de deutlich seltener kommentiert als der Zusammenbruch
der »realen« Wirtschaft.                                                        Vor ihrem Tod waren 40 Prozent der Verstorbenen pflege-
                                                                                bedürftig. 60 Prozent der Empfänger_innen staatlicher
Woher kommt dieses Bedürfnis, das Alter möglichst positiv                       Pflegebeihilfe (APA) wohnen zu Hause. 21 Prozent der über
darzustellen, obwohl es doch automatisch negative Gefühle                       85-Jährigen leben in Pflegeeinrichtungen, wobei 50 Prozent
und Ängste in uns hervorruft, die wir nur schwer formulie-                      der Pflegeheimplätze zum öffentlichen Sektor, 28 Prozent
ren oder gar ertragen können? Hier zeigt sich, dass unser                       zum privaten gemeinnützigen Sektor und 22 Prozent zum
Verhältnis zum Alter von unserer Sicht auf den Tod geprägt                      gewinnorientierten Privatsektor gehören.
ist. Die zunehmende Alterung unserer Gesellschaften hat ei-
nen zivilisatorischen Wandel in unserem Verhältnis zum Tod                      In der dritten und letzten Stufe des Abstiegs werden unsere
bewirkt. Ein deutliches Zeichen dafür ist das massenhafte                       Alten in Pflegeeinrichtungen abgeschoben und damit in or-
Sterben in den Altenpflegeheimen und die relative Gleich-                       ganisierter Weise der Sichtbarkeit entzogen. Dieser Vorgang
gültigkeit gegenüber älteren Menschen während der Zeit                          ist nicht neu. Die oben zitierte Arbeit von Louis-Vincent Tho-
der Ausgangsbeschränkungen – eine Gleichgültigkeit junger                       mas zeigt, wie Alter und Ruhestand in einen Topf geworfen
Menschen, die sich von den Ausgangsbeschränkungen zum                           werden. Über die heute in euphemistischer Verwaltungs-
Schutz der Alten nicht betroffen fühlten, und eine Gleich-                      sprache als Pflegeheim bezeichneten Einrichtungen urteilte
gültigkeit bei der Ankündigung zur schrittweisen Lockerung                      er in seiner Studie aus den 1970er-Jahren noch härter: Das
der Maßnahmen, von der die alten Menschen als letzte pro-                       Altenheim »ist sowohl Folge des sozialen Sterbens als auch
fitieren sollten.                                                               dessen perfektioniertes Instrument«. Die Pflegeheime insti-
                                                                                tutionalisieren das Abschieben der Alten und nehmen den
»Während der Tod zu Beginn des 20. Jahrhunderts« – wie                          Familien, die sich auf diese Weise guten Gewissens der lästig
Céline Lafontaine erinnert – »noch die Säuglinge in ihren                       gewordenen Eltern entledigen, und der Gesellschaft, welche
Wiegen und die Wöchnerinnen heimsuchte, hat er jetzt das                        die Einrichtungen geschaffen hat, gleichzeitig das Schuldge-
Aussehen eines gebrechlichen und kränklichen alten Man-                         fühl.21 Fast fünfzig Jahre nach dieser Studie haben laut einer
nes angenommen, der geduldig darauf wartet, dass der Sen-                       Untersuchung der DREES 20 Prozent der Pflegeheimbewoh-
senmann kommt und ihn holt.«20 Indem wir eine Ausgangs-                         ner_innen keine Familie mehr, die sie besucht, was jedoch
sperre für alte Menschen verhängen, stellen wir auch den                        nur auf fünf Prozent derjenigen zutrifft, die noch zu Hause
                                                                                leben.
20 Céline Lafontaine (2010): »La vieillesse, une maladie mortelle«, in:
   Revue internationale de soins palliatifs, Bd. 25, Nr. 1, 2010, S. 5–9;
   https://www.cairn.info/revue-infokara-2010-1-page-5.htm                      21 Louis-Vincent Thomas, a. a. O., S. 51.

