FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT | 19 - MULTILATERALISMUS, WISSENSCHAFT UND DER SCHUTZ DER OZEANE

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                 FORSCHUNG UND
                 GESELLSCHAFT | 19
                 MULTILATERALISMUS, WISSENSCHAFT UND DER SCHUTZ
                 DER OZEANE
                 EINE POLITIKWISSENSCHAFTLICHE UNTERSUCHUNG
FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT | 19 - MULTILATERALISMUS, WISSENSCHAFT UND DER SCHUTZ DER OZEANE
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FORSCHUNG UND GESELLSCHAFT | 19 - MULTILATERALISMUS, WISSENSCHAFT UND DER SCHUTZ DER OZEANE
MULTILATERALISMUS,
­WISSENSCHAFT UND DER
 SCHUTZ DER OZEANE
 EINE POLITIKWISSENSCHAFTLICHE
­U NTERSUCHUNG

VORTRAG IM RAHMEN DER KLASSENSITZUNG DER
MATHEMATISCH-NATURWISSENSCHAFTLICHEN KLASSE
DER ÖSTERREICHISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
AM 16. OKTOBER 2020

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VORWORT

VORWORT
GEORG BRASSEUR

Die Mitglieder der Österreichischen           senschaftlichen Forschung ein auch für
Akademie der Wissenschaften sind              Mitglieder der mathematisch-natur-
entweder der mathematisch-natur­              wissenschaftlichen Klasse attraktives
wissenschaftlichen oder der philo­      so­   und spannendes Thema zu wählen:
phisch-historischen ­    Klasse zugeord-      „Multilateralismus, Wissenschaft und
net. Ein Highlight jeder Klassensitzung       der Schutz der Ozeane: Eine politik-
ist der wissenschaftliche Vortrag, der        wissenschaftliche Untersuchung“.
neue s­   pannende Forschungsergeb-           Da „Ozeane“, also sauberes Wasser
nisse aus dem Fächer­      kanon der je-      und Biodiversität in den Fachbereich
weiligen Klasse präsentiert und zu            der Klasse fallen, war das Interesse
Diskussionsbeiträgen anregt. Der wis-         der Klassenmitglieder hoch, insbe-
senschaftliche Austausch zwischen             sondere, da Maßnahmen zum Schutz
den Klassen erfolgt vorwiegend nur in         der ­Ozeane, die großteils außerhalb
den Gesamtsitzungen der Akademie.             des Wirkungsbereichs von Staaten lie-
                                                                                       Georg Brasseur ist Professor für Elektri-
Zur Stärkung der Interdisziplinarität         gen, nur über politikwissenschaftliche
                                                                                       sche Messtechnik und Messsignalverar-
und zur Förderung klassenübergrei-            Maßnahmen, wie beispiels­weise inter­
                                                                                       beitung an der Technischen Universität
fender wissenschaftlicher Aktivitäten         nationale Abkommen, möglich ge-
wurde in den Klassensitzungen im
­                                             macht werden können. Erst durch die-     Graz. 2012 wurde er zum wirklichen Mit-
­Oktober 2020 ein Experiment gestartet,       se Verträge können Aktivitäten zum       glied der ÖAW gewählt. Seit 2013 ist er
 das diesen Brückenbau vorantreiben           Schutz der Ozeane gesetzt werden.        Präsident der mathematisch-naturwissen-
 soll: Der wissenschaftliche Vortrag          Die im Vortrag beleuchtete marine        schaftlichen Klasse.
 soll aus dem Fächerkanon der jeweils         Biodiversitätsforschung ist ein dyna-
 ande­ren Klasse kommen.                      misches Forschungsgebiet, das nur
 Damit hatte die Vortragende Alice            durch kooperative Zusammenarbeit
 Vadrot – sie ist Politikwissenschaft­lerin   von ­Politik, Ökologie und Ökonomie
 und damit der philosophisch-histori-         erfolgreich betrieben werden kann.
 schen Klasse zuzurechnen – die her-          Ich wünsche Ihnen eine anregende
 ausfordernde Aufgabe, aus i­hrer wis-        Lektüre.

                              ÖAW                                                                                             3
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EINLEITUNG

EINLEITUNG
GEORG BRASSEUR

Ich stelle die Vortragende kurz vor.     Österreichischen Biodiversitätsrates.
Alice Vadrot ist Assistenzprofesso-      Ich bitte Alice Vadrot um ihren Vor-
rin für Internationale Politik und       trag.
Umwelt am Institut für Politikwis-
senschaften an der Universität Wien,
Visiting Research Fellow am Centre
for Science and Policy der Univer­sity
Cambridge und Senior Fellow des
Earth System Governance Project.
Sie hat im Jahr 2013 zur Schnittstelle
zwischen Wissenschaft und Politik
in der internationalen Biodiversitäts-
politik promoviert und war 2015 bis
2018 Erwin Schrödinger Fellow des
Wissenschaftsfonds. Seit 2018 leitet
sie mit einem ERC Starting Grant das
Projekt MARIPOLDATA, welches die
Rolle des wissenschaftlichen Wissens
in der Entstehung eines neuen Mee-
resschutzabkommens beforscht und
einen neuen multiskalaren Ansatz
entwickelt, um die Schnittstelle zwi-
schen Wissenschaft und Politik empi-
risch zu untersuchen. Frau Vadrot ist
seit 2019 Mitglied der Jungen Akade-
mie und Teil des Leitungsteams des

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ALICE VADROT

MULTILATERALIS­
MUS, WISSEN-
SCHAFT UND
DER SCHUTZ DER
OZEANE
EINE POLITIKWISSENSCHAFT­
LICHE UNTERSUCHUNG
                                                                                  Alice Vadrot ist Politikwissenschaft-
ALICE VADROT                                                                      lerin und interessiert sich für globale
                                                                                  Umweltpolitik und das Sozialstudium
                                                                                  ­
                                                                                  der Wissenschaft. Sie ist Principal
Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-       handelt es sich bei diesem Vortrag
                                                                                  Investigator des ERC-Forschungspro-
gen, zunächst möchte ich mich herz-       um ein Experiment. Es sei das erste
                                                                                  jektes MARIPOLDATA. 2019 wurde sie
lich für die Möglichkeit bedanken,        Mal, dass ein Mitglied der philoso-
                                                                                  zum Mitglied der Jungen Akademie der
hier heute vor Ihnen sprechen zu          phisch-historischen Klasse im Rah-
                                                                                  ÖAW gewählt.
dürfen. Es ist mir eine große Ehre, als   men der mathematisch-naturwissen-
Politikwissenschaftlerin hier in der      schaftlichen Klassensitzung einen
mathematisch-naturwissenschaft­           Impulsvortrag hält. Entsprechend
lichen Klasse meine Forschung vor-        experimentell möchte ich meinen
zustellen. Wie der verehrte Klas-         Vortrag gestalten und Sie heute auf
senpräsident Brasseur erwähnt hat,        eine Reise mitnehmen. Eine Reise

