AKADEMIE IM DIALOG | 13 - DAS ENDE DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE - Österreichische Akademie der Wissenschaften

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AKADEMIE IM DIALOG | 13 - DAS ENDE DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE - Österreichische Akademie der Wissenschaften
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                 AKADEMIE IM
                 DIALOG | 13
                 DAS ENDE DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE
ÖAW   2
DAS ENDE DER ÖSTER­
REICHISCH-UNGARISCHEN
­MONARCHIE

DISKUSSIONSFORUM AN DER ÖAW AM 22. JUNI 2018

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INHALTSVERZEICHNIS

INHALT
VORWORT

OLIVER JENS SCHMITT | Präsident der philosophischen-historischen Klasse ........................................................................                 5

VORTRÄGE

MARINA CATTARUZZA | Universität Bern
„Das Ende der Habsburgermonarchie im Ersten Weltkrieg: Die Rolle Italiens“ ......................................................................                7

WŁODZIMIERZ BORODZIEJ | Universität Warschau
„Die polnische Scheidung von und mit der Monarchie 1918“ ....................................................................................................   17

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VORWORT

VORWORT
OLIVER JENS SCHMITT

1918 ist für die Republik Österreich   Polen wie Italienern ist gemein,          meisten Bewohner (Polen, U     ­ krainer,
ein wichtiges Gedächtnisjahr. Zum      dass sie, wie andere Völker der           Juden) zu ihren jeweiligen Impe-
hundertsten Mal jähren sich das        Monarchie – besonders Ruthenen/
                                       ­                                         rien loyal und bildeten nicht etwa
Ende der Monarchie und die Grün-       Ukrainer, ­ Rumänen, Serben, aber         eigenständig handelnde nationale
dung der Republik. Zahlreiche Ver-     auch Deutsche – jenseits der ­Grenze      Aktions­gemeinschaften.
anstaltungen nähern sich diesen        Konationale bzw. einen Staat be­saßen,    Beide Reden unterstrichen aber auch
grundlegenden Veränderungen aus        der sich als Mutterland verstand und      in eindrücklicher Weise, was die his-
unterschiedlichen Perspektiven. Mal    offen oder versteckt Irredentabestre-     torische Forschung derzeit heraus-
steht das heutige Staatsgebiet ganz    bungen unterstützte.                      arbeitet: Der Zerfall der Monarchie
im Mittelpunkt, mal dient es als       Die Akademie hat für eine derartige       kann nicht einfach als notwendiges
Ausgangspunkt für verflechtungs­       Perspektivierung aus dem Nordosten        Ergebnis eines teleologischen Pro-
geschichtliche Betrachtungen.          und dem Südwesten der Monarchie           zesses verstanden werden. So war
Die Österreichische Akademie der       zwei ihrer Mitglieder im Ausland          eine legitimatorisch agierende Ge-
Wissenschaften wollte in ihrer Ge-     eingeladen, die beide herausragende       schichtsschreibung in den Nach­
samtsitzung am 22. Juni 2018 bewusst   einschlägige Forschungsarbeit geleis-     folge­staaten lange verfahren. Marina
einen anderen Blickwinkel einneh-      tet haben: Marina Cattaruzza für die      Cattaruzza hebt die treibende Rolle
men und einmal nicht Wien oder         italienischen – besonders die küsten-     Italiens hervor, das als erste unter den
die deutschsprachigen Länder der       ländischen – Gebiete, Włodzimierz         Ententemächten aktiv die Auf­lösung
Monarchie in das Zentrum der Über-     Borodziej für den polnischen Teil der     der Monarchie betrieb und damit
legungen stellen. Vielmehr soll die    Monarchie.                                eine Dynamik in Gang setzte, der
vielsprachige Dimension des Staates    Beide zeigen, wie wichtig eine Ver-       sich die anderen Ententestaaten erst
ernst genommen und gefragt werden,     flechtung der Perspektiven über die       allmählich und zögernd anschlossen.
wie zwei der politisch bedeutsamsten   Grenzen der Monarchie hinaus ist,         Cattaruzza unterstreicht, wie wichtig
Völker, Polen und Italiener, den       etwa um imperiale Loyalitäten zu          dieser äußere Faktor für das Ende der
­Ersten Weltkrieg und das Ende des     verstehen: Im Juli 1914 verhielten sich   Monarchie war – ohne den Willen
 gemeinsamen Staates erlebt haben.     in Russisch-Polen wie in G­ alizien die   der Ententestaaten wären die Exil-

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VORWORT

politiker und ihre Komitees nie zu       chie und in Rumänien ­konnten nur
entscheidenden politischen Akteuren      mit einem Sieg Russlands rechnen –
aufgewertet worden. Die Monarchie        dies hätte für ­Rumänien den Gewinn
ging nach dieser Deutung also nicht      Siebenbürgens bedeutet, aber den
an inneren Nationalitätenkonflikten      dauerhaften Verlust ­Bessarabiens und
zugrunde, die vom Ersten Weltkrieg       den Verzicht auf die B  ­ ukowina zu-
nur verschärft wurden.                   gunsten Russlands; oder die Mittel-
Włodzimierz Borodziej spricht mit        mächte siegten – dies hätte R
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Blick auf das Verhältnis der Polen       das seit 1812 russische Bessarabien
zum Gesamtstaat von einer Schei-         eingetragen, nicht aber die von der
dung und meint damit einen lang          rumänischen Irredenta angestrebten
dauernden Vorgang, keinen plötz­         österreichisch-ungarischen Gebiete.
lichen Bruch. Der Krieg, das machen      Auch für andere Völker der Monar­
beide Reden deutlich, öffnete neue       chie bestanden komplexe Motiv­
Aktionsräume. 1914 konnten Völker        lagen, die nach 1918 in der Forschung
wie Polen, Ukrainer oder Rumänen         oft wenig beachtet wurden.
nicht davon ausgehen, dass gleich        Beide Reden zeichnet aus, dass sie
alle mittel- und osteuropäischen         die Offenheit historischer Entwick-
Imperien untergehen würden. Sie          lungen betonen und damit die Hand-
mussten mit Siegern und Verlierern       lungsspielräume und -optionen, aber
rechnen – gerade im polnischen Fall      auch Horizonte und Grenzen des
bedeutete dies, dass die Aussicht auf    damals politisch Denkbaren zum
einen eigenen Staat eigentlich nicht     Gegenstand geschichtswissenschaft-
existierte. Als diese als realistische   licher Analyse machen. Klassische
Möglichkeit auftrat, veränderte dies     Erzählmuster wurden dadurch in
die Beziehung zu Wien grundlegend.       Frage gestellt. In Frage gestellt wird
Noch geringer mussten die Hoff-          aber auch die Vorstellung von einem
nungen der Ukrainer in Österreich-       tiefen Bruch im Herbst 1918. Zwar
Ungarn und dem Russländischen            begann mit dem Ende der Imperien
­Imperium auf Eigenstaatlichkeit sein,   eine neue Welt. Doch lebten in dieser
 da dafür die Voraussetzungen noch       die Imperien noch viel länger weiter,
 bescheidener waren als im polnischen    als es den neuen Nationalstaaten lieb
 Fall. Auch die ­Rumänen der Monar-      sein konnte und lieb war.

