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Jg 22 Nr 30 Dezember 2021 FN – Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft Johanna Diehl: Taubes Geäst »Gegenwärtig – Zeitgenössische Künstler*innen begegnen Felix Nussbaum« Versuch einer Rekonstruktion Felix Nussbaums Studienreise durch Belgien und Frankreich Begegnungen mit Felix Nussbaum Persönliche Betrachtungen aus erinnerungskultureller Perspektive von Daniel Gollmann Unterwegs mit Felix Nussbaum Nussbaum-Bilder im Holocaust-Museum der Slowakei vorgestellt
Impressum Inhalt FN – Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft he r a u s g eber Felix-Nussbaum-Gesellschaft e. V. 4 Johanna Diehl: Taubes Geäst in Zusammenarbeit mit dem Felix-Nussbaum-Haus »Gegenwärtig – Zeitgenössische Künstler*innen im Museumsquartier Osnabrück r e da k ti o n Anne Sibylle Schwetter (Redak begegnen Felix Nussbaum« tionsleitung), Manuela Maria Lagemann, Heiko Schlatermund, Karin Jabs-Kiesler, 8 Versuch einer Rekonstruktion Jürgen Jaehner Felix Nussbaums Studienreise durch Belgien und Frankreich g e s ch ä f t sstelle Felix-Nussbaum-Gesellschaft e. V. Konrad-Adenauer-Ring 20, 49 074 Osnabrück 16 Begegnungen mit Felix Nussbaum web www.fng-os.de Persönliche Betrachtungen aus erinnerungskultureller Manuela Maria Lagemann (Geschäftsführerin) Perspektive von Daniel Gollmann Telefon 01 71 / 312 57 56 E-Mail lagemann@fng-os.de Heiko Schlatermund (Vorsitzender) 22 Unterwegs mit Felix Nussbaum Telefon 01 71 / 860 39 54 Nussbaum-Bilder im Holocaust-Museum E-Mail schlatermund@fng-os.de der Slowakei vorgestellt Anne Sibylle Schwetter (1. stv. Vorsitzende) Telefon 0151 / 57 76 00 54 E-Mail schwetter@fng-os.de g e s ta ltu n g, satz sec GmbH, Osnabrück d r u c k Bruns Druckwelt GmbH & Co.KG, Minden v e r l ag secolo Verlag, Osnabrück i s s n 1616-4296 a b b i l d u n gen Umschlag Vorderseite und Rückseite (Detail) und S. 9: Fotostudio Bartsch, Karen Bartsch, Berlin S. 4 bis 7: Courtesy of the artist und Galerie Wilma Tolksdorf, Bilder: © Johanna Diehl S. 10 oben und S. 12 oben rechts: Jean-Paul Potron, Jean Gilletta et la Cote d´Ázur. Paysages et Reportages 1870 – 1930, Editions Gilletta Nizza 2017, S. 145 S. 10 unten: Wikipedia public domain S. 11 unten, S. 13 oben, S. 14, S. 17 und S. 20: Museumsquartier Osnabrück, Fotograf Christian Grovermann S. 11 Mitte: Archiv Museumsquartier Osnabrück, Foto: Privat S. 12 oben links: Fotograf Walter Klein, Düsseldorf S. 12: Courtesy of the Leo Baeck Institute, New York S. 13 unten: Privat S. 22 bis 25: Felix-Nussbaum-Geschellschaft Adressenänderungen Die Geschäftsstelle bittet alle Mitglieder und sonstige Bezieher der FN-Nachrichten, ihr Adressen änderungen mitzuteilen. E-Mail-Adressen Damit Vorstand und Geschäftsstelle aktu- elle Informationen s chneller übermit- Senden Sie Ihre E-Mail-Adresse an: teln können, bitten sie die Mitglieder der Felix-Nussbaum-Gesellschaft mail@fng-os.de und sonstige Interessenten, ihre E-Mail-Adressen und Faxnummern der Gesellschaft mitzuteilen.
Liebe Leserinnen und Leser, in unserer FN-Ausgabe vom Dezember Um zwei in ihrer Herangehensweise 2016 hatten wir angekündigt, dass konträre Auseinandersetzungen mit dem wir aus den Erfahrungen mit einer Werk Nussbaums geht es bei den Beiträ- Ausstellung von 15 Reproduktionen gen über die Ausstellung »Taubes Geäst« bedeutender Nussbaum-Bilder in Riga von Johanna Diehl in der Reihe »Gegen- ein umfassenderes Projekt entwickeln wärtig. Zeitgenössische Künstler*innen wollten. Das Ergebnis ist Ihnen durch begegnen Felix Nussbaum« des Muse- unsere Berichterstattung bekannt: umsquartiers Osnabrück und den »Unterwegs mit Felix Nussbaum« wurde Betrachtungen über den Maler aus im Februar 2020 in der Stadt Haarlem erinnerungskultureller Perspektive erstmals vorgestellt. Auch über die von Daniel Gollmann. Mit dem Versuch Probleme, die sich bei der Fortsetzung einer Rekonstruktion der Studienreise der Ausstellungsreise aufgrund der von Felix Nussbaum durch Belgien und Corona-Pandemie ergeben haben, wurde Frankreich wollen wir Ihnen weitere in der letzten Ausgabe berichtet. In Aspekte zur Auseinandersetzung mit Sered‘, einer kleinen slowakischen Stadt dem Maler und seinem Leben vorstellen östlich von Bratislava, konnte diesen und Sie auf eine spannende Weise mit- September die Tournee nun fortgesetzt nehmen und zum Nachdenken über sein werden. Dass der Ausstellungsort und Werk anregen. seine Geschichte eine derartige Bedeu- Abschließend erinnern wir noch ein- tung für das Projekt insgesamt und die mal an unsere Bitte, sofern nicht bereits möglichen weiteren Standorte erlangen geschehen, von den Mitgliedern die würde, war bei der Planung für uns noch E-Mail-Kontaktdaten zu erhalten. Dies nicht absehbar. Umso erfreulicher sind erleichtert uns bei Ihrer schnellen und daher die langfristigen Perspektiven. insbesondere kurzfristigen Information So wird mit dem Dirigenten Jack Martin die Arbeit und trägt dazu bei, dass Sie Händler, der mit seinem »Bruno Walter ebenso über weitere Veranstaltungen Chamber Orchestra« zur Eröffnung in befreundeter Organisationen in Kenntnis Sered‘ ein Konzert gab, derzeit beraten, gesetzt werden können. zum 25-jährigen Jubiläum des Felix- Für das Jahr 2022 wünschen wir Nussbaum-Hauses und im 375. Jahr des Ihnen alles erdenklich Gute, vor allem Westfälischen Friedens im Sommer 2023 Gesundheit, und hoffen gemeinsam mehrere Konzerte mit diesem jungen drauf, dass sich auch das Zusammen- europäischen Orchester in Osnabrück kommen in unserer Gesellschaft wieder aufzuführen. Die Mitglieder der FNG wer- normalisiert und das neue Jahr ein Ende den hierüber selbstverständlich direkt der Corona-Pandemie bringen wird. und ausführlich informiert werden. die reda ktion Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021 3