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ALICE VADROT

durch jene Räume, die ich empirisch              im Besonderen. Aber dann auch in           schaften eines Ökosystems in unter-
beforsche, um eine Frage zu beant-               jene Räume, in denen Daten gesam-          schiedlichen Bereichen von der ­Küste
worten, die mich seit den Anfängen               melt werden und die marine Bio­            bis zur Tiefsee und umfasst alle
meiner wissenschaftlichen Tätigkeit              diversität auf Grundlage komplexer         Lebensräume und Lebensformen,
beschäftigt: Wie das Zusammenspiel               Forschungsinfrastrukturen beobach-         die sie bewohnen (Cochrane et al.
zwischen Wissenschaft und Politik                tet und verwaltet wird. Bevor ich          2016). Biodiversität inkludiert die
die Bewältigung und auch Nicht-                  Sie nun in diese Räume mitnehme,           Ebene der Gene, der Arten und der
Bewältigung von Umweltproblemen                  oder anders ausgedrückt in die Fel-        Ökosysteme. Wenn sie sich verän-
prägt und welche Konflikte an die-               der meiner empirischen Forschung,          dert, verändern sich die biologischen
ser Schnittstelle entstehen und den              möchte ich mit der Frage beginnen,         Prozesse und die daran gebundenen
Umweltschutz erschweren. Kon-                    was die marine Biodiversität für eine      sogenannten Ökosystemleistungen.
kret sehe ich mir derzeit im Rahmen              Politikwissenschaftlerin überhaupt         Durch den Verlust der Artenvielfalt
meines vom European Research                     interessant macht und warum ich            ergeben sich ökologische und öko-
Council geförderten Forschungspro-               überzeugt davon bin, dass es hier          nomische Konsequenzen. In den ver-
jekts MARIPOLDATA1 Verhandlun-                   auch einer politikwissenschaftlichen       gangenen Jahren ist das Wissen über
gen um ein neues Abkommen zum                    Untersuchung bedarf.                       die marine Biodiversität sowie deren
Schutz der marinen Biodiversität in                                                         Verlust rapide angestiegen, nicht zu-
internationalen Gewässern an. Da-                                                           letzt aufgrund gezielter internationa-
her auch mein Titel: Multilateralis-             DIE POLITIKWISSENSCHAFT-                   ler Forschungsprogramme und erster
mus, Wissenschaft und der Schutz                 LICHE RELEVANZ DER MARINEN                 Sachstandsberichte. Zum Beispiel
der Ozeane. Der Titel führt Sie durch            BIODIVERSITÄT                              das International Census of Marine
die Räume meiner Forschung, R  ­ äume                                                       Life Programme, war ein internatio-
des Multilateralismus und der                    Marine Biodiversität umfasst, und          nales Vorhaben von 2000 bis 2010, im
Diplomatie, in denen ein neues Mee-              hier lehne ich mich an den Anthropo-       Rahmen dessen Wissenschaftlerin-
resschutzabkommen entsteht, aber                 logen Arturo Escobar an, eine Vielfalt     nen und Wissenschaftler aus 82 Län-
auch in die Räume der Wissenschaft,              an Bedeutungen und Interessen, die         dern verschiedene Meeresregionen
das Feld der Biodiversitätsforschung,            in komplexer Weise auf unterschied-        untersucht und insgesamt über 1.200
das eines der dynamischsten For-                 lichen Ebenen miteinander verbun-          neue und unbekannte Arten entdeckt
schungsfelder der Umweltwissen-                  den sind: „sites with diverging bio-       haben (Costello et al. 2010). Als zwei-
schaften darstellt –, im Allgemeinen,            cultural perspectives and political        tes Beispiel nenne ich das Global
aber auch in der Meeresforschung                 stakes“ (Escobar 1998). Aber auch          Integrated Marine Assessment, wel-
                                                 aus naturwissenschaftlicher Perspek-       ches mehr als 1.700 Seiten umfasst
1   Weiterführende Informationen über das Pro-
                                                 tive ist marine Biodiversität divers.      und an dem mehrere hundert Wis-
    jekt finden sich auf www.maripoldata.eu.     Sie bezeichnet grundlegende Eigen-         senschaftlerinnen und Wissenschaft-

                                ÖAW                                                                                              6
ALICE VADROT

ler weltweit im Auftrag der Vereinten         tigt sich besonders mit der marinen            Auswirkungen des Klimawandels
Nationen ehrenamtlich mitgearbeitet           Biodiversität (Snelgrove et al. 2010).         auf die Ozeane beschäftigt hat (IPCC
haben, um den aktuellen Wissens-              Schließlich erwähne ich den Sonder-            2019).
stand über die Ozeane aufzuarbeiten           bericht des Weltklimarates IPCC, der
(Evans et al. 2019). Kapitel 34 beschäf-      sich im vergangenen Jahr mit den

    Abb. 1: A graphic depicting the many methods of data collection employed during the Census of Marine Life.

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ALICE VADROT

Diese Berichte zeigen, dass die der-      Erforschung nötig sind, etwa Un-          wässern zu finden sind (Blasiak et al.
zeitige rapide Veränderung der Bio-       terwasserfahrzeuge oder innovative        2018). Internationale Gewässer ma-
diversität alle bekannten Aussterbee-     schiffsgebundene und autonome Be-         chen zwei Drittel der Ozeane aus und
reignisse der Erdgeschichte übertrifft.   obachtungssysteme sowie Mess- und         sind nicht-nationalstaatliches Terri-
Bereits heute sind zwei Drittel der       Experimentierplattformen auf dem          torium. Das heißt, marine genetische
marinen Umwelt durch mensch­              Meeresboden, sind nicht möglich           Ressourcen innerhalb dieser Zonen
lichen Einfluss erheblich verändert       ohne beträchtliche Investitionspro-       könnten, provokant gesprochen, ei-
worden (Hooper et al. 2012). Wissen-      gramme in entsprechende Technolo-         gentlich als Allgemeingut angesehen
schaftliches Wissen über die marine       gien und Dateninfrastrukturen (Vis-       werden.
Biodiversität, das in einer Zunahme       beck 2018). Die Kluft zwischen jenen      Und genau hier kommt die Politik ins
begriffen ist, ist in gewisser Weise      Staaten, die sich eine solche Meeres-     Spiel. Denn das Seerecht unterteilt
politisch, da es die Notwendigkeit        forschung leisten können und jenen,       das Meer in verschiedene Zonen, in
politischen Handelns zum Schutz           die es nicht können, wächst.              denen Staaten verschiedene Rechte
der Ozeane aufzeigt. Aber wissen-         Gleichzeitig steigt das ökonomische       haben (UNCLOS 1982). Zwei Drittel
schaftliches Wissen über die marine       Interesse an der marinen Biodiver-        der Ozeane sind internationales
Biodiversität ist auch politisch, weil    sität, insbesondere an genetischen        Gewässer, ein Drittel sind national-
es ein knappes Gut ist. Die Datenlage     Aspekten, die unter dem Begriff der       staatliche Einflusszonen: nationale
über die marine Biodiversität, ins-       marinen genetischen Ressourcen            Gewässer und Ausschließliche Wirt-
besondere in der Hoch- und Tiefsee,       auch zum attraktiven Forschungs-          schaftszonen. Die Freiheit der Meere
ist dünn (Canonico et al. 2019). Die      gegenstand für viele Pharmaun-            bzw. der Hohen See (mare liberum),
Zwischenstaatliche Ozeanographi-          ternehmen avanciert sind. Derzeit         die in jenen Meereszonen gilt, die
sche Kommission der UNESCO hat            wurden bereits über 14.000 Patente        sich jenseits der Ausschließlichen
kürzlich die Dekade der Ozeanfor-         auf marine genetische Ressourcen          Wirtschaftszonen befinden, sichert
schung erklärt und schätzt, dass über     angemeldet. Das deutsche Chemie­          unter anderem die Freiheit der Wis-
eine Million Arten im Ozean noch          unternehmen BASF beispielsweise           senschaft ab (UNCLOS Art. 240). Sie
zu beforschen sind (IOC UNESCO            besitzt schon heute 47 Prozent aller      sichert aber auch die Freiheit der
2018). Nur fünf Prozent der Ozeane        Patente, Universitäten besitzen nur       Schifffahrt ab, die Freiheit verschie-
und ein sehr viel geringerer Anteil       ungefähr acht Prozent (Blasiak et al.     denster Aktivitäten im und über dem
des Meeresbodens, etwa 0,001 Pro-         2018). Diese Zahlen entnehme ich          Meer, wie etwa die Freiheit des Über-
zent, sind bisher erforscht (ebd.).       aus einer Studie, die im Fachjournal      flugs oder die Freiheit unter­seeische
Um diese Datenlücken zu schließen,        Science erschienen ist und sich einen     Kabel und Rohrleitungen zu legen.
bedarf es bedeutsamer Investitionen.      sehr spezifischen Aspekt der marinen      Es gibt bereits eine Fülle internatio-
Die wissenschaftlichen und techni-        Ressourcen angesehen hat, nämlich         naler Organisationen, die verschie­
schen Infrastrukturen, die zu deren       all jene, die in internationalen Ge-      dene Aspekte in diesen Zonen r­ egeln.

                           ÖAW                                                                                          8
ALICE VADROT

Beispielsweise die Fischerei, die          fünfziger Jahre zurückreichen, ver-       würden. Auch für den Schutz und
Schifffahrt, aber auch den Tiefsee­        abschiedet wurde, gab es weder den        die nachhaltige Nutzung der mari-
berg­bau.                                  Begriff Biodiversität noch war zu er-     nen Biodiversität hat das Seerecht
Die marine Biodiversität wurde bis-        warten, dass die Errungenschaften         nicht hinreichend vorgesorgt, daher
her eher stiefmütterlich behandelt.        der Biotechnologie ein neues Gold         bemühen sich die Vereinten Natio-
Das hat auch einen historischen            der Ozeane zu Tage fördern würden,        nen seit mehr als einer Dekade auf
Grund. Denn als im Jahr 1982 die           die zu Streitigkeiten über Eigentum       internationaler Ebene, diese recht­
                                                                                     ­
Seerechtskonvention nach jahrelan-         zwischen Staaten des globalen Nor-        lichen Lücken im Seerecht zu schlie-
gen Verhandlungen, die bis in die          dens und des globalen Südens führen       ßen.