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MARINA CATTARUZZA

DAS ENDE DER HABSBURGER
MONARCHIE IM ERSTEN WELT-
KRIEG: DIE ROLLE ITALIENS*
MARINA CATTARUZZA

PRÄMISSE                                             öster­reichischen Front gebunden und     giger Staaten – der Tschechoslowakei
                                                     standen als Stärkung der deutschen       und Jugoslawiens. Diese Ziele er­
In der Endphase des Ersten Welt-                     Westfront während der entscheiden-       gaben sich aus der schwierigen
kriegs kam der italienischen Armee                   den Frühjahrsoffensive von Erich         militärischen Lage, in der sich die
eine wichtige Funktion zu, die den                   Ludendorff nicht zur Verfügung.
                                                     ­                                        West­ mächte nach der italienischen
Ausgang des Konflikts wesentlich                     Dies hat möglicherweise den „Wett-       Niederlage in Caporetto und dem
beeinflusste und die selbst heutzu­                  lauf mit der Zeit“, d. h. den Versuch,   Ausscheiden Russlands aus dem
tage von der Geschichtsschreibung                    die französischen und britischen         Krieg befanden. In dieser miss­
nur ungenügend berücksichtigt wird.                  Truppen zu schlagen, bevor die ameri­    lichen Situation wurde der Appell
Nach dem Ausscheiden Russlands                       kanische Armee voll einsatzfähig         an das „Selbstbestimmungsrecht“
und Rumäniens aus dem Krieg war                      war, zugunsten der ­Entente-Mächte       der „unterdrückten Nationalitäten“
nämlich das italienische Heer das                    entschieden.                             zu einer wirkungsvollen Waffe, wel-
einzige, das weiter gegen Österreich                 Allerdings geht es in diesem Vortrag     che die Entscheidungen über die
kämpfte. 650.000 österreichische Sol-                nicht in erster Linie um die militäri-   Nachkriegsordnung wesentlich mit-
daten wurden an der italienisch-                     sche Rolle der italienischen Armee       bestimmte. Italien war im Bündnis
                                                     für den Ausgang des Ersten Welt-         der Entente die erste Großmacht, die
                                                     kriegs, sondern eher um das italieni-    sich in Person von Ministerpräsident
*   Stilistisch leicht überarbeitete Transkription   sche Eintreten für eine Zerschlagung     ­Vittorio Emanuele Orlando o ­ ffiziell
    eines am 26. Juni 2018 für die Gesamtsitzung
    der Österreichischen Akademie der Wissen-
                                                     der Habsburger Monarchie und die          für das Recht der Nationalitäten
    schaften frei gehaltenen Vortrags.               Entstehung zweier neuer unabhän-          der Habsburger Monarchie auf ein

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MARINA CATTARUZZA

Ausscheiden aus dem gemeinsamen          Die Interaktion zwischen solchen          eine Bestätigung des Anspruchs auf
Staatsgebilde aussprach – und zwar       disparaten Netzwerken und der ita-        den Dodekanes, eine Einflusssphäre
zu einem Zeitpunkt, als sowohl           lienischen Politik bei der Zerstörung     in Vorderasien und einen Anteil bei
Woodrow Wilson wie auch Lloyd            des Habsburgischen Staates soll nun       der Verteilung der deutschen Kolo­
George noch mit einem Weiter­            kurz erörtert werden.                     nien erhalten. Die demokratischen
bestehen      des    Vielvölkerstaates                                             Befürworter des „Intervento“ hinge-
(selbst im Falle seiner Niederlage)                                                gen, wie der Historiker und Poli­tiker
rechneten.                               ITALIENS KRIEGSZIELE                      ­Gaetano Salvemini oder der patrio­
Freilich handelte Italien bei der Ver-                                              tische Sozialist Leonida ­Bissolati, be-
folgung seiner Ziele nicht als ein-      Italien war im Mai 1915 auf Seiten         trachteten den Krieg als letzten „Krieg
samer Demiurg, der im Alleingang         der Entente in den Krieg eingetreten,      des Risorgimento“. Sie sympathisier-
über die Zerstörung bzw. Neuschaf-       obwohl es ein langjähriger Verbün-         ten mit der Idee einer Zerschlagung
fung von Staaten zu bestimmen ver-       deter der Zentralmächte ge­     wesen      des Habsburgerreichs, der Schaffung
mag. Es gab seit dem Ausbruch des        war. Diese Entscheidung wurde              eines föderalistischen ­  Jugoslawiens
Ersten Weltkrieges zahlreiche nicht-     von einer heterogenen Allianz von          und einer Beschränkung der ter-
staatliche Akteure, die aus unter­       parlamentarischen und außerparla-          ritorialen Ansprüche Italiens aus-
schiedlichen Gründen die Zerstö-         mentarischen Kräften getragen, die         schließlich auf jene Gebiete, in denen
rung des Habsburgischen Staates          zum Teil unterschiedliche Interessen       ita­lie­nische Bevölkerungsmehrhei-
und die Schaffung von sogenannten        verfolgten. Den Nationalisten und          ten lebten. Allerdings befanden sie
„Nationalstaaten“ auf seinem Terri-      Rechtsliberalen ging es in erster Linie    sich 1915 mit solchen Positionen in
torium erstrebten. Schon 1915 hatten     darum, Italien einen unanfecht­baren       der Minderheit. Die Regierung von
sich nämlich hauptsächlich in Groß-      Großmachtstatus zu garantieren.            Minister­präsident Antonio Salandra
britannien, aber auch in Frankreich      Dies sollte durch die Erringung ­einer     und Außenminister Sydney Sonnino
und in der Schweiz, Netzwerke und        Hegemonialstellung an der Adria            setzte auf traditionelle Machtpolitik.
Interessensgruppen gebildet, die         erfolgen. Das Londoner Abkommen,           Nach ihrer Vorstellung hätte nach
dieses Ziel konsequent verfolgten.       das im April 1915 zwischen Italien         dem Krieg ein geschwächtes Öster-
Besonders prominent waren hierbei        und der Entente geschlossen wurde,         reich weiter existieren sollen. Ähn­
das tschechische und das jugosla-        sollte dies gewährleisten: Darin wur-      liche Positionen vertrat damals auch
wische Nationalkomitee. Sie wären        den Italien im Norden die Grenze am        Luigi Albertini, Besitzer und Heraus-
aller­dings schwerlich mehrheitsfähig    Brenner und im Osten das österrei-         geber der einflussreichsten italieni-
geworden, wären sie nicht wenigs-        chische Küstenland sowie der nörd-         schen Tageszeitung „Corriere della
tens von einer der Großmächte, die       liche Teil Dalmatiens versprochen.         Sera“, überzeugter Interventionist
auf der Seite der Entente kämpften,      Darüber hinaus sollte Italien ein Pro-     und im Dezember 1914 vom König
bedingungslos unterstützt worden.        tektorat über einen Teil Albaniens,        zum Senator ernannt. Für die Popu-

