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Jg 22  Nr 30  Dezember 2021

FN – Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft

                                       Johanna Diehl: Taubes Geäst
                                    »Gegenwärtig – Zeitgenössische
                         Künstler*innen begegnen Felix Nussbaum«

                                     Versuch einer Rekonstruktion
                                     Felix Nussbaums Studienreise
                                     durch Belgien und Frankreich

                                Begegnungen mit Felix Nussbaum
                                    Persönliche Betrachtungen aus
                                erinnerungskultureller Perspektive
                                              von Daniel Gollmann

                                  Unterwegs mit Felix Nussbaum
                           Nussbaum-Bilder im Holocaust-Museum
                                         der Slowakei vorgestellt
FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft - Felix-Nussbaum ...
Impressum
                                                           Inhalt
FN – Nachrichten der
Felix-­Nussbaum-Gesellschaft
he r a u s g eber Felix-­Nussbaum-Gesellschaft e. V.   4   Johanna Diehl: Taubes Geäst
in Zusammenarbeit mit dem Felix-Nussbaum-Haus
                                                           »Gegenwärtig – Zeitgenössische Künstler*innen
im Museumsquartier Osnabrück
r e da k ti o n Anne Sibylle Schwetter (Redak­
                                                           begegnen Felix Nussbaum«
tionsleitung), Manuela Maria Lagemann,
Heiko Schlatermund, ­Karin Jabs-Kiesler,               8   Versuch einer Rekonstruktion
Jürgen Jaehner                                             Felix Nussbaums Studienreise
                                                           durch Belgien und Frankreich
g e s ch ä f t sstelle
Felix-­Nussbaum-Gesellschaft e.   V.
Konrad-Adenauer-Ring 20, 49 074 Osnabrück              16 Begegnungen mit Felix Nussbaum
web        www.fng-os.de                                   Persönliche Betrachtungen aus erinnerungskultureller
Manuela Maria Lagemann (Geschäftsführerin)                 Perspektive von Daniel Gollmann
Telefon 01 71 / 312 57 56
E-Mail lagemann@fng-os.de
Heiko Schlatermund (Vorsitzender)
                                                       22 Unterwegs mit Felix Nussbaum
Telefon 01 71 / 860 39 54                                  Nussbaum-Bilder im Holocaust-Museum
E-Mail schlatermund@fng-os.de                              der Slowakei vorgestellt
Anne Sibylle Schwetter (1. stv. Vorsitzende)
Telefon 0151 / 57 76 00 54
E-Mail schwetter@fng-os.de

g e s ta ltu n g, satz sec GmbH, Osnabrück
d r u c k Bruns Druckwelt GmbH & Co.KG, Minden
v e r l ag secolo Verlag, Osnabrück
i s s n 1616-4296

a b b i l d u n gen
Umschlag Vorderseite und Rückseite (Detail) und
S. 9: Fotostudio Bartsch, Karen Bartsch, Berlin
S. 4 bis 7: Courtesy of the artist und Galerie Wilma
Tolksdorf, Bilder: © Johanna Diehl
S. 10 oben und S. 12 oben rechts: Jean-Paul
Potron, Jean Gilletta et la Cote d´Ázur.
Paysages et Reportages 1870 – 1930,
Editions Gilletta Nizza 2017, S. 145
S. 10 unten: Wikipedia public domain
S. 11 unten, S. 13 oben, S. 14, S. 17 und S. 20:
Museumsquartier Osnabrück,
Fotograf Christian Grovermann
S. 11 Mitte: Archiv Museumsquartier Osnabrück,
Foto: Privat
S. 12 oben links: Fotograf Walter Klein,
Düsseldorf
S. 12: Courtesy of the Leo Baeck Institute,
New York
S. 13 unten: Privat
S. 22 bis 25: Felix-Nussbaum-Geschellschaft

 Adressenänderungen
 Die Geschäftsstelle bittet alle
­Mit­glieder und sonstige ­Bezieher
 der FN-Nachrichten, ihr Adressen­
 änderungen mitzuteilen.
E-Mail-Adressen
Damit Vorstand und Geschäfts­stelle aktu-
elle Informationen s­ chneller übermit-                    Senden Sie Ihre E-Mail-Adresse an:
teln können, ­bitten sie die ­Mitglieder
der ­Felix-­Nussbaum-Gesellschaft                          mail@fng-os.de
und ­sons­­tige Interessenten, ihre
E-Mail-­Adressen und ­Fax­nummern
der ­Gesellschaft mitzuteilen.
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Liebe Leserinnen und Leser,

                          in unserer FN-Ausgabe vom Dezember          Um zwei in ihrer Herangehensweise
                          2016 hatten wir angekündigt, dass           konträre Auseinandersetzungen mit dem
                          wir aus den Erfahrungen mit einer           Werk Nussbaums geht es bei den Beiträ-
                          Ausstellung von 15 Reproduktionen           gen über die Ausstellung »Taubes Geäst«
                          bedeutender Nussbaum-Bilder in Riga         von Johanna Diehl in der Reihe »Gegen-
                          ein umfassenderes Projekt entwickeln        wärtig. Zeitgenössische Künstler*innen
                          wollten. Das Ergebnis ist Ihnen durch       begegnen Felix Nussbaum« des Muse-
                          unsere Berichterstattung bekannt:           umsquartiers Osnabrück und den
                          »Unterwegs mit Felix Nussbaum« wurde        Betrachtungen über den Maler aus
                          im Februar 2020 in der Stadt Haarlem        erinnerungskultureller Perspektive
                          erstmals vorgestellt. Auch über die         von Daniel Gollmann. Mit dem Versuch
                          Probleme, die sich bei der Fortsetzung      einer Rekonstruktion der Studienreise
                          der Ausstellungsreise aufgrund der          von Felix Nussbaum durch Belgien und
                          Corona-Pandemie ergeben haben, wurde        Frankreich wollen wir Ihnen weitere
                          in der letzten Ausgabe berichtet. In        Aspekte zur Auseinandersetzung mit
                          Sered‘, einer kleinen slowakischen Stadt    dem Maler und seinem Leben vorstellen
                          östlich von Bratislava, konnte diesen       und Sie auf eine spannende Weise mit-
                          September die Tournee nun fortgesetzt       nehmen und zum Nachdenken über sein
                          werden. Dass der Ausstellungsort und        Werk anregen.
                          seine Geschichte eine derartige Bedeu-         Abschließend erinnern wir noch ein-
                          tung für das Projekt insgesamt und die      mal an unsere Bitte, sofern nicht bereits
                          möglichen weiteren Standorte erlangen       geschehen, von den Mitgliedern die
                          würde, war bei der Planung für uns noch     E-Mail-Kontaktdaten zu erhalten. Dies
                          nicht absehbar. Umso erfreulicher sind      erleichtert uns bei Ihrer schnellen und
                          daher die langfristigen Perspektiven.       insbesondere kurzfristigen Information
                          So wird mit dem Dirigenten Jack Martin      die Arbeit und trägt dazu bei, dass Sie
                          Händler, der mit seinem »Bruno Walter       ebenso über weitere Veranstaltungen
                          Chamber Orchestra« zur Eröffnung in         befreundeter Organisationen in Kenntnis
                          Sered‘ ein Konzert gab, derzeit beraten,    gesetzt werden können.
                          zum 25-jährigen Jubiläum des Felix-            Für das Jahr 2022 wünschen wir
                          Nussbaum-Hauses und im 375. Jahr des        Ihnen alles erdenklich Gute, vor allem
                          Westfälischen Friedens im Sommer 2023       Gesundheit, und hoffen gemeinsam
                          mehrere Konzerte mit diesem jungen          drauf, dass sich auch das Zusammen-
                          europäischen Orchester in Osnabrück         kommen in unserer Gesellschaft wieder
                          aufzuführen. Die Mitglieder der FNG wer-    normalisiert und das neue Jahr ein Ende
                          den hierüber selbstverständlich direkt      der Corona-Pandemie bringen wird.
                          und ausführlich informiert werden.