Abb. 2: Der Plenarsaal während der BBNJ-Verhandlungen (IGC3).

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ALICE VADROT

Diese Verhandlungen zur Schließung       die Effekte, die bestimmte Aktivitä-       lung entsprechender Methodiken,
der rechtlichen Lücken sind Objekte      ten auf die marine Biodiversität in        um nicht nur qualitative, sondern
meiner Forschung und Ausgangs-           internationalen Gewässern haben
                                         ­                                          auch quantitative Daten sammeln
punkt für die Untersuchung der           können, abbilden und in den poli-          zu können (Vadrot 2014, Hughes
Frage, wie dieses Zusammenspiel          tischen Entscheidungsprozess ein-          und Vadrot 2019, Vadrot 2020). Ver-
zwischen Wissenschaft und P    ­olitik   binden zu können. Auch hier wird           handlungsräume sind sehr stark
die Bewältigung oder Nicht-Bewäl-        ein internationaler Prozess ange-          reguliert. Sie bilden einen struktu-
tigung von Umweltproblemen prägt         dacht, welcher die wissenschaft­           rierten Rahmen der internationalen
und welche Konflikte an dieser           lichen Grundlagen und Gutachten            Beziehungen und Diplomatie und
Schnittstelle entstehen. Mit dem zu-     stellvertretend für die internationale     eignen sich gerade deswegen für em-
künftigen Abkommen zum Meeres-           Gemeinschaft bewertet. Ein weiteres        pirische Untersuchungen (Chasek
schutz, das seit 2018 verhandelt wird,   Element des künftigen Rechtsinstru-        2001). Regierungsvertreterinnen und
sollen neue Instrumente geschaffen       ments betrifft die Diskrepanz zwi-         -vertreter kommen zusammen, um
werden, um die meeresgenetischen         schen Staaten, marine Biodiversität        die Umsetzung von Übereinkommen
Ressourcen zu regulieren und ein         zu beforschen, wobei durch Maßnah-         oder Verträgen zu überprüfen und
System für den Vorteilsausgleich be-     men des Kapazitätsausbaus und des          voranzubringen, indem sie Texte auf
züglich jener Ressourcen zu etablie-     Transfers von Meerestechnologien           der Grundlage von Beschlüssen, die
ren, die in internationalen Gewässern    insbesondere      Entwicklungsländer       in regelmäßigen Sitzungen stattfin-
wissenschaftlich untersucht und in       stärker an der Erforschung der Meere       den, aushandeln. Satz für Satz und
weiterer Folge auch kommerziali-         teilhaben sollen.                          eben auch Wort für Wort. Einzelne
siert werden können (Tessnow-von                                                    Begrifflichkeiten, Zahlen, Formu-
­Wysocki und Vadrot 2020). Es geht                                                  lierungen oder sogar Satzzeichen
 aber auch darum, den Rechtsrahmen        ETHNOGRAFIE IM                            werden dadurch zu Aushandlungs-
 für gebietsbezogene Schutzmaß-          ­V ERHANDLUNGSRAUM                         objekten. Sie werden zu Trägern von
 nahmen und Meeresschutzgebiete                                                     Konflikten um die Abbildung von
 festzulegen, wie deren Auswahl,         Die Verhandlungsräume, in denen            Interessen, aber letztlich auch um die
 Designierung und Verwaltung auf         multilaterale Abkommen ausgehan-           Festsetzung einer neuen Ordnung.
 interna­tionaler ­Ebene durchgeführt    delt werden, sind aus politikwissen-       Die soziale Ordnung im Raum über-
 werden kann, woher die Daten für        schaftlicher Sicht wichtige Objekte        setzt sich in eine politische, in Rechts-
 die Zuordnung dieser Gebiete kom-       für die Erforschung der Dynamiken          materie gegossene Ordnung, die den
 men sollen und welche Kriterien man     zwischen Wissenschaft und Politik          Meeresschutz und deren Nutzung
 für deren Bestimmung heranzieht.        (Vadrot 2020). Ich beforsche diese         in Zukunft anleiten soll. Was wir im
 Ein weiterer Punkt sind Umweltver-      ethnografisch und arbeite unter an-        Zuge der ethnografischen Forschung
 träglichkeitsprüfungen, um künftig      derem auch an der Weiterentwick-           beobachten, ist, dass es auch wissen-

                          ÖAW                                                                                             10
ALICE VADROT

schaftliche Begrifflichkeiten sind, die   Nennungen durch Staaten in den            Sie haben diesen Begriff in ihre Rede-
durch Regierungsvertreter entweder        Verhandlungen, die wir vor Ort do-        beiträge integriert, um darauf hinzu-
strategisch verwendet oder bewusst        kumentieren. Das erste Beispiel ist       weisen, dass die Ozeanregionen der
angezweifelt werden, um die exis-         das der „Ecological Connectivity“         Erde miteinander verbunden sind
tierende Ordnung zu bestätigen oder       und ist interessant, weil „Ecological     und Aktivitäten in internationalen
sie in Frage zu stellen. Auf Grundlage    Connectivity“ ursprünglich nicht im       Gewässern direkte Auswirkungen
unserer Daten, die wir ethnografisch      Verhandlungstext vorgesehen war,          auf Gewässer unter nationalstaat­
sammeln, gelingt es uns, einige die-      aber in der ersten Verhandlungsrun-       licher Einflusssphäre haben können.
ser Begrifflichkeiten oder Aushand-       de als wichtiges Konzept zur Anlei-       Obwohl der Begriff einen wissen-
lungsobjekte zu identifizieren, in-       tung des Meeresschutzes durch einen       schaftlichen Wert hat, der von meh-
dem wir deren Verwendungsverlauf          Staat in die Verhandlung eingebracht      reren    Forschergruppen       intensiv
in unterschiedlichen Versionen des        wurde. Hintergrund der Debatte um         untersucht wird, ist es so, dass die
Verhandlungstextes nachzeichnen,          diesen Begriff war, ob Küstenstaaten      Anerkennung ökologischer Konnek-
sowie deren Vorkommen in Stellung-        mehr Rechte und Pflichten in Bezug        tivität im Rahmen eines politischen
nahmen oder Aussagen von Staaten          auf schädliche oder wirtschaftliche       Aushandlungsprozesses und der
abbildend analysieren.                    Aktivitäten in Gebieten außerhalb ih-     Erarbeitung eines neuen Rechtsrah-
Nehmen wir unterschiedliche Begriff-      rer nationalen Gerichtsbarkeit haben      mens auch eine politische Dimension
lichkeiten, zum Beispiel „Cumulative      sollen. Der Begriff der ökologischen      hat. Das betrifft die Durchführung
Impact“, „Transboundary Impact“,          Konnektivität geht davon aus, dass        von Umweltverträglichkeitsprüfun-
„Ecologically and Biologically Sig-       unterschiedliche marine Ökosysteme        gen im gleichen Maße wie die F    ­ rage
nificant Areas“, „Ecosystem Appro-        miteinander verbunden sind, unter         nach den Pflichten und Rechten,
ach“, „Climate Change“, „Ecological       anderem durch migrierende Arten.          die mit der Entnahme einer Wasser­
Connectivity“, dann zwei weitere,         Wenn nun Aktivitäten außerhalb der        probe in unterschiedlichen Meeres-
die für unsere Fragestellung rele-        Einflusszone eines Staates stattfin-      zonen einhergehen. Auch aus wis-
vant, aber nicht unbedingt wissen-        den, die sich aufgrund der Verbun-        senschaftlicher Sicht ist es schwierig,
schaftlicher Natur sind, „Common          denheit der Meere auch auf die na-        Forschung zu marinen genetischen
Heritage of Mankind“ und „Tradi-          tionalen Territorien auswirken, dann      Ressourcen über Wasserproben aus
tional and Indigenous Knowledge“.         wäre es eigentlich vernünftig, wenn       bestimmten Gewässern zu lokalisie-
Ich möchte Ihnen anhand von zwei          diese Staaten bei Umweltverträg-          ren. Auch wenn eine Wasserprobe
Beispielen zeigen, wie diese Begriff-     lichkeitsprüfungen auch mitreden          nachweislich aus internationalen
lichkeiten zu Aushandlungsobjek-          könnten. Wer aber hat diesen Begriff      Gewässern entnommen wurde, ist
ten werden. Wir messen die Anzahl         eingeführt? Es waren einerseits ein       dennoch nicht auszuschließen, dass
der Nennungen der Begriffe im Ver-        Vertreter Eritreas und andererseits       die Ressource vorher auch in natio­
handlungstext und die Anzahl der          Delegierte der kleinen Inselstaaten.      nalen Gewässern auffindbar ge­

