Faktenpapier Energiewende digital - Bürgerforum Energieland Hessen Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen

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Faktenpapier Energiewende digital - Bürgerforum Energieland Hessen Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen
Hessisches Ministerium für Wirtschaft,
Energie, Verkehr und Wohnen

Faktenpapier
Energiewende digital
Bürgerforum Energieland Hessen

www.energieland.hessen.de
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2                                                                                                                                                                      Inhalt

    Inhalt

    1 Einführung ............................................................................................................................................................4

    2 Die wichtigsten Erkenntnisse
     		des Faktenpapiers auf einen Blick ...........................................................................5

    3 Hintergrund: zwei Faktenchecks zum Thema .....................................6

    4 Energiewende und Digitalisierung ........................................................................9
          4.1 Der Umbau des Energiesystems .......................................................................................................... 10

          4.2 Handlungsfelder der Digitalisierung ................................................................................................ 11

    5 Handlungsfeld I: Lastmanagement .................................................................. 13
          5.1 Intelligente Netze ............................................................................................................................................ 14

          5.2 Prosumer und Netzdienlichkeit ............................................................................................................. 19

    6 Handlungsfeld II: Marktzugänge .......................................................................... 22
          6.1 Virtuelle Kraftwerke ....................................................................................................................................... 23

          6.2 Regionale Energiemarktplätze .............................................................................................................. 26

          6.3 Quartierskraftwerke ....................................................................................................................................... 31

          6.4 Die neue Rolle der Energieversorger ............................................................................................... 33
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Inhalt                                                                                                                                                                                 3

   7 Handlungsfeld III: Datenaustausch ................................................................... 37
         7.1 Internet der Dinge .......................................................................................................................................... 38

         7.2 Smart Meter ........................................................................................................................................................ 39

         7.3 Verbraucherdaten schützen .................................................................................................................... 42

         7.4 Sicherheit des Energiesystems .............................................................................................................. 45

   8 Ausblick ............................................................................................................................................................... 48

   9 Die Referentinnen und Referenten ................................................................... 50

10 Zum Weiterlesen ................................................................................................................................. 57
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4                                                                                                                                 1 Einführung

    1 Einführung
    Das Land Hessen hat sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2050 seine Energie komplett
    aus erneuerbaren Ressourcen zu gewinnen. Hierzu müssen die Potenziale von Solarener-
    gie, Biomasse, Geothermie, Wasserkraft und Windkraft so genutzt werden, dass das ganze
    Land damit versorgt werden kann. Fortschritte auf diesem Weg zeichnen sich bereits heute
    deutlich ab: Der Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch in Hessen beträgt aktu-
    ell knapp ein Viertel.1

    Damit das Land aber vollkommen unabhängig von fossilen Energiequellen wird, sind wei-
    tere Schritte nötig. Die Energie muss möglichst effizient genutzt, der Verbrauch möglichst
    sparsam gesteuert werden. Erzeugung und Konsum sind noch besser als in der Gegenwart
    aufeinander abzustimmen.

    Ein Schlüssel dazu lautet: Digitalisierung. Aber was bedeutet die Digitalisierung für die
    Energiewende? Ist die Informationstechnologie dafür gerüstet? Werden städtische Ener-
    gieversorger überflüssig, wenn Bürger selbst Energie gewinnen und verkaufen? Und reicht
    das tatsächlich, um in Quartieren, Kommunen, Industriebetrieben und schließlich im gan-
    zen Land Versorgungssicherheit zu gewährleisten?

    Auf zwei vom Bürgerforum Energieland Hessen (BFEH) ausgerichteten Faktencheck-Ver-
    anstaltungen in Darmstadt tauschten sich Sachverständige aus Wissenschaft, Politik und
    Wirtschaft zu diesen und weiteren Fragen aus. Um die Ergebnisse der Veranstaltungen
    zu dokumentieren und zugleich einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, hat das
    Team des Bürgerforums die Tagungen – wie es sich bereits in der Vergangenheit vielfach
    bewährt hat – in Form eines Faktenpapiers aufbereitet. Es soll ebenso wie die anderen
    Broschüren der „blauen Reihe“, die das Bürgerforum im Auftrag des Hessischen Ministe-
    riums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen erstellt hat, zur Meinungsbildung der
    interessierten Bürgerschaft beitragen und Kommunen bei der Entscheidungsfindung eine
    Hilfe sein.

    Energiewende-Projekte vor Ort gelingen umso besser, je früher und transparenter die be-
    teiligten Akteure kommunizieren und dabei auch Bürgerinnen und Bürger einbeziehen und
    informieren.2 Deshalb unterstützt das Land Hessen mit dem Programm Bürgerforum Ener-
    gieland Hessen seine Kommunen beim Austausch mit der Bürgerschaft rund um Planung
    und Nutzung erneuerbarer Energien. Zu dessen Leistungen zählen moderierte Bürger-
    und Expertenveranstaltungen ebenso wie Informationsmaterialien.

    Weitere Informationen zum Landesprogramm finden Sie unter
    www.energieland.hessen.de/buergerforum_energie

    1
        Vgl. Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung (2018): Energiewende in Hessen. Monitoringbericht 2018
        (Online-Dokument). Abrufbar unter: https://wirtschaft.hessen.de/sites/default/files/media/hmwvl/monitoringbericht_2018_100dpi.pdf
        [15.03.2019].
    2
        Zugunsten einer besseren Lesbarkeit wird im weiteren Dokument auf die explizite Nennung beider Geschlechter verzichtet.
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2 Die wichtigsten Erkenntnisse des Faktenpapiers auf einen Blick                            5

2 Die wichtigsten Erkenntnisse des
Faktenpapiers auf einen Blick
Digitalisierung ist essentiell für die Energiewende – insbesondere aufgrund der dezentra-
len und volatilen Energieerzeugung. Digitale Technologien sind in hohem Maße erforder-
lich für den Datenaustausch, das Lastmanagement und für die Marktzugänge der Anlagen.

Zugleich geht die Digitalisierung mit Herausforderungen einher: Verbraucherdaten und
die Funktionsfähigkeit des Versorgungssystems sind unbedingt zu schützen.

Digitale Technologien kommen im Energiesystem bereits heute zum Einsatz. Eine wichtige
Voraussetzung für ihre Weiterentwicklung ist die Einführung von Smart-Meter-Gateways,
die Verbrauchsdaten engmaschig erfassen und sicher übertragen können. Das erste Gerät
wurde im Dezember 2018 zertifiziert, sodass der gesetzlich vorgeschriebene Einbau vor-
aussichtlich in naher Zukunft beginnt.

Digitale Plattformen schaffen Absatzmöglichkeiten für erneuerbare Energien. Virtuelle
Kraftwerke bündeln schon heute viele kleine Anlagen, sodass sie Großkraftwerke in ihrer
Leistung ersetzen können.

Schätzungsweise 1,6 Millionen Prosumer (Producer + Consumer = Prosumer) in Deutsch-
land erzeugen derzeit selbst Strom und tragen so zur Energiewende bei – vor allem mit
Photovoltaikanlagen.

Bisher hat die Vielzahl an Energieerzeugungsanlagen die Versorgungssicherheit nicht ge-
schwächt, wie Zahlen der Bundesnetzagentur zeigen. Der jährliche Stromausfall betrug
2017 trotz der zahlreichen Anlagen im Bundesdurchschnitt eine Viertelstunde – und damit
weniger als zehn Jahre zuvor.

Bei der IT-Sicherheit ist ein Umdenken erforderlich. Nicht mehr nur „Burgen“, das heißt
Großkraftwerke, sind zu schützen, sondern alle Akteure und Geräte.

Weil viele Konsumenten inzwischen auch selbst Strom produzieren, ändert sich die Rolle
der Energieversorger. Sie integrieren nicht nur neue Anlagen, sondern werden auch zu-
nehmend zu Energieberatern und Bereitstellern von Infrastruktur.