»Gegenwärtig – Zeitgenössische Künstler*innen begegnen Felix Nussbaum« Johanna Diehl: Taubes Geäst »Wer erinnert sich an Felix Nussbaum?« greifenden Traumata. In ihren Arbeiten besonders für die Dinge, die nicht direkt titelte die Neue Osnabrücker Zeitung spürt Diehl dem Verborgenen und ins Auge fallen, die sich außerhalb des und rief 1971 dazu auf, Erzählungen, Übersehenen im kulturellen Gedächtnis Bildzentrums, am Rand, gewissermaßen Begegnungen und Erinnerungen zu nach. Sie interessiert sich für Formen in den »Falten« des Bildes befinden. Aus Felix Nussbaum zusammenzutragen, um des Überschreibens von Erinnerung dieser Perspektive treten in ihren für den bis dato in der Geschichtsschrei- und für die Anwesenheit von Abwe- die Ausstellung entstandenen fotogra- bung kaum sichtbaren Künstler ans sendem. Bekannt geworden ist sie fischen und filmischen Arbeiten Details Licht zu holen. Jahrelange Forschungen mit großformatigen Fotografien von aus Nussbaums Werk wie gestutzte und engagiertes Sammeln von Informa- architektonischen Räumen und fotogra- Bäume, Musikinstrumente, Gesten und tionen geben heute ein scheinbar klares fischen Serien, in denen sie private und Farben in den Vordergrund. Mit einer Bild der Künstlerpersönlichkeit und sei- öffentliche Archive auf komplexe Weise großen Sensibilität den Blick zu richten nes Schaffens. Und doch bleibt vieles im verschränkt. auf das, was nicht im Fokus steht, cha- Verborgenen. rakterisiert Diehls künstlerisches Vorge- Die Fotografin Johanna Diehl Am Rand der Bilder hen. Hier, in den Zwischenräumen, sucht (*1977), die das Museumsquartier in Johanna Diehl dringt mit ihrer Präsenta- sie das Eigentliche unter Bezugnahme der Reihe »Gegenwärtig. Zeitgenössi- tion unter dem Titel »Taubes Geäst« tief auf Walter Benjamins Passagenwerk: sche Künstler*innen begegnen Felix in das Leben und Werk Felix Nussbaums »In den Falten der Geschichte befindet Nussbaum« zum Dialog mit dem Werk ein. Die international renommierte sich das Eigentliche, im Subjektiven, Nussbaums eingeladen hatte, wendet Fotokünstlerin begibt sich auf Nuss- Alltäglichen, also in dem Nicht-in-den- ihren Blick auf eben solche »Falten der baums Spuren während des Exils und offiziellen-Geschichtsbüchern-Verzeich- Geschichte« (Walter Benjamin). Ihre der Flucht und untersucht, in welcher neten« (Johanna Diehl). Suche gilt der Präsenz vergangener, Gestalt sein vom Widerstand geprägtes zum Teil ausgelöschter Geschichte im Werk heute noch präsent ist. In seinen Heute, ebenso wie generationsüber- Gemälden interessiert sich Diehl dabei 4 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
Bäume den Wunsch Nussbaums ins Bild setzt: Anhand der Baummotive schafft Felix »Auch wenn ich untergehe, lasst meine Nussbaum ein Bild seiner verzweifelten Bilder nicht sterben«. Hierfür inszeniert Situation und offenbart sein persön- Diehl eine Gruppe aus jungen Bäumen, liches Welt- und Selbstverständnis. deren abgesägte, gebrochene und Alleinstehend und giftig-grün ist zum blattlose Gegenstücke in Nussbaums Beispiel die Pinie im Werk von Nuss- »Triumph des Todes« hinter einer Mauer baum als Chiffre von Einsamkeit und hervorragen und welche die Künstlerin Angst am Beginn seines Exils hinter von Botaniker*innen bestimmen ließ. In Mauern gefangen. Später treten ver- der Filmarbeit »Taubes Geäst« werden schiedene Baumarten als gestutzte, sie durch den Künstler und Konzert- gekappte, ja verstümmelte Gestalten schlagzeuger Raphael Sbrzesny in einer in Erscheinung, kahl entlaubt, häufig raumgreifenden Installation zum Klin- isoliert, selten mit einem hoffnungs- gen gebracht. vollen Blütentrieb. Auch Nussbäume finden sich in den Malereien, vielleicht Notenfragment stille Porträts als Stellvertreter seiner In Nussbaums »Triumph des Todes« liegt selbst. »Oft im Hintergrund, scheinen ein zerrissenes Blatt mit einer Noten- die gestutzten, verkürzten, eingegange- folge am Boden, welche die damals nen und gekrümmten Hölzer von den populäre Komposition »Lambeth Walk« ungeheuren Vorgängen einer Welt im zeigt. Das Musikstück entstammt dem Krieg und von existentieller Bedrohung 1937 uraufgeführten Musical »Me zu erzählen« (Johanna Diehl). and My Girl« und avancierte rasch zu Dass Felix Nussbaum trotz seiner einem der beliebtesten zermürbenden Lebensumstände nie Tanzstücke der Zeit. Auf aufhörte zu malen, zeigt seine Form der Grundlage dieses Frag- Auflehnung und hat das heute über- ments realisiert Johanna lieferte Werk ermöglicht: »Ich wehre Diehl in Zusammenarbeit mich und werde nicht müde. Es geht.« mit Raphael Sbrzesny (Felix Nussbaum in einem Artikel des die Filmarbeit Fragment belgischen Kunstkritikers Emile Langui einer Partitur, in welcher in der flämischen Zeitung Vooruit, 05. der renommierte Lauten- Februar 1939). Johanna Diehl nimmt den Virtuose Joachim Held Gedanken eines Lebens unter widrigen, das Notenfragment zu geradezu lebensfeindlichen Umständen einer gefühlvollen und auf, wenn sie am Strand von St. Cyprien, bewegenden Komposition dem Ort von Nussbaums Gefangen- vervollständigt. Indem schaft, zarte Pflanzen, die dort der uner- Johanna Diehl die beiden bittlichen Sonne trotzen, fotografiert, Filmarbeiten nebeneinan- oder eine vereinzelte Palme porträtiert, der im Raum installiert, die sich mit ihrem spitzen Blattgefieder inszeniert sie einen fragi- und den abwehrenden Rindenschilden len musikalischen Dialog, gegen die harten Umstände zur Wehr der bis in die oberen setzt; Diehl schafft Fotografien bele- Stockwerke des Museums bender Kraft, wenn sie totem Geäst zu hören ist. junge Triebe gegenüberstellt und so Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021 5
Instrumente Die Objekte der Fotografien »Schnecke I – II (Restauration)« und »Gipskörper I – III (Restauration)«, sowie die Pigmente die- nen Geigenbauer*innen als Hilfsmittel, um beschädigte Musikinstrumente wie- derherzustellen. Im Kontext von Felix Nussbaum, der nicht bespielbare und verstummte Musikinstrumente, wie die Geige mit gerissenen Saiten (»Triumph des Todes«), die Drehorgel ohne Kurbel (u. a. »Orgelmann«) oder die saitenlose Laute (»St. Cyprien«), als Metaphern in seine Malerei einbezog, können Diehls Fotografien als Porträts dieser »Innen- räume« verwundeter Instrumentenkör- per gelesen werden. Gestik Eine Hand, die Finger gekrümmt. Sie greifen nicht in die Welt, sondern in Richtung des eigenen Körpers, sind unnatürlich eingedreht. Johanna Diehl zeigt die Hand des Lautenisten, der eine Note greift, ohne das den Ton verlauten- de Instrument in den Händen zu hal- ten. Isoliert, ohne Resonanz, ins Leere fassend, spiegelt der Griff die tragische Gestik, mit der Nussbaum in seinen Werken Gefühlswelten markiert. Nach innen gewendete, zur Faust geballte, grotesk verzerrte oder kraftlose Hände erzählen von innerer Emigration, Hoff- nung, von Anspannung, Wahnsinn und Wut. Inkarnat / Fahnen Als hautfarbene Risse scheinen »Fahne I – III« die steinernen Betonwände zu durchbrechen. Geschwungene Linien, ausgefranste Ränder, unregelmäßige Formen bilden einen Kontrapunkt zu den Flächen und Linien eines Daniel Libeskind. Als Formvorlage dienten Johanna Diehl die schwarzen Fahnen im Gemälde »Orgelmann«, die dort bedrohlich in die Straße ragen und wie Pestfahnen Tod und Verderben kenn- zeichnen. Johanna Diehl isolierte die Fahnenumrisse aus Nussbaums Gemäl- de, vergrößerte sie und füllte in einem 6 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