                                                                            5
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Für einen neuen Blick auf das ­Älterwerden

Die Corona-Krise führt uns diese Art des Abstiegs deutlich                   betrachtet. Die einleitenden Worte des Rechnungshofs in
vor Augen. So dauerte es zum Beispiel mehrere Wochen,                        einem Bericht von 2005 sind in dieser Hinsicht vielsagend:
bis in der makabren Zählung unserer Toten die Zahlen der in                  »Die französische Gesellschaft wird, wie die meisten west-
den Pflegeheimen Verstorbenen zu denen der Krankenhäu-                       lichen Gesellschaften, dauerhaft durch diese Situation be-
ser hinzugerechnet wurden. Natürlich lässt sich dies durch                   troffen sein, die früher oder später alle Familien direkt oder
praktische Gesichtspunkte erklären. Doch ist hier auch nicht                 indirekt zu spüren bekommen werden. Es handelt sich um
unsere Gewohnheit zu übersehen, das – erwartete – Sterben                    eine medizinische, soziale und finanzielle Herausforderung,
im Verborgenen geschehen zu lassen und die Pflege an Fach-                   die immer noch weitgehend unterschätzt wird und die nur
leute zu delegieren, die ohnehin heillos überfordert sind.                   durch eine sorgfältig vorbereitete und gut konzipierte Poli-
                                                                             tik bewältigt werden kann.«23 Im Übrigens sind es die Rech-
Diejenigen, die zwar pflegebedürftig sind und immer schwä-                   nungsprüfer_innen des Rechnungshofs, welche die Wirk-
cher werden, aber noch zu Hause leben, stehen sogar noch                     samkeit der staatlichen Politik bewerten.
weniger im Fokus der Öffentlichkeit und scheinen nur noch
auf ihr Ende zu warten. »Derjenige der beiden, der übrig                     Noch 2005 bestand die Alterspolitik vor allem darin, die
bleibt, findet sich in der Hölle wieder«, sang Jacques Brel,                 staatliche Pflegebeihilfe APA auszuzahlen.24 Diese Beihilfe
»Ihr seht ihn vielleicht / Ihr seht sie manchmal, im Regen und               erhalten pflegebedürftige Personen ab 60 Jahren. Sie wird
im Kummer / Die Gegenwart durchqueren / und sich dabei                       von den Departements ausbezahlt und betraf zum damali-
schon entschuldigen, dass sie noch nicht weit weg sind / Und                 gen Zeitpunkt 865.000 Personen. Selbstverständlich ist es,
ein letztes Mal flüchten vor der silbernen Standuhr, die im                  wie der Rechnungshof konzediert, das Ziel der Politik, »die
Wohnzimmer tickt / die Ja sagt, die Nein sagt, die zu ihnen                  Versorgung von Pflegebedürftigen menschenwürdiger zu
sagt ›Ich warte auf dich‹ / Die im Wohnzimmer tickt.« Leicht                 gestalten, zu modernisieren, medizinisch zu verbessern und
vergessen wir das Ende dieses Liedes: »Die Ja sagt, die Nein                 effektiver zu machen«,25 doch dass das System so ausschließ-
sagt und die dann auf uns wartet.«                                           lich auf Kosten ausgerichtet ist, hat schon etwas Erschre-
                                                                             ckendes. Im Jahr 2015 erhielten schon 1,3 Millionen Men-
Wir wollen nicht wahrhaben, dass das Vergessen der Alten                     schen die Pflegebeihilfe, davon mehr als 500.000 in Pflege-
bedeutet, uns selbst zu vergessen und uns dazu zu verurtei-                  einrichtungen. Die gesamten Ausgaben für die Pflegebeihilfe
len, dass unsere Gesellschaft uns die gleiche Verachtung ent-                beliefen sich auf 5,6 Milliarden Euro, die durchschnittliche
gegenbringt wie ihnen. Dass die Todesfälle aus den Pflege-                   jährliche Summe pro Empfänger_in betrug 4.450 Euro.26
heimen in der Statistik anfangs nicht erfasst wurden, sagt
eine Menge aus. Wie schon während der Hitzewelle von                         Es ist in diesem angespannten wirtschaftlichen Kontext, in
2003 weiß man auch jetzt oft nicht, wer woran zu Hause                       dem sich die Umwandlung der Solidarpolitik in eine Politik
gestorben ist, wenn die Verstorbenen nicht oder erst ein paar                der Entwicklung von Wirtschaftsmärkten vollzieht. So scheint
Tage später gefunden werden, nachdem sich nach einer ge-                     das Gesetz vom 28. Dezember 2015 über die Anpassung
wissen Zeit der Abwesenheit schließlich ein_e Nachbar_in                     der Gesellschaft an die Alterung (ASV) ganz unterschiedli-
oder eine Haushaltshilfe Sorgen gemacht hat.                                 che Ziele zu verfolgen: Auf der einen Seite zielt das Gesetz
                                                                             zum Beispiel darauf ab, den Selbstbehalt von ärmeren und
Im Übrigen sind diejenigen, die sich im Alltag um die Alten                  stark pflegebedürftigen älteren Menschen zu senken, und
kümmern, fast genauso wenig sichtbar wie die alten Men-                      führt neue Hilfsmaßnahmen für pflegende Angehörige ein,
schen selbst. Nicht unwichtig ist hier die Feststellung des                  die mehr Entlastung bei ihrer täglichen Pflegearbeit erhalten.