Digitalisierung ist laut Einschätzung der Energieversorger das zentrale Zukunftsthema der
Branche. Die große Mehrheit der Unternehmen gibt in Umfragen an, sich in den kommen-
den Jahren intensiv damit auseinandersetzen zu wollen.
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Hintergrund:
zwei Faktenchecks
   zum Thema
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3 Hintergrund: zwei Faktenchecks
zum Thema
Digitalisierung erfasst bereits heute sämt-     Faktencheck „Energiewende digital I“
liche Lebens- und Wirtschaftsbereiche und
macht auch vor dem Energiesystem nicht          Die Energiewende kommt ohne Digitali-
halt. Inwieweit ist sie hier Chance, inwie-     sierung nicht aus – so das Fazit der Fach-
weit Risiko? Um die Herausforderungen           veranstaltung „Faktencheck Energiewende
und Potenziale zu erörtern, die die Digita-     digital“ am 25. Oktober 2017 in Darmstadt.
lisierung für die Energiewende bereithält,      Die Themen der Referenten spiegelten die
hat das Bürgerforum Energieland Hessen          vielfältigen Herausforderungen wider, die
(BFEH) auf zwei aufeinander aufbauenden         für Gesellschaft und Wirtschaft mit dem Me-
Expertenveranstaltungen Sachverständige         gatrend Digitalisierung einhergehen. Etwa
aus verschiedenen Bereichen ins Gespräch        60 Gäste konnten die Gastgeber, der Darm-
gebracht. Die wichtigsten Erkenntnisse der      städter Oberbürgermeister Jochen Partsch
beiden Faktenchecks sind in dieser Bro-         und Dr. Rainer Kaps von der Hessischen
schüre zusammengestellt.                        LandesEnergieAgentur, zu der Veranstal-
                                                tung im darmstadtium begrüßen.
Wer war beteiligt?
                                                Zentrale Fragen dieses Faktenchecks waren
Die Politik legt den Grundstein und setzt die   unter anderen:
Rahmenbedingungen für die Energiewen-
de, die IT-Branche unterstützt mit innovati-    •   Auf welchem Stand ist die Digitalisie-
ven Lösungen. Regionalversorger reagieren           rung der Energiewende?
darauf und erschließen neue Geschäftsfel-
der. Konsumenten sollen mit Hilfe digitaler     •   Wie sicher ist die Informationstech-
Technologien kostengünstiger, sparsamer             nologie, die dabei zur Anwendung
und somit auch nachhaltiger Energie ver-            kommt?
brauchen. Kurz: Die Digitalisierung der Ener-
giewende betrifft eine Vielzahl von Akteuren    •   Was bedeutet die Digitalisierung der
aus den unterschiedlichsten Bereichen.              Energiewende für den Verbraucher?

Daher ist bei der Auseinandersetzung mit        •   Welche Konsequenzen hat die Digi-
diesem Thema ein möglichst breites Spek-            talisierung der Energiewende für die
trum an Perspektiven einzubeziehen: Auf             städtischen Energieversorger?
den Faktencheck-Veranstaltungen gewähr-
ten Wissenschaftler, Unternehmer aus Ener-
gie- und IT-Wirtschaft sowie Vertreter von
Fachbehörden und Interessengruppen Ein-
blicke in ihr Beschäftigungsfeld und sorgten
so für solide Information aus erster Hand
wie auch für kontroverse Diskussionen. Die
Experten werden am Ende dieses Faktenpa-
piers vorgestellt.
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8                                                        3 Hintergrund: zwei Faktenchecks zum Thema

    Faktencheck „Energiewende digital II           •   Von welchen digitalen Technologien
    – Prosuming stärken, Quartiere ent-                können die sogenannten Prosumer
    wickeln, Kommunen vernetzen“                       profitieren?

    Auf der zweiten Faktencheck-Veranstaltung      •   Wie geht es nach dem Einbau der
    am 25. Oktober 2018 tauschten sich Experten        Smart-Meter-Gateways weiter?
    aus Forschung, Politik und Energiewirtschaft
    erneut im Darmstädter Wissenschaftszent-       Auf beiden Faktenchecks zur Digitalisierung
    rum darmstadtium zu Digitalisierungsfragen     wurde deutlich, dass der Wandel zu einem
    in der Energiewende aus; auf Einladung der     digitalen Energiesystem noch am Anfang
    Hessischen LandesEnergieAgentur und der        steht. Er findet derzeit größtenteils in Form
    Digitalstadt Darmstadt nahmen rund 70 in-      von Pilotprojekten statt. Auch der verzögerte
    teressierte Gäste teil.                        Rollout der Smart-Meter-Gateways – ein zen-
                                                   traler Bestandteil im vernetzten Energiesys-
    Zentrale Fragen dieses Faktenchecks waren      tem – lässt erkennen, dass der Weg zu einem
    unter anderen:                                 digitalen Energiesystem erst begonnen hat.
                                                   Gleichwohl ist bereits heute offensichtlich,
    •   Inwieweit leistet die Digitalisierung      dass ein auf erneuerbaren Ressourcen beru-
        einen Beitrag dazu, Erzeugung und          hendes Energiesystem auf digitale Techno-
        Verbrauch von Energie aufeinander          logien angewiesen sein wird.
        abzustimmen?

    •   Gelingt es, ganze Quartiere mithilfe
        digitaler Technologien mit selbst er-
        zeugter Energie zu versorgen?
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Energiewende
     und
Digitalisierung
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     4 Energiewende und Digitalisierung
     Damit das letzte Kernkraftwerk in Deutsch-                              Ein Energiesystem, das auf erneuerbaren
     land im Jahr 2022 vom Netz gehen kann und                               Quellen beruht, stützt sich auf unzählige ver-
     der geplante Kohleausstieg gelingt, muss                                gleichsweise kleine, über das Land verteilte
     die Energieversorgung umgestellt werden.                                Anlagen. Dass Strom und Wärme dezentral
     In der jetzigen Übergangsphase sind fossile                             und nicht mehr von wenigen großen Kraft-
     Ressourcen noch notwendig, um bedarfs-                                  werken erzeugt werden, stellt eine Heraus-
     gerecht Strom zu erzeugen, doch erneuer-                                forderung für die Energieversorgung dar.
     bare Energien werden diese zunehmend                                    Eine zweite wesentliche Herausforderung
     ersetzen. Langfristig verfolgen Bund und                                ergibt sich aus der Volatilität der Energie-
     Länder das Ziel, den Bedarf an Strom und                                produktion, denn die Erzeugung von Solar-
     Wärme vollständig mit regenerativen Quel-                               und Windenergie hängt von Witterung
     len zu decken.                                                          und Tageszeit ab. Folglich ist das Angebot
                                                                             Schwankungen unterworfen.
     Diese erneuerbaren Energieträger liefern
     Strom und Wärme nach anderen Gesetz-                                    Damit Privathaushalte und Industrie jeder-
     mäßigkeiten als fossile oder atomare Quel-                              zeit mit Energie versorgt werden können,
     len, sodass auch ein Umbau des bisherigen                               sind technische Maßnahmen nötig. So
     Energiesystems erforderlich ist. Digitale                               muss beispielsweise das Stromnetz vom
     Technologien leisten einen wichtigen Bei-                               Norden in den Süden ausgebaut werden.
     trag dazu, dass die Versorgung sowohl wirt-                             Weiterhin bedarf es einer fortlaufenden
     schaftlich als auch sicher bleibt.                                      Etablierung von Speicherkapazitäten am
                                                                             Markt.3

     4.1 Der Umbau
                                                                             Mit dem Netzausbau und vermehrten Ein-
                                                                             satz von Speichern allein ist es jedoch nicht

     des Energiesys-
                                                                             getan. Zusätzlich muss ein funktionsfähiges
                                                                             Lastmanagement auf die Beine gestellt wer-

     tems
                                                                             den. Das heißt, dass Angebot und Nach-
                                                                             frage in möglichst kleinen Zeiteinheiten
                                                                             aufeinander abgestimmt werden. Digitale
     Konventionelle Kraftwerke, die nach Bedarf                              Technologien sind nötig, damit dies trotz
     herauf- und herunterfahrbar sind, diverse                               der Vielzahl von Akteuren flexibel und kurz-
     Arten von Stromspeichern, Möglichkeiten                                 fristig gelingt.
     des Imports und des Exports von Strom so-
     wie die Steuerung der Nachfrage – all diese                             Daneben erleichtert die Digitalisierung
     Aspekte werden die Energiewende wäh-                                    den dezentralen Energieerzeugern den
     rend der Umbauphase des Energiesystems                                  Zugang zum Markt, sodass sie im Zusam-
     in den kommenden Jahren begleiten.                                      menspiel dauerhaft bedarfsgerecht Ener-
                                                                             gie bereitstellen („Dauerlastfähigkeit“).
                                                                             Digitale Handelsplattformen ermöglichen,

     3
         Vgl. HA Hessen Agentur GmbH im Auftrag des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung (2017):
         Faktenpapier Speicher in der Energiewende (Online-Dokument). Abrufbar unter: https://www.energieland.hessen.de/mm/14853_
         Faktenpapier-Speicher_online.pdf [21.05.2019].
4.1 Der Umbau des Energiesystems                                                                                                                  11

die Energie vieler Produzenten gebündelt                                  Markt und ist folglich an der Schnittstel-
zu vermarkten.4                                                           le zwischen ihnen angesiedelt. An diesen
                                                                          Schnittstellen ergeben sich für die Digitali-
Zugleich bringt die Digitalisierung selbst ei-                            sierung der Energiewende drei Handlungs-
gene Herausforderungen mit sich: Sowohl                                   felder:
das Versorgungssystem als auch Verbrau-
cherdaten sind vor Manipulation und Miss-                                 •     An der Schnittstelle von Erzeugung
brauch zu schützen.                                                             und Übertragung ist das Lastmanage-
                                                                                ment zu optimieren.
All diese Aspekte der Digitalisierung, ihre
Chancen und Risiken sind Thema des vor-                                   •     An der Schnittstelle von Erzeugung
liegenden Faktenpapiers.                                                        und Markt bedarf es neuer Marktzu-
                                                                                gänge für Anlagenbetreiber.