fototechnischen Prozess im analogen Begreifen« entlehnt Johanna Diehl von Farblabor die Formen mit reiner Farbe. ihrem Großonkel Arnold Bode, dem Das Kolorit ist dem Inkarnat von Nuss- Gründer der »documenta« in Kassel, der baums Figuren entlehnt, der die Hauttö- die Kunstwerke nicht bloß präsentierte, ne je nach emotionalem Ausdruck sei- sondern nebeneinander inszenierte, um ner Träger*innen variierte: fahl, blutarm, neue Kontextualisierungen zu ermögli- gräulich, verschattet oder erhellt. Johan- chen. Für dieses Ziel werden Genre und na Diehls fotografische, fleischfarbene Gattungen entgrenzt: das Publikum Interpretationen der Fahnen wirken wie »begreift« die Kunst im Kontext der ein kraftvoller Kommentar zu den von Architektur, im Dialog mit Musik oder Zerfall und Verderben zeugenden Fah- Poesie, in der Gegenüberstellung ver- nen in Nussbaums berühmter Malerei. schiedener Epochen oder künstlerischer Techniken. Visuelles Begreifen Entsprechend nimmt Johanna Diehl In der Ausstellung »Taubes Geäst« führt für die Ausstellung eine Mehrzahl von Johanna Diehl Fotografien und Film- Fäden – Assoziationen und Erzählsträn- arbeiten zu einer großen Installation ge – auf und verflicht sie in unterschied- zusammen. Verschiedene Formate, lichen Medien zu einem organischen Themen und Ansätze treffen aufeinan- Netz von sinnlichen Erfahrungen und der: Pflanzen, Gipsformen, eine Hand, Eindrücken. Dabei hallt das Werk Felix Violinenschnecken oder ein Schwarm Nussbaums in der Ausstellung »Taubes von Kinnhaltern sowie zwei Filmarbei- Geäst« auf besondere Weise wider und ten, die mit ihrem Sound den Ausstel- erfährt ein Echo, das der Künstler in der lungsraum neu definieren. Verschiedene Emigration zu Lebzeiten vermisste. Bilder treten zueinander in Beziehung und ergeben neue Sinnzusammen- mechthild achelwilm hänge. »Das eine Bild verschiebt und museumsquartier osnabrück rüttelt am Kontext des anderen; die kuratorin zeitgenössische kunst mit und um dieses Bild geschriebene Geschichte kommt noch einmal in Bewegung – und ermöglicht ein ande- res ›visuelles Begreifen‹« (Johanna Diehl). Die Wortschöpfung »visuelles Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021 7
Versuch einer Rekonstruktion Felix Nussbaums Studienreise durch Belgien und Frankreich Aus den Jahren 1928 und 1929 sind 35 in dem Nussbaum mit viel Witz und gro- Bilder von Felix Nussbaum überliefert, ßem Anspielungsreichtum seine künst- die die Aufenthalte des Künstlers in Bel- lerischen Emanzipationsbestrebungen gien und Südfrankreich illustrieren. Sie als Vater-Sohn-Konflikt thematisierte. Da entstanden zu einer Zeit, als der damals beide, Vater Philipp Nussbaum ebenso junge Maler bereits erste künstlerische wie Felix Nussbaum, den niederländi- Erfolge hatte verzeichnen können: schen Maler van Gogh gleichermaßen Neben Einzelausstellungen und zahlrei- verehrten, kann die angestrebte Eman- chen Ausstellungsbeteiligungen wurde zipation Nussbaums von der väterlichen er im Wintersemester 1928/29 Meister- Kunstwelt – und so auch von der Malerei schüler des Grafikers Hans Meid. Damit van Goghs – durchaus hier hineinge- kam er zugleich in den Genuss eines spielt haben. eigenen Ateliers in der Hardenbergstra- Im Juli – und folglich vielleicht im ße in Berlin, wobei er nach der Erin- Anschluss an die Reise nach Osnabrück nerung seines Studienkollegen Erwin – war Felix Nussbaum nachweislich im Grauman »in einer Zeit, in der er ein belgischen Ostende: Er datierte zwei Bil- Atelier als Meisterschüler hatte, fast einder auf Juli 1928, die seinen Aufenthalt Jahr auf Studienreise ging und das Ate- in dem mondänen Badeort belegen, den lier gar nicht nutzte«1. Ob dies tatsäch- »Hafenkai« (WV 67) und das »Straßenca- lich der Fall war, lässt sich nicht genau fé in Ostende« (WV 71). Hinzu kommen feststellen. Es liegen keine schriftlichenBilder, die Motive aus Belgien zeigen Zeugnisse vor, die Nussbaums Aufent- und ebenfalls in das Jahr 1928 datiert halte näher bestimmen oder dokumen- sind, allerdings ohne Monatsangaben tieren. Die Orte und der Ablauf seiner (WV 67 bis 70, WV 72, WV 74 und 75). Reisen erschließen sich nur aus den Außerdem wird diesem Aufenthalt ein Bildern, die motivisch oder anhand der weiteres Werk zugeordnet, das die Zeit- von Nussbaum oftmals verzeichneten schrift »Menorah«4 von 1930 als »Juden- Ortsangaben Rückschlüsse erlauben: Das gasse in Antwerpen« (WV 73) bezeichnet. Werkverzeichnis Nussbaums beinhaltet Für die Bilder, die auf dieser Reise oder 1 Erinnerungen von Erwin dreizehn Bilder, die 1928 und 1929 in kurz danach im Atelier in Berlin entstan- Graumann, Gesprächsnotiz am 6.3.1983, Archiv Muse- Belgien entstanden sind (Werkverzeich- den sind, gibt es nur den »terminus ante umsquartier Osnabrück nisnummern 67 bis 79)2. Daran schließen quem«, das heißt die Festlegung ihrer 2 Die Verweise auf die im sich die Nummern an, die Landschaften Entstehungszeit, bevor sie auf Ausstel- Werkverzeichnis Felix aus Südfrankreich zeigen (WV 80 bis 95) lungen gezeigt wurden. Nussbaums gelisteten und oftmals von Nussbaum selbst mit In der Einzelausstellung der Galerie Werke des Künstlers wer- den im Text im Folgenden konkreten Ortsbezügen versehen sind. Casper in Berlin im Februar und März mit «WV» abgekürzt. 1929, die in der Presse viel Beachtung 3 Eva Berger u. a., Felix Nuss- Sommer 1928 – Belgien fand, ist erstmals eine größere Anzahl baum. Verfemte Kunst, Exil- Es wird vermutet, dass Nussbaum »vor von Bildern Nussbaums zu sehen, die auf kunst, Widerstandskunst, dieser Abschiedsreise auf den Spuren die Reise nach Belgien zurückzuführen Bramsche 2007, S. 84. 4 »Menorah«. Jüdisches Fami- van Goghs [...] im Sommer 1928 die sind. Neben einer Vielzahl von Zeich- lienblatt für Kunst/Wissen- Eltern in Osnabrück«3 besuchte. Hier ent- nungen finden sich in den erhaltenen schaft und Literatur, Jg. 8 stand wohl das Bild der »Landstraße mit Ausstellungsrezensionen auch Gemälde (1930), H 5/6 (Mai/Juni), dem malenden Felix Nussbaum« (WV 63), mit Titeln wie »Belgische Wirtschaft«, S. 278. 8 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