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MARINA CATTARUZZA

larität der Kriegsteilnahme spielte     Historiker Robert Seton-Watson.­            kung gezwungen. Die revolutionären
der „Corriere della Sera“ in Italien    Beide galten auf den britischen             Umwälzungen, deren Ausgang im
eine ähnlich wichtige Rolle wie die     ­Inseln als ausgewiesene Kenner der         Frühling noch völlig ungewiss war,
„Times“ in Großbritannien. Wickham       Habsburger Monarchie. Dies nicht           schwächten die Stellung Serbiens,
Steed, langjährig verantwortlich für     zu Unrecht: Sie hatten ­mehrere ­Jahre     das mit der Abdankung des Zaren
das außenpolitische Ressort bei der      dort verbracht, einschlägige ­   Werke     seinen wichtigsten Beschützer ver-
„Times“, unterhielt sowohl zu Luigi      verfasst und sich für eine s­tärkere       loren hatte. Militärisch war die Lage
Albertini wie auch zum italienischen     Berücksichtigung der Rechte der            Serbiens desperat: Nach dem Eintritt
Außenminister Sydney Sonnino per-        natio­
                                              nalen        Gruppen     engagiert.   Bulgariens in den Krieg wurde das
sönliche Beziehungen.                    Hauptsächlich Wickham Steed be-            ganze Land von bulgarischen, deut-
Im Bündnis der Alliierten hätten         trachtete Österreich-Ungarn von je-        schen und österreichischen Truppen
sicher­lich weder Russland noch          her als S
                                                 ­ atelliten Deutschlands in Ost-   besetzt gehalten. Nachdem Serbien
Serbien der Habsburger Monarchie         mitteleuropa. Allerdings blieb Steed       nicht mehr auf die Unterstützung
nachgeweint. Dennoch gehörte die         mit seiner Auffassung in Großbritan-       Russlands zählen konnte, sah sich
Zerschlagung dieses Staates nicht        nien weitgehend isoliert. Dennoch          der serbische Ministerpräsident Pašić
zu ihren unmittelbaren Kriegszielen.     konnte er auf die Unterstützung von        gezwungen, dem jugoslawischen
Die offizielle serbische Politik, vom    Viscount Northcliffe zählen, Besitzer      Komitee entgegenzukommen und
zaristischen Russland sekundiert,        eines Presseimperiums, zu dem, wie         signalisierte daher Serbiens Bereit­
er­strebte die Schaffung eines Groß-     schon erwähnt, auch die „Times“            schaft, sich aktiv an der Schaffung
serbiens. Die Kriegsziele des Zaren-     zählte. Während der Juli­    krise 1914    eines jugoslawischen Staates zu be­
reichs konzentrierten sich ihrerseits    war diese eine der wenigen Tages-          teiligen. So kam es im Juli 1917 zum
in erster Linie auf die Kontrolle der    zeitungen in Groß­britannien, die von      Pakt von Korfu, der von Nikola Pašić
Meerengen nach dem vorherseh­baren       Anfang an dezidiert auf Kriegskurs         für die serbische Regierung und von
Kollaps des Osmanischen Reichs und       steuerte.                                  Ante Trumbić für das jugoslawische
auf die Eroberung ­Konstantinopels.                                                 Komitee unterzeichnet wurde. Darin
Zu den Stimmen, die von Anfang an                                                   stimmten beide Kontrahenten zu,
den Weg der Zerstörung des Habs-        DAS JAHR 1917                               dass am Ende des Krieges die von
burgischen Staates und die Anwen-                                                   Südslawen bewohnten Länder der
dung nationaler Kriterien bei der       Für den Ausgang des Ersten Welt-            Habsburger Monarchie zusammen
Neustaatenbildung in Ostmittel- und     kriegs können die Ereignisse des            mit Serbien einen jugoslawischen
Südosteuropa befürworteten, gehör-      Jahres 1917 kaum hoch genug ver-            Staat bilden sollten. Als Staatsform
ten in Großbritannien an vorderster     anschlagt werden. In Februar brach          war eine Verfassungsmonarchie u ­ nter
Front der oben erwähnte Publizist       in Russland die Revolution aus und          der Dynastie der ­Karadjordjević vor-
Wickham Steed und der schottische       Zar Nikolaus II. sah sich zur Abdan-        gesehen.

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MARINA CATTARUZZA

Obwohl sich Serbien im Hinblick          setzten unverzüglich die zwei wich-      darin durch einen Appell von Papst
auf die Rechte von Kroaten und           tigsten Punkte ihres Programms um:       Benedikt XV. bestärkt, der sich am
Slowenen im neuen Staat also wei-        die Verteilung des Grundbesitzes         1. August 1917 an die Regierungsver-
terhin sehr zurückhaltend verhielt       unter den Bauern und die sofortige       antwortlichen der kämpfenden Staa-
(was für die Zukunft nichts Gutes        Anknüpfung von Friedensverhand-          ten gewandt und dazu aufgerufen
erahnen ließ), war die Erklärung von     lungen mit den Zentralmächten. Der       hatte, „das nutzlose Massaker“ doch
­Korfu ein Meilenstein auf dem Weg       Waffenstillstand wurde am 15. De-        zu beenden.
 zur Zerschlagung der Habsburger         zember vereinbart. Das revolutionäre     Ein Friede auf Grundlage des Status
 Monarchie, denn nun hatte sich Ser-     Russland trat die Verhandlungen mit      quo, bzw. auf Grundlage von mini­
 bien dazu verpflichtet, auf die Tren-   Deutschland und seinen Verbünde-         malen Grenzkorrekturen, ­       zeichnete
 nung der südslawischen Provinzen        ten aus einer denkbar schwachen          sich ab. Einen Separatfrieden mit
 von Österreich und Ungarn hinzu­        ­Position an. Es war schon vor dem       Österreich, dem schwächsten Glied
                                                                                  ­
 arbeiten.                                Friedensvertrag von Brest-Litowsk       des feindlichen Bündnisses, hielt der
 Die Erklärung machte großen Ein-         (März 1918) vorauszusehen, dass sich    britische Kriegsrat damals für die
 druck auf Luigi Albertini, der zum       eine Hegemonialstellung Deutsch-        vernünftigste Option. Nie schien die
 Schluss kam, dass nun die Bildung        lands in Osteuropa abzeichnete.         Zeit dafür günstiger zu sein als im
 eines jugoslawischen Staates un-         Im November 1917 erlitt auch ­Italien   Spätherbst 1917. Lloyd George und
 abwendbar sei und Italien seine          eine militärische Katastrophe: In den   der britische Außenminister ­     Balfour
 Kriegsziele neu definieren müsse.        Julischen Alpen nahe der kleinen        ergriffen die Initiative, mit Wien e­ inen
 Von diesem Zeitpunkt an vertrat der      Ortschaft Caporetto (heute ­Kobarid)    Gedankenaustausch über e­ inen mög-
 „Corriere della Sera“ kompromiss-        gelang österreichischen und deut-       lichen Frieden zu initiieren. Infolge-
 los den Standpunkt, dass die Habs-       schen Truppen der Durchbruch            dessen wurden Gespräche in Genf
 burger Monarchie zu verschwinden         durch die italienischen Linien. Die     zwischen dem ehemaligen öster­
 habe und Italien die Gründung eines      neue italienische Front verlief nun     rei­ chi­
                                                                                          schen Botschafter in London,
 jugoslawischen Staates unterstützen      200 Kilometer hinter der ursprüng-      ­Alexander Count von ­Mensdorff, und
 solle.                                   lichen Linie und Italien sah sich        dem südafrikanischen General Jan
 Im November desselben Jahres 1917        gezwungen, Großbritannien und            Smuts, einem einflussreichen Mitglied
 schwächten zwei Ereignisse die mili-     Frankreich um die Entsendung von         des britischen Kriegsrats, geführt.
 tärische Kraft der Entente erheblich,    Verstärkungstruppen zu bitten. Das       Allerdings informierte der öster­
 wenn auch nur vorübergehend: In          Desaster von Caporetto führte dazu,      reichische Außenminister, Ottokar
 Russland war die radikalste Fraktion     dass im italienischen Parlament er-      Czernin, Berlin über die britische
 der Sozialdemokratie unter der Füh-      neut Stimmen laut wurden, die für        ­Initiative. Letztlich verliefen die Ge-
 rung von Wladimir Uljanov Lenin an       einen Separatfrieden mit Österreich       spräche in Genf im Sande. Öster­reich
 die Macht gelangt. Die Bolschewiken      plädierten. Die Katholiken wurden         ließ den günstigen Moment in der