4.2 Handlungs-
                                                                          •     An der Schnittstelle von Übertragung,
                                                                                Markt und Verbrauch erfordert die

felder der Digita-
                                                                                Abstimmung von Angebot und Nach-
                                                                                frage den Austausch von Daten.

lisierung                                                                 An diesen Handlungsfeldern orientiert sich
                                                                          der Aufbau dieses Faktenpapiers. Damit
Der Umbau des Energiesystems ist zwar                                     geht diese Broschüre in ihrer Darstellung
eingeleitet, doch sind die Strukturen noch                                vom Energiesystem aus – und nicht, wie die
immer auf das alte Versorgungssystem aus-                                 meisten anderen Publikationen zum Thema,
gerichtet, das durch wenige Großkraftwerke                                von den Technologien oder den Akteuren.
und damit wenige Anbieter charakterisiert                                 Die nachfolgende Grafik veranschaulicht,
ist. Als Erfordernisse für die Energiewende                               wo die Handlungsfelder im Energiesystem
gelten gemeinhin der Zubau von Anlagen                                    verortet sind (Abb. 1).
zur Gewinnung erneuerbarer Energien so-
wie die Optimierung von Erzeugung, Über-
tragung, Markt und Verbrauch. Dazu gehört
beispielsweise, dass Photovoltaikanlagen
zugebaut, dass Windenergieanlagen leis-
tungsstärker und Gebäude energieeffizien-
ter werden.

Doch nicht nur die Bereiche Erzeugung,
Übertragung, Markt und Verbrauch sind
bestmöglich zu gestalten, sondern auch die
Schnittstellen zwischen ihnen. Die Frage,
wie auch kleinere Anlagen wirtschaftlich
rentabel betrieben werden können, betrifft
beispielsweise die Bereiche Erzeugung und

4
    Über die hier skizzierte Darstellung der Transformation des Energiesystems herrscht in der Fachliteratur weitestgehend Konsens. So schreibt
    beispielsweise der Physiker Thomas Unnerstall, der mehrere Sachbücher zu den Grundlagen der Energiewende verfasst hat und heute als
    Berater tätig ist: „In der Zukunft – beginnend im nächsten Jahrzehnt, intensiv dann ab 2030/2035 – wird es durch die Energiewende aller
    Voraussicht nach ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Bausteine geben […]. Es liegt auf der Hand, dass dafür hoch entwickelte,
    weitgehend automatisierte Steuerungssysteme erforderlich sind. Daher wird auch in der Energiewirtschaft die zunehmende Digitalisierung
    der Wirtschaft eine zentrale Rolle spielen.“
    Thomas Unnerstall (2016): Faktencheck Energiewende. Konzept, Umsetzung, Kosten – Antworten auf die 10 wichtigsten Fragen. Berlin,
    Heidelberg: Springer, S. 91.
12                                                                         4.2 Handlungsfelder der Digitalisierung

     Die Komplexität der Energiewende mit digitaler Technologie managen

                                                                 ÜBERTRAGUNG / MARKT

                          Smartes                      Regionaler             Flexibilisierung
                      Lastmanagement                Energiemarktplatz         des Verbrauchs
                                                                                     Smart Meter
                                                  Neue Marktzugänge
                         Smart Grid                                                   Internet
                                               für erneuerbare Energien
                                                                                     der Dinge
                                      Virtuelles                        Quartiers-
                                      Kraftwerk       Digitale          kraftwerk
                                                   Energiewende
              ERZEUGUNG
                                                       Prosumer
                                                                                     VERBRAUCH

         = Digitale Lösungen
         = Handlungsfelder                                                                       (Quelle: eigene Darstellung)

     Abbildung 1: Digitale Technologien sind vorrangig an den Schnittstellen von Energieerzeugung, -übertragung
     und -verbrauch notwendig.
Handlungsfeld I:
Lastmanagement
14

     5 Handlungsfeld I: Lastmanagement
     Im gegenwärtigen Energiesystem gleichen                                   stellen ein für die Netzstabilität erforderli-
     fossile Kraftwerke Schwankungen bei der                                   ches Mindestmaß an regelbarer Leistung
     Verfügbarkeit regenerativ erzeugten Stroms                                („Must-run-Kapazität“) bereit. Bei einem
     aus. Das wird künftig eine noch größere                                   Überangebot werden Windenergie- und
     Herausforderung sein: Mit der Energiewen-                                 Photovoltaikanlagen temporär vom Netz
     de gewinnen Quellen an Bedeutung, die                                     genommen. Über diese als positive oder
     Strom und Wärme zum Teil nur unbeständig                                  negative Regelenergie bezeichneten Ener-
     produzieren. Damit Versorgungssicherheit                                  giemengen halten Netzbetreiber die Span-
     dennoch gewährleistet werden kann und                                     nung im Stromnetz konstant. Damit dieser
     die Übertragung problemlos funktioniert,                                  Mechanismus des Ausgleichs funktioniert,
     müssten Erzeugung und Verbrauch flexib-                                   hängen die Kraftwerke über das sogenann-
     ler gesteuert und aufeinander abgestimmt                                  te Verbundnetz zusammen.
     werden können. Mit intelligenten Netzen
     und einem netzdienlichen Verhalten großer                                 Je mehr dezentrale, volatile Anlagen im
     Verbraucher, etwa aus Industrie und Handel,                               Zuge der Energiewende in das Netz inte-
     und der sogenannten Prosumer lässt sich                                   griert werden müssen, desto komplexer
     die verfügbare Strommenge beeinflussen.                                   wird die Stromversorgung. Auch der stei-
     Beides trägt zu einem gut funktionierenden                                gende Autarkiegrad vieler Konsumenten,
     Lastmanagement bei.                                                       die selbst Energie erzeugen, ist mit Heraus-
                                                                               forderungen verbunden. Was, wenn ihre
                                                                               Versorgung ausfällt? Hier sind die Energie-

     5.1 Intelligente
                                                                               versorger und Netzbetreiber als Rückfall-
                                                                               ebene gefragt. Das gilt insbesondere für

     Netze
                                                                               sogenannte Mieterstrommodelle, bei der
                                                                               größere Wohneinheiten mit auf dem Dach
                                                                               gewonnenem Solarstrom über eine Art Are-
     Das Stromnetz transportiert Strom von den                                 alnetz auf privatem Grund versorgt werden.
     Kraftwerken zu den Verbrauchern. In Wech-
     selstromnetzen schwingt die Netzspannung                                  Zu den Anforderungen an ein intelligentes
     periodisch. Die Netzfrequenz bezeichnet                                   Stromnetz („Smart Grid“) gehört, die Netz-
     die Zahl dieser Schwingungen pro Sekunde                                  stabilität trotz der Vielzahl von Akteuren
     und wird in Hertz angegeben. Sie muss re-                                 und zahlreicher Unvorhersehbarkeiten auf-
     lativ konstant gehalten werden. In Deutsch-                               rechtzuerhalten – und zwar unter Berück-
     land liegt der Richtwert für die Netzfrequenz                             sichtigung des Stromverbrauchs in Echtzeit
     bei 50 Hertz. Liegt die Frequenz niedriger,                               sowie unter Zuhilfenahme möglichst präzi-
     ist nicht genug Strom im Netz. Liegt sie hö-                              ser Prognosen von Energieerzeugung und
     her, befindet sich hingegen zu viel Strom im                              -verbrauch (Abb. 2). „Um das Stromnetz
     Netz. Eine konstante Netzfrequenz ist wich-                               auch dann stabil zu halten, wenn zu viel ein-
     tig für die Versorgungssicherheit.                                        gespeist wird oder zu wenig, werden Daten
                                                                               im 15-Minuten-Intervall, wie sie heute vorlie-
     Gegenwärtig werden Spannungsschwan-                                       gen, nicht ausreichend sein“, sagt Reinhard
     kungen in den Stromnetzen vor allem                                       Kalisch, Geschäftsführer des Verteilnetzes
     durch große Kraftwerke ausgeglichen. Sie                                  e-netz Südhessen.5