»Ostender Seetag« und »Selbstbildnis mit Maske« (WV 66). Letzteres lässt auf den frühen Einfluss des belgischen Malers James Ensors5 schließen, dessen Maskenbilder Felix Nussbaum vielleicht zu seinem Selbstbildnis anregten, das er wenig später, im Juni 1929, zu einer Ausstellung in der Orangerie in Kassel schickte. Dass Felix Nussbaum im Sommer 1928 in Belgien bzw. in Ostende war und zumindest noch in diesem Jahr viele weitere Werke geschaffen hat, kann also eindeutig nachvollzogen werden. Aber es finden sich auch Bilder mit belgischen Motiven, die 1929 entstanden sind. Zudem erinnert Nussbaum sich zehn Jahre später in einem Interview mit dem belgischen Journalisten Émile Langui: »Weit mehr Eindruck machte Ostende auf mich, […], eine Stadt, der ich meine Liebe auf den ersten Blick geweiht hatte. Dort entstand schon 1929 (sic!) ein Groß- teil meiner besten Zeichnungen.«6 Aller- dings sind von diesen Zeichnungen aus dem Jahr 1929 nur sehr wenige erhalten, das Werkverzeichnis nennt überhaupt nur drei Arbeiten mit belgischen Moti- Abb. 1: Felix Nussbaum, »Seesteg in Ostende« (2), ven, die in dieses Jahr datiert sind: 1929, Öl auf Leinwand, 54,5 x 36,2 cm, Neben dem Gemälde »Netzflicker« (WV Privatbesitz (WV 78) 79) gehört auch der »Ostender Seesteg« dazu, den Nussbaum in einer Zeichnung (WV 77) und in einem besonders schö- nen Gemälde (Abb. 1) festgehalten hat. Jedenfalls zeigte Nussbaum ein Jahr später in seiner Einzelausstellung in der Galerie Wertheim im März und April 1930 nicht nur eine Vielzahl von Bildern 5 James Sidney Ensor (1860-1949) war ein aus Belgien, sondern diesmal auch aus belgischer Maler und Zeichner des Symbo- Südfrankreich. Der Ausstellungskatalog lismus. Er ist vor allem für die Masken und Skelette bekannt, die in seinen Bildern ein nennt unter anderem Gemälde und skurriles Eigenleben führen. Zeichnungen mit Titeln wie »Zugbrücke 6 Eva Berger u. a., Felix Nussbaum. Verfemte in Arles«, »Nachtbild aus Arles«, Ansich- Kunst, Exilkunst, Widerstandskunst, Bram- ten von »Alt-Nizza«, einer »Promenade in sche 2007, S. 294. Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021 9
Versuch einer Rekonstruktion Nizza« oder »Cagnes sur Mer«, »Juan les Ob Felix Nussbaum jedoch – wie Erwin Pins« und »Monaco«. Aber auch Titel wie Graumann in den eingangs zitierten »Hafenbild«, »Seesteg«, »Netzflicker«, Erinnerungen festhält – 1928/29 für »Zwei Netzstricker« und »Netzflicker am fast ein Jahr unterwegs war, also von Hafen« und solche mit mehr oder weni- Belgien direkt weiter nach Frankreich ger konkreten Ortsbezügen wie »Belgi- reiste, ist nicht eindeutig zu sagen. Es sche Wirtschaft«, »Ostender Kathedrale« ist ebenso möglich, dass er zunächst oder »Vor Ostende«. Neben Bildern der noch einmal nach Berlin zurückkehrte, vielbeachteten Studienreise in Süd- vielleicht auch hier einige Motive im frankreich präsentierte sich Nussbaum Atelier in Öl umsetzte, bevor er 1929 zu bei Wertheim also wiederholt mit einer einer zweiten Reise aufbrach, die ihn Reihe von Werken aus Belgien, die von diesmal nach Südfrankreich führte. Kritikern mehrfach zu seinen herausra- genden Arbeiten gezählt wurden.7 Frankreich 1929 – mit dem TNL entlang der Côte d’Azur Nussbaums Reiseroute in Frankreich führte entlang der Côte d’Azur. Die Bezeichnungen auf einigen der im Werkverzeichnis aufgeführten Bilder benennen Orte, die er besuchte: Nizza, Monaco, Juan-les-Pins und Cagnes-sur- mer. Diese Orte waren um 1930 durch ein 144 km langes Streckennetz der TNL »Tramway du Nice et du Littoral« verbunden (Abb. 2). Ein Streckenplan aus dem Jahr 1928 (Abb. 3) verzeichnet am jeweiligen Ende der Route die Orte »Monaco« und »Juan les Pins«. Insgesamt fünf der bekannten Bilder von dieser Reise versah Nussbaum 1929 mit Ortsangaben wie »Cagnes« oder Abb. 2: Le tramway de la ligne Nice – Cagnes sur le pont »Cagnes sur mer« (WV 80 bis 84). Das ist de la Cagne, 1904. Foto von Jean Gilletta insofern interessant, als von den ande- ren Orten an der Côte d’Azur nur kleine- re Zeichnungen und auch zahlenmäßig weniger Werke überliefert sind. Es ist also denkbar, dass Nussbaum in Cagnes logierte und von hier aus die anderen Orte an der Côte d’Azur besuchte. Diese Vermutung stützt sich auch auf die Tat- sache, dass Nizza damals zu den teuren Urlaubsorten zählte. Es war als Win- terquartier bei wohlhabenden Englän- dern beliebt. Und Unterkünfte wie das »Negresco«, das 1929 eröffnete »Hyatt« und das »Hôtel de Méditerranée« waren für den Studenten aus Deutschland wohl kaum eine erschwingliche Unter- Abb. 3: Plan »Tramway du Nice et du Littoral«, um 1928 kunft. Dagegen bot das 15 Kilometer 10 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
entfernt gelegene Cagnes-sur-Mer güns- tigere Möglichkeiten. Cagnes-sur-mer – Das Montmartre des Südens Für Felix Nussbaum war Cagnes-sur-mer außerdem im Hinblick auf die Kunst ein durchaus wichtiger Ort. In den 1910er- Jahren wurde es auch als »Montmartre des Südens« bezeichnet. Auguste Renoir hatte hier sein Domizil gehabt und die Künstler seiner Zeit empfangen: Henri Matisse, Auguste Rodin, Pablo Picasso, Claude Monet und viele andere. Amadeo Modigliani war ein Jahr dort und Chaim Soutine malte in den 1920er-Jahren meh- rere Ansichten der Stadt. Abb. 4 Felix Nussbaum, »Cagnes sur mer (Südfrankreich)«, 1929, Öl auf Zwei Bilder Nussbaums aus Cagnes Leinwand, 39,4 x 49,5 cm, Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück, Leihgabe der zeigen die bergan zur Burg führende Felix Nussbaum Foundation (WV 83) Hauptstraße (WV 80 und 82). Ein wei- teres malte er mit einem Gehöft am hochliegenden Horizont in der gleichen diagonalen Bildanlage mit einem violet- ten Lavendelfeld im Vordergrund (Abb. 4). Cagnes war für einen jungen Künstler auf jeden Fall ein Ort, der Inspiration versprach. Und man konnte dank der TNL von hier aus bequem Ausflüge entlang der Küste machen. Monaco und Nizza Aus Monaco ist eine kleinere Tusche- zeichnung (Abb. 5) bekannt, die vom vis- à-vis gelegenen Berg den Blick auf den herzoglichen Palast und den Hafen fest- hält. Die Ansicht wurde von einem hoch gelegenen Panoramapunkt im heutigen Abb. 5 Felix Nussbaum, »Monaco«, Tusche mit Pinsel auf Papier, »Jardin exotique« festgehalten, zum dem 21 x 27 cm, Privatbesitz (WV 89) man gut 100 steile Höhenmeter über- winden muss. Auf dem Passepartout der Zeichnung ist die Widmung »Für Familie Dr. Nussbaum« zu lesen. Nussbaum ver- schenkte diese kleine Zeichnung später, wie der rückseitige Vermerk »Geschenk von Felix N. an meinen Vater 1931 ca.« auf einem Foto des Bildes im Archiv des Felix-Nussbaum-Hauses zeigt. 7 Beispielsweise Willi Wolfradt, in: Der Cicerone, Jg. 21, 1929, Heft 6, S. 170. Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021 11