»Hohen Rates für die Gleichstellung von Frauen und Män-                      Dennoch ist der von den Departementräten gezahlte Durch-
nern«, dass gerade in diesem Sektor die Aufteilung der                       schnittsbetrag pro Leistungsempfänger_in zwischen 2011
sozialen Rollen offenkundig ist, woran auch deutlich wird,                   und 2017 um 25 Euro zurückgegangen.27
welche Bedeutung die Gesellschaft dieser Branche beimisst:
»Die Menschen, die heute überwiegend das Gesundheits-                        Auf der anderen Seite fördert das Gesetz die Entwicklung
wesen unseres Landes am Laufen halten, die in direktem                       einer »Silver Economy«, deren vorrangiges Ziel die Profitabi-
Kontakt mit den Kranken stehen, seien es Krankenschwes-                      lität ist – wobei der Einzelne auf seine Eigenschaft als Kon-
tern, Pflegekräfte oder das Personal, das im Gastgewerbe                     sument_in von Waren und Dienstleistungen reduziert wird.
oder in Reinigungsdiensten, in Krankenhäusern oder Pflege-
heimen arbeitet, sind die Frauen.«22
                                                                             23 Rechnungshof (2005): Les personnes âgées dépendantes. Rapport
                                                                                au Président de la république, November 2005, S. 9.
Dass diese soziale Tatsache von der Politik nicht wirklich
                                                                             24 Die »allocation personnalisée autonomie« wurde durch das Gesetz
beachtet wird, ist eine Untertreibung. Fragen der Bevölke-                      vom 20. Juli 2001 über die Betreuung pflegebedürftiger älterer Men-
rungsalterung und der Pflegebedürftigkeit werden gegen-                         schen und die individuelle staatliche Pflegebeihilfe eingeführt; siehe:
wärtig in erster Linie unter dem Aspekt der Kostenbelastung                     Amtsblatt vom 21. Juli 2001.
                                                                             25 Rechnungshof, a. a. O., S. 11.
                                                                             26 Vgl. DREES (2017): Les bénéficiaires et les dépenses de l’allocation
                                                                                personnalisée, S. 49 ff.; https://drees.solidarites-sante.gouv.fr/IMG/
22 Hoher Rat für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2020):              pdf/fiche6-6.pdf
   Le confinement : un révélateur des rôles sociaux des femmes et des        27 Vgl. DREES (2019): »Montants d’APA à domicile depuis 2011 : une ré-
   hommes, 14. April 2020; http://www.haut-conseil-egalite.gouv.fr/             allocation au bénéfice des plus dépendants«, in: Études et résultats,
   violences-de-genre/actualites/article/le-confinement-un-revelateur-          Nr. 1118, Juli 2019, S. 5; https://drees.solidarites-sante.gouv.fr/IMG/
   des-roles-sociaux-des-femmes-et-des-hommes                                   pdf/er1118.pdf

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In der Solidarpolitik muss ein Umdenken stattfinden

Wie es in dem Bericht im Anhang zum ASV-Gesetz heißt,                Produkten, Ausrüstungen und Technologien für ältere Men-
»gibt es heute 15 Millionen Menschen über 60, 2025 wer-              schen gedeckt werden kann. Das vorliegende Gesetz wird
den es 18,9 Millionen und 2060 fast 24 Millionen sein. Die           durch Maßnahmen zur Senkung der Selbstbehalte für ältere
Zahl der Menschen über 85 wird sich bis 2050 fast vervierfa-         Menschen und ihre Familien, durch die Anhebung der APA-
chen und von heute 1,4 Millionen auf 4,8 Millionen steigen.          Beihilfe und durch eine bessere Finanzierbarkeit technischer
2060 wird ein Drittel der Menschen über 60 sein.«                    Hilfsmittel dazu beitragen, dass eine stärkere Nachfrage nach
                                                                     neuen Produkten entsteht.« Und fertig ist die Umwandlung
Die höhere Lebenserwartung sei natürlich »ein beträchtlicher         der sozialen Unterstützung älterer Menschen in eine strate-
Fortschritt für die französische Gesellschaft«, aber darüber         gische wirtschaftliche Investition, die das Bild eines alternden
hinaus sei die sich daraus ergebende Umwälzung »auch ein             Menschen schafft, der nur noch als Verbraucher_in oder Pro-
Wachstumsträger und Auslöser einer wirtschaftlichen Ent-             duzent_in existiert.