     5
         Reinhard Kalisch in seinem Impulsvortrag auf dem Faktencheck Digitalisierung der Energiewende II am 25.10.2018 in Darmstadt. Er tritt dafür
         ein, die Rückfallebene mit einem Preis zu versehen. „Wenn Prosumer am Netz bleiben, aber keinen Beitrag für die allgemeine Energieversor-
         gung leisten, könnte man über einen Preis für die Vorhaltung der Leistung nachdenken“, so Kalischs Plädoyer.
5.1 Intelligente Netze                                                                                                                           15

Energieverbrauch von Kleinkunden                                          Energieverbrauch von industriellen /
                                                                          kommerziellen Kunden

Abbildung 2: Eine Vielzahl von Daten ist nötig, damit Netzbetreiber stets wissen, was in ihren Stromnetzen vor
sich geht. Die Abbildung zeigt eine Visualisierung dieser Daten durch das Schweizer Softwareunternehmen
Adaptricity für die Stadt Basel. (Quelle: Adaptricity / ETH Zürich)

Dass Schwankungen möglichst frühzeitig                                    werden soll. Je besser diese Abstimmung
erkannt und ausgeglichen werden können,                                   funktioniert, desto weniger teure Regelkraft-
setzt also eine riesige Datenmenge voraus.                                werke müssen zum Ausgleich von Schwan-
In Gebäuden und im Stromnetz könnten di-                                  kungen bereitstehen.7 Dass das Stromnetz
gitale Sensoren den Durchfluss von Strom                                  nicht nur Energie, sondern auch etliche
und Wärme in noch viel stärkerem Ausmaß                                   Daten transportiert, ist neu. Im bisherigen
als heute erfassen und zeitnah an Energie-                                Energiesystem entzog es sich der Kenntnis
versorger und Netzbetreiber übermitteln.6                                 der Netzbetreiber, wie viel Strom welche
Gleichzeitig müssen Wetterprognosen eine                                  dezentrale Energieanlage wo einspeiste.8
möglichst genaue Voraussage zu der Erzeu-
gung von Solar- und Windenergie zulassen.                                 Zum Konzept des intelligenten Stromnet-
Das zu bewältigende Datenaufkommen ist                                    zes gehört weiterhin der Einsatz sogenann-
immens.                                                                   ter Demand-Response-Technologien. Das
                                                                          bedeutet, dass nicht die Energieerzeuger
Wenn diese Daten vorliegen, kann eine zen-                                Schwankungen ausgleichen, sondern die
trale Stelle die Abstimmung übernehmen.                                   Verbraucher. Damit dies für den Verteilnetz-
Das heißt, sie meldet zurück, ob die Ener-                                betreiber berechenbar ist, regeln Verträge,
gieerzeugung gesteigert oder gedrosselt                                   in welchen Zeitfenstern sie Verbraucher

6
    Mehr zur Sensorik unter Ronge, Karlheinz und Wittwer, Christof (2013): Einsatz von Sensoren für die Energieflussanalysen für Energienetze,
    Smart Grids, Smart Metering (Online-Dokument). Abrufbar unter: www.fvee.de/fileadmin/publikationen/Workshopbaende/ws2013/
    ws2013_05_01.pdf [18.03.2019].
7
    Vgl. Beck, Hans-Peter und Springmann, Jens-Peter: Das Stromnetz im Zeichen der Energiewende (Online-Dokument). Abrufbar unter:
    www.bpb.de/izpb/169514/das-stromnetz-im-zeichen-der-energiewende?p=all [17.03.2019].
8
    Vgl. Umweltbundesamt: Was ist ein ‚Smart-Grid‘? (Online-Dokument). Abrufbar unter: www.umweltbundesamt.de/service/uba-fragen/
    was-ist-ein-smart-grid [17.03.2019].
16                                                                                                                       5.1 Intelligente Netze

     zu- oder abschalten können. Dies ist für den                               aufeinander abgestimmt werden können.
     Netzbetreiber technisch sinnvoll und ver-                                  In Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und
     spricht vor allem Großkunden Kostenvorteile.                               im Saarland testet das Projekt „Designnetz“,
                                                                                wie unterschiedliche Netzebenen miteinan-
     Die USA sind führend bei der Steuerung des                                 der kommunizieren können (siehe Infobox
     Energiesystems über die Nachfrage, doch                                    „SINTEG-Verordnung“).
     auch Deutschland könnte hiervon profitieren:
     „Aufgrund von problematischen Netzsituatio-                                Das intelligente Stromnetz erfordert neben
     nen steigt auch in Europa und Deutschland                                  dem Ausbau der Netze und der Entwicklung
     der Anreiz, Demand Response umzusetzen.                                    besserer Speichertechnologien auch techni-
     Besonders gut geeignet dafür sind Anlagen,                                 sches Equipment zur digitalen Erfassung von
     die mindestens einmal pro Tag zu- oder ab-                                 Stromerzeugung und -verbrauch. Hierfür sind
     geschaltet werden, aber auch Anlagen, de-                                  mit dem Gesetz zur Digitalisierung der Ener-
     ren Produktion z. B. durch Speicher oder                                   giewende aus dem Jahr 2016 zwar formal die
     thermische Trägheit vom restlichen Produk-                                 Voraussetzungen geschaffen, doch hat sich
     tionsprozess entkoppelt ist. Infrage kommen                                der im Gesetz vorgegebene Fahrplan zum
     Branchen wie Ernährung, Chemie, Papier, Ma-                                Einbau der Geräte verzögert. Nachdem im
     terialverarbeitung, Automobil, Maschinen-                                  Dezember 2018 der erste intelligente Strom-
     bau und Glasindustrie.“9 In Haushalten sind                                zähler zugelassen wurde, sind nun auch die
     Nachtspeicherheizungen und Wärmepum-                                       technischen Grundlagen für die Weiterent-
     pen wegen ihrer regulierbaren Steuerung in-                                wicklung der intelligenten Netze geschaffen.
     teressant. Die energieintensive Industrie nutzt
     schon heute flexible Lasten, doch wird deren                               Intelligente Stromnetze sind künftig nicht nur
     Potenzial bei weitem nicht ausgeschöpft (sie-                              aufgrund der Vielzahl dezentraler Energieer-
     he auch Kap. 7.1).                                                         zeuger und angesichts von witterungsbeding-
                                                                                ten Schwankungen bei der Energiegewin-
     Die flächendeckende Einführung intelligenter                               nung bedeutend, sondern auch weil über die
     Netze steht noch aus, die Netzbetreiber be-                                sogenannte Sektorenkopplung immer mehr
     finden sich derzeit noch am Anfang der Ent-                                Lebensbereiche – wie beispielsweise die Elek-
     wicklung. Erste Pilotprojekte wie z. B. im Rah-                            tromobilität – von der Stromversorgung ab-
     men von SINTEG, einem Förderprogramm                                       hängen und in das Versorgungssystem integ-
     des Bundesministeriums für Wirtschaft und                                  riert werden müssen. Dies bringt jedoch nicht
     Energie, experimentieren aber bereits er-                                  nur neue Abhängigkeiten hervor; gleichzeitig
     folgreich damit. In diesem Programm erpro-                                 entstehen auf diesem Weg neue Möglich-
     ben fünf Modellregionen in Deutschland                                     keiten der Flexibilisierung, etwa durch netz-
     wesentliche Aspekte intelligenter Energie-                                 dienliches Verhalten aufseiten der Erzeuger
     versorgung. So widmet sich beispielsweise                                  und Konsumenten. Die Frage, wie die soge-
     das Projekt „C/sells“ in Baden-Württemberg,                                nannten Prosumer zur Stabilität der Energie-
     Bayern und Hessen der Frage, wie Verbrauch                                 versorgung beitragen können, behandelt das
     und Erzeugung von Solarenergie besser                                      folgende Unterkapitel.