Versuch einer Rekonstruktion Abb. 6 Felix Nussbaum, »Nizza«, 1929, Maße, Bildträger Abb. 7 Vieille rue des hauts de Cagnes, und Verbleib unbekannt (WV 86) Postkarte um 1900, Foto von Jean Gilletta Eine weitere Station des TNL ist Nizza. Auch hier entstand wie in Monaco eine Zeichnung kleineren Formats (WV 87, vgl. Abb. 8) sowie eine Stadtansicht in Öl, die jedoch nur durch eine Schwarz-Weiß- Fotografie erhalten ist (Abb. 6). Die von Nussbaum malerisch festgehaltene pit- toreske Stadtarchitektur findet in Post- karten wie der aus der Edition Gilletta mit der »arabischen Straße« in Cagnes eine Entsprechung (Abb. 7).8 Wie bereits mit der Zeichnung in Mona- co hielt Nussbaum in Nizza ein weiteres touristisches Postkartenmotiv fest: Die »Promenade des Anglais«. Nussbaums Zeichnung (Abb. 8) zeigt den Zustand der Promenade noch vor der gewalti- gen Umgestaltung der Jahre 1929 bis 1931: Große Erdhaufen rechts im Bild verweisen auf die begonnenen Baumaß- nahmen. Man verdoppelte die Fahrspu- ren, schob den Strand 15 Meter weiter hinaus und trennte beides durch eine Palmenreihe »à l‘américaine«. So wurde die bis heute weltberühmte Ansicht geschaffen. Der Besuch in Nizza ging zudem in Nussbaums Bildergeschichte von »Pit und Peggs« ein, denn im Scenario für Abb. 8 Felix Nussbaum, »Promenade in Nizza (1)«, den Zeichentrickfilm (Abb. 9) verarbeite- 1929, Feder in Tusche und Kohle auf Papier, 36 x 18,5 cm, New York, Leo-Baeck-Institut (WV 87) 8 Der Fotograf Jean Gilletta arbeitete von 1880 bis 1930 auch im öffentlichen Auftrag und gab viele seiner Fotos als Postkarten heraus. Er dokumentierte die Côte d’Azur und bewegte sich und sein Equipment – sogar damals schon – mit einem elektrischen Dreirad. 12 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
Abb. 9 Szenenbilder aus »Pit und Peggs«, um 1936, Schwarz-Weiß-Fotografien nach farbigen Zeichnungen von Felix Nussbaum, Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück (WV G 8) te Nussbaum später – im Jahr 1936 – ein Februar 1929 in Nizza gewesen und es besonderes Ereignis: Die Geschichte ist durchaus möglich, dass er die Reise erzählt von Peggs Traum, in dem sie nach Arles daran anschloss. zusammen mit Pit in ihrem blumenge- schmückten Wagen unterwegs zu einem Arles – Auf den Spuren van Goghs Blumenfest ist und für den Wagen den Arles, die Wirkungsstätte Vincent van großen Preis erhält. Der spektakuläre Goghs, war sicherlich das wichtigste Karneval in Nizza mündet ebenso in Ziel und der Höhepunkt der Reise. Hier einem Blumenkorso. Diese »Bataille de hatte van Gogh seit dem Winter 1888 Fleurs« ist bis heute integraler Bestand- gelebt, hier hatte er mit Paul Gauguin teil des Karnevals. Die Wagen werden das gelbe Haus geteilt und sich für immens aufwendig gestaltet und es das Licht des Südens begeistert. Van wird eigens Musik für den Karneval Gogh war auch bei stürmischem Wet- komponiert. Nussbaum mag eine wei- ter mit seiner Staffelei losgezogen, tere Inspiration dort gefunden haben, um in der Natur zu malen, die Staffelei denn die Comicfigur Peggs erinnert mit 50 cm langen Eisenheringen gesi- an die großköpfigen Verkleidungen im chert. Nussbaum hat das berühmte Umzug. gelbe Haus, in dem van Gogh ab dem Frühjahr 1889 gelebt hatte, auf seiner Die Annahme, Nussbaum habe dem Reise 1929 durchaus noch sehen kön- spektakulären Karneval in Nizza Ideen nen. Denn es wurde erst 1944 durch für die später entstandenen Zeich- alliierte Bomben beim Rückzug der nungen zu verdanken, gibt nicht nur deutschen Besatzer zerstört. Dennoch weitere Hinweise auf den Besuch des ist das touristische Arles heute noch Ortes selbst, sondern lässt auch auf den immer von van Gogh geprägt. Dazu Zeitpunkt seines Aufenthaltes Rück- zählt auch die »Brücke von Langlois«, schlüsse zu. 1929 fand der Karneval in ein von van Gogh mehrfach gezeich- Nizza von Januar bis April statt. Rosen- netes und gemaltes Motiv.9 Während montag – wahrscheinlich der Tag der 1944 fast alle Kanalbrücken von den großen Parade – fiel auf den 11. Februar. abrückenden deutschen Besatzern Dem entsprechend wäre Nussbaum im zerstört wurden, blieb eine der Brü- 9 Beispielsweise Vincent van Gogh, Die Zugbrücke, 1888, Abb. 10 Ansicht der »Brücke von Langlois« in Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud Köln; F 570 Arles, Fotografie, 2021 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021 13
Versuch einer Rekonstruktion Abb. 11 Felix Nussbaum, »Nachtbild aus cken mit der typischen Holzkonstruktion einem Brief an Emile Bernard10 vom Arles«, um 1929, Öl auf Leinwand, unberührt und wurde nach dem Krieg 18.3.1888 skizzierte van Gogh die Brü- 39,4 x 49,5 cm, Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück, Leihgabe der Felix Nussbaum für die Nachwelt bewahrt: 1959 wurde cke von einem ähnlichen Blickpunkt Foundation (WV 95) sie abgebaut und 1962 zwei Kilometer aus wie Nussbaum in seinem Gemälde entfernt wieder aufgebaut. Ein Foto »Nachtbild aus Arles«. Und auch das (Abb. 10) zeigt die Brücke an ihrem heu- immer wiederkehrende Liebespaar tigen Standort, die Felix Nussbaum in taucht auf. den 1920er-Jahren jedoch noch an ihrem Im Katalog zur 2019 in Frankfurt ursprünglichen Platz hat sehen können. gezeigten Ausstellung »Making van Die »Brücke von Langlois« findet Gogh« heißt es zu Nussbaums Adap- mehrfach Eingang auch in Nussbaum Bil- tion van Goghs: »Der Hang zu einer dern, so in dem »Boot vor einer Brücke« flächigen Gestaltung bei gleichzeitiger (WV 94) als auch in dem »Nachtbild aus Übernahme von Motiven van Goghs Arles«, um 1929 (Abb. 11). Es ist vorstell- findet sich in den 1920er Jahren auch 10 Brief von van Gogh an Emile Bernard vom bar, dass Felix Nussbaum das Buch »Vin- in den Werken von Felix Nussbaum, 18.3.1888, New York, Pierpont Morgan Lib- cent van Gogh« von Julius Meier-Graefe der nach seinem Besuch in Arles eine rary, JH 1370 kannte, das 1910 erschienen war und Reihe von Hommagen an sein Vorbild 11 »Making van Gogh«, Hg.: Alexander Eiling, vielleicht in der Bibliothek von Philipp malte […]. Diese Bilder sind keine Felix Krämer unter Mitarbeit von Elena Schroll, Ausstellungskatalog Städel Muse- Nussbaum einen besonderen Platz ein- Kopien, doch enthalten sie zahlreiche um Frankfurt 23.10.2019 – 16.02.2020, Mün- nahm. Hierin lagen auch die illustrierten Zitate – etwa aus dem Gemälde ›Der chen 2019. Briefe van Goghs als Faksimile bei. In 14 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