                                                                      die reda ktion

Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021                                      3
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»Gegenwärtig – Zeitgenössische Künstler*innen begegnen Felix Nussbaum«

Johanna Diehl: Taubes Geäst

»Wer erinnert sich an Felix Nussbaum?«     greifenden Traumata. In ihren Arbeiten     besonders für die Dinge, die nicht direkt
titelte die Neue Osnabrücker Zeitung       spürt Diehl dem Verborgenen und            ins Auge fallen, die sich außerhalb des
und rief 1971 dazu auf, Erzählungen,       Übersehenen im kulturellen Gedächtnis      Bildzentrums, am Rand, gewissermaßen
Begegnungen und Erinnerungen zu            nach. Sie interessiert sich für Formen     in den »Falten« des Bildes befinden. Aus
Felix Nussbaum zusammenzutragen, um        des Überschreibens von Erinnerung          dieser Perspektive treten in ihren für
den bis dato in der Geschichtsschrei-      und für die Anwesenheit von Abwe-          die Ausstellung entstandenen fotogra-
bung kaum sichtbaren Künstler ans          sendem. Bekannt geworden ist sie           fischen und filmischen Arbeiten Details
Licht zu holen. Jahrelange Forschungen     mit großformatigen Fotografien von         aus Nussbaums Werk wie gestutzte
und engagiertes Sammeln von Informa-       architektonischen Räumen und fotogra-      Bäume, Musikinstrumente, Gesten und
tionen geben heute ein scheinbar klares    fischen Serien, in denen sie private und   Farben in den Vordergrund. Mit einer
Bild der Künstlerpersönlichkeit und sei-   öffentliche Archive auf komplexe Weise     großen Sensibilität den Blick zu richten
nes Schaffens. Und doch bleibt vieles im   verschränkt.                               auf das, was nicht im Fokus steht, cha-
Verborgenen.                                                                          rakterisiert Diehls künstlerisches Vorge-
    Die Fotografin Johanna Diehl           Am Rand der Bilder                         hen. Hier, in den Zwischenräumen, sucht
(*1977), die das Museumsquartier in        Johanna Diehl dringt mit ihrer Präsenta-   sie das Eigentliche unter Bezugnahme
der Reihe »Gegenwärtig. Zeitgenössi-       tion unter dem Titel »Taubes Geäst« tief   auf Walter Benjamins Passagenwerk:
sche Künstler*innen begegnen Felix         in das Leben und Werk Felix Nussbaums      »In den Falten der Geschichte befindet
Nussbaum« zum Dialog mit dem Werk          ein. Die international renommierte         sich das Eigentliche, im Subjektiven,
Nussbaums eingeladen hatte, wendet         Fotokünstlerin begibt sich auf Nuss-       Alltäglichen, also in dem Nicht-in-den-
ihren Blick auf eben solche »Falten der    baums Spuren während des Exils und         offiziellen-Geschichtsbüchern-Verzeich-
Geschichte« (Walter Benjamin). Ihre        der Flucht und untersucht, in welcher      neten« (Johanna Diehl).
Suche gilt der Präsenz vergangener,        Gestalt sein vom Widerstand geprägtes
zum Teil ausgelöschter Geschichte im       Werk heute noch präsent ist. In seinen
Heute, ebenso wie generationsüber-         Gemälden interessiert sich Diehl dabei

4                                                Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
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Bäume                                        den Wunsch Nussbaums ins Bild setzt:
Anhand der Baummotive schafft Felix          »Auch wenn ich untergehe, lasst meine
Nussbaum ein Bild seiner verzweifelten       Bilder nicht sterben«. Hierfür inszeniert
Situation und offenbart sein persön-         Diehl eine Gruppe aus jungen Bäumen,
liches Welt- und Selbstverständnis.          deren abgesägte, gebrochene und
Alleinstehend und giftig-grün ist zum        blattlose Gegenstücke in Nussbaums
Beispiel die Pinie im Werk von Nuss-         »Triumph des Todes« hinter einer Mauer
baum als Chiffre von Einsamkeit und          hervorragen und welche die Künstlerin
Angst am Beginn seines Exils hinter          von Botaniker*innen bestimmen ließ. In
Mauern gefangen. Später treten ver-          der Filmarbeit »Taubes Geäst« werden
schiedene Baumarten als gestutzte,           sie durch den Künstler und Konzert-
gekappte, ja verstümmelte Gestalten          schlagzeuger Raphael Sbrzesny in einer
in Erscheinung, kahl entlaubt, häufig        raumgreifenden Installation zum Klin-
isoliert, selten mit einem hoffnungs-        gen gebracht.
vollen Blütentrieb. Auch Nussbäume
finden sich in den Malereien, vielleicht     Notenfragment
stille Porträts als Stellvertreter seiner    In Nussbaums »Triumph des Todes« liegt
selbst. »Oft im Hintergrund, scheinen        ein zerrissenes Blatt mit einer Noten-
die gestutzten, verkürzten, eingegange-      folge am Boden, welche die damals
nen und gekrümmten Hölzer von den            populäre Komposition »Lambeth Walk«
ungeheuren Vorgängen einer Welt im           zeigt. Das Musikstück entstammt dem
Krieg und von existentieller Bedrohung       1937 uraufgeführten Musical »Me
zu erzählen« (Johanna Diehl).                and My Girl« und avancierte rasch zu
    Dass Felix Nussbaum trotz seiner         einem der beliebtesten
zermürbenden Lebensumstände nie              Tanzstücke der Zeit. Auf
aufhörte zu malen, zeigt seine Form der      Grundlage dieses Frag-
Auflehnung und hat das heute über-           ments realisiert Johanna
lieferte Werk ermöglicht: »Ich wehre         Diehl in Zusammenarbeit
mich und werde nicht müde. Es geht.«         mit Raphael Sbrzesny
(Felix Nussbaum in einem Artikel des         die Filmarbeit Fragment
belgischen Kunstkritikers Emile Langui       einer Partitur, in welcher
in der flämischen Zeitung Vooruit, 05.       der renommierte Lauten-
Februar 1939). Johanna Diehl nimmt den       Virtuose Joachim Held
Gedanken eines Lebens unter widrigen,        das Notenfragment zu
geradezu lebensfeindlichen Umständen         einer gefühlvollen und
auf, wenn sie am Strand von St. Cyprien,     bewegenden Komposition
dem Ort von Nussbaums Gefangen-              vervollständigt. Indem
schaft, zarte Pflanzen, die dort der uner-   Johanna Diehl die beiden
bittlichen Sonne trotzen, fotografiert,      Filmarbeiten nebeneinan-
oder eine vereinzelte Palme porträtiert,     der im Raum installiert,
die sich mit ihrem spitzen Blattgefieder     inszeniert sie einen fragi-
und den abwehrenden Rindenschilden           len musikalischen Dialog,
gegen die harten Umstände zur Wehr           der bis in die oberen
setzt; Diehl schafft Fotografien bele-       Stockwerke des Museums
bender Kraft, wenn sie totem Geäst           zu hören ist.
junge Triebe gegenüberstellt und so

  Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021           5
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Instrumente
                                         Die Objekte der Fotografien »Schnecke
                                         I – II (Restauration)« und »Gipskörper I – III
                                         (Restauration)«, sowie die Pigmente die-
                                         nen Geigenbauer*innen als Hilfsmittel,
                                         um beschädigte Musikinstrumente wie-
                                         derherzustellen. Im Kontext von Felix
                                         Nussbaum, der nicht bespielbare und
                                         verstummte Musikinstrumente, wie die
                                         Geige mit gerissenen Saiten (»Triumph
                                         des Todes«), die Drehorgel ohne Kurbel
                                         (u. a. »Orgelmann«) oder die saitenlose
                                         Laute (»St. Cyprien«), als Metaphern in
                                         seine Malerei einbezog, können Diehls
                                         Fotografien als Porträts dieser »Innen-
                                         räume« verwundeter Instrumentenkör-
                                         per gelesen werden.

                                         Gestik
                                         Eine Hand, die Finger gekrümmt. Sie
                                         greifen nicht in die Welt, sondern in
                                         Richtung des eigenen Körpers, sind
                                         unnatürlich eingedreht. Johanna Diehl
                                         zeigt die Hand des Lautenisten, der eine
                                         Note greift, ohne das den Ton verlauten-
                                         de Instrument in den Händen zu hal-
                                         ten. Isoliert, ohne Resonanz, ins Leere
                                         fassend, spiegelt der Griff die tragische
                                         Gestik, mit der Nussbaum in seinen
                                         Werken Gefühlswelten markiert. Nach
                                         innen gewendete, zur Faust geballte,
                                         grotesk verzerrte oder kraftlose Hände
                                         erzählen von innerer Emigration, Hoff-
                                         nung, von Anspannung, Wahnsinn und
                                         Wut.