     9
         Dürr, Thomas und Heyne, Jean-Christophe: Virtuelle Kraftwerke für Smart Markets, S. 661. Erschienen in Doleski, Oliver D. (Hrsg.): Heraus-
         forderung Utility 4.0. Wie sich die Energiewirtschaft im Zeitalter der Digitalisierung verändert, Wiesbaden: Springer Vieweg, S. 653-681.
5.1 Intelligente Netze                                                                               17

                   Drei Fragen an
                   Prof. Dr.-Ing. Peter Birkner
                   Geschäftsführer des House of Energy e. V., Kassel

1_ Herr Professor Birkner, das House of Ener-    regionen, das vom Bundeswirtschaftsministe-
gy koordiniert den hessenweiten Austausch        rium mit 230 Millionen Euro unterstützt wird.
zwischen Politik, Forschung und Wirtschaft       In Bayern, Baden-Württemberg und Hessen
bei der Energiewende und initiiert For-          führt C/sells erstmals alle Elemente zusam-
schungs- und Entwicklungsprojekte. Welche        men, die für ein intelligentes Energienetz der
Rolle spielt dabei die Digitalisierung?          Zukunft erforderlich sind. Als House of Ener-
                                                 gy koordinieren wir dabei die hessischen Teil-
Die Digitalisierung ist eine entscheidende       nehmer.
Voraussetzung für das Gelingen der Ener-
giewende. Daten schaffen Transparenz über        3_ Können Sie bereits etwas zur Gestaltung
Energieströme, ermöglichen die Koordinati-       des Energienetzes der Zukunft sagen? Wie
on von volatilen Erzeugern und Verbrauchern      sieht es aus, und was steht seiner Einführung
und identifizieren Effizienzpotentiale. Letz-    noch im Weg?
teres gilt nicht nur für den Energieeinsatz,
sondern auch für betriebliche Prozesse und       Künftig wird es zelluläre Strukturen geben, die
Aspekte.                                         untereinander Energie austauschen und sich
                                                 so gegenseitig stabilisieren: Gebäude, Quar-
Ein Beispiel: Elektrische Generatoren, wie wir   tiere, Städte und Regionen. Dadurch kann die
sie in Windenergieanlagen oder thermischen       hohe Volatilität der erneuerbaren Energien
Kraftwerken finden, sind heute mit zahlrei-      effizient beherrscht werden. Derartige Ener-
chen Sensoren ausgestattet, die online riesi-    giestrukturen werden im Projekt C/sells etab-
ge Datenmengen erfassen. Damit lassen sich       liert und erprobt. Dass dies alles Realität wird,
mittels mathematischer Verfahren Datenkom-       ist weniger eine Frage der Technik als viel-
binationen identifizieren, die im Vorfeld von    mehr des rechtlichen Rahmens. Die Sektoren
Störungen aufgetreten sind. Wird ein ver-        Strom, Gas, Wärme und Verkehr müssen ge-
gleichbares Datenmuster in einem anderen         koppelt werden. Abgaben, Steuern und Um-
Generator dieser Serie erkannt, so ist das ein   lagen sind heute sektorenspezifisch ausge-
Indiz dafür, dass sich der Fehler wiederho-      prägt und werden vor allem einseitig nur bei
len könnte. Die entsprechende Komponente         der Entnahme von Energie aus einem Netz
sollte dann präventiv ausgetauscht werden.       erhoben. Dies macht viele Technologien und
Schwere Schäden und lange Betriebsausfälle       vor allem Speicher unwirtschaftlich. Auch sind
können so verhindert werden.                     aktuell keinerlei Anreize vorhanden, die eine
                                                 Energiezelle – beispielsweise ein Quartier –
2_ Im Projekt „C/sells“ wird erprobt, wie das    dazu motivieren, ihre Energiebilanz möglichst
Energienetz der Zukunft gestaltet sein könn-     eigenständig auszugleichen. Wir haben heu-
te. Was hat es damit auf sich?                   te an vielen Stellen die physikalische Realität
                                                 verändert. An diese geänderte Realität ist der
Das Projekt „C/sells“ ist Teil des Förderpro-    Gesetzesrahmen anzupassen, damit sich das
gramms „SINTEG – Schaufenster intelligente       Energiesystem der Zukunft entwickeln kann.
Energie – Digitale Agenda für die Energie-       Auch hierzu werden bei C/sells verschiedene
wende“ mit über 200 Partnern in fünf Modell-     Ansätze experimentell untersucht.
18                                                                 5.1 Intelligente Netze

     Infobox:
     SINTEG-Verordnung
     Die sogenannte SINTEG-Verordnung schafft mit einer Experimentierklausel
     den rechtlichen Rahmen dafür, dass in den fünf Modellregionen in Deutsch-
     land neue – darunter auch digitale – Technologien überhaupt erprobt wer-
     den können. Dazu gehört, dass sich Projektteilnehmer während der Laufzeit
     des Projekts, die bis 2022 angesetzt ist, wirtschaftliche Nachteile, die ihnen im
     Zuge des Projekts durch etwa höhere Stromkosten entstehen, erstatten lassen
     können. Dieses Vorgehen soll auch die Grenzen des geltenden Rechtsrah-
     mens und den zukünftigen Regelungsbedarf beim Umbau des Energiesys-
     tems identifizieren. Ein Automatismus, dass der rechtliche Rahmen sodann
     auch in der Weise angepasst wird, besteht hingegen nicht.
5.2 Prosumer und Netzdienlichkeit                                                                                                                 19

5.2 Prosumer und
                                                                           und weitere Systemleistungen erbringen
                                                                           können“, schreiben Wissenschaftler des Ins-

Netzdienlichkeit
                                                                           tituts für ökologische Wirtschaftsforschung.11

                                                                           Allerdings: Prosumer verhalten sich nicht
In einem dezentralen Energieversorgungs-                                   automatisch netzdienlich in dem Sinne, dass
system können viele Energiekonsumenten                                     sie dem Stromnetz flexibel und bedarfsge-
auch Energieproduzenten sein. Das kommt                                    recht den selbstproduzierten Strom zufüh-
in dem Terminus „Prosumer“ zum Ausdruck,                                   ren. Zu den Hauptmotivationen der Prosu-
der sich aus den beiden englischen Be-                                     mer zählt nicht nur, ökologisch Energie zu
griffen „producer“ und „consumer“ zusam-                                   erzeugen und mit den Anlagen nachhaltige
mensetzt. Prosumer gewinnen Energie zum                                    Investitionen zu tätigen, sondern auch ei-
Beispiel über Photovoltaikanlagen auf dem                                  nen möglichst hohen Grad an Autarkie zu
Hausdach oder über ein Blockheizkraftwerk                                  erreichen, wie aus einer Untersuchung der
im Keller. Auch kombinierte Verfahren der                                  Energieökonomen Reinhard Madlener und
Energiegewinnung sind möglich.                                             Christian Oberst hervorgeht.12

Es gibt schätzungsweise um die 1,6 Millionen                               Netzdienliches Verhalten muss daher über
Prosumer in Deutschland.10 Dabei handelt                                   Anreize erst generiert werden. Hier wirken
es sich überwiegend um Besitzer von Ein-                                   sich politische und wirtschaftliche Rahmen-
oder Zweifamilienhäusern. Sie leisten einen                                bedingungen aus. Nicht allein ein hoher
wichtigen Beitrag für die Energiewende.                                    Autarkiegrad muss sich lohnen, sondern
Die erzeugte Energie nutzen die Prosumer                                   auch systemdienliches Erzeugen, Verbrau-
entweder selbst oder sie verkaufen sie über                                chen und Speichern von Energie. Zu den
das Stromnetz – in der Regel an Energiever-                                Instrumenten zählen beispielsweise fle-
sorger oder Zwischenhändler. Nachdem die                                   xible Tarife, die sich nach der tatsächlich
Einspeisevergütung gesunken ist, ist der Ei-                               verfügbaren Strommenge richten und bei
genverbrauch inzwischen lukrativer als das                                 Knappheit von Energie im Stromnetz das
Einspeisen von Energie ins Stromnetz.                                      Einspeisen attraktiv vergüten. Solche flexib-
                                                                           len Tarife gibt es bisher nur in einzelnen Pio-
Indem Prosumer Energie nicht nur erzeu-                                    nierprojekten, künftig werden sie aber aller
gen, sondern auch verbrauchen und zum                                      Voraussicht nach zum Alltag gehören.
Teil sogar über Speicherkapazitäten ver-
fügen, tragen sie einerseits zur Komple-                                   Konkret kann dies beispielsweise auch be-
xität, andererseits zur Flexibilisierung des                               deuten, dass Prosumer bei Überlastungen
Stromnetzes bei. „Für Deutschland lässt sich                               im Verteilnetz finanzielle Kompensationen
zusammenfassen, dass Prosumer derzeit                                      erhalten, wenn sie ihre Anlagen vom Netz
noch Vorreiter sind, aber mit einer größe-                                 nehmen und den selbst gewonnenen Strom
ren Verbreitung ein Standbein des dezen-                                   entweder verbrauchen oder speichern. Ins-
tralen Ausbaus erneuerbarer Energien und                                   besondere in ländlichen Gebieten, wo mehr
bei netzdienlicher Systemintegration eine                                  Energie als im städtischen Raum gewonnen
Lösung für Engpässe beim Netzausbau sein                                   wird, wäre dies ein sinnvoller Mechanismus,