wicklung, welche die Bedürfnisse und Wünsche der älteren
Menschen bedient. Die Langlebigkeit der Franzosen stellt
ein großes Potenzial zur Schaffung von Arbeitsplätzen im             IN DER SOLIDARPOLITIK MUSS EIN
Dienstleistungssektor, aber auch in der Industrie dar«. Hier         UMDENKEN STATTFINDEN
steht die Gewinnerzielung im Vordergrund, die aber – wie
der ASV-Bericht hervorhebt – natürlich im Einklang mit Re-           Heute stellt sich die Frage nach den Folgen dessen, was Paul
spekt vor den Menschen und dem ständigen Bemühen um                  Virilisa den »eigentlichen Unfall« nannte.28 Ein Unfall, der
die Verbesserung der Lebensbedingungen erfolgen soll. Auf            uns – falls wir nicht bereits davon überzeugt waren – brutal
diese Weise können wir »das Potenzial ausschöpfen, das der           die Endlichkeit des Lebens vor Augen führte – nicht nur auf
demografische Wandel für Wachstum und Beschäftigung                  individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene.
darstellt«. Dabei reicht das sehr weite Feld der »Silver Eco-
nomy« von fortschrittlichen Technologien der intelligenten           Da wir die Alten bewusst »unter den Teppich gekehrt« ha-
Gebäudesteuerung und Robotik bis hin zu Wohnungsbau,                 ben, gilt es jetzt die Grundlagen einer Gesellschaft zu errich-
Mobilität und auf Senior_innen zugeschnittenen Tourismus             ten, die sie wieder ans Licht bringt. »Die Würde des Men-
und ist daher ein »ständig wachsendes Gebiet, das sämtliche          schen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen«,
Märkte erfaßt«.                                                      heißt es in Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäi-
                                                                     schen Union. Artikel 25 fügt speziell auf die Rechte älterer
Hier verlässt der Bericht plötzlich den Rahmen der Solidar-          Menschen bezogen hinzu: »Die Union anerkennt und achtet
politik und offenbart das zugrunde liegende wirtschaftliche          das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhän-
Denken. Selbstverständlich ist eine Marktorientierung nicht          giges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen
per se negativ zu bewerten. Aber es verwundert doch, dass            Leben.« Das bringt natürlich steigende Ausgaben für die Be-
ein auf Solidarität ausgerichtetes Gesetz einen eindeutig ge-        treuung älterer Menschen mit sich. Wie der Rechnungshof
werbs- und unternehmsorientierten Diskurs einschlägt, der            2005 feststellte, »ergibt sich der Kostenanstieg in erster Linie
– zweifellos um das »Altern«, das wir nur noch unter wirt-           aus der notwendigen Aufstockung des entsprechenden Per-
schaftlichen und technologischen Aspekten wertschätzen               sonals. Es müssen nämlich sowohl die steigende Zahl pflege-
können, positiv darzustellen – bekräftigt, dass es darum ge-         bedürftiger älterer Menschen bewältigt als auch der Betreu-
he »die Altersökonomie so zu gestalten, dass sie in der Lage         ungsschlüssel verbessert werden, um eine bessere Qualität
ist, einen Weltmarkt mit fast einer Milliarde älterer Menschen       der Pflege zu gewährleisten«.29 Dieser letzte Punkt stellt in
zu bedienen«, in dem »Frankreich zu einem weltweit führen-           unserer Politik ein Problem dar.
den Land der Silver Economy« aufrückt.
                                                                     Um die gemachten Fehler auszugleichen, ist es unerlässlich,
Aus Sicht der Verfasser des Gesetzentwurfes, »stellt die Al-         sich von dem vorherrschenden wirtschaftlichen Paradigma
terung der Gesellschaft zwar beträchtliche soziale und ge-           zu lösen und wieder an soziale Gerechtigkeit anzuknüpfen.