                           ÖAW                                                                                            11
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wesen wäre. Dort allerdings hätten      Inselgemeinden und ihre Volkswirt-          ner Verbundenheit der Ozeane auch
Wissenschaftlerinnen und Wissen-        schaft in hohem Maße vom Ozean              im Wissen ihrer indigenen und loka-
schaftler vorab auf Basis gegenseiti-   abhängig und gleichzeitig auch be-          len Gemeinschaften vorkommt. Das
ger Zustimmung die Bewilligung des      sonders anfällig für die Auswirkung         heißt, sie argumentieren gleichsam,
Staates einholen müssen, in dessen      des Klimawandels sind. Indem sie            dass indigenes und lokales Wissen
Territorium geforscht wird. Es hätte    während der Verhandlungen auf               gleichrangig gesehen werden muss
das Nagoya Protokoll gegriffen, ein     dieses Konzept zurückgreifen, ver-          mit wissenschaftlichem Wissen und
internationales Umweltabkommen,         wenden sie strategisch wissenschaft-        ebenfalls heranzuziehen ist, wenn
das 2010 beschlossen wurde und ei-      liches Wissen. Aber sie stärken hier-       beispielsweise Umweltverträglich-
nen Vorteilsausgleich zwischen Nut-     durch nicht nur die Wissenschaft,           keitsprüfungen durchgeführt oder
zern genetischer Ressourcen und den     sondern gleichzeitig betonen sie in         Meeresschutzgebiete    ausgewiesen
Ursprungsländern vorsieht, um die       ihren Statements, dass die Idee ei-         werden.
ökonomischen Gewinne, die durch
die Kommerzialisierung genetischer
Ressourcen entstehen, gerechter zu
verteilen.
Das Konzept der ökologischen Kon-
nektivität hat hier eine strategische
Verwendung gefunden, weil es für
manche Staaten ein wissenschaftlich
fundiertes Argument liefert, Elemen-
te des Nagoya Protokolls auf interna-
tionale Gewässer auszuweiten, also
auch in internationalen Gewässern
diese Form der Ausgleichszahlungen
greifbar zu machen. Auch in Zusam-
menhang mit Umweltverträglich-
keitsprüfungen oder der Etablierung
von Meeresschutzgebieten könnten
Küstenstaaten eine verstärkte Aus-
weitung ihrer Einflusszonen auf
Grundlage der Anerkennung ökolo-
gischer Konnektivität evidenzbasiert
argumentieren. Jetzt ist es so, dass    Abb. 3: Ina Tessnow-von Wysocki und Alice Vadrot bei den BBNJ Verhandlungen.

                          ÖAW                                                                                          12
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Ich möchte jetzt zum zweiten Beispiel      cen, die im Meeresboden außerhalb                   zept im Verhandlungstext integriert
kommen. Eine Begrifflichkeit, die          nationalstaatlicher    Einflusssphären              wird, welches absichert, dass Gewinne
innerhalb der Verhandlungen zum            vorkommen, unter das Gemeinsame                     an diesen Ressourcen global umver-
Aushandlungsobjekt wurde, ist das          Erbe der Menschheit (UNCLOS, Ar-                    teilt werden, etwa durch einen Fond,
Gemeinsame Erbe der Menschheit. Es         tikel 136). Entsprechend wurde eine                 der diese verwaltet. Das Argument,
handelt sich hierbei nicht um ein wis-     internationale Behörde eingerichtet,                das diese Forderung unterstützen
senschaftliches Konzept, sondern um        die „International Seabed Authority“,               soll, lautet, dass der Zugang zu die-
ein Rechtsprinzip. Ich möchte es hier      an die man sich als Staat oder Unter-               sem Allgemeingut dadurch ungleich
dennoch erwähnen, da es zu e­ inem ent-    nehmen wenden muss, wenn man                        verteilt ist, dass nicht alle Staaten die
scheidenden Konflikt ­avanciert ist, der   mineralische Ressourcen im Meeres-                  Technologien haben, um diese Res-
die konsensuelle Weiterentwicklung         boden außerhalb nationalstaatlicher                 sourcen zu beforschen und in Wert
des Verhandlungstexts behindert. Eine      Rechtssysteme be­forschen oder kom-                 zu setzen, und deren rechtliche Aner-
große Anzahl an Entwicklungs- und          merziell abbauen möchte. Um eine                    kennung als Gemeinsames Erbe der
Schwellenländern setzt sich für den        Ausweitung des Geltungsrahmens auf                  Menschheit Gerechtigkeit über einen
Verbleib dieses Rechtsprinzips als tra-    marine genetische Ressourcen zu er-                 Vorteilsausgleich schaffen könnte.
gende Säule eines neuen Abkommens          wirken, haben zahlreiche Staaten des
zum Schutz der marinen Biodiversität       globalen Südens die Integration des
ein. Staatliche Akteure, wie beispiels-    Prinzips mit Vehemenz gefordert, was                KARTIERUNG DES WISSEN-
weise Japan, die Europäische Union,        aus einem Statement aus dem Jahr                    SCHAFTSFELDS DER MARINEN
Russland, die USA und Australien           2019 hervorgeht, in dem Palästina,                  BIODIVERSITÄT
lehnen die Integration des Begriffs in     das die G77 und China vertreten hat,
den Verhandlungstext ab. Was ist der       also eine sehr große Gruppe an Staa-                Wie verhalten sich nun jene Begriff-
Hintergrund? Das Gemeinsame Erbe           ten, deren Standpunt verdeutlicht:                  lichkeiten, die aus der Wissenschaft
der Menschheit impliziert, dass Res-       „We firmly reiterate that the principle             kommen – insbesondere jene der
sourcen außerhalb nationalstaatlicher      of common heritage of mankind                       ökologischen Konnektivität – zum
Territorien der Allgemeinheit vorbe-       should guide the regime of biodiver-                Wissenschaftsfeld der marinen Bio-
halten und für diese erhalten werden       sity in areas beyond national jurisdic-             diversität selbst? Wie hat sich die-
müssen (Wolfrum 1983, Hafner 2011,         tion including the access and benefits              ses Feld in den vergangenen Jahren
Tuerk 2017). Nicht nur die jetzigen        sharing of marine genetic resources“.2              entwickelt? Wie äußern sich Un-
Generationen, sondern auch die zu-         Das heißt, sie möchten, dass ein Kon-               gleichheiten zwischen Staaten in der
künftigen Generationen sollen von                                                              Beforschung der Meere, in der Ent-
­deren Nutzung gleichrangig profitie-                                                          wicklung dieses Forschungsfeldes
                                           2   Ethnographische Beobachtung vom 30.08.2019,
 ren können. Im Seerechtsübereinkom-           New York, Headquarters der Vereinten Na­
                                                                                               oder auch in der Zusammenarbeit
 men etwa fallen mineralische Ressour-         tionen.                                         zwischen Forscherinnen und For-