10
     Vgl. Steiner, Anna (2018): Wir machen uns unsere Energie selbst! (Online-Dokument). Abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/finanzen/pro-
     sumer-bewegung-energie-selbst-produzieren-15511240.html [17.03.2019]. Angaben zur Zahl der Prosumer in Deutschland variieren unter
     anderem in Abhängigkeit von der Art der Energieerzeugung bzw. der Abgrenzung nach Anlagengröße.
11
     Aretz, Astrid et al. (2016): Prosumer für die Energiewende (Online-Dokument). Abrufbar unter: https://oekologisches-wirtschaften.de/index.
     php/oew/article/viewFile/1477/1448 [18.03.2019].
12
     Vgl. Oberst, Christian und Madlener, Reinhard (2014): Prosumer preferences regarding the adoption of micro-generation technologies:
     Empirical Evidence for Homeowners (Online-Dokument). Abrufbar unter: www.fcn.eonerc.rwth-aachen.de/global/show_document.
     asp?id=aaaaaaaaaaoqwnx [24.04.2019].
20                                                                                                      5.2 Prosumer und Netzdienlichkeit

     empfehlen Wissenschaftler um den Öko-                                      Photovoltaik-Anlage deshalb häufig am
     nomen Reinhard Madlener von der RWTH                                       Eigenverbrauch orientiert und nicht an der
     Aachen im Schlussbericht über ein For-                                     geeigneten Dachfläche. So geht der Ener-
     schungsprojekt zu Prosumern.13                                             giewende Potenzial verloren.14

     Sie argumentieren vor dem Hintergrund                                      Schon heute kann ein durchschnittlicher
     der gesunkenen Einspeisevergütung wei-                                     Vier-Personen-Haushalt allein mit einer
     ter, dass die Rentabilität von Photovol-                                   Photovoltaikanlage bereits einen Autar-
     taik-Anlagen mit einem zunehmenden                                         kiegrad bei der Stromversorgung von
     Eigenverbrauchsanteil steigt. Je kleiner                                   rund 25 Prozent erreichen, wie aus Berech-
     die Anlagengröße, desto höher der Eigen-                                   nungen des Instituts für ökologische Wirt-
     verbrauchsanteil. Die Wissenschaftler ge-                                  schaftsforschung hervorgeht – in Kombina-
     ben zu bedenken, dass sich die Größe der                                   tion etwa mit einem Batteriespeicher sind

     Autarkiegrad bei der Stromversorgung

     Photovoltaikanlage
     mit Südausrichtung

     Photovoltaikanlage
     mit Südausrichtung + Batteriespeicher

     Photovoltaikanlage
     mit Südausrichtung + Wärmepumpe

     Photovoltaikanlage
     mit Südausrichtung
     + Kraft-Wärme-Kopplung*

     Kraft-Wärme-Kopplung

     Kraft-Wärme-Kopplung
     + Batteriespeicher

                                                      0%              20 %             40 %             60 %             80 %             100 %

     *) Kraft-Wärme-Kopplung:
     erdgasbetriebenes Nano-Blockheizkraftwerk                                                  (Quelle: Gährs et al. 2015, S. 12 | eigene Darstellung)

     Abbildung 3: Autarkiegrad bei der Stromversorgung, wie er sich mit unterschiedlichen Anlagen der Energie-
     erzeugung erreichen lässt.

     13
          Vgl. ebd.
     14
          Vgl. Gährs, Swantje et al. (2015): Private Haushalte als neue Schlüsselakteure einer Transformation des Energiesystems (Online-Dokument).
          Abrufbar unter: www.prosumer-haushalte.de/data/prohaus/user_upload/IOEW_Arbeitspapier-AP3_Simulation-von-Prosumer-Haushalten_
          Final.pdf [17.03.2019].
5.2 Prosumer und Netzdienlichkeit                                                                                                                21

auch höhere Autarkiegrade möglich.15 Es ist                                Allerdings möchte nicht jeder Energie-
davon auszugehen, dass sich die Selbstver-                                 verbraucher zugleich Prosumer sein. „Die
sorgung aufgrund von effizienteren Anla-                                   Autarkiesucher gehören zu einer Graswur-
gen, mehr Speicherkapazität und digitalen                                  zelbewegung, jedoch bei der großen Mehr-
Steuerungsmöglichkeiten künftig deutlich                                   heit der Energiekunden handelt es sich
weiter erhöhen lässt (Abb. 3).                                             weiterhin um Versorgt-werden-Woller“, sagt
                                                                           Elie-Lukas Limbacher vom Bundesverband
Was die Netzdienlichkeit anbelangt, kommt                                  der Energie- und Wasserwirtschaft.18 Damit
insbesondere Speichern große Bedeu-                                        fasst er ein Ergebnis der Studie zur Trans-
tung zu. Indem sie überschüssige Energie                                   formation des Energiesystems aus Kunden-
für spätere Bedarfszeiträume bereithalten,                                 sicht zusammen, die sein Arbeitgeber 2017
können Prosumer im Zusammenspiel mit                                       durchführte.19
Regelenergie-Kraftwerken konventionelle
Kraftwerke zumindest in bestimmten Zeit-                                   Zusammenfassend lässt sich festhalten,
fenstern entlasten.16                                                      dass Prosumer-Haushalte einen kleinen,
                                                                           aber wichtigen Teil zum Gelingen der
Prosumer sind ein wichtiger Baustein im                                    Energiewende beisteuern. Berechnungen
neuen Energiesystem. Im Vergleich zu dem                                   zufolge könnten Privathaushalte mit Solar-
Einfluss, den netzdienliches Verhalten von                                 energie und Blockheizkraftwerken im Jahr
Industrie und Handel hat, spielt der Beitrag                               2030 allein in Nordrhein-Westfalen mehr
von Prosumern eine kleinere Rolle. Sowohl                                  als neun Terawattstunden Strom produzie-
die Zahl geeigneter Immobilien (bei Photo-                                 ren. Das ist ein Viertel des voraussichtlichen
voltaik etwa aufgrund der Ausrichtung des                                  landesweiten Stromverbrauchs.20 Auch in
Dachs) als auch der Grad der technisch um-                                 Hessen hat der Zubau von Photovoltaik-
setzbaren Selbstversorgung (bei Photovol-                                  Anlagen zuletzt wieder angezogen. Nach-
taik etwa aufgrund der verfügbaren Dach-                                   dem er aufgrund der Verringerung der Ein-
fläche) lassen sich nicht beliebig steigern.                               speisevergütung im Jahr 2010 über Jahre
Dass das Photovoltaik-Potenzial von Dach-                                  hinweg wenig dynamisch war, nahmen die
flächen in Hessen jedoch bislang nicht ein-                                Investitionen in Photovoltaik 2017 und 2018
mal annähernd ausgeschöpft ist, zeigt das                                  wieder deutlich zu.21
Hessische Solar-Kataster, ein kostenloses In-
ternetprogramm des Landes Hessen.17 Dies
trifft auch für Deutschland als Ganzes zu.