                          ÖAW                                                                                            10
MARINA CATTARUZZA

Illusion verstreichen, dass die Zeit      I­ talienern und Jugoslawen (recte            sowie der amerikanische Botschafter
zu seinen Gunsten spielte. Im Früh-        ­Kroaten) bei der Verteilung der öster-      in Rom entsandten Vertreter. Der
ling 1918 hatte sich das Blatt aber         reichischen Gebiete an der Adria zu         Kongress versetzte der Habsburger
wieder gewendet. Die USA waren              gelangen. In diesem Kreis l­ancierte        Monarchie den Todesstoß. Am Ende
nun an der Westfront einsatzfähig.          der Journalist des „­   Corriere della      wurde eine Erklärung angenommen,
Damit verschob sich das militärische        Sera“, Antonio Borgese, die Idee,           in der allen Völkern, die ganz oder
Kräftegleichgewicht ganz eindeutig          in Rom einen Kongress der „unter-           zum Teil der Habsburger Monarchie
zugunsten der Entente und ihrer Ver-        drückten Nationalitäten“ einzube-           untergeordnet waren, das Recht der
bündeten, was durch das partielle           rufen. In dessen Vorfeld wurden             vollen politischen und wirtschaft-
Scheitern der deutschen Frühjahr­           zwei wichtige Übereinkünfte erzielt:        lichen Unabhängigkeit zuerkannt
offensive offensichtlich wurde.             a.) Ante Trumbić, der Vorsitzende           wurde.
                                            des südslawischen Komitees, und             Zwei weitere Entwicklungen über-
                                            der italienische Abgeordnete Andrea         zeugten nun auch den britischen
DER KONGRESS DER „UNTER-                    Torre einigten sich auf einen Verzicht      Premierminister Lloyd George und
DRÜCKTEN NATIONALITÄTEN“                    Italiens auf Dalmatien im Gegenzug          den amerikanischen Präsidenten
IN ROM                                      für eine Anerkennung der italieni-          Woodrow Wilson, die Selbststän-
                                            schen Ansprüche auf Triest und die          digkeitsbestrebungen der nationa-
Die prekäre Lage an der italieni-           nördliche Adriaküste durch die jugo-        len Gruppen auf Kosten des Habs-
schen Front sowie das Ausscheiden           slawische Seite; b.) in die britisch-ita-   burger Staates zu unterstützen: Auf
Russlands aus dem Krieg schienen            lienisch-jugoslawischen Pläne wurde         der einen Seite wurde die deutsche
die Träume der tschechischen und            auch der neue italienische Minister-        Westoffensive Anfang April von
jugoslawischen Komitees und die             präsident Vittorio Emanuele Orlando         französischen und britischen Trup-
Pläne des britischen Think-Tank zu-         einbezogen. Nun hatte die Entente           pen aufgehalten, und auf der ande-
nichte zu machen. Allerdings waren          neben Serbien also einen zweiten            ren Seite, beinahe gleichzeitig, flog
weder Wickham Steed noch Luigi              Verbündeten für die Zerstörung der          die sogenannte „Sixtus-Affäre“ auf:
­Albertini bereit, die Zertrümmerung        Habsburger Monarchie gewonnen,              durch unvorsichtige Äußerungen
 ihrer Träume tatenlos hinzunehmen.         und zwar die Quasi-Großmacht Ita-           des österreichischen Außenministers
 Die Wohnung Steeds in London               lien.                                       Czernin wurden nämlich g    ­eheime
 ­wurde zum Treffpunkt für Vertreter        Der Kongress der „unterdrückten             Friedensinitiativen Kaiser Karls
  des jugoslawischen Komitees und           Nationalitäten“ wurde am 8. April           gegen­über Frankreich aus dem ver-
  ­einer Gruppe von italienischen Jour-     1918 in Rom eröffnet. Daran nahmen          gangenen Jahr in der internationalen
   nalisten, Politikern und Abgeordne-      Vertreter der Kroaten, Tschechen,           Öffentlichkeit bekannt .
   ten, die sich dem Ziel verschrieben,     Slowaken, Polen, Rumänen und Ser-           Die Monate bis Anfang November
   zu einer Übereinkunft zwischen           ben teil. Sämtliche Entente-Mächte          1918 stellten dann nur noch ­  einen

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MARINA CATTARUZZA

Epilog dar. Für den Untergang des         slawien als souveräne Staaten aner-       Steed und Robert Seton Watson unter-
Habsburgischen       Staates    spielte   kannte.                                   stützt. Im Nachhinein schlossen sich
die Anerkennung der „tschecho­                                                      Serbien, Italien, Frankreich, Großbri-
slowa­kischen Legion“ als nationale                                                 tannien und die USA der Perspektive
Armee der Tschechoslowakei eine
­                                         SCHLUSSFOLGERUNGEN                        nationaler Selbstbestimmung für die
wesentliche Rolle. Diese setzte sich                                                „unterdrückten Nationalitäten“ der
aus tschechischen und (wenigen)           Erst in den letzten Jahren hat die        Habsburger Monarchie an. Die Rol-
slowakischen Kriegsgefangenen zu-         Geschichtsschreibung an der festen        le Luigi Albertinis, der Journalisten
sammen. Sie wurde dem Befehl des          Überzeugung zu rütteln begonnen,          des „Corriere della Sera“ und des
tschechoslowakischen Nationalrats         dass die Habsburger Monarchie auf-        italienischen Ministerpräsidenten Vi-
unterstellt, der aus dem vormaligen       grund der ungelösten Nationalitä-         ttorio Emanuele Orlando kann dabei
tschechischen Komitee hervorge-           tenfrage dem Untergang geweiht ge-        kaum hoch genug eingeschätzt wer-
gangen war. Damit waren in nuce           wesen sei. In einem solchen „­Frame“      den. Die Ausrichtung des Kongresses
bereits die Grundstrukturen des           kam dem Ersten Weltkrieg bloß die         „der unter­ drückten Nationalitäten“
neuen Staates herausgebildet. Die         Funktion zu, einen bereits vorge-         in Rom bildete einen Höhepunkt
Legion wurde als Nationalarmee            zeichneten Verlauf beschleunigt zu        im Prozess der Neugestaltung des
von Frankreich am 29. Juni, von           haben. Um eine neue Perspektive auf       mittel­osteuropäischen Raums nach
Großbritannien am 9. August und           diesen Themenkomplex zu eröffnen,         neudefinierten nationalen Kriterien.
schließlich von den USA am 3. Sep-        argumentiere ich nicht teleologisch,      Eine solche These will keineswegs
tember anerkannt. Am 26. Septem-          sondern situativ. Der Ausbruch des        den Krisenzustand der Donau­
ber anerkannte der italienische Au-       Krieges erweiterte den Horizont des-      monarchie und den Entsolidarisie-
ßenminister Sydney Sonnino die            sen, was im Vergleich zur Friedens-       rungsprozess unter ihrer Zivilbevöl-
tschechoslowakische R   ­egierung als     zeit „machbar“ schien, ungemein.          kerung bestreiten – Entwicklungen,
legitime Vertreterin ­einer selbständi-   Auch die Spielräume für die Han-          die hauptsächlich von Maureen
gen Tschecho­slowakei. Am 18. Okto-       delnden bzw. für die historischen         Healy eindrucksvoll geschildert
                                                                                    ­
ber übermittelte der amerikanische        „Akteure“ wurden breiter: Ange-           wurden. Die als ungerecht empfun-
Staatssekretär Lansing dem österrei-      sichts der kriegsbedingten interna­tio­   dene (und auch real ungerechte) Ver-
chischen Kaiser die Antwort seiner        nalen Polarisierung konnten selbst-       teilung der Knappheit verfein­   dete
Regierung auf die Forderung, Frie-        ernannte Komitees sich als legitime       Öster­reicher und Ungarn, Bürger­
densverhandlungen einzuleiten: die        Vertreter des Willens der eigenen un-     liche und Bauern, Stadt- und Land-
14 Punkte Wilsons vom 18. ­Januar         terdrückten Nation inszenieren. Das       bewohner zunehmend, was zu einer
hatten keine Gültigkeit mehr, da die      Programm der nationalen Komitees          Auflösung sozialer Bindungen und
amerikanische Regierung inzwischen        wurde bei ihrer Gründung nur vom          zu einer chaotischen Fragmentie-
die Tschechoslowakei und Jugo­            britischen Think-Tank um Wickham          rung der Gesellschaft in ihre sozia-