                            ÖAW                                                                                                       13
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schern des globalen Nordens und des     ihr Buch aus den achtziger Jahren ist     Mittel der gegenseitigen und sich
globalen Südens? Hier müssen wir        noch immer bemerkenswert aktu-            entwickelnden Kontrolle darstellen
den Verhandlungsraum verlassen          ell. Sie argumentieren, dass Wissen-      und bibliometrisch beforscht werden
und einen anderen Raum betreten,        schaftlerinnen und Wissenschaftler        können. Das ist dieser zweite Raum,
nämlich jenen, in welchem Wissen-       strukturierte Welten bauen, indem         von dem ich gesprochen habe.
schaft entsteht und abgebildet wird:    sie Text produzieren. Anders gesagt,      Wie kartieren wir das Forschungs-
das Labor, das Forschungsschiff, der    durch den wissenschaftlichen Text         feld „marine Biodiversität“? Wir
Unterwasserroboter, das Teammee-        bauen sie ihre täglichen Praktiken in     nutzen eine bibliometrische ­Analyse
ting, in dem eine neue Idee generiert   strukturierte Welten ein (Callon, Law     (Tolochko und Vadrot 2021). Die
wird oder die Petrischale mit zu un-    und Rip 1986). Aktivitäten, wie der       Artikel, die wir untersuchen, stam-
tersuchendem Material – aber auch       Erwerb von Finanzmitteln, die Ver-        men aus dem digitalen Repository
die wissenschaftliche Publikation, in   waltung von Laboren, wissenschaft-        des Web of Science. Wir haben das
der all diese Welten und Aktivitäten,   lichem Personal und Infrastrukturen,      Keyword „Marine Biodiversity“
die Wissenschaft überhaupt möglich      die wissenschaftliche Zusammenar-         ­herangezogen, aber auch eine Such-
machen und ermächtigen, zusam-          beit oder die Arbeitsteilung werden        zeichenfolge entwickelt, die alle an-
menlaufen. Diese sind durch die wis-    durch das Verfassen von Publikati-         deren relevanten Begrifflichkeiten
senschaftliche Publikation sichtbar     onen im Textdokument integriert.           inkludiert. Insgesamt umfasst unser
und für mich als Sozialwissenschaft-    Die Darstellung der Beziehung zu           Sample über 24.000 wissenschaft-
lerin bibliometrisch erfassbar.         anderen wissenschaftlichen Publika-        liche Artikel, die von 1990 bis 2018
Auf Grundlage wissenschaftlicher        tionen und zu anderen Forschenden          veröffentlicht wurden, aus 153 Län-
Veröffentlichungen und Texte kar-       ist inhärent im wissenschaftlichen         dern. 90,5 Prozent der Artikel sind
tieren wir in meinem Projekt das        Schreiben, etwa durch Verweise auf         in Zusammenarbeit, also in Co-
Feld der marinen Biodiversität und      Literatur, andere Wissenschaftlerin-       Autorenschaft entstanden. 9.700 sind
untersuchen, wie dieses durch zeit-     nen und Wissenschaftler und Ins-           international, von Autoren aus ver-
liche und räumliche Besonderhei-        titutionen. Dieses relationale und         schiedenen Ländern. Die Abstracts
ten geprägt wurde. Text oder Texte      strukturelle Verständnis von wissen-       stammen aus 2.711 wissenschaft­
spielen eine besondere Rolle bei den    schaftlichen Texten qualifiziert sie       lichen Zeitschriften und Konferenz-
Versuchen von Wissenschaftlerin-        für die Analyse der Entstehung von         berichten. Methodisch haben wir
nen und Wissenschaftlern, ihre For-     Forschungsfeldern, ihre Konstitution       eine Netzwerkanalyse und Struk-
schungsarbeit über die Publikation      und Entwicklung in Zeit und Raum.          turthemenmodellierung vorgenom-
nicht nur zu dokumentieren sondern      Die Vermessung der Dynamik von             men. Hier sehen Sie den Anstieg der
gleichsam zu ordnen – und hier leh-     Wissenschaft durch Texte bietet für        Publi­kationen.
ne ich mich an die Forscher Michel      Callon und seine Kollegen Zugang
Callon, John Law und Arie Rip an,       zu den gemeinsamen Welten, die ein

                          ÖAW                                                                                         14
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               Abb. 4: This figure was published in Marine Policy, 124(2), Tolochko, P and Vadrot, A.B.M., The usual
               suspects? ­Distribution of c­ ollaboration capital in marine biodiversity research, 104318.

Interessanterweise taucht der Be-            viel Autorität eine wissenschaftliche         tionen, aber eine geringere Anzahl an
griff „marine Biodiversität“ zwi-            Publikation hat. Was Sie hier sehen           Zitationen durch andere Autorinnen
schen 1990 und 2018 zum ersten               ist eine große Diskrepanz zwischen            und Autoren.
Mal verstärkt auf, nach vereinzelten         verschiedenen Regionen und Län-               Um nun zu verstehen, welche Rolle
Nennungen in den achtziger Jahren.           dern der Erde. Hier abgebildet ist die        wissenschaftliche Kooperation spielt,
Auch die Anzahl der Autorinnen               Anzahl der Publikationen als auch             haben wir den Begriff des „Koopera-
und Autoren, die zu mariner Bio­             der Zitationen. Die USA beispiels-            tionskapitals“ eingeführt (Tolochko
diversität publizierten, stieg massiv        weise, einzelne Länder in Europa              und Vadrot 2021). Betrachtet man die
an, insbesondere seit 2006. Wir haben        oder Australien haben sowohl sehr             unterschiedlichen Beziehungen oder
versucht zu verstehen, wie das Wis-          hohe Zitationen als auch Publika­             Kooperationen, welche innerhalb der
sen global verteilt ist. Hier haben wir      tionen. Es gibt interessante Fälle wie        Publikationen sichtbar werden, las-
sowohl die Anzahl der Publikatio-            in Skandinavien mit höheren Zita­tio­         sen sich Akteure identifizieren, die
nen in den Blick genommen als auch           nen und geringeren Publikationen.             überproportional viel Kooperations-
die Anzahl der Zitationen, die auch          In China, Brasilien und Indien findet         kapital anhäufen. Man sieht so, dass
einen Hinweis darauf geben, wie              sich ein starker Anstieg an Publika­          die meisten Staaten im Bereich des

                           ÖAW                                                                                                15
ALICE VADROT

Wissenschaftsfelds der „marinen Bio-         schern aussehen würde. Wir konnten              der Forschungsaktivitäten durchaus
diversität“ die USA als ihren Toppart-       beispielsweise beobachten, dass die             realisierbar wäre. Aufgrund der Prä-
ner identifizieren. Frankreich ist an        Kooperationsdichte innerhalb euro-              ferenz, mit bestimmten Akteuren zu
zweiter Stelle, dann Großbritannien,         päischer Staaten überproportional               kooperieren, bilden sich diese regio-
Italien, Australien, Deutschland,            hoch ist. Das ist unter anderem er-             nalen Netzwerke nicht hinreichend
Portugal – Länder, mit denen viele           klärbar durch die zahlreichen euro-             aus. Dies ist problematisch, da ­gerade
andere Akteure in Kooperation tre-           päischen Forschungsförderungspro-               für den Naturschutz der Meere die
ten. Was ist die Auswirkung? Auf             gramme. In allen anderen Regionen,              Küstenregionen miteinander koope-
Grundlage der Publikationen in be-           in Asien, Afrika und Lateinamerika              rieren sollten, auch auf wissenschaft-
stimmten Regionen haben wir unter-           et cetera, findet eine deutlich ge-             licher Ebene.
sucht, wie ein regionales Netzwerk           ringere Kooperation auf regionaler
zwischen Forscherinnen und For-              Ebene statt, obwohl diese aufgrund

                   Abb. 5: This figure was published in Marine Policy, 124(2), Tolochko, P and Vadrot, A.B.M., The
                   usual suspects? Distribution of ­collaboration capital in marine biodiversity research, 104318.