15
     Vgl. Gährs, Swantje et al. (2015): Private Haushalte als neue Schlüsselakteure einer Transformation des Energiesystems (Online-Dokument).
     Abrufbar unter: www.prosumer-haushalte.de/data/prohaus/user_upload/IOEW_Arbeitspapier-AP3_Simulation-von-Prosumer-Haushalten_
     Final.pdf [17.03.2019].
16
     Vgl. Plenz, Maik und Hirschl, Bernd (2016): Prosumer im Energiesystem (Online-Dokument). Abrufbar unter: www.oekologisches-wirtschaften.
     de/index.php/oew/article/view/1478 [18.03.2019].
17
     Dr. Justus Brans vom Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen auf dem Faktencheck Digitalisierung am 25.10.2017
     in Darmstadt.
18
     Elie-Lukas Limbacher in seinem Impulsvortrag auf dem Faktencheck Digitalisierung der Energiewende II am 25.10.2018 in Darmstadt.
19
     Vgl. BDEW (2017): Digitalisierung aus Kundensicht (Online-Dokument). Abrufbar unter: www.bdew.de/media/documents/Digitalisierung_
     aus_Kundensicht_Broschuere_final.PDF [13.04.2018].
20
     Vgl. Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen (2017): Prosumer in der Energiewende (Online-Dokument). Abrufbar unter: www.energie​
     2020.nrw/wissen/energie/prosumer-in-der-energiewende-13700 [18.03.2018].
21
     Vgl. Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Landesentwicklung (2018): Energiewende in Hessen. Monitoringbericht
     2018, a.a.O., S. 56 und 97.
Handlungsfeld II:
 Marktzugänge
23

6 Handlungsfeld II: Marktzugänge
Soll das Energiesystem der Zukunft vor-                                  Kraftwerks eingebürgert. Diese, für das Ge-
nehmlich auf der Erzeugung erneuerbarer                                  lingen der Energiewende essenziellen, neu-
Energien basieren, müssen auch kleine-                                   en Vertriebsmodelle basieren auf digitalen
re Energieerzeuger stärker als bisher die                                Technologien.
Möglichkeit haben, selbständig am Ener-
giemarkt zu partizipieren. Tausende Wind-

                                                                         6.1 Virtuelle
energie- und noch weit mehr Photovol-
taikanlagen werden ab 2020 und in den

                                                                         Kraftwerke
folgenden Jahren das Ende ihrer zwan-
zigjährigen Vergütungslaufzeit nach dem
Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) errei-
chen. Danach erhalten Sie keine fixe Ein-                                Will man konventionelle Großkraftwerke
speisevergütung mehr.22 Damit die Wind-                                  mit ihrer Leistung und Zuverlässigkeit bei
und Solarenergieanlagen auch nach dem                                    der Energieversorgung durch viele kleine
Ende der festgelegten Einspeisevergütung                                 Anlagen ersetzen, so ist es hilfreich, sie zu
noch rentabel betrieben werden können                                    bündeln. Eine Vielzahl von beispielsweise
und ihr Potenzial dem Energiesystem nicht                                Windenergie- und Photovoltaikanlagen,
verloren geht, herrscht hier Handlungs-                                  von Wasserkraftwerken und Biogasanlagen
druck.                                                                   sowie Blockheizkraftwerken bildet dann zu-
                                                                         sammen ein virtuelles Kraftwerk. Als virtu-
Gegenwärtig entstehen für Betreiber von                                  elles Kraftwerk werden sie bezeichnet, weil
Anlagen im Bereich der erneuerbaren Ener-                                sie physisch nicht zusammenhängen, aber
gien immer mehr Möglichkeiten, Strom und                                 dennoch gemeinsam Leistung bringen. Es
Wärme zu verkaufen. Neben der Einspei-                                   ist nicht nötig, dass die Anlagen auf einem
sung ins allgemeine Stromnetz können sie                                 geografisch eng begrenzten Raum stehen,
ihre Ware zunehmend über neue Kanäle                                     wohl aber, dass es eine zentrale Steuerung
vertreiben. Dazu gehört beispielsweise der                               gibt (Abb. 4). Virtuelle Kraftwerke können
sogenannte Peer-to-Peer-Handel, bei dem                                  sogar über Ländergrenzen hinweg arbeiten.
Geschäfte direkt zwischen den Akteuren
ohne Zwischenhändler geschlossen wer-
den. Es ist ebenfalls ist möglich, die Ener-
gie von mehreren Erzeugungsanlagen zu
bündeln, so als handelte es sich von der
Leistung her um ein großes Kraftwerk. Hier-
für hat sich die Bezeichnung des virtuellen

22
     Vgl. Deutsche WindGuard (2017): Perspektiven für den Weiterbetrieb von Windenergieanlagen nach 2020 (Online-Dokument). Abrufbar
     unter: www.fachagentur-windenergie.de/aktuell/detail/studie-perspektiven-fuer-den-weiterbetrieb.html [21.05.2019].

     Vgl. auch Diermann, Ralph (2018): Tausende Windräder stehen vor dem Aus (Online-Dokument). Abrufbar unter: www.spiegel.de/wirtschaft/
     soziales/energiewende-so-sollen-windraeder-vor-dem-aus-gerettet-werden-a-1239385.html [13.04.2019].
24                                                                                                               6.1 Virtuelle Kraftwerke

     Erneuerbare Energien gebündelt vermarkten im virtuellen Kraftwerk

                             Windkraft
                                                                                                                           Netzbetreiber

                                                                                                                Nachfrage
                                                         Virtuelles Kraftwerk                                 nach Flexibilität

            Wasserkraft

                                                  Bedarfs-        Strompreis-      Erzeugungs-              Lieferung von
                                                  prognose         prognose         prognose             Flexibilitätspotenzial

                  Speicher
                                                                                                                            Strommarkt

                                         Solar
                                                                                                Geothermie
                                                                     Biogas

                                                                                                                   (Quelle: eigene Darstellung)

     Abbildung 4: Virtuelle Kraftwerke greifen auf die Leistung zahlreicher Energieerzeugungsanlagen zu. So
     können sie den Netzbetreibern Flexibilität anbieten.

     Die Abstimmung von Produktion und Ver-                                   soll sichergestellt werden, dass der Verbund
     brauch in Echtzeit erfordert eine genaue                                 netzdienlich arbeitet.
     Beobachtung der angeschlossenen Anla-
     gen und ihrer Leistung sowie die Berück-                                 Die Entwicklung virtueller Kraftwerke wur-
     sichtigung von Wetterprognosen. Weil der                                 de bislang vor allem von Start-ups vorange-
     Verbund von Anlagen ebenso wie einzelne                                  trieben. Bundesweit ist nur eine Handvoll
     Anlagen witterungsbedingten Schwankun-                                   solcher überregionaler Schwarmkraftwer-
     gen unterliegt, sind beispielsweise auch                                 ke im Betrieb, allerdings greifen sie auf
     Speicher und flexible Lasten angeschlos-                                 beachtliche Energiemengen zu: Das 2009
     sen. Sie dienen dazu, Unregelmäßigkeiten                                 gegründete Unternehmen Next Kraftwerke
     bei der Erzeugung abzupuffern und die                                    zum Beispiel hatte im Dezember 2018 nach
     erforderliche Energiemenge verfügbar zu                                  eigenen Angaben Zugang zu knapp 6.000
     halten. Mit diesen Steuerungsmechanismen                                 Megawatt Nennleistung.23 Somit kann der

     23
          Vgl. Next Kraftwerke: Unser Unternehmen (Online-Dokument). Abrufbar unter: www.next-kraftwerke.de/unternehmen [19.03.2019].
6.1 Virtuelle Kraftwerke                                                                                                    25