                                         Inkarnat / Fahnen
                                         Als hautfarbene Risse scheinen »Fahne
                                         I – III« die steinernen Betonwände zu
                                         durchbrechen. Geschwungene Linien,
                                         ausgefranste Ränder, unregelmäßige
                                         Formen bilden einen Kontrapunkt zu
                                         den Flächen und Linien eines Daniel
                                         Libeskind. Als Formvorlage dienten
                                         Johanna Diehl die schwarzen Fahnen
                                         im Gemälde »Orgelmann«, die dort
                                         bedrohlich in die Straße ragen und wie
                                         Pestfahnen Tod und Verderben kenn-
                                         zeichnen. Johanna Diehl isolierte die
                                         Fahnenumrisse aus Nussbaums Gemäl-
                                         de, vergrößerte sie und füllte in einem

6   Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft - Felix-Nussbaum ...
fototechnischen Prozess im analogen          Begreifen« entlehnt Johanna Diehl von
Farblabor die Formen mit reiner Farbe.       ihrem Großonkel Arnold Bode, dem
Das Kolorit ist dem Inkarnat von Nuss-       Gründer der »documenta« in Kassel, der
baums Figuren entlehnt, der die Hauttö-      die Kunstwerke nicht bloß präsentierte,
ne je nach emotionalem Ausdruck sei-         sondern nebeneinander inszenierte, um
ner Träger*innen variierte: fahl, blutarm,   neue Kontextualisierungen zu ermögli-
gräulich, verschattet oder erhellt. Johan-   chen. Für dieses Ziel werden Genre und
na Diehls fotografische, fleischfarbene      Gattungen entgrenzt: das Publikum
Interpretationen der Fahnen wirken wie       »begreift« die Kunst im Kontext der
ein kraftvoller Kommentar zu den von         Architektur, im Dialog mit Musik oder
Zerfall und Verderben zeugenden Fah-         Poesie, in der Gegenüberstellung ver-
nen in Nussbaums berühmter Malerei.          schiedener Epochen oder künstlerischer
                                             Techniken.
Visuelles Begreifen                              Entsprechend nimmt Johanna Diehl
In der Ausstellung »Taubes Geäst« führt      für die Ausstellung eine Mehrzahl von
Johanna Diehl Fotografien und Film-          Fäden – Assoziationen und Erzählsträn-
arbeiten zu einer großen Installation        ge – auf und verflicht sie in unterschied-
zusammen. Verschiedene Formate,              lichen Medien zu einem organischen
Themen und Ansätze treffen aufeinan-         Netz von sinnlichen Erfahrungen und
der: Pflanzen, Gipsformen, eine Hand,        Eindrücken. Dabei hallt das Werk Felix
Violinenschnecken oder ein Schwarm           Nussbaums in der Ausstellung »Taubes
von Kinnhaltern sowie zwei Filmarbei-        Geäst« auf besondere Weise wider und
ten, die mit ihrem Sound den Ausstel-        erfährt ein Echo, das der Künstler in der
lungsraum neu definieren. Verschiedene       Emigration zu Lebzeiten vermisste.
Bilder treten zueinander in Beziehung
und ergeben neue Sinnzusammen-               mechthild achelwilm
hänge. »Das eine Bild verschiebt und         museumsquartier osnabrück
rüttelt am Kontext des anderen; die          kuratorin zeitgenössische kunst
mit und um dieses Bild geschriebene
Geschichte kommt noch einmal in
Bewegung – und ermöglicht ein ande-
res ›visuelles Begreifen‹« (Johanna
Diehl). Die Wortschöpfung »visuelles

  Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021            7
FN - Nachrichten der Felix-Nussbaum-Gesellschaft - Felix-Nussbaum ...
Versuch einer Rekonstruktion

Felix Nussbaums Studienreise
durch Belgien und Frankreich
Aus den Jahren 1928 und 1929 sind 35      in dem Nussbaum mit viel Witz und gro-
Bilder von Felix Nussbaum überliefert,    ßem Anspielungsreichtum seine künst-
die die Aufenthalte des Künstlers in Bel- lerischen Emanzipationsbestrebungen
gien und Südfrankreich illustrieren. Sie  als Vater-Sohn-Konflikt thematisierte. Da
entstanden zu einer Zeit, als der damals  beide, Vater Philipp Nussbaum ebenso
junge Maler bereits erste künstlerische   wie Felix Nussbaum, den niederländi-
Erfolge hatte verzeichnen können:         schen Maler van Gogh gleichermaßen
Neben Einzelausstellungen und zahlrei-    verehrten, kann die angestrebte Eman-
chen Ausstellungsbeteiligungen wurde      zipation Nussbaums von der väterlichen
er im Wintersemester 1928/29 Meister-     Kunstwelt – und so auch von der Malerei
schüler des Grafikers Hans Meid. Damit    van Goghs – durchaus hier hineinge-
kam er zugleich in den Genuss eines       spielt haben.
eigenen Ateliers in der Hardenbergstra-       Im Juli – und folglich vielleicht im
ße in Berlin, wobei er nach der Erin-     Anschluss an die Reise nach Osnabrück
nerung seines Studienkollegen Erwin       – war Felix Nussbaum nachweislich im
Grauman »in einer Zeit, in der er ein     belgischen Ostende: Er datierte zwei Bil-
Atelier als Meisterschüler hatte, fast einder auf Juli 1928, die seinen Aufenthalt
Jahr auf Studienreise ging und das Ate-   in dem mondänen Badeort belegen, den
lier gar nicht nutzte«1. Ob dies tatsäch- »Hafenkai« (WV 67) und das »Straßenca-
lich der Fall war, lässt sich nicht genau fé in Ostende« (WV 71). Hinzu kommen
feststellen. Es liegen keine schriftlichenBilder, die Motive aus Belgien zeigen
Zeugnisse vor, die Nussbaums Aufent-      und ebenfalls in das Jahr 1928 datiert
halte näher bestimmen oder dokumen-       sind, allerdings ohne Monatsangaben
tieren. Die Orte und der Ablauf seiner    (WV 67 bis 70, WV 72, WV 74 und 75).
Reisen erschließen sich nur aus den       Außerdem wird diesem Aufenthalt ein
Bildern, die motivisch oder anhand der    weiteres Werk zugeordnet, das die Zeit-
von Nussbaum oftmals verzeichneten        schrift »Menorah«4 von 1930 als »Juden-
Ortsangaben Rückschlüsse erlauben: Das    gasse in Antwerpen« (WV 73) bezeichnet.
Werkverzeichnis Nussbaums beinhaltet      Für die Bilder, die auf dieser Reise oder                  1 Erinnerungen von Erwin
dreizehn Bilder, die 1928 und 1929 in     kurz danach im Atelier in Berlin entstan-                     Graumann, Gesprächsnotiz
                                                                                                        am 6.3.1983, Archiv Muse-
Belgien entstanden sind (Werkverzeich-    den sind, gibt es nur den »terminus ante
                                                                                                        umsquartier Osnabrück
nisnummern 67 bis 79)2. Daran schließen   quem«, das heißt die Festlegung ihrer                      2 Die Verweise auf die im
sich die Nummern an, die Landschaften     Entstehungszeit, bevor sie auf Ausstel-                       Werkverzeichnis Felix
aus Südfrankreich zeigen (WV 80 bis 95)   lungen gezeigt wurden.                                        Nussbaums gelisteten
und oftmals von Nussbaum selbst mit           In der Einzelausstellung der Galerie                      Werke des Künstlers wer-
                                                                                                        den im Text im Folgenden
konkreten Ortsbezügen versehen sind.      Casper in Berlin im Februar und März
                                                                                                        mit «WV» abgekürzt.
                                          1929, die in der Presse viel Beachtung                      3 Eva Berger u. a., Felix Nuss-
Sommer 1928 – Belgien                     fand, ist erstmals eine größere Anzahl                        baum. Verfemte Kunst, Exil-
Es wird vermutet, dass Nussbaum »vor      von Bildern Nussbaums zu sehen, die auf                       kunst, Widerstandskunst,
dieser Abschiedsreise auf den Spuren      die Reise nach Belgien zurückzuführen                         Bramsche 2007, S. 84.
                                                                                                      4 »Menorah«. Jüdisches Fami-
van Goghs [...] im Sommer 1928 die        sind. Neben einer Vielzahl von Zeich-
                                                                                                        lienblatt für Kunst/Wissen-
Eltern in Osnabrück«3 besuchte. Hier ent- nungen finden sich in den erhaltenen                          schaft und Literatur, Jg. 8
stand wohl das Bild der »Landstraße mit Ausstellungsrezensionen auch Gemälde                            (1930), H 5/6 (Mai/Juni),
dem malenden Felix Nussbaum« (WV 63), mit Titeln wie »Belgische Wirtschaft«,                            S. 278.