                           ÖAW                                                                                                    16
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Um zu verstehen, welche Themen be-       ren, der insofern Bedeutung hat, weil       DAS ZUSAMMENSPIEL ZWISCHEN
forscht werden, führen wir eine The-     er uns ermöglicht, die Dynamiken,           WISSENSCHAFT UND POLITIK
menmodellierung durch. Das domi-         die wir im Verhandlungsraum sehen,          VERSTEHEN UND STÄRKEN
nierende Thema ist die Erforschung       auch rückzukoppeln an die Dynami-
genetischer Aspekte der marinen          ken, die wir im Forschungsfeld der          Die Verbindung dieser drei Räume
Biodiversität. Dabei können wir drei     marinen Biodiversität beobachten.           hat zum Ziel, das Zusammenspiel
genetische Cluster identifizieren. Ei-                                               zwischen Wissenschaft und Politik
nes behandelt Population, Spezies                                                    zu verstehen. Ich habe die zu Beginn
und Arten, ein zweites beinhaltet As-    BEOBACHTUNGSPRAKTIKEN IN                    gesetzte Metapher einer Reise durch
pekte der Produktentwicklung und         VERSCHIEDENEN REGIONEN                      diese Räume genutzt, um Ihnen die
der Gensequenzierung und ein drit-                                                   empirischen Felder näherzubringen,
tes ist stark mit taxonomischer For-     Dies reicht, wie eingangs erwähnt,          die mich in meiner Forschung inte-
schung verbunden. Wir sehen so, wie      nicht aus. Wir müssen uns auch              ressieren. Letztlich ermöglicht diese
sich diese unterschiedlichen Cluster     mit jenen Praktiken beschäftigen,           Forschung, das Zusammenspiel zwi-
über die Zeit entwickelt haben. In       die dazu führen, dass marine Bio­           schen Wissenschaft und Politik in der
den vergangenen Jahren ist innerhalb     diversität beobachtet und beforscht         Bewältigung oder auch der Nicht-
des Feldes der marinen Biodiversität     werden kann. Wir müssen uns den             Bewältigung von Umweltproblemen
ein deutlicher Anstieg jener Cluster     unterschiedlichen      Infrastrukturen,     zu verstehen und diese Konflikte
zu verzeichnen, die sich mit Manage-     die hierfür zur Verfügung stehen, zu-       etwas auseinander zu ziehen, die die-
ment, Umwelt und Umweltschutz            wenden. Um dies zu tun, vergleichen         ses Zusammenspiel zwischen Wis-
befassen. Dies geschieht vor allem im    wir drei Beispiele: die USA, die Euro­      senschaft und Politik oftmals unnötig
globalen Norden. Woanders sind an-       päische Union und Brasilien. Leider         stören. Das Beispiel des neuen recht-
dere Themen präsenter. Zwei Beispie-     kann ich Ihnen hier nicht mehr              lich bindenden Abkommens zum
le sind uns besonders aufgefallen.       ­sagen, weil diese Forschung erst in        Schutz der marinen Biodiversität in
In Lateinamerika ist die klassische       den nächsten drei Jahren stattfinden       internationalen Gewässern zeigt uns,
Taxonomie überproportional hoch.          wird und auch durch COVID-19               dass dieses Zusammenspiel zwischen
Im asiatischen Raum, insbesondere         ­etwas verlangsamt wurde. Wir wer-         Wissenschaft und Politik komplex ist
in China, wird überproportional viel       den in diesen Staaten forschen, in        und auf vielfältige W
                                                                                                         ­ eise nicht nur ge-
zur genetischen Modellierung und           den Laboratorien mit den Forscherin-      braucht wird, sondern poltisch-strate-
zur datenintensiven Beforschung der        nen und Forschern sprechen, um zu         gische Bedeutung für den Schutz der
marinen Biodiversität geforscht.           verstehen, welche Unterschiede sich       Ozeane hat und dass multilaterale
So viel zu meinem Versuch, Sie in den      in der Praxis der Biodiversitätsbeob-     Aushandlungs­  prozesse durch diese
zweiten Raum meiner Forschung –            achtung im Meer ausbilden.                mitgestaltet werden, wenn auch nicht
der bibliometrischen Analyse – zu füh-                                               immer mit der erwünschten Wirkung.

                          ÖAW                                                                                              17
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Ich fasse zusammen, warum Wissen-       der Freiheit der Forschung. Wie ge-          DOSI, die Deep Ocean Stewardship
schaft in aktuellen Verhandlungen so    hen wir damit um? Eine Beobach-              Initiative, die vermeiden wollen, dass
wesentlich ist. Einerseits geht es um   tung ist, dass die Wissenschaft in den       Restriktionen im Verhandlungstext
informierte Entscheidungsfindung,       Verhandlungen ein Kapital ist. Zahl-         festgelegt werden, die ihre Forschung
zum Beispiel für die Bestimmung         reiche Delegationen laden Wissen-            behindern könnten. Diese vielfältige
von Meeresschutzgebieten in inter-      schaftlerinnen und Wissenschaftler           Rolle der Wissenschaft stellt eine
nationalen Gewässern, aber auch         ein, um wissenschaftliche, technische        Herausforderung dar, der man aus
                                                                                     ­
für die Durchführung von Umwelt-        und rechtliche Kenntnisse inner-             meiner Sicht begegnen muss, in-
verträglichkeitsprüfungen.      Woher   halb ihrer Verhandlungsdelegation            dem man für die Einbindung der
sollen diese Daten kommen? Für          zu bündeln. Wissenschaftlerinnen             Wissenschaft internationale Räume
ihre Erfassung und Bewertung wer-       und Wissenschaftler bereisen diese           schafft, insbesondere in Anbetracht
den internationale wissenschaftlich     Räume ebenfalls. Sie nehmen an               der Tatsache, dass es hierbei um die
glaubwürdige Gremien benötigt. Es       Veranstaltungen teil, die zwischen           nachhaltige Verwaltung eines Gutes
geht jedoch nicht nur um die Not-       den Verhandlungsterminen stattfin-           geht, welches außerhalb national-
wendigkeit einer informierten Ent-      den, indem sie beispielsweise auf            staatlicher Territorien auffindbar ist
scheidungsfindung. Wir sehen auch,      die Praktiken bereits existierender          und für zukünftige Generationen er-
dass die Wissenschaft in spezifischer   wissenschaftlicher       Kooperationen       halten werden muss. Warum sind es
Weise innerhalb dieser Verhandlun-      hinweisen, sie nehmen an nationa-            die Staaten, die diese Entscheidung
gen umkämpft ist. Umkämpft, weil        len Delegationen teil, um beratend           treffen, wenn es um einen Raum
es um den Kapazitätsaufbau und den      tätig zu sein, aber sie setzen auch          geht, der eigentlich außerhalb natio-
Technologietransfer geht, und hier      selbst Stellungnahmen, nachdem               nalstaatlicher Einflusssphäre liegt?
die Staaten des globalen Südens stets   alle Staaten gesprochen haben, als           Dieser Herausforderung könnte
mehr wollen als die Staaten des glo-    Vertreterinnen und Vertreter von             begegnet werden, indem wissen­
balen Nordens geben können oder         nichtstaatlichen oder internationalen        schaftliche Expertise stärker ein­ ge-
vielleicht wollen.                      Organisationen, wie beispielsweise           bunden wird, indem ein unabhängi-
Es geht aber letztlich darum, dass      UNESCO oder ICSU, dem Internati-             ges internationales wissenschaftlich-
das Prinzip, welches dieses Abkom-      onal Council for Science.                    technisches Beratungsgremium eta-
men anleiten soll, für viele Wissen-    Wissenschaft ist selbst eine hetero-         bliert wird, welches in die Entschei-
schaftlerinnen und Wissenschaftler      gene Interessengruppe. Es gibt jene          dungsprozesse eingebunden wird,
inkompatibel ist mit der Freiheit der   Wissenschaftlerinnen und Wissen-             aber auch durch eine Verstärkung
Wissenschaft. Wenn wir das Meer         schaftler, die für progressivere Schutz-     der wissenschaftlichen Zusammen-
als Allgemeingut betrachten und da-     maßnahmen auftreten und deren                arbeit zwischen dem globalen Nor-
durch die Forschung erschwert wird,     Notwendigkeit anhand ihrer Daten             den und dem globalen Süden und
steht dies scheinbar im Konflikt mit    darlegen. Es gibt auch Akteure wie           der Berücksichtigung der Auswir-