                           ÖAW                                                                                          12
MARINA CATTARUZZA

len und ethnischen Komponenten             inszenierten Kongress der „unter-
führte. Diese Umstände waren aber          drückten Nationalitäten“ hatten die
an sich kein ausreichender Grund           Vertreter der Entente sowie der USA
dafür, dass die Habsburgermonar-           feierlich versprochen, die Selbst-
chie nach der Kriegsniederlage als         ständigkeitsbestrebungen aller eth-
Staat kollabieren sollte und aus ­ihren    nischen Gruppierungen des Habs-
Trümmern die Tschechoslowakei              burger Staates zu unterstützen und
und Jugoslawien – beide mit einem          entsprechende Beschlüsse gefasst.
er­heb­lichen Anteil an ungarischem        4.) Und schließlich hatten sich die
Ge­biet und mit einer multinationalen      Siegermächte am Ende des Krieges in
Zu­ sammensetzung ihrer Bevölke-           ihrer Gesamtheit dazu verpflichtet,
rung – entstehen sollten.                  die Gründung der Tschechoslowakei
Kontrafaktisch argumentiert, hätte         und Jugoslawiens zu unterstützen.
die Krise Österreich-Ungarns auch          Aus diesen Ecksteinen wurden die
in eine Revolution und in eine radi-       Staatsgebilde gebaut, welche schließ-
kale institutionelle Veränderung der       lich die Habsburger Monarchie erset-
Staatsform (ähnlich wie in Deutsch-        zen sollten und die sich ebenfalls in
land) münden können. Der Habs-             den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts
burgische Staat brach aber vielmehr        in ihre ethnischen Komponenten auf-
deswegen auseinander, weil die             gelöst haben.
Alter­native zu seinem Weiterbe-
stehen schon als gangbare Präfigu-
ration bereitstand. Um nur an die
wichtigsten Vorentscheidungen zu
erinnern: 1.) Serbien hatte sich im Juli
1917 mit der Deklaration von Korfu
auf die Integration der südslawi-
schen Gebiete der Habsburger Mon-
archie in den eigenen Staat festgelegt.
2.) Die tschechoslowakische Legion
wurde allmählich als selbstständige,
mitkämpfende Armee auf der Seite
der Entente anerkannt. 3.) Auf dem
in Rom im April 1918 eindrucksvoll

                            ÖAW                                                                13
MARINA CATTARUZZA

      AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE

      Luigi Albertini, Venti anni di vita politica. Zweiter Teil: L’Italia nella guerra
      mondiale, 3 Bde., Bd. 3: Da Caporetto a Vittorio Veneto (ottobre 1917–novembre
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       Kenneth J. Calder, Britain and the Origins of the New Europe 1914–1918,
      ­Cambridge 1976.
      Marina Cattaruzza, Italy and Its Eastern Border, London/New York 2016.
      Marina Cattaruzza, L’Italia e la questione adriatica. Dibattiti parlamentari e
      ­panorama internazionale (1918–1926), Bologna 2014.
      Gary B. Cohen, Our Laws, Our Taxes, and Our Administration. Citizenship in
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      Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian and Ottoman
      ­Borderlands, Bloomington/Indianapolis 2013, 103–121.
      Maureen Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire: Total War and
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      Pieter M. Judson, „Where our commonality is necessary …” – Rethinking
      the End of the Habsburg Monarchy (Thirty-Second Annual Robert A. Kann
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      Manfred Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburger­
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      Henry Wickham Steed, Through Thirty Years. 1892–1922. A Personal Narrative,
      New York 1925.
      Leo Valiani, La dissoluzione dell’Austria Ungheria, Milano 1966.

ÖAW                                                                                  14
MARINA CATTARUZZA

      MARINA CATTARUZZA

      Derzeitige Position

        – em. o. Professorin für Allgemeine Neueste Geschichte an der Universität Bern

      Arbeitsschwerpunkte
        – Nationalismusforschung im europäischen Vergleich
        – Geschichte der Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert
        – Geschichte des Faschismus und des Nationalsozialismus, Totalitarismusforschung
          und politische Religionen
        – Geschichte des Holocausts
        – Geschichte Italiens im 19., 20. und 21. Jahrhundert
        – Fragen zur Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie des 20. Jahrhunderts
        – Neueste Veröffentlichung: Italy and Its Eastern Border, London/New York 2016
          (­paperback Ausgabe 2018)

      Ausbildung
        1986        Habilitation in Neuerer und Neuester Geschichte an der Polytechnischen
                    Hochschule Darmstadt
        1974        Promotion an der Philosophischen Fakultät der Universität Triest

      Werdegang
        Seit 2012   Korrespondierendes Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der
                    ÖAW
        2006–2011   Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Zentrums Historische Neuzeit-
                    forschung der ÖAW
        1999–2014   Ordinariat für Neueste Geschichte an der Universität Bern
        1991–1998   Dozentin für Deutsche Geschichte und Geschichte der Geschichtsschrei-
                    bung am Historischen Institut der Universität Triest
        1984–1991   Forschungsstelle mit fester Anstellung an der Universität Triest
        1982–1984   Assistentin in Neuester Geschichte an der Polytechnischen Hochschule
                    Darmstadt

        Weitere Informationen zur Autorin sowie zur Liste der Veröffentlichungen finden Sie
        unter:
        http://www.hist.unibe.ch/ueber_uns/personen/cattaruzza_marina/index_ger.html

ÖAW                                                                                      15
MARINA CATTARUZZA

ÖAW                       16
WŁODZIMIERZ BORODZIEJ

DIE POLNISCHE
SCHEIDUNG VON UND MIT
DER MONARCHIE 1918*
WŁODZIMIERZ BORODZIEJ

Als ich das erste Mal in diesem Saal                 Saal wissen, es gibt keine perfekten     handelt, das in Universitätsstädten
war – natürlich als Zuhörer – hätte                  Ehen, lediglich gute und schlechte.      sehr viel verbreiteter ist als in Arbei-
ich mir nie gedacht, dass ich irgend-                Die polnisch-habsburgische war seit      tervierteln, und auf dem Land tut
wann, 2018, auch hier zu dieser illust-              1867 eine gute, und deswegen ­konnte     sich da nicht viel. Genauso ist es im
ren Gesellschaft in diesem ziemlich                  sie auch nicht an einem Grund schei-     habsburgischen Teil Polens. Natür­lich
einmaligen Gebäude sprechen darf.                    tern, sondern es musste sich um          werden Messen zelebriert. Die Unter-
Zweitens, ich habe Herrn ­     Suppan                ­einen Prozess handeln. Und die vier-    stützung für den Kaiser und das Kai-
schon begrüßt, Herrn ­Schmitt, aber                   te Vorbemerkung: Ich habe versucht,     serreich wird öffentlich demonstriert.
Herrn Gerald Stourzh, den ich wohl                    diese Stadien und Ursachen in zwölf     Aber diese polnische Variante der
meinen väterlichen Freund nennen                      Thesen zu fassen, die ich hoffe, in     Kriegsbegeisterung trägt seltsame
darf, werde ich doch bei dieser Ge-                   zwanzig Minuten unter­   bringen zu     Züge, die man am besten am Bei-
legenheit ganz besonders herzlich                     können. Herr Schmitt, sagen Sie mir     spiel von Lemberg, der Hauptstadt
begrüßen. Dritte Vorbemerkung: Im                     bitte, wenn die neunzehnte Minute       des öster­   reichischen Teilungsgebiets
Titel meines Vortrags ist ja von Schei-               angebrochen ist.                        ­Galizien, zeigen kann.
dung die Rede, und wir alle in diesem                 These 1: Der Juli 1914 und die soge-     Erstens: Die Nationalitäten sind für
                                                      nannte Kriegsbegeisterung – ­  daran     den Krieg begeistert und ­        extrem
                                                      haben wir alle lange geglaubt. Die       ­loyal – jede für sich. Die Polen in i­ hrer
*   Stilistisch leicht überarbeitete Transkription    Untersuchungen der letzten 20,            Kathedrale, die Ukrainer in i­hrer
    eines am 26. Juni 2018 für die Gesamtsitzung
    der Österreichischen Akademie der Wissen-
                                                      30 Jahre zeigen, dass es sich erstens     Sankt-Georgs-Kathedrale, die Arme-
    schaften frei gehaltenen Vortrags.                um ein großstädtisches Phänomen           nier, die Juden, alle d  ­ emonstrieren