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»Ostender Seetag« und »Selbstbildnis
mit Maske« (WV 66). Letzteres lässt
auf den frühen Einfluss des belgischen
Malers James Ensors5 schließen, dessen
Maskenbilder Felix Nussbaum vielleicht
zu seinem Selbstbildnis anregten, das
er wenig später, im Juni 1929, zu einer
Ausstellung in der Orangerie in Kassel
schickte.
    Dass Felix Nussbaum im Sommer
1928 in Belgien bzw. in Ostende war und
zumindest noch in diesem Jahr viele
weitere Werke geschaffen hat, kann also
eindeutig nachvollzogen werden. Aber es
finden sich auch Bilder mit belgischen
Motiven, die 1929 entstanden sind.
Zudem erinnert Nussbaum sich zehn
Jahre später in einem Interview mit dem
belgischen Journalisten Émile Langui:
»Weit mehr Eindruck machte Ostende
auf mich, […], eine Stadt, der ich meine
Liebe auf den ersten Blick geweiht hatte.
Dort entstand schon 1929 (sic!) ein Groß-
teil meiner besten Zeichnungen.«6 Aller-
dings sind von diesen Zeichnungen aus
dem Jahr 1929 nur sehr wenige erhalten,
das Werkverzeichnis nennt überhaupt
nur drei Arbeiten mit belgischen Moti-
                                                                                 Abb. 1: Felix Nussbaum, »Seesteg in Ostende« (2),
ven, die in dieses Jahr datiert sind:                                                         1929, Öl auf Leinwand, 54,5 x 36,2 cm,
Neben dem Gemälde »Netzflicker« (WV                                                                            Privatbesitz (WV 78)
79) gehört auch der »Ostender Seesteg«
dazu, den Nussbaum in einer Zeichnung
(WV 77) und in einem besonders schö-
nen Gemälde (Abb. 1) festgehalten hat.
    Jedenfalls zeigte Nussbaum ein Jahr
später in seiner Einzelausstellung in
der Galerie Wertheim im März und April
1930 nicht nur eine Vielzahl von Bildern                                            5 James Sidney Ensor (1860-1949) war ein
aus Belgien, sondern diesmal auch aus                                                 belgischer Maler und Zeichner des Symbo-
Südfrankreich. Der Ausstellungskatalog                                                lismus. Er ist vor allem für die Masken und
                                                                                      Skelette bekannt, die in seinen Bildern ein
nennt unter anderem Gemälde und
                                                                                      skurriles Eigenleben führen.
Zeichnungen mit Titeln wie »Zugbrücke                                               6 Eva Berger u. a., Felix Nussbaum. Verfemte
in Arles«, »Nachtbild aus Arles«, Ansich-                                             Kunst, Exilkunst, Widerstandskunst, Bram-
ten von »Alt-Nizza«, einer »Promenade in                                              sche 2007, S. 294.

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Versuch einer Rekonstruktion

                                       Nizza« oder »Cagnes sur Mer«, »Juan les     Ob Felix Nussbaum jedoch – wie Erwin
                                       Pins« und »Monaco«. Aber auch Titel wie     Graumann in den eingangs zitierten
                                       »Hafenbild«, »Seesteg«, »Netzflicker«,      Erinnerungen festhält – 1928/29 für
                                       »Zwei Netzstricker« und »Netzflicker am     fast ein Jahr unterwegs war, also von
                                       Hafen« und solche mit mehr oder weni-       ­Belgien direkt weiter nach Frankreich
                                       ger konkreten Ortsbezügen wie »Belgi-        reiste, ist nicht eindeutig zu sagen. Es
                                       sche Wirtschaft«, »Ostender Kathedrale«      ist ebenso möglich, dass er zunächst
                                       oder »Vor Ostende«. Neben Bildern der        noch einmal nach Berlin zurückkehrte,
                                       vielbeachteten Studienreise in Süd-          vielleicht auch hier einige Motive im
                                       frankreich präsentierte sich Nussbaum        Atelier in Öl umsetzte, bevor er 1929 zu
                                       bei Wertheim also wiederholt mit einer       einer zweiten Reise aufbrach, die ihn
                                       Reihe von Werken aus Belgien, die von        diesmal nach Südfrankreich führte.
                                       Kritikern mehrfach zu seinen herausra-
                                       genden Arbeiten gezählt wurden.7            Frankreich 1929 – mit dem TNL entlang
                                                                                   der Côte d’Azur
                                                                                   Nussbaums Reiseroute in Frankreich
                                                                                   führte entlang der Côte d’Azur. Die
                                                                                   Bezeichnungen auf einigen der im
                                                                                   Werkverzeichnis aufgeführten Bilder
                                                                                   benennen Orte, die er besuchte: Nizza,
                                                                                   Monaco, Juan-les-Pins und Cagnes-sur-
                                                                                   mer. Diese Orte waren um 1930 durch
                                                                                   ein 144 km langes Streckennetz der
                                                                                   TNL »Tramway du Nice et du Littoral«
                                                                                   verbunden (Abb. 2). Ein Streckenplan
                                                                                   aus dem Jahr 1928 (Abb. 3) verzeichnet
                                                                                   am jeweiligen Ende der Route die Orte
                                                                                   »Monaco« und »Juan les Pins«.
                                                                                       Insgesamt fünf der bekannten Bilder
                                                                                   von dieser Reise versah Nussbaum 1929
                                                                                   mit Ortsangaben wie »Cagnes« oder
     Abb. 2: Le tramway de la ligne Nice – Cagnes sur le pont
                                                                                   »Cagnes sur mer« (WV 80 bis 84). Das ist
     de la Cagne, 1904. Foto von Jean Gilletta
                                                                                   insofern interessant, als von den ande-
                                                                                   ren Orten an der Côte d’Azur nur kleine-
                                                                                   re Zeichnungen und auch zahlenmäßig
                                                                                   weniger Werke überliefert sind. Es ist
                                                                                   also denkbar, dass Nussbaum in Cagnes
                                                                                   logierte und von hier aus die anderen
                                                                                   Orte an der Côte d’Azur besuchte. Diese
                                                                                   Vermutung stützt sich auch auf die Tat-
                                                                                   sache, dass Nizza damals zu den teuren
                                                                                   Urlaubsorten zählte. Es war als Win-
                                                                                   terquartier bei wohlhabenden Englän-
                                                                                   dern beliebt. Und Unterkünfte wie das
                                                                                   »Negresco«, das 1929 eröffnete »Hyatt«
                                                                                   und das »Hôtel de Méditerranée« waren
                                                                                   für den Studenten aus Deutschland
                                                                                   wohl kaum eine erschwingliche Unter-
     Abb. 3: Plan »Tramway du Nice et du Littoral«, um 1928                        kunft. Dagegen bot das 15 Kilometer

10                                            Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
entfernt gelegene Cagnes-sur-Mer güns-
tigere Möglichkeiten.

Cagnes-sur-mer – Das Montmartre
des Südens
Für Felix Nussbaum war Cagnes-sur-mer
außerdem im Hinblick auf die Kunst ein
durchaus wichtiger Ort. In den 1910er-
Jahren wurde es auch als »Montmartre
des Südens« bezeichnet. Auguste Renoir
hatte hier sein Domizil gehabt und die
Künstler seiner Zeit empfangen: Henri
Matisse, Auguste Rodin, Pablo Picasso,
Claude Monet und viele andere. Amadeo
Modigliani war ein Jahr dort und Chaim
Soutine malte in den 1920er-Jahren meh-
rere Ansichten der Stadt.                                      Abb. 4 Felix Nussbaum, »Cagnes sur mer (Südfrankreich)«, 1929, Öl auf
    Zwei Bilder Nussbaums aus Cagnes                           Leinwand, 39,4 x 49,5 cm, Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück, Leihgabe der
zeigen die bergan zur Burg führende                            Felix Nussbaum Foundation (WV 83)
Hauptstraße (WV 80 und 82). Ein wei-
teres malte er mit einem Gehöft am
hochliegenden Horizont in der gleichen
diagonalen Bildanlage mit einem violet-
ten Lavendelfeld im Vordergrund (Abb.
4). Cagnes war für einen jungen Künstler
auf jeden Fall ein Ort, der Inspiration
versprach. Und man konnte dank der TNL
von hier aus bequem Ausflüge entlang
der Küste machen.