Maler auf dem Weg nach Tarascon‹ hinter den Träumen zurück, die ich mir (…).« 11 gemacht hatte.«13 Sein Malerkollege Und Peter Junk und Wendelin Zim- Hermann Wilhelm berichtete dennoch mer beschrieben bereits treffend: »Die eindrücklich, dass die Früchte dieser Reise nach Arles [...] war eindeutig Reise von Erfolg gekrönt waren: »Als er von seiner [Nussbaums] Verehrung für wiederkam, überraschte er uns mit einer van Gogh diktiert worden. In Hermann Ausstellung seiner Werke in der Galerie Wilhelms Tagebuch heißt es dazu: ›Van Goldschmidt (sic!). Er war den Spuren Gogh war damals für viele Junge ein seines Gottes in Arles gefolgt und hatte Gott. Die unmittelbare, rasch zupacken- alle Motive van Goghs im Angesicht der de, flammende Art seiner Handschrift Natur getreulich mit dessen Handschrift war etwas Neues. Felix entschied sich nachgemalt. Von der Sonne des Südens für van Gogh. Er war sein Bildungserleb- ausgedörrt, von den bösen provenceali- nis.‹ Auf der Suche nach dem eigenen schen Winden gegerbt, bestimmter als Stil prüfte Nussbaum seit 1925 […] ob je auftretend, ein kleiner Napoleon der ihm van Goghs Malstil Richtschnur für Malerei, stand er uns gegenüber. Wir den eigenen Weg sein könnte. Dass der sahen schwarz für ihn. [...] Die Ausstel- junge Künstler daneben auch andere lung wurde bei Publikum und Kritik ein stilistische Zeittendenzen erprobte, Erfolg, und uns fiel die Butter vom Brot.« sei [...] angemerkt. Nach Arles reiste Die Früchte seiner Reise durch Belgi- er [...] wegen Van Gogh, aus keinem en und Südfrankreich feierten zwar bis anderen Grund. Er wollte sich dort, wo in das Jahr 1930 Erfolge in Ausstellungen sein ›Gott‹ gelebt und sich malerisch in Berlin, aber Nussbaum selbst hatte entfaltet hatte, klar darüber werden, nach seiner Rückkehr mit seinem »Gott« ob dessen Pinselduktus und Motivwahl abgeschlossen. Jedoch bewahrte er in für die eigene Entwicklung fruchtbar seinem künstlerischen Fundus das eine sein könnten. Zwei Gemälde von 1929 oder andere Motiv des Niederländers zur – ›Arles sur Rhone Gräberallee, Les Alys- späteren Verwendung, beispielsweise camps‹ (WV 93) und ›Landschaft in der die »Stiefel« (WV 401) in einer Zeichnung Provence‹ (WV 92) – belegen Nussbaums von 1940 oder das »Stillleben mit Kartof- Ansätze, sich van Goghs Bilderwelt feln« von 1941 (WV 416). abwandelnd anzueignen.«12 Zurückblickend erzählte Felix Nuss- ralf langer baum in einem Interview mit dem museumsquartier osnabrück einflussreichen belgischen Kunstkritiker Museumspädagogik Émile Langui 1939: »Dann unternahm 12 Peter Junk und Wendelin Zimmer, Flucht- ich eine Reise nach Südfrankreich, nach punkte – Ortswechsel. Felix Nussbaum. Die Biografie, Bramsche 2009, S. 78. Arles, wo van Gogh gelebt hat, der 13 Interviews op Mansarden. Felix Nussbaum - Künstler den man nicht genug bewun- Der zarte Humor im Exil, in: Vooruit Nr. 35 dern kann. Als Maler habe ich im Süden vom 5. Februar 1939, siehe auch Eva Berger nichts gelernt. Die Wirklichkeit blieb u.a. wie Anmerkung 3, hier S. 294. Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021 15
Begegnungen mit Felix Nussbaum Persönliche Betrachtungen aus erinnerungskultureller Perspektive von Daniel Gollmann Erste Begegnung: vermutlich eher zufällig, auf das Felix- Selbstbildnis mit Judenpass Nussbaum-Haus. Die Erinnerung an das Erstmals begegnete mir Felix Nussbaum »Selbstbildnis mit Judenpass«, das mich in der Schule. Es war im Geschichts- irgendwie beeindruckt hatte, war prä- unterricht der Oberstufe zum Thema sent und das Interesse, den »ganzen« Judenverfolgung während des Nati- Nussbaum kennenzulernen, geweckt. onalsozialismus. Von einer Seite des Ich beschloss also kurzerhand, nach Schulbuchs blickte mich ein durch Stern Osnabrück zu fahren, um mir die Nuss- und Pass als Jude gekennzeichneter baum-Ausstellung in der außergewöhn- Mann mit Hut an. Es handelte sich um lichen Architektur des Libeskind-Baus das »Selbstbildnis mit Judenpass« (um anzusehen. 1943), das wohl bekannteste Werk Felix Da ich bis zu diesem Zeitpunkt Nussbaums. An die Abbildung wurden nur das »Selbstbildnis mit Judenpass« natürlich Fragen gerichtet und die kannte, war ich von dem Umfang sei- Ergebnisse wurden gesichert. Was wir nes Werks überrascht. Auch wenn mir im Kurs erarbeitet und notiert haben, natürlich nicht jedes Bild gleicherma- weiß ich nicht mehr, aber irgendetwas ßen gefallen hat, haben mich Nuss- muss in Erinnerung geblieben sein. War baums Bilder doch irgendwie berührt. es der Malstil? War es der Blick, der An meine Eindrücke kann ich mich direkt auf den Betrachter gerichtet und im Detail nicht mehr erinnern, bis auf hinsichtlich seiner Emotionalität unde- einen: Ich hatte das Gefühl, ungewöhn- finierbar ist? War es die Mauerecke, in lich viele Selbstporträts gesehen zu der Felix Nussbaum gefangen ist, als haben. Ob das stimmt, weiß ich nicht, eindrückliches Vehikel, die Ausweglosig- und weiter hinterfragt habe ich das keit seiner Situation zu transportieren? damals wohl auch nicht. Vielleicht war es ein bisschen von allem, Eindruck hinterlassen hat auch die was den Weg für weitere Begegnungen Architektur, die so ganz anders war, ebnete. als ich es aus anderen Kunstmuseen kannte. Lange, verwinkelte Gänge, die Zweite Begegnung: einen verwirren und eher durch die Aus- Felix-Nussbaum-Haus stellung irren als einem erkennbaren Einige Jahre später stieß ich auf der Rundgang folgen lassen. Dazu empfand Suche im Internet nach einem loh- ich die Räume als vergleichsweise nenden Ziel für einen Tagesausflug, dunkel. Auch wenn mich seinerzeit die 16 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