                                   ÖAW                                                                                                  17
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ihre Loyalität gegenüber der Habs-         ­ arauf folgt eine furchtbar blutige
                                           D                                         haben zwei Bücher über den Ersten
burger Monarchie – getrennt.               Schlachten­reihe in den Karpaten, die     Weltkrieg und seine Folgen geschrie-
Zweitens: Das Besondere am polni­          den ganzen Winter dauert und die in       ben, bereiten jetzt noch ein drittes vor.
schen Fall. In Warschau passiert genau     der heutigen Erinnerung völlig ver-       Was sich ab Sommer 1915 abspielt –
dasselbe. Die polnischen Katho­liken       drängt wird. Alleine in der k. u. k.      nach der Schlacht bei Gorlice und der
zeigen sich extrem ­   loyal gegenüber     Armee sind das 800.000 Menschen,          Rückgewinnung von Lemberg – be-
dem Zaren. Die ­    Warschauer Juden       die ausfallen, und die wenigsten da-      schreiben wir ironisch mit dem Stich-
genauso. Von den R  ­ ussen, von d
                                 ­ enen    von fallen im Kampf. Die meisten          wort „Die Rückkehr des Vaters“.
es gar nicht so viele in Warschau gibt,    erfrieren, sie sterben an Krankheiten     Das ist ein polnisches Idiom: Der
ganz zu schweigen. Also, eine dop-         usw. – ein Blutbad sondergleichen.        Vater kehrt aus irgendwelchen pre-
pelte Separation der Loyalität und         Das zeigt allen, die es wissen wol-       kären Verhältnissen zurück und die
Kriegsbegeisterung. Ein weiteres           len: Die Armee dieses Großstaates ist     Familie ist wieder komplett. Nichts
Element dieser angeblichen Kriegs-         nicht wirklich kriegstauglich.            dergleichen. Die k. u. k. Soldaten,
begeisterung ist, dass im polnischen       Drittens kommt die Wende an der           und am meisten fürchtet man sich
Fall auf keinen Fall ein Nationalstaat     Ostfront im Mai 1915 mit der Schlacht     vor den Honvéds („Die schlimmsten
angestrebt wird. Niemand kann sich         von Gorlice, an die man schon eher        Bestien sind die Honweden“ heißt
                                                                                     ­
vorstellen, dass es einen Krieg geben      ab und zu zurückdenkt. Da wieder-         es in einem zeitgenössischen Be-
wird, in dem alle drei Teilungsmäch-       um zeigt sich: Entscheidend ist der       richt; im Zweiten Weltkrieg werden
te auf einmal verlieren. Das gibt es in    deutsche Anteil. Diese Armee wird         sie ein völlig anderes Image haben,
der Kriegsgeschichte nicht. Normaler­      von August von Mackensen, einem           ebenso wie die Österreicher), aber
weise hat am Ende der eine gewon-          preußischen General, in den Kampf         auch die Regimente aus den Alpen
nen, der andere verloren. Hier verlie-     geführt – extrem effektiv. Das ist        und Donauländern verhalten sich
ren am Ende alle drei.                     die erfolgreichste Schlacht der Mit-      keineswegs besser als die russischen
These 2: Die Entfremdung von der           telmächte im Osten. Sie verschiebt        Besatzer. Sie hängen jeden auf, der
Monarchie beginnt mit den Nie-             die Ostfront um Hunderte von Kilo­        irgendwie verdächtig erscheint. Als
derlagen der Armee der Habsbur-            metern. Es waren nicht die Öster-         dann der Wiener Reichsrat im Früh-
ger – hauptsächlich in Galizien im         reicher, obwohl sie den Großteil der      jahr 1917 wieder einberufen wird,
Herbst 1914. Die stürzen ja förmlich       Streitkräfte gestellt haben, sondern es   entsteht eine seltsame Koalition von
von ­einer Niederlage in die ­andere.      war der preußische Anteil an dieser       Abgeordneten aus Galizien – Polen
Sie verlieren ganz Ost­        galizien.   Offensive, der sie zu einem solchen       und Ukrainer, die normalerweise
Im Dezember stehen die Russen              Erfolg gemacht hat.                       getrennte Wege gehen – und süd­
12 Kilo­meter vom Krakauer Markt-          Viertens: Was passiert nachher? Ost-      slawischen und jüdischen Abgeord-
platz entfernt. Sie schaffen es dann       galizien wird vom russischen Okku-        neten. Sie klagen die k. u. k. Armee
nicht mehr, Krakau einzunehmen.            panten befreit. Maciej Górny und ich      der schlimmsten Verbrechen an. Es

                            ÖAW                                                                                            18
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ist die Rede von dreißigtausend toten       tiven; alles bedeutungslos, da sie von    kämpfen eben als Freiwillige für
Zivilisten in Folge der Rückkehr der        der politischen Entwicklung – Streiks,    ein unabhängiges ­    Polen, nicht als
k. u. k. Armee in ihr eigenes Staatsge-     Frustration, Hunger, Angst vor einer      wehrpflichtige Untertanen dieses
biet. Das scheint nun reichlich über-       bolschewistischen Revolu­tion an der      oder jenes Kaisers. Diese zahlen-
trieben. Ein österreichischer Kollege,      Weichsel – gewissermaßen überrollt        mäßig kleine Streitmacht soll für
Hannes Leidinger, hat das sorgfältig        werden. Wichtig ist eigentlich ein        einen deutschen Vasallenstaat an der
untersucht, und meint, sicher seien         Mann, der zu Beginn durchaus auf          Weichsel kämpfen und fallen? Nein!
622 Fälle von Exekution, bei denen          die Karte der Mittelmächte setzt:         Piłsudski provoziert eine Krise, lässt
die strafrechtliche Grundlage mehr          der ehemalige ­  Sozialist und politi-    sich von den Deutschen internieren
als fraglich scheint. Aber was sich         sche Terrorist Józef Piłsudski. Über      und verbringt die Zeit zwischen Juli
einprägt ist ja nicht, ob es 30.000 oder    die entscheidenden Tage im Novem-         1917 und November 1918 in einem
60.000 waren, sondern das Bild, dass        ber 1918 wird er das führende Wort        Holzhaus innerhalb der Festung
die eigene Armee, die zurückkehrt,         ­halten.                                   in Magdeburg – als „Internierter“,
keineswegs besser ist als der russi-        Den Deutschen schwebt anstelle            denn sein Status bleibt ungeklärt. Er
sche Okkupant, der sich in Ostgali-         des ehemals sogenannten Russisch-­        wird nie angeklagt. Dafür ist Berlin
zien relativ zivilisiert benommen hat.      Polens ein deutscher Vasallenstaat        zu klug. Mit der Magdeburger Haft
Fünftens kommt die Dauer des Krie-          vor, mit einem Hohenzollern als           wird Piłsudski – bisher ein Held
ges hinzu. Es ist etwas anderes, wenn       polnischem König oder etwas in der        vor allem der Linken – zu einem
die Polen in k. u. k. Uniform Ostgali-      Art. Der deutsche Exportschlager des      Märtyrer. Nicht nur hat er die pol-
zien befreien. Ist ja ihre Heimat. Aber     19. Jahrhunderts ist ja die Aristokra-    nischen Freiwilligen geführt, jetzt
wenn sie dann zwei Jahre lang am            tie, vom Norden bis zum Süden Eu-         wird er auch von den Mittelmächten
Isonzo bluten – what for? Und diese         ropas. Und Piłsudski, der zwischen        dafür „bestraft“. Zu diesem Kontext
Frage stellt man sich in Polen immer        Sommer 1914 und Sommer 1917 zu            gehört auch, dass Wien und Berlin
öfter.                                      einer legendären Gestalt geworden         sich nicht über die Zukunft Polens
These 6: Ich erspare Ihnen all die          ist, sagt sich dann: Ich bin faktischer   ­einigen können. Gehen wir einmal
wechselnden politischen Konstella-          Befehlshaber der polnischen Legio-         von der Annahme aus, der Krieg
tionen, vertraulichen Gespräche, die        nen, also der Freiwilligeneinheiten.       ­endet mit deren Sieg; nach den Frie-
gesamte Geheimdiplomatie wie die            Das entspricht insgesamt gerech-            densschlüssen von Brest- Litovsk
programmatischen Erklärungen, die           net der Stärke von drei Divisionen,         (auf die ich noch in einem anderen
spätestens 1918 zu Makulatur wer-           die nie alle gleichzeitig an der Front      Kontext zurückkommen werde) ist
den. Die polnischen Politiker hier in       sind: Tausende fallen oder geraten          das keine abstrakte Vorstellung. Was
Wien schließen sich zu einem über-          in Gefangenschaft, viele sind in der        dann? Die polnisch-österreichische
parteilichen Komitee zusammen, von          Ausbildung, krank oder verwun-              Variante eines Sieges im Osten ist ja
den Sozialisten bis zu den Konserva-        det, aber 40.000 bis 50.000 Männer          die Idee des sogenannten Trialismus,