Monaco und Nizza
Aus Monaco ist eine kleinere Tusche-
zeichnung (Abb. 5) bekannt, die vom vis-
à-vis gelegenen Berg den Blick auf den
herzoglichen Palast und den Hafen fest-
hält. Die Ansicht wurde von einem hoch
gelegenen Panoramapunkt im heutigen                            Abb. 5 Felix Nussbaum, »Monaco«, Tusche mit Pinsel auf Papier,
»Jardin exotique« festgehalten, zum dem                        21 x 27 cm, Privatbesitz (WV 89)
man gut 100 steile Höhenmeter über-
winden muss. Auf dem Passepartout der
Zeichnung ist die Widmung »Für Familie
Dr. Nussbaum« zu lesen. Nussbaum ver-
schenkte diese kleine Zeichnung später,
wie der rückseitige Vermerk »Geschenk
von Felix N. an meinen Vater 1931 ca.«
auf einem Foto des Bildes im Archiv des
Felix-Nussbaum-Hauses zeigt.

7 Beispielsweise Willi Wolfradt, in:
  Der Cicerone, Jg. 21, 1929, Heft 6, S. 170.

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Versuch einer Rekonstruktion

     Abb. 6 Felix Nussbaum, »Nizza«, 1929, Maße, Bildträger              Abb. 7 Vieille rue des hauts de Cagnes,
     und Verbleib unbekannt (WV 86)                                      Postkarte um 1900, Foto von Jean Gilletta

                                                                         Eine weitere Station des TNL ist Nizza.
                                                                         Auch hier entstand wie in Monaco eine
                                                                         Zeichnung kleineren Formats (WV 87, vgl.
                                                                         Abb. 8) sowie eine Stadtansicht in Öl, die
                                                                         jedoch nur durch eine Schwarz-Weiß-
                                                                         Fotografie erhalten ist (Abb. 6). Die von
                                                                         Nussbaum malerisch festgehaltene pit-
                                                                         toreske Stadtarchitektur findet in Post-
                                                                         karten wie der aus der Edition Gilletta
                                                                         mit der »arabischen Straße« in Cagnes
                                                                         eine Entsprechung (Abb. 7).8

                                                                         Wie bereits mit der Zeichnung in Mona-
                                                                         co hielt Nussbaum in Nizza ein weiteres
                                                                         touristisches Postkartenmotiv fest: Die
                                                                         »Promenade des Anglais«. Nussbaums
                                                                         Zeichnung (Abb. 8) zeigt den Zustand
                                                                         der Promenade noch vor der gewalti-
                                                                         gen Umgestaltung der Jahre 1929 bis
                                                                         1931: Große Erdhaufen rechts im Bild
                                                                         verweisen auf die begonnenen Baumaß-
                                                                         nahmen. Man verdoppelte die Fahrspu-
                                                                         ren, schob den Strand 15 Meter weiter
                                                                         hinaus und trennte beides durch eine
                                                                         Palmenreihe »à l‘américaine«. So wurde
                                                                         die bis heute weltberühmte Ansicht
                                                                         geschaffen.
                                                                            Der Besuch in Nizza ging zudem in
                                                                         Nussbaums Bildergeschichte von »Pit
                                                                         und Peggs« ein, denn im Scenario für
     Abb. 8 Felix Nussbaum, »Promenade in Nizza (1)«,
                                                                         den Zeichentrickfilm (Abb. 9) verarbeite-
     1929, Feder in Tusche und Kohle auf Papier, 36 x
     18,5 cm, New York, Leo-Baeck-Institut (WV 87)

                                                                         8 Der Fotograf Jean Gilletta arbeitete von 1880 bis 1930 auch
                                                                           im öffentlichen Auftrag und gab viele seiner Fotos als
                                                                           Postkarten heraus. Er dokumentierte die Côte d’Azur und
                                                                           bewegte sich und sein Equipment – sogar damals schon –
                                                                           mit einem elektrischen Dreirad.

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Abb. 9 Szenenbilder aus »Pit und Peggs«, um 1936, Schwarz-Weiß-Fotografien nach farbigen
Zeichnungen von Felix Nussbaum, Felix-Nussbaum-Haus Osnabrück (WV G 8)

te Nussbaum später – im Jahr 1936 – ein          Februar 1929 in Nizza gewesen und es
besonderes Ereignis: Die Geschichte              ist durchaus möglich, dass er die Reise
erzählt von Peggs Traum, in dem sie              nach Arles daran anschloss.
zusammen mit Pit in ihrem blumenge-
schmückten Wagen unterwegs zu einem              Arles – Auf den Spuren van Goghs
Blumenfest ist und für den Wagen den             Arles, die Wirkungsstätte Vincent van
großen Preis erhält. Der spektakuläre            Goghs, war sicherlich das wichtigste
Karneval in Nizza mündet ebenso in               Ziel und der Höhepunkt der Reise. Hier
einem Blumenkorso. Diese »Bataille de            hatte van Gogh seit dem Winter 1888
Fleurs« ist bis heute integraler Bestand-        gelebt, hier hatte er mit Paul Gauguin
teil des Karnevals. Die Wagen werden             das gelbe Haus geteilt und sich für
immens aufwendig gestaltet und es                das Licht des Südens begeistert. Van
wird eigens Musik für den Karneval               Gogh war auch bei stürmischem Wet-
komponiert. Nussbaum mag eine wei-               ter mit seiner Staffelei losgezogen,
tere Inspiration dort gefunden haben,            um in der Natur zu malen, die Staffelei
denn die Comicfigur Peggs erinnert               mit 50 cm langen Eisenheringen gesi-
an die großköpfigen Verkleidungen im             chert. Nussbaum hat das berühmte
Umzug.                                           gelbe Haus, in dem van Gogh ab dem
                                                 Frühjahr 1889 gelebt hatte, auf seiner
Die Annahme, Nussbaum habe dem                   Reise 1929 durchaus noch sehen kön-
spektakulären Karneval in Nizza Ideen            nen. Denn es wurde erst 1944 durch
für die später entstandenen Zeich-               alliierte Bomben beim Rückzug der
nungen zu verdanken, gibt nicht nur              deutschen Besatzer zerstört. Dennoch
weitere Hinweise auf den Besuch des              ist das touristische Arles heute noch
Ortes selbst, sondern lässt auch auf den         immer von van Gogh geprägt. Dazu
Zeitpunkt seines Aufenthaltes Rück-              zählt auch die »Brücke von Langlois«,
schlüsse zu. 1929 fand der Karneval in           ein von van Gogh mehrfach gezeich-
Nizza von Januar bis April statt. Rosen-         netes und gemaltes Motiv.9 Während
montag – wahrscheinlich der Tag der              1944 fast alle Kanalbrücken von den
großen Parade – fiel auf den 11. Februar.        abrückenden deutschen Besatzern
Dem entsprechend wäre Nussbaum im                zerstört wurden, blieb eine der Brü-

9 Beispielsweise Vincent van Gogh, Die Zugbrücke, 1888,                                    Abb. 10 Ansicht der »Brücke von Langlois« in
  Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud Köln; F 570                                  Arles, Fotografie, 2021

  Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021                                                       13
Versuch einer Rekonstruktion

Abb. 11 Felix Nussbaum, »Nachtbild aus          cken mit der typischen Holzkonstruktion       einem Brief an Emile Bernard10 vom
Arles«, um 1929, Öl auf Leinwand,
                                                unberührt und wurde nach dem Krieg            18.3.1888 skizzierte van Gogh die Brü-
39,4 x 49,5 cm, Felix-Nussbaum-Haus
Osnabrück, Leihgabe der Felix Nussbaum          für die Nachwelt bewahrt: 1959 wurde          cke von einem ähnlichen Blickpunkt
Foundation (WV 95)                              sie abgebaut und 1962 zwei Kilometer          aus wie Nussbaum in seinem Gemälde
                                                entfernt wieder aufgebaut. Ein Foto           »Nachtbild aus Arles«. Und auch das
                                                (Abb. 10) zeigt die Brücke an ihrem heu-      immer wiederkehrende Liebespaar
                                                tigen Standort, die Felix Nussbaum in         taucht auf.
                                                den 1920er-Jahren jedoch noch an ihrem            Im Katalog zur 2019 in Frankfurt
                                                ursprünglichen Platz hat sehen können.        gezeigten Ausstellung »Making van
                                                    Die »Brücke von Langlois« findet          Gogh« heißt es zu Nussbaums Adap-
                                                mehrfach Eingang auch in Nussbaum Bil-        tion van Goghs: »Der Hang zu einer
                                                dern, so in dem »Boot vor einer Brücke«       flächigen Gestaltung bei gleichzeitiger
                                                (WV 94) als auch in dem »Nachtbild aus        Übernahme von Motiven van Goghs
                                                Arles«, um 1929 (Abb. 11). Es ist vorstell-   findet sich in den 1920er Jahren auch
10 Brief von van Gogh an Emile Bernard vom      bar, dass Felix Nussbaum das Buch »Vin-       in den Werken von Felix Nussbaum,
   18.3.1888, New York, Pierpont Morgan Lib-    cent van Gogh« von Julius Meier-Graefe        der nach seinem Besuch in Arles eine
   rary, JH 1370                                kannte, das 1910 erschienen war und           Reihe von Hommagen an sein Vorbild
11 »Making van Gogh«, Hg.: Alexander Eiling,
                                                vielleicht in der Bibliothek von Philipp      malte […]. Diese Bilder sind keine
   Felix Krämer unter Mitarbeit von Elena
   Schroll, Ausstellungskatalog Städel Muse-
                                                Nussbaum einen besonderen Platz ein-          Kopien, doch enthalten sie zahlreiche
   um Frankfurt 23.10.2019 – 16.02.2020, Mün-   nahm. Hierin lagen auch die illustrierten     Zitate – etwa aus dem Gemälde ›Der
   chen 2019.                                   Briefe van Goghs als Faksimile bei. In