Architektur und ihre Aussage wohl nicht Räume treiben zu lassen: Ich nahm weiter beschäftigt haben, habe ich doch mir vor, die Räume zu betreten und zu wahrgenommen, dass hier Werk und schauen, was die ausgestellten Werke Architektur korrespondieren. mit mir machen, wo mein Blick hinge- So ist mir das Felix-Nussbaum-Haus zogen wird und meine Aufmerksamkeit als ein außergewöhnliches Kunstmuse- dann insbesondere jenen Bildern zu um in Erinnerung geblieben. Auf welche widmen, die mein Interesse geweckt Weise ich Felix Nussbaum ein weiteres haben. Felix Nussbaum, »Erinnerung an Norderney«, Mal begegnen sollte, ahnte ich noch Dieser Ausstellungsbesuch war aber 1929, Öl auf Leinwand, 98 x 113,5 cm, Felix- nicht. nicht so planlos wie er scheint, denn ich Nussbaum-Haus im Museumsquartier bin einem Ansatz von Roland Barthes Osnabrück, Leihgabe der Niedersächsischen Dritte Begegnung: gefolgt, der in seiner Beschäftigung mit Sparkassenstiftung (WV 107) Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fotografie zwei Wirkungsweisen bzw. des MQ4 Rezeptionsformen beschrieben hat: Zur dritten Begegnung kam es erst zu Punctum und Studium. Beginn des Jahres 2021, als mich mein Studium meint die Wirkungen von beruflicher Weg ins Museumsquartier Bildern, die auf dem analytischen Osnabrück führte, wo ich seit Januar als Befragen beruhen, den distanzierten wissenschaftlicher Mitarbeiter für Erin- Blicken. Barthes verwendet den Begriff, nerungskultur und Vermittlung tätig bin. um intellektuell und symbolisch lesbare Mit meinem Stellenantritt habe ich Fotos zu beschreiben. mich natürlich zunächst mit den vier Punctum meint das persönliche Häusern des Museumsquartiers vertraut Getroffensein. Barthes beschreibt damit gemacht, also auch mit Felix Nussbaum; Fotos, die die Qualität haben, dass dieses Mal aber viel intensiver als zuvor. etwas aus dem betrachteten Bild her- Ausgestattet mit dem Katalog »Felix ausschießt, trifft, beunruhigt. Es berührt Nussbaum. Verfemte Kunst, Exilkunst, und durchbricht die Bildfläche: Wodurch Widerstandskunst« habe ich einiges wird mein Interesse unmittelbar über seinen Lebensweg sowie die geweckt, wo zieht es mich spontan hin, Entdeckung seiner Bilder und die Erfor- entstehen Faszinationen, Irritationen, schung seines Werks erfahren, das nur Widerstände oder Langeweile? knapp der Vergessenheit entronnen ist. Spontan hingezogen hat es mich Beim Besuch der Ausstellung beispielsweise zu »Erinnerungen an beschloss ich, mich eher durch die Norderney«. Da war zunächst die surreal Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021 17
Begegnungen mit Felix Nussbaum anmutende Komposition des Bildes: genagelten Tisch. Ein merkwürdiger Eine überdimensionierte Postkarte mit Globus steht vor ihnen, von einem Badegesellschaft vor einem mondänen Stück Stacheldraht zusammengehal- Strandhotel mit einer gewissen Patina, ten. Eine Ratte huscht durch den Sand. gehalten von einem Segelboot, dessen Ausgemergelt starren die Gefangenen Gaffel sich durch die Postkarte bohrt. ins Leere oder sind, mit sich selbst Außerdem als irritierende Momente ein beschäftigt, vom Betrachter abgewandt. Schädel im Vordergrund und ein Rad Aufmerken lässt eine Person im Hinter- mit gebrochener Speiche am rechten grund. Als einzige schaut sie aus dem Bildrand. Geweckt hat das Bild auch Bild heraus. In ihr scheint sich Felix bei mir Erinnerungen an zahlreiche Nussbaum ins Bild gemalt zu haben. Er Sommerurlaube am Meer, auch wenn es trägt Hemd und Hut und hat sein Bün- keine an Norderney sind. del geschnürt, bereit zum Aufbruch. Das Bei »Tanz an der Mauer« (1930) bin zeugt einerseits von ungebrochenem ich mir nicht sicher, ob es Anziehung Überlebenswillen und scheint doch uto- oder eher Irritation oder Abschreckung pisch. Tatsächlich gelang Nussbaum die war. Eine weiße Mauer, auf der wie ein Flucht, aber nur um den Preis, im Ver- Geist ein Totenkopf gemalt ist, sechs steck leben zu müssen und letztlich war als Totenträger mit schwarzem Frack die Rettung auch nicht von Dauer. und Zylinder ausstaffierte Skelette, Angesprochen hat mich »Bücher- die einen mit Knochen und Schädeln wurm«, das »Stillleben mit Pampelmu- verzierten Sarg tragen, über den eine se«. Außer zwei übereinander liegenden Ratte läuft, Skelette an der Mauer und Büchern sind eine Pampelmuse, ein ein Leichnam im Vordergrund, an denen umgestürzter Krug und ein Fetzen der sich Ratten gütlich tun, hinter der Tageszeitung LE SOIR zu sehen. Die bei- Mauer mehrere Galgen. Da dieses Bild den letztgenannten Dinge lassen nicht entstand, bevor Felix Nussbaum ins Exil unbedingt das Gefühl aufkommen, als ging und dort später in eine Situation sähen die Bücher einem gemütlichen, geriet, der er nicht mehr entkommen entspannten Leseabend ihres Besit- konnte, scheint er auch eine morbide zers entgegen. Auch der mehrdeutige Seite gehabt zu haben. Manch einer Titel des obenauf liegenden Buches, La mag es auch morbide finden, dass ich nature morte de Felix Nussbaum, wirft gelegentlich gerne über Friedhöfe gehe, die Frage auf, wie er zu verstehen ist: aber ich denke dabei nicht an Skelette im wörtlichen Sinne als Katalog seiner und Ratten, sondern suche eher die Stillleben oder im übertragenen Sinne Ruhe, lese die Namen auf den Grabstei- als Metapher für seinen Gemütszu- nen und frage mich, wer diese Toten stand. Unter Einbeziehung des Zeitungs- wohl gewesen sind. fetzens spricht mehr für Letzteres: zu Wohl wenig überraschend ist, dass lesen ist TEMPET (Sturm), L’EUROPE ein Bild wie »St. Cyprien« meinen Blick (Europa) und LA GUERRE (Krieg) sowie einfängt, bin ich doch Zeithistoriker, der das Datum 16. April 1940. Am 10. Mai sich v. a. mit dem Nationalsozialismus begann der deutsche Überfall auf die und seinen Folgewirkungen beschäftigt Niederlande, Belgien und Luxemburg. hat. Die Szenerie ist unschwer als Lager Auch wenn ich nach dem Rundgang zu erkennen. Der Bildtitel bestimmt es nicht das eine Lieblingsbild benennen als das Lager St. Cyprien, bekannt als könnte, gibt es doch ein Lieblingsselbst- Pyrenäenhölle. Eine Gruppe Gefangener, porträt: in Lumpen und Tücher gehüllt, sitzt »Selbstbildnis an der Staffelei«: Mit um einen aus Brettern zusammen- freiem Oberkörper, nur ein weißes Tuch 18 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
Daniel Gollmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Erinnerungskultur und Vermittlung, vor dem Gemälde »Selbstbildnis an der Staffelei« von Felix Nussbaum. Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021 19