                            ÖAW                                                                                            19
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d. h. das ehemalige Russisch-Polen        gerade in diesem Saal keine Eulen          viel sie von der Zentralregierung in
plus Galizien als dritter Bestandteil     nach Athen tragen. Aber möglich­           Wien bekommen und was sie daraus
der Monarchie. Daraufhin sagen die        weise ist nicht allen geläufig, wel-       tatsächlich für die Flüchtlinge ausge-
Ungarn: Nicht mit uns! Und Berlin         ches Bild die Habsburger Monarchie         ben, und den Wienern, aber auch den
hält von dieser Idee ebenso wenig. Die    während des Großen Krieges bietet.         Bewohnern Prags und anderer Orte,
endlosen diplomatischen Gespräche         Es gibt im Frühjahr 1917 Massen-           die sagen: Wir brauchen keine Flücht-
über die sogenannte polnische Frage       streiks in der böhmischen Industrie.       linge; was sollen diese Ost­juden bei
erspare ich Ihnen ebenfalls, jedenfalls   Die „Rädelsführer“ werden drako-           uns? Der Staat verwaltet das ja be-
gehört diese Uneinigkeit der beiden       nisch bestraft, aber bereits im Juli       kanntermaßen, in diesem Fall, natio­
Mittelmächte auch zu den Ursachen         amnestiert, weil man in Wien merkt:        nal. Das heißt, er schiebt die Kom-
der Scheidung. Und dann ein gewis-        Ohne die Arbeiterschaft kann man           petenz auf die Selbstverwaltung ab.
ser Roman Dmowski , der Begründer         den Krieg nicht führen. Man muss           Die Selbstverwaltung ist mehr oder
der modernen polnischen Rechten. Er       sich auch mit offensichtlich wider­        minder ethnisch strukturiert, d. h.
ist alles andere als ein Konservativer.   spenstigen Arbeitnehmern irgendwie         die Polen helfen den Polen, die Juden
Dmowski definiert das Wesen des           einigen. Nun, wenn ein Staat zuerst        den Juden usw. Es zeigt sich also eine
modernen Polentums (dieser Begriff        drakonisch vorgeht und dann nach-          Fragmentierung des Staates, bei der
wäre ihm wesentlich lieber gewesen        gibt, ist das ein Zeichen seiner Schwä-    für alle ziemlich offensichtlich wird,
als die heute häufig verwendete           che. Hinzu kommt ein Problem, das          dass man auf die Zentralgewalt nicht
„­Polonität“) gewissermaßen darwi-        aus dem österreichischen und polni-        mehr vertrauen kann.
nistisch, vor allem über Antisemi-        schen (am wenigsten aus dem jüdi-          Punkt 8: Die Krise von Anfang 1918.
tismus und Antigermanismus. Er            schen) Gedächtnis ausgeblendet ist:        Auch an dieser Stelle will ich keine
verfolgt von Anfang an ein defini-        Die Frage der Flüchtlinge, die 1914        Eulen nach Athen tragen. Wir haben
tiv anderes Konzept als Piłsudski.        aus Angst vor den Russen aus Ost-          es mit einem Zusammenbruch der
Nämlich, dass die Entente gewinnen        galizien fliehen. Nach offiziellen         gesamten k. u. k. Industrie zu tun:
wird. Seit 1915 ist er in Washington,     Statistiken sind es knapp 400.000,
                                          ­                                          Die erste große Streikwelle in Un-
in ­London, in Paris pausenlos unter-     aber wahrscheinlich waren es etwa          garn; in den böhmischen Ländern,
wegs und überredet nach und nach          eine halbe Million Menschen, die           in Wien – überall dasselbe Bild von
die Politiker in den Hauptstädten,        hauptsächlich in Cisleithanien, ­unter     Massenstreiks, regelrechten Hunger-
dass sie sich der polnischen Sache        anderem in Wien, untergebracht wur-        revolten. Man sieht, dieser Staat ist
ähnlich annehmen wie der jugosla-         den. Die Mittel werden mit jedem           am Ende. Er kann das Elend nicht
wischen und später der tschecho­          Monat knapper. So wachsen naturge-         mehr verwalten.
slowakischen.                             mäß die ohnehin enormen Spannun-           Es gibt ein wunderbares Buch des
Der siebente Punkt ist die offenbare      gen zwischen den Flüchtlingen, die         jungen tschechischen Historikers
                                                                                     ­
Schwächung der Monarchie. Ich will        ihren Gastgebern vorrechnen, wie
                                          ­                                         ­Rudolf Kučera darüber, wie sich das

                           ÖAW                                                                                          20
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in Böhmen und Mähren abspielt.            des Massenstreiks im Januar 1918 hat       dass man z. B. eine polnische Provinz
In ­  Polen haben wir dem wenig           der österreichische Außenminister          an die Ukraine abtreten kann (oder
Vergleichbares       entgegenzusetzen.    Ottokar Graf von Czernin die Angst-        auch nicht), dann ist mit euch nichts
­Galizien war auch nicht ansatz­weise     vorstellung vor den Augen, dass sein       mehr zu machen. Der führende pol-
 so industrialisiert wie Böhmen und       Land, wenn es kein Brot bekommt,           nische Sozialist am Wiener Ring,
 Mähren. Aber in zwei Punkten sind        nicht mehr Krieg führen kann. Den          ­Ignacy Daszyński (der Schöne ­Ignaz,
 die Fälle gut vergleichbar. Das ist      Deutschen ist es ziemlich egal, was er      wie er in seiner Heimat ironisch
 erstens der Anteil der Frauen. Da die    in Einzelfragen beschließt; auch sie        apostrophiert wird), prägt damals
 Männer an der Front sind, werden         wollen Brot. Czernin verspricht den         den Satz, am 9. Februar 1918 sei
 die Frauen plötzlich und massen-         Ukrainern alles Mögliche, darunter          der Stern der Habsburger am pol-
 haft berufs­tätig. Das gilt sowohl für   einige Landkreise im damaligen Zen-         nischen Himmel erloschen. Damit
 Böhmen und Mähren wie auch für           tralpolen, welche sie schon immer           ist die Scheidung eingeleitet, und
 Galizien. Und zweitens selbstver-        beansprucht haben. Geographisch             keine Rela­tivierung der Vertragsbe-
 ständlich der Einfluss der Russischen    gesehen ist es eher lächerlich – es gibt    stimmungen von Brest-Litovsk von
 Revolutionen. Im ersten Halbjahr         nicht einmal Ansätze einer ukraini-         Seiten des Wiener Ballhausplatzes
 1918 fangen die Kriegsgefangenen         schen Verwaltung dieses Landesteils         kann helfen. Das Wichtigste ist, dass
 an, zurückzukommen, einige als           – politisch der Kollaps der habs-           sich in diesem Augenblick der soziale
 ­extreme Gegner des Bolschewismus;       burgisch-polnischen Idee. Anders            Protest, den ich soeben angesprochen
  andere überzeugt, das sei eigent-       formuliert, handelt es sich um den          habe, mit dem nationalen zu verbin-
  lich der einzige Ausweg, um dem         Zeitpunkt, zu dem die Scheidungs-           den beginnt. Die folgenden Streiks
  Massensterben ein Ende zu berei-        papiere eingereicht werden. Die Ab-         sind ganz unterschiedlicher Natur
  ten. Stimmungen, die keineswegs         tretung des sogenannten Cholmer             – auf die Details kann ich innerhalb
  zur Beruhigung der Lage innerhalb       Landes an eine nicht vorhandene             dieser 20 Minuten nicht eingehen,
  der hier skizzierten Ehebeziehung       Ukraine zeitigt tödliche Folgen. Die        aber es ist der Protest keineswegs
  beitragen. Dann gibt es den verges-     polnischen Honoratioren schicken            nur der Arbeiterschaft – verbunden
  senen Brotfrieden von Brest. Die        massenhaft ihre Orden nach Wien             mit der Forderung nach einem un-
  meisten denken bei diesem Begriff       zurück oder lassen ihre Hunde diese         abhängigen Polen, von Monat zu
  an den Vertrag, den die Mittel­mächte   als neues Halsband tragen. Die pol-         Monat mehr. Wir haben es mit einer
  mit dem Sowjet-Bolschewistischen        nischen Beamten treten in Streik. Die       Scheidung zu tun, die noch nicht
  Russland geschlossen haben. Aber        Arbeiterschaft ohnehin. Sie verwei-         rechtskräftig ist, de facto aber bereits
  einen Monat früher schließen sie        gern der Monarchie den Gehorsam.            im Februar 1918 vollzogen wurde.
  ja einen Frieden mit einer fiktiven     Der Grundtenor: Wenn ihr mit uns            Nun zu den letzten drei Punkten,
  ukraini­
         schen Volksrepublik, die es      nach dem Prinzip des Länderscha-            d. h. dem Epilog. Anfang November
  gar nicht gibt. Vor dem Hintergrund     chers im 18. Jahrhundert umgeht, so-        1918 brechen in Lemberg Kämpfe