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Maler auf dem Weg nach Tarascon‹            hinter den Träumen zurück, die ich mir
(…).« 11                                    gemacht hatte.«13 Sein Malerkollege
    Und Peter Junk und Wendelin Zim-        Hermann Wilhelm berichtete dennoch
mer beschrieben bereits treffend: »Die      eindrücklich, dass die Früchte dieser
Reise nach Arles [...] war eindeutig        Reise von Erfolg gekrönt waren: »Als er
von seiner [Nussbaums] Verehrung für        wiederkam, überraschte er uns mit einer
van Gogh diktiert worden. In Hermann        Ausstellung seiner Werke in der Galerie
Wilhelms Tagebuch heißt es dazu: ›Van       Goldschmidt (sic!). Er war den Spuren
Gogh war damals für viele Junge ein         seines Gottes in Arles gefolgt und hatte
Gott. Die unmittelbare, rasch zupacken-     alle Motive van Goghs im Angesicht der
de, flammende Art seiner Handschrift        Natur getreulich mit dessen Handschrift
war etwas Neues. Felix entschied sich       nachgemalt. Von der Sonne des Südens
für van Gogh. Er war sein Bildungserleb-    ausgedörrt, von den bösen provenceali-
nis.‹ Auf der Suche nach dem eigenen        schen Winden gegerbt, bestimmter als
Stil prüfte Nussbaum seit 1925 […] ob       je auftretend, ein kleiner Napoleon der
ihm van Goghs Malstil Richtschnur für       Malerei, stand er uns gegenüber. Wir
den eigenen Weg sein könnte. Dass der       sahen schwarz für ihn. [...] Die Ausstel-
junge Künstler daneben auch andere          lung wurde bei Publikum und Kritik ein
stilistische Zeittendenzen erprobte,        Erfolg, und uns fiel die Butter vom Brot.«
sei [...] angemerkt. Nach Arles reiste          Die Früchte seiner Reise durch Belgi-
er [...] wegen Van Gogh, aus keinem         en und Südfrankreich feierten zwar bis
anderen Grund. Er wollte sich dort, wo      in das Jahr 1930 Erfolge in Ausstellungen
sein ›Gott‹ gelebt und sich malerisch       in Berlin, aber Nussbaum selbst hatte
entfaltet hatte, klar darüber werden,       nach seiner Rückkehr mit seinem »Gott«
ob dessen Pinselduktus und Motivwahl        abgeschlossen. Jedoch bewahrte er in
für die eigene Entwicklung fruchtbar        seinem künstlerischen Fundus das eine
sein könnten. Zwei Gemälde von 1929         oder andere Motiv des Niederländers zur
– ›Arles sur Rhone Gräberallee, Les Alys-   späteren Verwendung, beispielsweise
camps‹ (WV 93) und ›Landschaft in der       die »Stiefel« (WV 401) in einer Zeichnung
Provence‹ (WV 92) – belegen Nussbaums       von 1940 oder das »Stillleben mit Kartof-
Ansätze, sich van Goghs Bilderwelt          feln« von 1941 (WV 416).
abwandelnd anzueignen.«12
    Zurückblickend erzählte Felix Nuss-     ralf langer
baum in einem Interview mit dem             museumsquartier osnabrück
einflussreichen belgischen Kunstkritiker    Museumspädagogik
Émile Langui 1939: »Dann unternahm                                                       12 Peter Junk und Wendelin Zimmer, Flucht-
ich eine Reise nach Südfrankreich, nach                                                     punkte – Ortswechsel. Felix Nussbaum.
                                                                                            Die Biografie, Bramsche 2009, S. 78.
Arles, wo van Gogh gelebt hat, der
                                                                                         13 Interviews op Mansarden. Felix Nussbaum -
Künstler den man nicht genug bewun-                                                         Der zarte Humor im Exil, in: Vooruit Nr. 35
dern kann. Als Maler habe ich im Süden                                                      vom 5. Februar 1939, siehe auch Eva Berger
nichts gelernt. Die Wirklichkeit blieb                                                      u.a. wie Anmerkung 3, hier S. 294.

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Begegnungen mit Felix Nussbaum

Persönliche Betrachtungen aus
erinnerungskultureller Perspektive
von Daniel Gollmann

           Erste Begegnung:                            vermutlich eher zufällig, auf das Felix-
           Selbstbildnis mit Judenpass                 Nussbaum-Haus. Die Erinnerung an das
           Erstmals begegnete mir Felix Nussbaum       »Selbstbildnis mit Judenpass«, das mich
           in der Schule. Es war im Geschichts-        irgendwie beeindruckt hatte, war prä-
           unterricht der Oberstufe zum Thema          sent und das Interesse, den »ganzen«
           Judenverfolgung während des Nati-           Nussbaum kennenzulernen, geweckt.
           onalsozialismus. Von einer Seite des        Ich beschloss also kurzerhand, nach
           Schulbuchs blickte mich ein durch Stern     Osnabrück zu fahren, um mir die Nuss-
           und Pass als Jude gekennzeichneter          baum-Ausstellung in der außergewöhn-
           Mann mit Hut an. Es handelte sich um        lichen Architektur des Libeskind-Baus
           das »Selbstbildnis mit Judenpass« (um       anzusehen.
           1943), das wohl bekannteste Werk Felix          Da ich bis zu diesem Zeitpunkt
           Nussbaums. An die Abbildung wurden          nur das »Selbstbildnis mit Judenpass«
           natürlich Fragen gerichtet und die          kannte, war ich von dem Umfang sei-
           Ergebnisse wurden gesichert. Was wir        nes Werks überrascht. Auch wenn mir
           im Kurs erarbeitet und notiert haben,       natürlich nicht jedes Bild gleicherma-
           weiß ich nicht mehr, aber irgendetwas       ßen gefallen hat, haben mich Nuss-
           muss in Erinnerung geblieben sein. War      baums Bilder doch irgendwie berührt.
           es der Malstil? War es der Blick, der       An meine Eindrücke kann ich mich
           direkt auf den Betrachter gerichtet und     im Detail nicht mehr erinnern, bis auf
           hinsichtlich seiner Emotionalität unde-     einen: Ich hatte das Gefühl, ungewöhn-
           finierbar ist? War es die Mauerecke, in     lich viele Selbstporträts gesehen zu
           der Felix Nussbaum gefangen ist, als        haben. Ob das stimmt, weiß ich nicht,
           eindrückliches Vehikel, die Ausweglosig-    und weiter hinterfragt habe ich das
           keit seiner Situation zu transportieren?    damals wohl auch nicht.
           Vielleicht war es ein bisschen von allem,       Eindruck hinterlassen hat auch die
           was den Weg für weitere Begegnungen         Architektur, die so ganz anders war,
           ebnete.                                     als ich es aus anderen Kunstmuseen
                                                       kannte. Lange, verwinkelte Gänge, die
           Zweite Begegnung:                           einen verwirren und eher durch die Aus-
           Felix-Nussbaum-Haus                         stellung irren als einem erkennbaren
           Einige Jahre später stieß ich auf der       Rundgang folgen lassen. Dazu empfand
           Suche im Internet nach einem loh-           ich die Räume als vergleichsweise
           nenden Ziel für einen Tagesausflug,         dunkel. Auch wenn mich seinerzeit die