sellschaftliche Herausforderungen dar, aber auch eine echte          Grundlage sollte insbesondere die von Cynthia Fleury oder
Chance für Innovation, Wachstum und Beschäftigung. Sie               auch Alain Supiot entwickelte »Care-Philosophie« bzw. die
wird eine breite Nachfrage nach Produkten, Technologien              »Ethik der Fürsorge« sein.30 Mit dem Konzept der sozialen
und Dienstleistungen für ältere Menschen schaffen und zu-            Gerechtigkeit können wir den ökonomischen Zwängen ent-
sätzlich zu einem vermuteten Anstieg der Sparquote führen,           kommen und eine menschlichere Sichtweise der Fürsorge
was wiederum profitable Investitionen in unserem Land för-           mit Substanz füllen, die dazu führt, dass das Vertrauen in
dern dürfte. Es wird erwartet, dass sich die Nachfrage nach          die Institutionen und die Rechtsstaatlichkeit erhalten bleibt,
neuen, an gesundheitliche Einschränkungen angepassten
Wohnausstattungen, Produkten, Technologien und Dienst-
leistungen in den nächsten 20 Jahren verdoppeln und damit
                                                                     28 Paul Virilio (2005): L’Accident originel, Paris, Galilée, S. 49.
auch ein ganz neues Angebot schaffen wird. Das Ziel ist klar:
                                                                     29 Rechnungshof, a. a. O., S. 20.
einen Markt von mehr als 900 Millionen Senioren weltweit             30 Vgl. Cynthia Fleury (2018): »Le care, au fondement du sanitaire et
zu erreichen, hauptsächlich in den OECD-Ländern. Im Jahr                du social«, in: Soins, Nr. 826, Juni 2018, S. 51; Alain Supiot (Hrsg.)
2050 wird es zwei Milliarden ältere Menschen geben. Um                  (2015): La Solidarité, Enquête sur un principe juridique, Paris, Odile
                                                                        Jacob; derselbe (2019): La Force d’une idée, Paris, Les Liens qui
die stark wachsende Nachfrage zu befriedigen, passt sich ge-            ­libèrent; sowie derselbe (2019): L’Idée de justice sociale d’Alfred
rade eine ganze Industriebranche an, sodass der Bedarf an                ­Fouillée, Paris, Les Liens qui libèrent.

                                                                 7
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Für einen neuen Blick auf das ­Älterwerden

gerade in einer Zeit, in der viele Menschen den Rechtsstaat                        wir das Bedürfnis, unsere Sicht auf das Altern zu verbessern
aus irrationalen Gründen ablehnen.31                                               und alte Menschen sozial wertzuschätzen, tun dies aber im-
                                                                                   mer nur mit Rückgriff auf den Markt. Dass sich betroffene
Dass das Betreuungspersonal außerhalb der Wahrnehmung                              Unternehmen für ältere Menschen einsetzen, scheint eine
im »Unsichtbaren« bleibt, ist allgemein bekannt. Und hat                           lohnende Aufgabe zu sein, da sie sich dadurch von ihrer so-
sehr wohl auch zu Konsequenzen geführt. So ist beispiels-                          zialen Seite zeigen können – tatsächlich kommen sie aber
weise in einem Bericht vom März 2019 festgehalten, dass                            lediglich ihrem wirtschaftlichen Auftrag nach.
die Attraktivität der Pflegeberufe oberste Priorität haben
und die Zahl der Pflegekräfte bis 2025 um 25 Prozent er-                           Die Lösung liegt in einer Korrektur der staatlichen Politik,
höht werden müsse.32 Der Gedanke der »Fürsorge« ist von                            insbesondere der Alterspolitik. Wir müssen unser Verhältnis
wesentlicher Bedeutung in einer Zeit, in der die Wirtschaft                        zum Altern von rein ökonomischen Aspekten lösen und den
sich auf eine Altersökonomie vorbereitet. Der erwähnte Be-                         Sinn für Solidarität und zwischenmenschliche Verbindungen
richt unterstreicht diesen Fürsorge-Gedanken, wenn es um                           wiedergewinnen, auch und ganz besonders zwischen den
die notwendige Entwicklung eines präventiven Ansatzes                              Generationen. Es ist erschreckend, wie die Politik in diesem
geht: »Prävention wird derzeit in der Alterspolitik nur unzu-                      Bereich bislang auf ganzer Linie versagt hat, zum Beispiel
reichend berücksichtigt. Das Präventionsangebot sollte den                         beim »Generationenvertrag«, dem Vorzeigeprojekt von
neuen Ansatz des ICOPE-Programms (Integrated care for                              François Hollande von 2012. Pascal Bruckner zufolge erfor-
older people) der WHO einbeziehen. Auch sollte es gemein-                          dert die durch die Alterung ausgelöste Umwälzung »eine
same Maßnahmen umfassen, welche die ärztliche und die                              ständige Verflechtung der Generationen durch die Bande
präventive Seite miteinander kombinieren und sich auf eine                         der Freundschaft, des gegenseitigen Interesses und des Ge-
individuelle Bedarfsanalyse stützen.«33                                            sprächs«34. Somit müssen intergenerationelle Fragen un-
                                                                                   bedingt zu einem zentralen Querschnittsthema öffentlicher
Zu klären bleibt die Frage, wie eine solche Politik ausgestal-                     Politik gemacht werden.