                           ÖAW                                                                                              21
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zwischen polnischen und ukraini-         i­nteressieren sich auch gar nicht für-      Schließen will ich dann mit einem
schen Freiwilligen aus. Ich erspare       einander. Übrigens eine G   ­ eschichte,    Zitat eines hoch interessanten pol-
Ihnen die Geschichte, wie es dazu         die ihre Fortsetzung im Kalten Krieg        nischen Historikers. Er stammte aus
gekommen ist. Am Ende siegen die          hat. Ich habe ja meine Matura 300 Me-       einem polnisch-jüdisch-ukrainischen
Polen. Das Interessante ist die Re-       ter von hier absolviert, 1975 an der        Kontext. Die Familiengeschichte ist
zeption dieser Kämpfe in Lemberg          Stubenbastei. Wenn überhaupt von            zu komplex, als dass ich sie hier er-
in der polnischen Öffentlichkeit. Die     Polen die Rede war, dann sprachen           klären könnte. Auf jeden Fall war
Österreicher und die Deutschen wer-       meine österreichischen Mitschüler           er der prominenteste Kenner der
den angeklagt, die Entstehung eines       davon, sie würden „runterfahren“            Habsburger Monarchie in Polen
unabhängigen Polens verhindern zu         nach Krakau. Diese Entfremdung be-          nach 1945 und schrieb etwa 1980
wollen. Der von Timothy Snyder por-       ginnt 1918.                                 (der Text w  ­ urde erst in der Zeit der
trätierte Wilhelm von Habsburg, der       Der letzte Punkt. Der Mythos ­Galizien      „­Solidarność“ 1981 veröffentlicht)
ukrainischer König werden wollte          hält sich auf polnischer ­Seite trotz der   ­einen Essay über eine Feier, die 1910
oder sollte, ist emblematisch für die-    Scheidung gut. Soll es ja ­geben nach        in ­ Krakau stattgefunden hatte. Ge­
sen Verdacht: Eine deutschsprachige       gelungenen Ehen, dass man sie trotz          feiert wurde ein älterer polnischer
Verschwörung im Dienste der Ukrai-        der Scheidungsumstände bereits mit-          Sozialist. Die jüngeren Linken,
                                                                                       ­
ner, um die Entstehung eines polni-       telfristig in guter Erinnerung behält.       darunter Henryk Wereszycki, von
                                                                                       ­
schen Staates zu behindern bzw. zu        Der Vollzug der Scheidung ändert             dem ich jetzt spreche, wünschten
verhindern.                               nichts an einem insgesamt positiven          dem Granden die Rückkehr in ein
Als nächstes Element des Epilogs          Bild der M­ onarchie, und zwar bis ins       ­freies Warschau. Wereszycki schrieb
kommt ein völkerrechtlich zivili-         21. Jahrhundert. Wenn in Polen vom            70 ­Jahre später resigniert: Wenn man
sierter Vollzug der Scheidung. Die        „Kaiser“ die Rede ist, sind ­      weder      1930 auf dem Krakauer Marktplatz
bilateralen Verhandlungen zwischen        ­Alexander III noch Nikolaus II, ­weder       gestanden ist, gab es weniger Frei-
der Republik Polen und Deutsch-­           Wilhelm I noch Wilhelm II gemeint,           heit als 1910. Was er nicht schreiben
Österreich, später Österreich, ver-        sondern immer Franz Josef. Er war            ­durfte – denn das hätte die Zensur
laufen eigentlich ziemlich reibungs-       der einzige Kaiser. Das schlägt sich          selbst 1981 nicht durchgelassen:
los. Es gibt eine ganze Reihe von          nach 1989 selbst in der Werbung               Wenn man auf dem Krakauer Markt-
finan­ziellen Verpflichtungen, wie         nieder: Martin Pollacks Bild von              platz 1950 gestanden wäre, oder auch
viel P­ olen davon übernehmen soll,        Galizien als Land des Elends, Aus-            1970, da hätte es diese Freiheit noch
wie viele Archivalien aus Wien nach        tragungsort gewaltiger sozialer und           sehr viel weniger gegeben.
Lemberg gehören, die Frage der Ren-        ethnischer Konflikte kommt nicht
ten und Ähnliches. Aber insgesamt          vor, ein k. u. k. Arkadien hingegen
sind sich Wien und Warschau inzwi-         durchaus.
schen völlig fremd geworden, sie

                         ÖAW                                                                                               22
WŁODZIMIERZ BORODZIEJ

      WŁODZIMIERZ BORODZIEJ

      Derzeitige Position

        – Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau

      Arbeitsschwerpunkt

        – Polnische und europäische Geschichte im 20. Jahrhundert – u. a. der beiden Welt­
          kriege, der Volksrepublik Polen und der internationalen Beziehungen im 20. Jahr-
          hundert.

      Ausbildung

        1991        Habilitation an der Universität Warschau
        1984        Promotion zum Dr. phil. an der Universität Warschau
        1975–1979   Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Warschau

      Werdegang

        2017        Dr. h.c. der Friedrich-Schiller Universität Jena
        Seit 2016   Korrespondierendes Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der
                    ÖAW
        Seit 2016   Ordentliches Mitglied der Geisteswissenschaftlichen Klasse der Berlin-
                    Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
        2016        Dr. h.c. der Friedrich-Schiller Universität Jena
        2010–2016   Co-Direktor des Imre Kertész Kollegs an der FSU Jena. Eastern Europe in
                    the Twentieth Century: Comparative Historical Experience
        1999–2002   Prorektor der Universität Warschau
        1997–2007   Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission
        Seit 1996   Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau
        1992–1994   Generaldirektor in der Sejmkanzlei der Republik Polen

        Weitere Informationen zum Autor finden Sie unter:
        http://www.bbaw.de/MitgliederCV/Borodziej.pdf

ÖAW                                                                                      23
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