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Architektur und ihre Aussage wohl nicht      Räume treiben zu lassen: Ich nahm
weiter beschäftigt haben, habe ich doch      mir vor, die Räume zu betreten und zu
wahrgenommen, dass hier Werk und             schauen, was die ausgestellten Werke
Architektur korrespondieren.                 mit mir machen, wo mein Blick hinge-
    So ist mir das Felix-Nussbaum-Haus       zogen wird und meine Aufmerksamkeit
als ein außergewöhnliches Kunstmuse-         dann insbesondere jenen Bildern zu
um in Erinnerung geblieben. Auf welche       widmen, die mein Interesse geweckt
Weise ich Felix Nussbaum ein weiteres        haben.
                                                                                          Felix Nussbaum, »Erinnerung an Norderney«,
Mal begegnen sollte, ahnte ich noch              Dieser Ausstellungsbesuch war aber       1929, Öl auf Leinwand, 98 x 113,5 cm, Felix-
nicht.                                       nicht so planlos wie er scheint, denn ich    Nussbaum-Haus im Museumsquartier
                                             bin einem Ansatz von Roland Barthes          Osnabrück, Leihgabe der Niedersächsischen
Dritte Begegnung:                            gefolgt, der in seiner Beschäftigung mit     Sparkassenstiftung (WV 107)
Wissenschaftlicher Mitarbeiter               Fotografie zwei Wirkungsweisen bzw.
des MQ4                                      Rezeptionsformen beschrieben hat:
Zur dritten Begegnung kam es erst zu         Punctum und Studium.
Beginn des Jahres 2021, als mich mein            Studium meint die Wirkungen von
beruflicher Weg ins Museumsquartier          Bildern, die auf dem analytischen
Osnabrück führte, wo ich seit Januar als     Befragen beruhen, den distanzierten
wissenschaftlicher Mitarbeiter für Erin-     Blicken. Barthes verwendet den Begriff,
nerungskultur und Vermittlung tätig bin.     um intellektuell und symbolisch lesbare
Mit meinem Stellenantritt habe ich           Fotos zu beschreiben.
mich natürlich zunächst mit den vier             Punctum meint das persönliche
Häusern des Museumsquartiers vertraut        Getroffensein. Barthes beschreibt damit
gemacht, also auch mit Felix Nussbaum;       Fotos, die die Qualität haben, dass
dieses Mal aber viel intensiver als zuvor.   etwas aus dem betrachteten Bild her-
   Ausgestattet mit dem Katalog »Felix       ausschießt, trifft, beunruhigt. Es berührt
Nussbaum. Verfemte Kunst, Exilkunst,         und durchbricht die Bildfläche: Wodurch
Widerstandskunst« habe ich einiges           wird mein Interesse unmittelbar
über seinen Lebensweg sowie die              geweckt, wo zieht es mich spontan hin,
Entdeckung seiner Bilder und die Erfor-      entstehen Faszinationen, Irritationen,
schung seines Werks erfahren, das nur        Widerstände oder Langeweile?
knapp der Vergessenheit entronnen ist.           Spontan hingezogen hat es mich
   Beim Besuch der Ausstellung               beispielsweise zu »Erinnerungen an
beschloss ich, mich eher durch die           Norderney«. Da war zunächst die surreal

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Begegnungen mit Felix Nussbaum

anmutende Komposition des Bildes:            genagelten Tisch. Ein merkwürdiger
Eine überdimensionierte Postkarte mit        Globus steht vor ihnen, von einem
Badegesellschaft vor einem mondänen          Stück Stacheldraht zusammengehal-
Strandhotel mit einer gewissen Patina,       ten. Eine Ratte huscht durch den Sand.
gehalten von einem Segelboot, dessen         Ausgemergelt starren die Gefangenen
Gaffel sich durch die Postkarte bohrt.       ins Leere oder sind, mit sich selbst
Außerdem als irritierende Momente ein        beschäftigt, vom Betrachter abgewandt.
Schädel im Vordergrund und ein Rad           Aufmerken lässt eine Person im Hinter-
mit gebrochener Speiche am rechten           grund. Als einzige schaut sie aus dem
Bildrand. Geweckt hat das Bild auch          Bild heraus. In ihr scheint sich Felix
bei mir Erinnerungen an zahlreiche           Nussbaum ins Bild gemalt zu haben. Er
Sommerurlaube am Meer, auch wenn es          trägt Hemd und Hut und hat sein Bün-
keine an Norderney sind.                     del geschnürt, bereit zum Aufbruch. Das
    Bei »Tanz an der Mauer« (1930) bin       zeugt einerseits von ungebrochenem
ich mir nicht sicher, ob es Anziehung        Überlebenswillen und scheint doch uto-
oder eher Irritation oder Abschreckung       pisch. Tatsächlich gelang Nussbaum die
war. Eine weiße Mauer, auf der wie ein       Flucht, aber nur um den Preis, im Ver-
Geist ein Totenkopf gemalt ist, sechs        steck leben zu müssen und letztlich war
als Totenträger mit schwarzem Frack          die Rettung auch nicht von Dauer.
und Zylinder ausstaffierte Skelette,             Angesprochen hat mich »Bücher-
die einen mit Knochen und Schädeln           wurm«, das »Stillleben mit Pampelmu-
verzierten Sarg tragen, über den eine        se«. Außer zwei übereinander liegenden
Ratte läuft, Skelette an der Mauer und       Büchern sind eine Pampelmuse, ein
ein Leichnam im Vordergrund, an denen        umgestürzter Krug und ein Fetzen der
sich Ratten gütlich tun, hinter der          Tageszeitung LE SOIR zu sehen. Die bei-
Mauer mehrere Galgen. Da dieses Bild         den letztgenannten Dinge lassen nicht
entstand, bevor Felix Nussbaum ins Exil      unbedingt das Gefühl aufkommen, als
ging und dort später in eine Situation       sähen die Bücher einem gemütlichen,
geriet, der er nicht mehr entkommen          entspannten Leseabend ihres Besit-
konnte, scheint er auch eine morbide         zers entgegen. Auch der mehrdeutige
Seite gehabt zu haben. Manch einer           Titel des obenauf liegenden Buches, La
mag es auch morbide finden, dass ich         nature morte de Felix Nussbaum, wirft
gelegentlich gerne über Friedhöfe gehe,      die Frage auf, wie er zu verstehen ist:
aber ich denke dabei nicht an Skelette       im wörtlichen Sinne als Katalog seiner
und Ratten, sondern suche eher die           Stillleben oder im übertragenen Sinne
Ruhe, lese die Namen auf den Grabstei-       als Metapher für seinen Gemütszu-
nen und frage mich, wer diese Toten          stand. Unter Einbeziehung des Zeitungs-
wohl gewesen sind.                           fetzens spricht mehr für Letzteres: zu
    Wohl wenig überraschend ist, dass        lesen ist TEMPET (Sturm), L’EUROPE
ein Bild wie »St. Cyprien« meinen Blick      (Europa) und LA GUERRE (Krieg) sowie
einfängt, bin ich doch Zeithistoriker, der   das Datum 16. April 1940. Am 10. Mai
sich v. a. mit dem Nationalsozialismus       begann der deutsche Überfall auf die
und seinen Folgewirkungen beschäftigt        Niederlande, Belgien und Luxemburg.
hat. Die Szenerie ist unschwer als Lager     Auch wenn ich nach dem Rundgang
zu erkennen. Der Bildtitel bestimmt es       nicht das eine Lieblingsbild benennen
als das Lager St. Cyprien, bekannt als       könnte, gibt es doch ein Lieblingsselbst-
Pyrenäenhölle. Eine Gruppe Gefangener,       porträt:
in Lumpen und Tücher gehüllt, sitzt              »Selbstbildnis an der Staffelei«: Mit
um einen aus Brettern zusammen-              freiem Oberkörper, nur ein weißes Tuch

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Daniel Gollmann,
                                                               wissenschaftlicher Mitarbeiter für Erinnerungskultur und Vermittlung,
                                                               vor dem Gemälde »Selbstbildnis an der Staffelei« von Felix Nussbaum.