tet werden kann, ohne sie wieder in das Korsett der Quanti-
fizierbarkeit zu zwängen, dass jegliches staatliche Handeln                        Den Gedanken der Fürsorge weiterzuentwickeln, erfordert
einengt. So ist es unabdinglich, die enormen Leistungen der                        zuallererst eine eindeutige Definition der Ziele der Alters-
Pflegekräfte oder die unverzichtbare soziale Rolle älterer                         politik. Dazu müssen insbesondere die bestehenden Rege-
Menschen in Vereinen zu würdigen. Doch wie kann dies ge-                           lungen vereinfacht werden, die in vielen Fällen erschreckend
lingen, ohne dabei erneut ausschließlich auf ökonomische                           kompliziert sind. Der Evaluierungsbericht zum Pflegegesetz
Optionen wie Gehaltsprämien oder Steuerbefreiungen zu                              weist beispielsweise auf die Komplexität der gesetzlichen Re-
setzen, die von den Betroffenen gar nicht unbedingt gefor-                         gelungen hin, durch die es erschwert wird, die Wirkungen
dert werden? Dies wirft die viel umfassendere Frage auf, wie                       des Gesetzes zu bewerten.35 Ohne zu wissen, wo die gesetz-
Taten und Menschen wertgeschätzt und anerkannt werden                              lichen Regelungen sinnvoll oder unzureichend sind, wird es
können, statt sie nur auf ihre rein monetäre Bedeutung zu                          jedoch schwierig, diese weiterzuentwickeln. Darüber hinaus
beschränken. Man könnte den Pflegekräften beispielsweise                           ist eine ernsthafte Überprüfung der Evaluierungskriterien
ein Recht auf mehr Ruhepausen einräumen oder bestimm-                              für Führungskräfte erforderlich. Derzeit werden staatliche
ten Freiwilligen eine symbolische Anerkennung zukommen                             und private Verantwortliche so sehr nach rein quantitativen
lassen, wie sie auch jungen Menschen im Zivildienst gewährt                        Kriterien bewertet, dass dies fast an eine Karikatur grenzt.
wird, die am 14. Juli bei der Parade auf den Champs-Élysées                        So hört man immer wieder, dass die Pflegekräfte in Kran-
mitlaufen dürfen. Aber die Frage der Anerkennung geht tie-                         kenhäusern und Pflegeheimen von Patient_in zu Patient_in
fer und wird Gegenstand einer ausführlichen gesellschaft-                          rennen müssen, sie die Patient_innen nur noch wie Objek-
lichen Debatte sein müssen.                                                        te und nicht mehr wie Menschen behandeln und ihnen nur
                                                                                   noch die nötigste Versorgung zukommen lassen können. Die
Die »Silver Economy« offenbart hinter all dem politischen Pa-                      Aufgaben sind zeitlich eng getaktet und die Wirkung und
thos in erster Linie eine rein geschäftliche Sichtweise auf das                    Bedeutung der zwischenmenschlichen Bindung wird gänz-
Altern, in der Investitionen einen wirtschaftlichen Ertrag und                     lich außer Acht gelassen. Im Krankenhausbereich vollzog
eine günstige Marktpositionierung versprechen. Im Grunde                           sich Mitte der 2000er-Jahre eine Wende, als im Rahmen der
muss man sich die Frage stellen, ob durch dieses Konzept,                          Krankenhausreform beschlossen wurde, die Leitung nicht
das die Alten gezielt in gewinnbringende Konsummaschinen                           mehr Mediziner_innen, sondern Manager_innen zu übertra-
umfunktioniert, nicht eine Art »Grey Washing« unseres ge-                          gen. Nun galten die Methoden des Privatsektors; aus dem
sellschaftlichen Verhaltens erzielt werden soll. Zwar haben                        öffentlichen Dienst wurde eine Dienstleistung, die profitabel
                                                                                   oder zumindest »gut gemanagt« sein musste. Natürlich ist
                                                                                   es sinnvoll, auf die öffentlichen Ausgaben zu achten, aber
31 Antoine Peillon / Cynthia Fleury (2019): »Ne pas soutenir le soin, c’est
   ruiner la solidarité«, in: La Croix, 28. Juni 2019; https://www.la-croix.