virtuelle Verbund, der von Köln aus gesteu-                               bestehen mit Forschungsprojekten wie
ert wird, die Nennleistung von fünf mittle-                               C/sells, das in Hessen, Baden-Württemberg
ren Großkraftwerken zumindest temporär                                    und Bayern erprobt, zellular und regional
ersetzen.                                                                 Flexibilität im Stromnetz zu schaffen. Auch
                                                                          mit Stadtwerken gebe es Formen der Zu-
Next Kraftwerke vernetzt knapp 7.000 Er-                                  sammenarbeit, berichtet Schwill.
neuerbare-Energien-Anlagen. Es handelt
sich um Biogas und Biomasse, Solar-, Wind-                                Mit den klassischen Privathaushalten als
und Wasserkraft, Biomethan und Klärgas,                                   Prosumern arbeitet das Unternehmen bis-
Kraft-Wärme-Kopplung und Notstrom-Ag-                                     her nicht zusammen. „Heute lohnt es sich
gregate. Rein rechnerisch steuert jede An-                                erst ab 100 Kilowatt, Flexibilitäten zu integ-
lage knapp ein Megawatt bei. „Wir fangen                                  rieren, ansonsten rentiert es sich nicht, die
aber tatsächlich bei ungefähr 100 Kilowatt                                Anlagen anzuschließen“, sagt der Gründer.
an und enden bei 20, 30 Megawatt Anla-                                    Dies könnte sich künftig ändern – vorausge-
genleistung“, sagt Co-Gründer und Ge-                                     setzt, die Flexibilität ist dann über angebots-
schäftsführer Jochen Schwill. „Dann vernet-                               orientierte Stromtarife mehr wert als heute.
zen wir sie zur Bereitstellung von Flexibilität
für den Strommarkt.“24                                                    Es gibt auch Plattformen, die ebenfalls
                                                                          Pooling-Modelle betreiben, sich damit
Next Kraftwerke überwacht, koordiniert                                    aber speziell an Prosumer-Haushalte rich-
und steuert über ein Leitsystem die einzel-                               ten. Virtuelle Kraftwerke bieten ihnen Ver-
nen Anlagen individuell und nach Bedarf:                                  marktungsmöglichkeiten, die unter Um-
„Wenn ich Anlagen drossele, verliere ich                                  ständen rentabel für sie sein können. Seit
Strom. Aber der Biogasanlage kann ich sa-                                 2015 stellt beispielsweise das Unterneh-
gen: Erzeuge den Strom später, wenn die                                   men Sonnen mit Hauptsitz im bayerischen
Windfront vorbei ist“, erklärt Schwill. So ent-                           Wildpoldsried, ein Hersteller von Strom-
stehe im Zusammenspiel Flexibilität.                                      speichern vor allem für Privathaushalte mit
                                                                          Photovoltaikanlagen, seinen Kunden auch
Next Kraftwerke verkauft den Übertragungs-                                eine Plattform als Stromerzeugergemein-
netzbetreibern also Energie nach Bedarf.                                  schaft bereit.
Bei Netzengpässen, wenn eine Überlastung
der Leitung droht, sind Redispatch-Maßnah-                                Über eine Sharing-Plattform sind die Mit-
men zur Steuerung des Lastflusses üblich.                                 glieder des Netzwerks und ihre Energie-
Dabei kann es sich um kurzfristige Zu- oder                               anlagen und Speicher miteinander ver-
Abschaltungen von Kraftwerkskapazitäten                                   bunden. Verbraucht ein Haushalt den
handeln. Ein konventionelles Kraftwerk                                    selbst gewonnenen Strom nicht, kann er
hochzufahren ist jedoch sehr teuer. „Oft                                  Überschüsse innerhalb der Gemeinschaft
sind diese Dinge in Verträgen zwischen                                    verkaufen – zum Beispiel aus Bayern nach
Großkraftwerken und Übertragungsnetzbe-                                   Hamburg, wo es möglicherweise gerade
treibern geregelt, doch auch da können wir                                bewölkt ist und deshalb kein Strom gewon-
helfen“, resümiert Schwill.                                               nen werden kann. Unternehmensangaben
                                                                          zufolge kann die Gemeinschaft von Strom-
Energieerzeugende Partner sind vor allem                                  produzenten die bisherigen Stromversor-
andere Unternehmen: Industriebetriebe                                     ger der Mitglieder vollständig ersetzen.25
oder Landwirte, die inzwischen auch im                                    160.000 Menschen würden so bereits mit
Energiebereich tätig sind. Kooperationen                                  Energie versorgt. Das Unternehmen nutzt

24
     Jochen Schwill in seinem Vortrag auf dem Faktencheck Digitalisierung der Energiewende II am 25.10.2018 in Darmstadt.
25
     Vgl. Sonnen: Sonnen-Community (Online-Dokument). Abrufbar unter: www.sonnen.de/sonnencommunity/ [30.03.2019].
26                                                                                                     6.2 Regionale Energiemarktplätze

     den Strom der Mitglieder auch, um dem                                    Kunden können auf regionalen Energie-
     Übertragungsnetzbetreiber Regelstrom zur                                 marktplätzen sogar zwischen einzelnen An-
     Verfügung zu stellen.                                                    lagenbetreibern wählen. Die angeforderte
                                                                              Menge wird ins Stromnetz eingespeist. Dort
     Dass auch öffentliche Träger virtuelle Kraft-                            befindet sich immer ein Strommix, der sich
     werke betreiben können, zeigt das Beispiel                               aus unterschiedlichen Quellen zusammen-
     des Landkreises Ebersberg in Bayern. Dort                                setzt. Die Konsumenten verbrauchen den
     haben die Kommunen ein gemeinsames                                       von ihnen bestellten Strom also nicht phy-
     Stadtwerk auf Landkreis-Ebene gegründet                                  sikalisch, sondern bilanziell. Damit tragen
     – das Eberwerk. Es betreibt unter anderem                                sie über die Nachfrage zur Gestaltung der
     ein virtuelles Kraftwerk, in dem momentan                                örtlichen Energieproduktion bei.
     acht Ökostrom-Anlagen aus dem Gebiet
     des Landkreises gebündelt sind. „Wir haben                               Wie ein solcher Energiemarktplatz in der
     vermutlich das kleinste virtuelle Kraftwerk                              Praxis funktioniert, zeigt das Beispiel der
     ins Leben gerufen“, sagt Hans Gröbmayr,                                  Wuppertaler Stadtwerke. Der kommunale
     der als Klimaschutzmanager des Landkrei-                                 Energieversorger bietet Stromkunden über
     ses sicherstellen soll, dass die Kommunen                                die Plattform Tal.Markt an, ihren Strommix
     bei ihrer Energieversorgung bis 2030 ohne                                prozentual aus einer Liste regionaler Wind-,
     fossile Quellen auskommen.26 „Momentan                                   Solar-, Wasser- oder Biomasseanlagen zu-
     sind sechs Biogasanlagen beteiligt, eine                                 sammenzustellen. Die Anteile lassen sich
     Windenergieanlage und ein Blockheizkraft-                                immer wieder ändern. Das Angebot rich-
     werk, aber wir hoffen, dass wir wachsen.“                                tete sich zunächst an alle Ökostromkunden
     Dieser regionale Ökostrom werde als Eber-                                Wuppertals.
     strom verkauft.
                                                                              „Wir wollten wissen: Geht das? Und wie geht
                                                                              das?“ erklärt Elmar Thyen, Pressesprecher

     6.2 Regionale
                                                                              des Energieversorgers, die Motivation des
                                                                              Unternehmens zur Entwicklung des Markt-

     Energiemarkt-
                                                                              modells.27 Auch die Versorgungssicherheit
                                                                              sei eine wichtige Triebfeder gewesen: Vie-

     plätze
                                                                              len Windrädern droht ab 2021 die Abschal-
                                                                              tung, weil dann ihre Förderung nach dem
                                                                              Erneuerbare-Energien-Gesetz ausläuft. Fin-
     Während virtuelle Kraftwerke den Austausch                               det sich für sie keine andere Möglichkeit
     von Strom über weite räumliche Distanzen                                 des rentablen Betriebs, geht ihre Leistung
     hinweg koordinieren, verfolgen regiona-                                  dem Strommarkt verloren. Mit einem Mo-
     le Energiemarktplätze das Ziel, den Strom                                dell wie Tal.Markt könnten Windenergiean-
     dort zu verkaufen, wo er produziert wird:                                lagen auch ohne die Förderung wirtschaft-
     vor Ort. Hier erfolgt der Verkauf der Energie                            lich betrieben werden, so Thyen.
     nicht gebündelt, sondern direkt zwischen
     Erzeuger und Konsumenten. Zielgruppe ist                                 Damit der Stromhandel über die Plattform
     der Endkunde, nicht der Netzbetreiber. Zu-                               funktioniert, hat der Energieversorger so-
     gleich bieten diese Modelle Konsumenten                                  wohl Kunden als auch Erzeuger mit einem
     die Möglichkeit, auf die regionale Strom-                                Smart Meter, also mit einem digitalen Zäh-
     produktion Einfluss zu nehmen – und damit                                ler mit Datenschnittstelle, ausgestattet. Die
     darauf, ob die Energie aus erneuerbaren                                  Kunden haben damit Transparenz über ihre
     Quellen stammt oder nicht.                                               Verbrauchskurven. Wenn sie beispielsweise

     26
          Hans Gröbmayr in einer Podiumsdiskussion auf dem Faktencheck Digitalisierung der Energiewende II am 25.10.2018 in Darmstadt.
     27
          Elmar Thyen in seinem Impulsvortrag auf dem Faktencheck Digitalisierung der Energiewende II am 25.10.2018 in Darmstadt.
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