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Begegnungen mit Felix Nussbaum

                                                                                   über einer Schulter, sitzt Felix Nussbaum
                                                                                   malend an der Staffelei, in der einen
                                                                                   Hand Palette und Pinsel. Hinter ihm an
                                                                                   der Wand hängt eine Maske. Sein Blick
                                                                                   ist selbstbewusst, geht aus dem Bild
Felix Nussbaum, »St. Cyprien«, 1942, Öl auf
Leinwand, 68 x 138 cm, Felix-Nussbaum-Haus                                         heraus, richtet sich aber nicht direkt auf
im Museumsquartier Osnabrück, Leihgabe                                             den Betrachter. Im Mund hat er eine
der Niedersächsischen Sparkassenstiftung                                           Pfeife, er wirkt entspannt. Interessant
(WV 421)                                                                           ist ein Detail: die mit Etiketten bezeich-
                                                                                   neten Flaschen mit verschiedenen
                                                                                   Farben am unteren Bildrand: Grün ist
                                                                                   mit Tod bezeichnet, blau mit Nostalgie
                                                                                   (Sehnsucht), braun mit Souffrage (Leid)
                                                                                   und eine klare Flüssigkeit mit Humeur
                                                                                   (Gemütsverfassung). Zusammengenom-
                                                                                   men wirkt dieses Selbstporträt wie die
                                                                                   Summe seiner Existenz: er ist Maler,
                                                                                   dessen Gemütsverfassung 1943, als das
                                                                                   Bild entstand, zwischen Sehnsucht, Leid
                                                                                   und Tod schwankt. Die Wand hinter ihm
                                                                                   ist blau – Ausdruck für seine Sehnsucht,
                                                                                   ohne Maskierung das sein zu können,
                                                                                   was er ist, nämlich ein Maler?

                                                                                   Zukünftige Begegnungen im
                                                                                   Spannungsfeld Villa Schlikker –
                                                                                   Felix-Nussbaum-Haus
                                                                                   Als wissenschaftlicher Mitarbeiter für
                                                                                   Erinnerungskultur und Vermittlung habe
                                                                                   ich während der Neukonzipierung der
                                                                                   Ausstellung in der Villa Schlikker zwar
                                                                                   auch die Aufgabe, diese wissenschaft-
                                                                                   lich-pädagogisch mit zu entwickeln. Vor
                                                                                   allem aber besteht meine Aufgabe per-
                                                                                   spektivisch darin, ein Vermittlungskon-
                                                                                   zept »Erinnerungskultur« zu entwickeln
                                                                                   und dieses durch entsprechende Ange-
                                                                                   bote umzusetzen.
                                                                                       Dabei lädt das Umfeld der Villa
                                                                                   Schlikker, sowohl im Museumsquartier
                                                                                   als auch in der Stadt, dazu ein, kreativ zu
                                                                                   werden, ausgetretene Pfade zu verlassen
                                                                                   und interdisziplinär zu denken. Durch die
                                                                                   unmittelbare Bezugnahme der Architek-
                                                                                   tur des Libeskind-Baus als einem Opfer-

20                                            Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021
Gedenkort auf die Villa Schlikker als NS-      Allgemeinen und »Antisemitismus«
Täterort entsteht ein sich wechselseitig       im Besonderen sowie »Flucht«, die bei
bedingender emblematischer Lern- und           den Vermittlungsangeboten eine Rolle
Erinnerungsort; ein Potenzial, das es zu       spielen werden, weil sie damals Rele-
nutzen gilt, zumal angesichts des Ver-         vanz hatten und (leider) noch immer
schwindens der Zeitzeug*innen Orte und         relevant sind. Dass Felix Nussbaum uns
Exponate als Vermittlungsinstanzen an          mit seinem Werk noch heute etwas zu
Bedeutung gewinnen.                            sagen hat, wird auch deutlich durch die
     In der Villa Schlikker soll ein zeitge-   Reihe »Gegenwärtig«, die in die noch
mäßer Lern- und Begegnungsort ent-             konkret auszugestaltenden Angebote
stehen, an dem wir uns für eine demo-          einbezogen werden kann. Dabei ist dar-
kratische und vielfältige Gesellschaft         auf zu achten, Nussbaum als Person und
einsetzen: durch die Erforschung von           Künstler ernst zu nehmen und ihn nicht
und Erinnerung an nationalsozialistische       auf ein Produkt seiner Mörder, seine
Verbrechen sowie an die Verfolgten. Aus-       Kunstwerke nicht auf die Illustration
gehend von der Geschichte des Hauses           von Geschichte zu reduzieren. Wie das
vermitteln wir diese Geschichte(n). Die        konkret gelingen kann und ob es am
Auseinandersetzung damit heißt auch,           Ende funktioniert und angenommen
über die »Grautöne« und die vielfältigen       wird, bleibt abzuwarten. Meinerseits
Auswirkungen der Vergangenheit zu              ist jedenfalls der Wunsch vorhanden,
diskutieren und den Besucher*innen             am Beispiel Felix Nussbaums jenseits
zu ermöglichen, eigene Konsequenzen            der klassischen historisch-politischen
aus der Geschichte für die Gegenwart           Bildung interdisziplinär zu denken und
und Zukunft zu ziehen. Es geht nicht nur       über die Kunst einen anderen Zugang
darum, Wissen über die Vergangenheit           zu Geschichte, eine andere Form der
zu sammeln, sondern auch persönliche           Auseinandersetzung mit ihr fruchtbar
Haltungen zu entwickeln. Wir wollen mit        zu machen und so meinen Beitrag zu
konkreten Fakten Orientierung in histo-        Nussbaums Vermächtnis zu leisten:
rischen und gesellschaftlichen Zusam-          Wenn ich untergehe, lasst meine Bilder
menhängen geben und darüber mit den            nicht sterben.
Besucher*innen ins Gespräch kommen.
Die Auseinandersetzung mit Geschichte          daniel gollmann
soll kein Selbstzweck sein, sondern zur        museumsquartier osnabrück
Schärfung eines an den Menschenrech-           wissenschaftlicher mitarbeiter
ten orientierten ethischen Bewusstseins        für erinnerungskultur und
dienen. Damit möchten wir das demo-            vermittlung
kratische Verantwortungsgefühl ebenso
fördern wie eine politische Kultur, die
durch breite gesellschaftliche Teilhabe,
Weltoffenheit und eine kritische Sensibi-
lität zu Diskriminierung gekennzeichnet
ist.
     Die Biografie und das Werk Felix
Nussbaums bieten Anknüpfungspunkte
bei den Themen »Diskriminierung« im

  Nachrichten der Felix-­Nussbaum-Gesellschaft | Jg 22 | Nr 30 | Dezember 2021           21
Unterwegs mit Felix Nussbaum

     Nussbaum-Bilder im Holocaust-Museum
     der Slowakei vorgestellt

                                    Die Corona-Pandemie hat das im Februar     Aufgabe des damaligen Lagers war von
                                    2020 in den Niederlanden erfolgreich       vornherein, die aus der Slowakei zu
                                    gestartete Projekt »Unterwegs mit Felix    deportierenden Juden aus dem ganzen
                                    Nussbaum« wie so viele andere Pla-         Land hier zu konzentrieren und sie für
                                    nungen vorübergehend blockiert und         die »Abschiebung« in die Todeslager
                                    den eigentlichen Ablauf unterbrochen.      bereitzuhalten. Zunächst als Arbeitsla-
                                    Dennoch: Vom 9. September bis 12.          ger geführt, wurde es nach der Nieder-
                                    November 2021 war die Ausstellungs-        schlagung des Slowakischen National-
                                    tournee mit 20 Reproduktionen bedeu-       aufstands durch SS-Einheiten von Ende
                                    tender Werke Nussbaums als zweite          September 1944 bis Ende März 1945
                                    Station in der Slowakei zu sehen. Die      zu einem Konzentrationslager unter
                                    Ausstellungseröffnung fand an einem        SS-Leitung umfunktioniert. Unter Alois
                                    besonderen Ort und einem historisch        Brunner, einem der wichtigsten Mitar-
                                    bedeutenden Tag statt:                     beiter Adolf Eichmanns bei der Vernich-
                                        Denn der heutige Ausstellungsort       tung der europäischen Juden, wurde
                                    bestand von Oktober 1941 bis April 1945    Sered‘ zum Dreh- und Angelpunkt einer
                                    als Arbeits- und Konzentrationslager in    Deportationswelle. Getrennt inhaftiert
                                    der westslowakischen Stadt Sered‘. Seit    waren Soldaten der slowakischen Auf-
                                    Januar 2016 ist das ehemalige Lager        standsbewegung, Partisanen und Men-
                                    eine nationale Gedenkstätte der Slowa-     schen, denen die Unterstützung des
                                    kischen Republik und wurde in dem ein-     Aufstandes vorgeworfen wurde. 70.000
                                    zig erhaltenen Konzentrationslager der     Juden wurden in die Vernichtungslager
                                    Slowakei als Teil des Nationalmuseums      der Nazis deportiert und ermordet.
                                    zum Holocaust Museum des Landes            Brunner organisierte die Zugtranspor-
                                    eingerichtet.                              te nach Auschwitz, Sachsenhausen,

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