                          ÖAW                                                                                            18
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 kungen von Kapazitätsaufbau und         werden und die COVID-19 Situa-              ALICE VADROT
 Meerestechnologietransfer. Unsere       tion dadurch den positiven Effekt
 Daten zeigen auf, dass dies nicht       hat, dass mehr und tiefergehender           Es gibt die Internationale Maritime
 immer bilateral, sondern durchaus       Austausch zwischen Staaten für den          Organisation, die nach dem Zweiten
 auch regional gesehen werden muss,      Schutz der Ozeane stattfindet. Ich          Weltkrieg eingerichtet wurde, um die
 dass regionale Netzwerke gestärkt       möchte diesen Vortrag beenden mit           Schifffahrt zu regulieren. In den letz-
 werden müssen. Hilfreich wäre die       einem großen Dank an mein Team              ten Jahren wurden viele Aktivitäten
 Stärkung der Anerkennung wissen-        (Brogat Emmanuelle, Langlet Arne,           reguliert, viele Innovationen gefor-
 schaftlicher als auch nicht-wissen-     Ruiz Silvia, Tessnow-von Wysocki            dert, aber ein Problem ist einfach die
 schaftlicher Erkenntnisse, nicht nur    Ina, Tolochko Petro), das ich hier ver-     Durchsetzungskraft. Satellitensyste-
 auf internationaler Ebene, sondern      trete. Damit möchte ich mich herzlich       me erleichtern derzeit die Identifi-
 auch auf lokalen, regionalen und        für Ihre Aufmerksamkeit bedanken.           kation entsprechender Tätigkeiten,
­nationalen Ebenen.                                                                  aber dennoch sind in vielen Berei-
 Um Ihnen einen Ausblick zu geben:                                                   chen der Meere nicht ausreichend
 Die nächste Verhandlungsrunde ist       GEORG BRASSEUR                              Monitoring-Kapazitäten vorhanden,
 für 2021 angedacht. Sie wird aus-                                                   um all das Fehlverhalten in irgendei-
 schlaggebend dafür sein, ob und wie     Vielen Dank für das Plädoyer für            ner Form dokumentieren zu können.
 marine Biodiversität in der Hohen       die Wissenschaft. Das ist wichtig in        Wie ich eingangs sagte, die Schiff-
 See in Zukunft geschützt werden         dieser Zeit. Sie haben gezeigt, dass        fahrt wird bereits in diesen Gebieten
 wird, wie sie beforscht werden wird     wir die Rechtswissenschaft für den          reguliert, auch der Tiefseebergbau
 und welche Rolle die wissenschaft­      Schutz der marinen Biodiversität            wird reguliert, auch beispielsweise
 liche Gemeinschaft dabei spielen        wirklich brauchen. Dass in Gegen-           die Fischerei. All diese Abkommen
 kann und soll. Die aktuell stattfin-    den, wo wir nichts zu reden haben,          haben in irgendeiner Weise eine Pas-
 denden Onlinedialoge bilden einen       weil sie exterritorial sind, die Wis-       sage zu Umweltschutz. Benötigt wird
 zusätzlichen Forschungsraum, der        senschaft die Erkenntnisse hat, die         aber ein einheitliches Abkommen,
 sich coronabedingt aufgetan hat. Es     uns hier weiterbringen. Ich stelle          welches auch die Indikatoren verein-
 handelt sich nicht um formale Ver-      eine Frage: Man sieht so viele Tanker,      heitlicht, um dieses Problem der sich
 handlungen, sondern um Versuche,        die beispielsweise auf dem offenen          überschneidenden, aber rechtlich
 den Dialog zwischen Staaten digital     Meer ihre Laderäume spülen oder             nicht wirklich durchgreifenden Insti-
 aufrecht zu erhalten. Wir sehen uns     die 20 Prozent schwefelbehafteten           tutionen aufzuheben.
 auch diese Räume an. Es stimmt          Kraftstoff verheizen. Wann sagt man
 mich positiv, dass diese Räume von      denen, das dürft ihr ja gar nicht?
 einer Vielzahl staatlicher und nicht-
 staatlicher Akteure aktiv genutzt

                           ÖAW                                                                                            19
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PETER SCHUSTER                           PUBLIKUMSGAST 1                             zahl an Samples in den Ozeanen in
                                                                                     der ganzen Welt genommen. Es war
Vielen Dank für Ihren schönen Vor-       Danke, Frau Kollegin Vadrot, für die        sehr, sehr schwierig, von den jewei-
trag. Ich habe eine eher banale tech-    sehr spannende Ausführung. Eine             ligen Regierungen die Erlaubnis zu
nische Frage. Wenn Sie Aktivitäten,      Empfehlung wäre, dieselben Unter-           bekommen. Oft mussten sie wochen-
Kooperationen, Publikationen und         suchungen anhand eines anderen              lang warten, bis sie überhaupt Anker
Ähnliches vergleichen, dann sehe ich     Gebiets vorzunehmen, Enzymologie            legen durften. Alles wurde sehr
primär die Größe der C    ­ ommunity     etwa oder Molekularbiologie, dann           sorgfältig gemacht. Es hat sich ge-
                                                                                     ­
in den einzelnen Ländern. Die            könnten Sie sich die Abweichungen           lohnt. All die gesammelten moleku-
ist in den USA sehr viel größer          für die marine Biodiversität ansehen.       larbiologischen Daten wurden ver­
als in ­  Frankreich, England oder       Schade, dass Österreich nicht tradi-        öffentlicht, sind nicht patentierbar
Deutschland. Wie kann man diese
­                                        tionell Zugang zu den Meeren hat.           und stehen der Menschheit für immer
Daten normieren, um die Leistung         Anton Zeilinger wird Triest zurück-         zur Verfügung. Zum Beispiel sind
und Kooperationen der einzelnen          erobern, ich komme mit. Natürlich           35.000 verschiedene Planktonformen
Wissenschaftlerin oder des einzelnen     spielt sich dort wissenschaftlich alles     identifiziert worden, viel mehr als
Wissenschaftlers zu sehen, und nicht     ab. Sie müssen nicht befürchten, dass       man gedacht hatte. Jetzt kann man
die des ganzen Staates? Dann wer-        es Patente über Organismen gibt;            diese Daten nutzen, um Verände-
den die kleinen Staaten stets schlech-   die kann es nicht geben. In der EU          rungen wahrzunehmen. Das sind
ter, also weniger aktiv, abschneiden.    ist es nicht möglich, einen Organis-        sehr nützliche Bioindikatoren für die
                                         mus zu patentieren, außer es ist ein        Lage in den verschiedenen Regionen.
                                         genetisch modifizierter, und selbst         Alles ist gut kartiert. Sie haben also
ALICE VADROT                             dann wird es immer schwieriger. Ins-        vollkommen recht, Regelungen sind
                                         gesamt müssen Patente immer neu             wichtig. Gleichzeitig sollte man der
Abgebildet haben wir dies durch          und erfinderisch sein und sie müssen        Wissenschaft keine Hindernisse
die Zitationen und deren Anzahl.         nützlich sein. Wenn Sie etwa in             ­bauen, weil es, sagen wir mal von
Ein nächster Schritt wäre, sich bei-     ­Mexiko ein neues Plankton finden,           unserem gemeinsamen Gesichts-
                                                                                      ­
spielsweise das Bruttosozialprodukt       ist es Gott sei Dank verboten, das          punkt aus, sehr wichtig ist, dass, be-
anzuschauen oder die Anzahl der           zu ­patentieren. Ein weiterer Punkt         vor die Bolsonaros dieser Welt auf die
­Institutionen. Geplant haben wir sol-    ist die Biodiversität, die daraus ent-      Idee kommen, dass man das Wasser
 che Forschungen für Brasilien, die       standen ist. Ich bin befreundet in          dort nicht mehr berühren kann, diese
 USA und die EU, da für eine umfas-       der Gruppe der Tara Oceans. Diese           Daten gesammelt werden. Ganz im
 sendere Studie unsere Kapazitäten        Wissenschaftler und Wissenschaft­           Sinne von Pater Billimek.
 nicht ausreichen.                        lerinnen haben 15 Jahre lang auf
                                          dem Segelboot eine sehr große An-