   com/France/Initiatives-et-solidarite/Cynthia-Fleury-Ne-pas-soutenir-
   soin-cest-ruiner-solidarite-2019-06-28-1201032006                               34 Pascal Bruckner (2019): Une brève éternité. Philosophie de la longé-
32 Vgl. Dominique Libault, Concertation grand âge und autonomie, Be-                  vité, Paris, Grasset.
   richt von März 2019; https://solidarites-sante.gouv.fr/IMG/pdf/rap-             35 Vgl. A.-C. Bensadon / C. Daniel / F. Scarbonchi (2017): Évaluation de
   port_grand_age_autonomie.pdf                                                       la mise en œuvre de la loi d’adaptation de la société au vieillisse-
33 Ebd., S. 51; zum WHO-Programm siehe https://apps.who.int/iris/bits-                ment pour le volet domicile, Inspection générale des affaires sociales;
   tream/handle/10665/258981/9789241550109-eng.pdf                                    http://www.igas.gouv.fr/spip.php?article624

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In der Solidarpolitik muss ein Umdenken stattfinden

Einsparungen sollten immer auch Sinn ergeben, was hier                  Diese von Lyotards Ende der 1970er-Jahre aufgeworfene Fra-
offensichtlich in Vergessenheit geraten ist. Das führte sogar           ge ist nun im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts aktueller
dazu, dass mitten in der Coronavirus-Krise der Leiter einer             denn je. Diesbezüglich ist auch relevant, was der Arbeits-
regionalen Gesundheitsbehörde meinte an der Notwendig-                  mediziner und Psychiater Christophe Dejours »die Schäden
keit, das Krankenhauspersonal zu reduzieren, selbst in dem              durch Beurteilung« nennt. Die Vorstellung von Leistung sei
Moment festhalten zu müssen, als das Krankenhaus bereits                völlig ausgeartet, erklärt Dejours, dem zufolge »die Manager
die Personalreserve in Anspruch nahm, um seinen Personal-               oftmals die reale Arbeitswelt verdrängen, indem sie Erfah-
mangel auszugleichen.                                                   rungswerte ausblenden oder sogar erfahrene Arbeiter [...]
                                                                        oder ältere Mitarbeiter zum Schweigen bringen, wie es in
Diese quantitativen Kriterien werden in gleicher Weise auf              Krankenhäusern, bei der Sozialversicherung oder im Banken-
die Leiter_innen öffentlicher Krankenhäuser angewendet,                 wesen häufig geschieht, unter dem Vorwand, dass diese sich
die nach ihrer Fähigkeit beurteilt werden, buchhalterische              vor dem Wandel sträuben – dem Wandel, der darin besteht,
Ziele zu erfüllen. Eine möglichst geringe Verschuldung und              die Forderungen des Managements durchzusetzen –, um
andere finanzielle Kriterien sind zum Selbstzweck gewor-                dann schmeichelhafte Bewertungen zu erhalten, die oft nur
den. Wäre dies ein erfolgreiches Konzept, wären die Staats-             noch einen losen Bezug zur Realität aufweisen«37. Alain Su-
schulden sicher bereits zurückgegangen – stattdessen sind               piot kommt zu dem gleichen Schluss, wenn er die strukturel-
sie schon vor der Krise immer weiter gestiegen. Daran zeigt             len Auswirkungen der »Herrschaft der Zahlen« untersucht,
sich das Scheitern eines allein auf Sparen und betriebwirt-             die »zu einer von der Erfahrung losgelösten numerischen
schaftliche Kriterien ausgerichteten Ansatzes. Niemand hat              Darstellung der Welt führt«38.
sich daran gestört, dass im Siegestaumel des betriebswirt-
schaftlichen Denkens verbeamtete Krankenhausleiter_innen                Das ist nicht unwichtig: Erschöpfte Mitarbeiter_innen ver-
erklärten, es gebe – abgesehen von der Buchhaltung – zu                 richten ihre Arbeit weniger gut, haben keine Freude mehr
viele Beamt_innen in den Krankenhäusern. Doch nicht die                 daran, finden keinen Sinn in ihrer Aufgabe – genau das, was
Buchhalter_innen pflegen die Patient_innen, bereiten ihnen              2018 die oben zitierte Studie von Mergier, Fourquet und
Mahlzeiten zu, muntern sie täglich auf … Wir haben tatsäch-             Morin ergeben hat. So sind es am Ende die Patient_innen,
lich verlernt, über die einschnürende »Herrschaft der Zah-              welche die Folgen der Anforderungen zu tragen haben, die
len« hinauszudenken, die jede Diskussion über nicht quanti-             von der Bewertung nach quantitativen Aspekten ausgehen.