Begegnungen mit Felix Nussbaum über einer Schulter, sitzt Felix Nussbaum malend an der Staffelei, in der einen Hand Palette und Pinsel. Hinter ihm an der Wand hängt eine Maske. Sein Blick ist selbstbewusst, geht aus dem Bild Felix Nussbaum, »St. Cyprien«, 1942, Öl auf Leinwand, 68 x 138 cm, Felix-Nussbaum-Haus heraus, richtet sich aber nicht direkt auf im Museumsquartier Osnabrück, Leihgabe den Betrachter. Im Mund hat er eine der Niedersächsischen Sparkassenstiftung Pfeife, er wirkt entspannt. Interessant (WV 421) ist ein Detail: die mit Etiketten bezeich- neten Flaschen mit verschiedenen Farben am unteren Bildrand: Grün ist mit Tod bezeichnet, blau mit Nostalgie (Sehnsucht), braun mit Souffrage (Leid) und eine klare Flüssigkeit mit Humeur (Gemütsverfassung). Zusammengenom- men wirkt dieses Selbstporträt wie die Summe seiner Existenz: er ist Maler, dessen Gemütsverfassung 1943, als das Bild entstand, zwischen Sehnsucht, Leid und Tod schwankt. Die Wand hinter ihm ist blau – Ausdruck für seine Sehnsucht, ohne Maskierung das sein zu können, was er ist, nämlich ein Maler? Zukünftige Begegnungen im Spannungsfeld Villa Schlikker – Felix-Nussbaum-Haus Als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Erinnerungskultur und Vermittlung habe ich während der Neukonzipierung der Ausstellung in der Villa Schlikker zwar auch die Aufgabe, diese wissenschaft- lich-pädagogisch mit zu entwickeln. Vor allem aber besteht meine Aufgabe per- spektivisch darin, ein Vermittlungskon- zept »Erinnerungskultur« zu entwickeln und dieses durch entsprechende Ange- bote umzusetzen. Dabei lädt das Umfeld der Villa Schlikker, sowohl im Museumsquartier als auch in der Stadt, dazu ein, kreativ zu werden, ausgetretene Pfade zu verlassen und interdisziplinär zu denken. Durch die unmittelbare Bezugnahme der Architek- tur des Libeskind-Baus als einem Opfer- 20 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
Gedenkort auf die Villa Schlikker als NS- Allgemeinen und »Antisemitismus« Täterort entsteht ein sich wechselseitig im Besonderen sowie »Flucht«, die bei bedingender emblematischer Lern- und den Vermittlungsangeboten eine Rolle Erinnerungsort; ein Potenzial, das es zu spielen werden, weil sie damals Rele- nutzen gilt, zumal angesichts des Ver- vanz hatten und (leider) noch immer schwindens der Zeitzeug*innen Orte und relevant sind. Dass Felix Nussbaum uns Exponate als Vermittlungsinstanzen an mit seinem Werk noch heute etwas zu Bedeutung gewinnen. sagen hat, wird auch deutlich durch die In der Villa Schlikker soll ein zeitge- Reihe »Gegenwärtig«, die in die noch mäßer Lern- und Begegnungsort ent- konkret auszugestaltenden Angebote stehen, an dem wir uns für eine demo- einbezogen werden kann. Dabei ist dar- kratische und vielfältige Gesellschaft auf zu achten, Nussbaum als Person und einsetzen: durch die Erforschung von Künstler ernst zu nehmen und ihn nicht und Erinnerung an nationalsozialistische auf ein Produkt seiner Mörder, seine Verbrechen sowie an die Verfolgten. Aus- Kunstwerke nicht auf die Illustration gehend von der Geschichte des Hauses von Geschichte zu reduzieren. Wie das vermitteln wir diese Geschichte(n). Die konkret gelingen kann und ob es am Auseinandersetzung damit heißt auch, Ende funktioniert und angenommen über die »Grautöne« und die vielfältigen wird, bleibt abzuwarten. Meinerseits Auswirkungen der Vergangenheit zu ist jedenfalls der Wunsch vorhanden, diskutieren und den Besucher*innen am Beispiel Felix Nussbaums jenseits zu ermöglichen, eigene Konsequenzen der klassischen historisch-politischen aus der Geschichte für die Gegenwart Bildung interdisziplinär zu denken und und Zukunft zu ziehen. Es geht nicht nur über die Kunst einen anderen Zugang darum, Wissen über die Vergangenheit zu Geschichte, eine andere Form der zu sammeln, sondern auch persönliche Auseinandersetzung mit ihr fruchtbar Haltungen zu entwickeln. Wir wollen mit zu machen und so meinen Beitrag zu konkreten Fakten Orientierung in histo- Nussbaums Vermächtnis zu leisten: rischen und gesellschaftlichen Zusam- Wenn ich untergehe, lasst meine Bilder menhängen geben und darüber mit den nicht sterben. Besucher*innen ins Gespräch kommen. Die Auseinandersetzung mit Geschichte daniel gollmann soll kein Selbstzweck sein, sondern zur museumsquartier osnabrück Schärfung eines an den Menschenrech- wissenschaftlicher mitarbeiter ten orientierten ethischen Bewusstseins für erinnerungskultur und dienen. Damit möchten wir das demo- vermittlung kratische Verantwortungsgefühl ebenso fördern wie eine politische Kultur, die durch breite gesellschaftliche Teilhabe, Weltoffenheit und eine kritische Sensibi- lität zu Diskriminierung gekennzeichnet ist. Die Biografie und das Werk Felix Nussbaums bieten Anknüpfungspunkte bei den Themen »Diskriminierung« im Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021 21
Unterwegs mit Felix Nussbaum Nussbaum-Bilder im Holocaust-Museum der Slowakei vorgestellt Die Corona-Pandemie hat das im Februar Aufgabe des damaligen Lagers war von 2020 in den Niederlanden erfolgreich vornherein, die aus der Slowakei zu gestartete Projekt »Unterwegs mit Felix deportierenden Juden aus dem ganzen Nussbaum« wie so viele andere Pla- Land hier zu konzentrieren und sie für nungen vorübergehend blockiert und die »Abschiebung« in die Todeslager den eigentlichen Ablauf unterbrochen. bereitzuhalten. Zunächst als Arbeitsla- Dennoch: Vom 9. September bis 12. ger geführt, wurde es nach der Nieder- November 2021 war die Ausstellungs- schlagung des Slowakischen National- tournee mit 20 Reproduktionen bedeu- aufstands durch SS-Einheiten von Ende tender Werke Nussbaums als zweite September 1944 bis Ende März 1945 Station in der Slowakei zu sehen. Die zu einem Konzentrationslager unter Ausstellungseröffnung fand an einem SS-Leitung umfunktioniert. Unter Alois besonderen Ort und einem historisch Brunner, einem der wichtigsten Mitar- bedeutenden Tag statt: beiter Adolf Eichmanns bei der Vernich- Denn der heutige Ausstellungsort tung der europäischen Juden, wurde bestand von Oktober 1941 bis April 1945 Sered‘ zum Dreh- und Angelpunkt einer als Arbeits- und Konzentrationslager in Deportationswelle. Getrennt inhaftiert der westslowakischen Stadt Sered‘. Seit waren Soldaten der slowakischen Auf- Januar 2016 ist das ehemalige Lager standsbewegung, Partisanen und Men- eine nationale Gedenkstätte der Slowa- schen, denen die Unterstützung des kischen Republik und wurde in dem ein- Aufstandes vorgeworfen wurde. 70.000 zig erhaltenen Konzentrationslager der Juden wurden in die Vernichtungslager Slowakei als Teil des Nationalmuseums der Nazis deportiert und ermordet. zum Holocaust Museum des Landes Brunner organisierte die Zugtranspor- eingerichtet. te nach Auschwitz, Sachsenhausen, 22 Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
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