                          ÖAW                                                                                            20
ALICE VADROT

ALICE VADROT                              riner Biodiversität erstellt, und wir     wieder dadurch, dass sie ganz gezielt
                                          wählen dann von diesen 50 aus, die        Forschungsprogramme ins Leben
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ich     wir kontaktieren und mit denen wir        ruft und die Forscher typischerweise
habe bei der Vorbereitung meines          zehnstündige Interviews führen über       genau auf diesen Gebieten forschen,
ERC Grant mit vielen Meeresbiolo-         deren Sicht auf die Entwicklung des       wo sie auch Geld bekommen. Meine
gen und -biologinnen gesprochen,          Forschungsfeldes. Wir suchen Perso-       Frage wäre, können Sie aus dieser
die sagten, „the Brazilian govern-        nen aus, die auch mit den Verhand-        Komplexität extrahieren, wie die Zu-
ment does not even allow us to take       lungen vertraut sind, um parallel         sammenhänge wirklich sind? Meiner
a sample of water“. Einige Staaten        auch die Sicht darauf, wie ein neuer      Ansicht nach wäre es weitaus mehr
reagieren mit einer Militarisierung       Rechtsrahmen entsteht und wie sich        erforderlich, diese Co-Abhängigkei-
ihres Meeresraumes. Sie investieren       dies auf die Forschung auswirken          ten alle rauszubekommen. Arbeiten
eher in die militärischen Abgren-         könnte, mit abdecken zu können.           Sie mit solchen Data Analytics Tools,
zungsmaßnahmen als in die wis-            Diese Kartierungen sind immer auch        um diese Querabhängigkeiten zu fin-
senschaftliche Infrastruktur. Das         selektiv und problematisch und wir        den?
ist ein interessantes Phänomen. Ein       versuchen über die Oral History In-
weiterer Punkt: Es gibt viele Er-         terviews auch die subjektiven Erzäh-
wartungen zahlreicher Länder, die         lungen mit einzubinden.                   ALICE VADROT
wahrscheinlich nicht zu erfüllen
sind. Auch das Nagoya Protokoll,                                                    Das ist ein Plan, den wir haben, ja.
das ja derzeit schon für nationale Ter-   PUBLIKUMSGAST 2                           Eine Schwierigkeit ist, dass wir qua-
ritorien gilt, liegt bei weitem hinter                                              litative Daten und quantitative Daten
den Erwartungen, die viele Länder,        Danke für den sehr schönen, inte-         haben. Wir haben ein System entwi-
gerade Brasilien, hatten. Das ganz        ressanten Vortrag. Das sind sehr          ckelt, um die ethnografischen Daten
große Geld wird nicht aus dieser For-     komplexe Zusammenhänge, die Sie           quantitativ analysieren zu können.
schung zu machen sein. Trotzdem           untersuchen. Verwenden Sie auch an-       Wir haben eine bestimmte Matrix,
sind diese historisch gewachsenen         dere Data Analytics Tools, um etwa        das heißt, dass wir nicht mehr alles
Ungleichheiten auch in diesem Ver-        auch Co-Abhängigkeiten der einzel-        handschriftlich machen. Aber das ist
handlungsraum so spürbar. Ein klei-       nen Größen, die Sie untersuchen, zu       eine große Herausforderung. Es gibt
ner Hinweis noch: In der Kartierung       finden? Wenn Sie zum Beispiel die         verschiedene Ökonomen, die Mo-
haben wir eine weitere Methode, die       Wechselwirkung zwischen Wissen-           delle herstellen, die aber auch dar-
der Oral History Interviews, vorge-       schaft und Politik untersuchen. Die       an verzweifeln, diese dynamischen
sehen. Wir haben mit verschiedenen        Politik reagiert darauf, was die Wis-     Verhandlungsräume in irgendeiner
Indikatoren eine Liste mit 1.300 For-     senschaft produziert. Die Politik be-     Form zu modellieren, weil so viele
scherinnen und Forschern zu ma-           einflusst aber die Wissenschaft auch      unsichere Größen damit verbunden

                           ÖAW                                                                                         21
ALICE VADROT

sind, wie zum Beispiel ein Regie-       schwer zu argumentieren. Haben Sie          lassen. Aber ich bin mir wie gesagt
rungswechsel. Als die Verhandlun-       dafür einen Mechanismus gefunden,           nicht sicher, ob das dann zu konkre-
gen begonnen haben, war Bolsonaro       so ähnlich wie Sie gesagt haben, etwa       ten Schutzmaßnahmen und wirklich
noch nicht an der Macht, jetzt ist er   indem neue Begrifflichkeiten einge-         ambitionierteren Zielen führen wird.
an der Macht. Das wirkt sich vermut-    führt werden? Hat Sie etwas erstaunt,       Das aktuelle Problem ist, dass die
lich auch aus.                          was eine besonders gute Argumenta-          ambitionierteren Schutzforderungen
                                        tionskraft hatte, um Entscheidungen         durch die Europäische Union bei-
                                        herbeizuführen in den Verhandlun-           spielsweise von vielen Staaten des
PUBLIKUMSGAST 3                         gen? Ich weiß nicht, ob Sie das nach-       globalen Südens nicht unterstützt
                                        vollziehen können. Sie haben gesagt,        werden, solange nicht das Thema
Gerade      im     Computer-Science-­ die Ecological Connectivity zum Bei-          der marinen genetischen Ressourcen
Bereich, mit den Untersuchungen zu      spiel hat als Begriff eingeschlagen?        vom Tisch ist. Und das ist ein Gebots-
Social Media, wurden ja bereits sehr                                                fehler des Seerechtes, aber auch von
viele Methoden entwickelt. Es wäre                                                  diesem Abkommen, dass es nämlich
zum Beispiel auch spannend, hier die    ALICE VADROT                                ein Verhandlungspaket ist, in dem es
Kombination anzusehen.                                                              diese unterschiedlichen Aspekte gibt.
                                        Es gibt Begrifflichkeiten, die derzeit      Ich denke, man hätte vielleicht von
                                        in Zusammenhang mit der IPBES,              vorneherein ein reines Schutzabkom-
PUBLIKUMSGAST 4                         der    Intergovernmental       Science-     men andenken müssen, dann wären
                                        Policy Platform on Biodiversity and         diese Probleme jetzt nicht so stark
Vielen Dank auch von meiner Seite       Ecosystem Services, eingeführt wer-         im Raum. Aber ganz grundsätzlich
für den schönen Vortrag. Ich habe       den. Dort wird versucht, das Ver-           ist mein Eindruck, dass auf dieser
das Gefühl, und das finde ich auch      ständnis von Natur als Ökosystem-           internationalen Ebene ein Natur-
gut, dass Sie so etwas wie eine Ver-    dienstleistung zurückzudrängen und          Gesellschaft-Verhältnis entsteht, bei
haltensstudie darüber machen, wie       stärker von Rechten der Natur zu            welchem Natur als nicht mehr abge-
solche Verhandlungen ablaufen.          sprechen oder von Nature‘s Contri-          koppelt von menschlichen Aktivitä-
Deswegen möchte ich Ihnen eine          bution to People, also diese Begriff-       ten dargestellt wird.
Frage stellen, die vielleicht ein biss- lichkeiten aufzumachen, inklusiv
chen früh kommt in Ihrem Projekt.       zu argumentieren. Aber ich bin mir
Es wird oft gesagt, dass die Umwelt     nicht 100 Prozent sicher, ob sich das       PUBLIKUMSGAST 5
keine Lobby hat. Nationalstaatliche     in eine ambitioniertere Schutzpolitik
Interessen oder kommerzielle In-        umsetzen wird oder nicht. Es wird           Wenn Ihr fachgeografischer For-
teressen haben ja eine starke Kraft,    inklusiver, es wird vielleicht eine         schungsraum die Arktis ist, dann ist es
aber für die Umwelt ist es manchmal     breite Bewusstseinsschaffung zu-            ja wahrscheinlich, je mehr Sie sich dem

                          ÖAW                                                                                           22
ALICE VADROT

Nordpol annähern, dass Sie mehrere        werden, damit diese Umweltverträg-
Ländergrenzen überschreiten. Müs-         lichkeitsprüfungen gemacht werden.
sen Sie da alle Anrainerstaaten um Er-    Wie diese mit Angeboten aus der
laubnis bitten, erstens, und zweitens,    Wirtschaft und Industrie umgehen,
wie verhindert man, dass die wissen-      etwa wenn ein Unternehmen Ex-
schaftliche Forschung für die Erschlie-   pertise für die Koordinierung und
ßung etwa von Bodenschätzen am            Durchführung von Umweltverträg-
Meeresgrund missbraucht wird?             lichkeitsprüfungen sucht, um Akti-
                                          vitäten wie etwa den Tiefseebergbau
                                          wissenschaftlich zu begleiten, ist
ALICE VADROT                              eine moralische oder ethische F  ­ rage,
                                          die jede Wissenschaftlerin und j­eder
Zur ersten Frage: Wir werden da si-       Wissenschaftler mit sich selbst aus-
cher auch mit den Staaten aushan-         machen muss. Ein weiteres großes
deln müssen, unter welchen Bedin-         Problem ist, dass die Datenlage ohne­
gungen wir dort arbeiten können. Ich      hin dünn ist, die Forschung teuer
vermute, wir würden uns eher auf          und gleichzeitig sehr viele ­Industrien
einen Staat konzentrieren, damit wir      an diesen Aktivitäten interessiert
nicht mit allen anderen mitverhan-        sind und dadurch Expertise aus dem
deln müssen. Es ist wie gesagt noch       Wissenschaftsapparat absaugen, die
offen, welche Region wir uns genau        dringend nötig wäre, um den Mee­
in Brasilien, in der EU und den USA       res­sschutz wissenschaftlich zu unter-
anschauen. Und zur zweiten Frage;         mauern und umzusetzen.
Ich glaube, das ist eine sehr schwie-
rige Sache, weil in vielen nationalen
Gewässern bereits der Tiefseeberg-        GEORG BRASSEUR
bau durchaus schon begonnen hat.
Hier entsteht Konkurrenz zwischen         Dann sage ich noch einmal vielen
der Grundlagenforschung und der           Dank.
Industrieforschung. Wenn diese Ak-
tivitäten Umweltverträglichkeitsprü-
fungen brauchen, bedeutet das, dass
die Unternehmen Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler abwerben

                           ÖAW                                                                      23
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