tative Ziele staatlicher Politik in den Hintergrund drängt.             »Time is money«, sagte Benjamin Franklin, dessen Bildnis auf
                                                                        dem symbolträchtigen Dollarschein prangt. Die Qualität der
Das buchhalterische Paradigma, in dem wir uns verfangen                 Arbeit ist für dieses Ziel von geringer Bedeutung. Es ist si-
haben, lässt sich an der Bedeutung ablesen, die der Jahres-             cher kein Zufall, dass – wie die Gesundheitsbehörde 2011
bericht des Rechnungshofs in der medialen Berichterstat-                feststellte » der mit Abstand meist genannte Grund für die
tung einnimmt. Es ist befremdlich, dass die Rechnungsprüfer             Unzufriedenheit von Pflegeheimbewohnern die Seltenheit
des Rechnungshofs hier so sehr im Mittelpunkt des öffentli-             von Ausflügen war«39. Ausflüge kosten eben Zeit und damit
chen Interesses stehen, obwohl doch der Verfassungsrat, der             Geld …
Conseil d’État und der Kassationsgerichtshof ebenfalls Jah-
resberichte veröffentlichen, ohne dass diese die Kommen-                An Vorschlägen zur Verbesserung der Lage älterer Menschen
tator_innen auch nur entfernt interessieren würden oder                 und für eine Politik, die ihnen einen Platz in der Gesellschaft
es eine mediale Aufmerksamkeit für d diese für Demokratie               einräumt, mangelt es nicht. Aber es gibt eine Vorbedingung.
und Rechtsstaat so essenziellen Institutionen geben würde.              Ähnlich wie es beispielsweise im Bereich der Umweltpolitik
So ist in der Beurteilung staatlichen Handelns der Zustand              mit der Schaffung eines »Umweltgerichtshofs« vorgeschla-
der öffentlichen Finanzen an die Stelle der Menschenrechte,             gen wurde, könnte ein neuer Bewertungsansatz im Pflege-
der Gerechtigkeit und der Garantie der Rechtsstaatlichkeit              bereich auch die Qualität prüfen, die dann wiederum bei der
getreten. Hoffen wir, dass wir uns durch die Corona-Krise               staatlichen Förderung von Einrichtungen berücksichtigt wer-
dessen zumindest bewusst werden.                                        den könnte. Denn die viel zu seltenen Besuche der Kontroll-
                                                                        dienste reichen dafür eindeutig nicht aus.
»Wie lässt sich garantieren, dass Leistungsmaximierung im-
mer das beste Ziel für das Sozialsystem ist?«, fragte Jean-             Ebenso ließe sich in Betracht ziehen, dass die Patient_innen
François Lyotard.36 Hier müssen der Ausdruck »Leistungsma-              und ihre Familien die erbrachten Dienstleistungen regelmä-
ximierung« und die entsprechenden Bewertungsmethoden                    ßig benoten und das Personal seinerseits die Qualität des
dringend hinterfragt werden. Ist die Alterspolitik lediglich            Arbeitsplatzes bewertet. Dies würde vielleicht dazu anregen,
dafür da, finanzielle Ergebnisse zu liefern, oder auch dafür,           die Pflegeheime nicht weiter wie Krankenhäuser zu führen,
dass die Menschen weiterhin in Würde und mit Lebensfreu-                sondern eher wie ein Hotel, in dem die Einrichtung als ein
de leben können?

                                                                        37 Christophe Dejours (2003): L’Évaluation du travail à l‹épreuve du réel.
                                                                           Critique des fondements de l‹évaluation, Paris, INRA éditions, S. 45.
                                                                        38 Alain Supiot (2015): La Gouvernance par les nombres. Cours au Col-
                                                                           lège de France (2012–2014), Paris, Fayard, Slg. »Poids et mesures du
36 Jean-François Lyotard (1979): La Condition postmoderne, Paris,          monde«, S. 246.
   Éditions de Minuit.                                                  39 Vgl. DREES, 2011.

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