Dr. Reinhold Bianchi, Freiburg : Was macht die Globalisierung mit uns?

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Dr. Reinhold Bianchi, Freiburg : Was macht die Globalisierung mit uns?

Vortrag im Rahmen der Tagung „Solidarität – die andere Globalisierung“ an der Ev. Akademie
Meißen vom 23. bis 25. März 2007

Mitautor von „Solidarisch Mensch werden“
(Duchrow, Bianchi, Krüger, Petracca)

Der amerikanische Sozialwissenschaftler Jeremy Rifkin spricht von einer „unheimlichen ökonomischen
Krankheit“, die unsere Gesellschaften befallen habe, Oskar Negt spricht von einer „Erosionskrise unserer Ge-
samtgesellschaft, in der kein Stein mehr auf dem anderen bleibe“. Wir alle kennen die Symptome dieser Krise
mehr oder weniger- die enorme Vertiefung der sozialen Spaltung,- weltweit, so besitzen die 250 reichsten Per-
sonen etwa ein so großes Vermögen wie das Bruttosozialprodukt der ärmeren Hälfte der Welt, so sterben stän-
dig etwa 100 000 Menschen täglich ! an den Folgen von Unterernährung, aber angesichts der produktiven
Möglichkeiten unserer Weltwirtschaft ist, wie Jean Ziegler sagt, jeder, der verhungert, eigentlich ermordet
worden. Bei uns erzielen einerseits Großkonzerne exorbitante Gewinnsprünge - die Deutsche Bank übertraf
das ihr von ihrem Chef Josef Ackermann gesteckte Ziel einer Kapitalrendite von 25% !, gleichzeitig setzt sie
ihren Kurs der Arbeitsplatzvernichtung ungerührt fort- bei uns in Deutschl. ist Hartz 4 zum Stichwort für Ver-
armung und soziale Ausgrenzung geworden und für die Absturzangst, die die Mittelschicht zunehmend er-
greift.
Diese Stichworte- und sie ließen sich mühelos vermehren- kennzeichnen die Auswirkungen der Globalisie-
rung; aber dieses Stichwort bedarf der Präzisierung; Globalisierung an sich, die fortschreitende weltweite Ver-
netzung bildet an sich eine konstruktive Entwicklung, die die Menschen einander näher bringen und Kommu-
nikation und Kooperation ausdehnen kann. Nicht diese Globalisierung ist die Ursache der unheilvollen Prozes-
se, sondern ihre Gestalt als neoliberale Globalisierung, ihre Prägung durch die neoliberalen Eliten und das
neoliberalen Programm in Ökonomie und Politik. Daher werde ich im folgenden in der Regel den Begriff des
Neoliberalismus als den politisch eindeutigeren für den Zusammenhang der neoliberalen Globalisierung ver-
wenden. In unserem Buch „ Solidarisch Mensch werden- psychische und soziale Destruktion im Neoliberalis-
mus und Wege zu seiner Überwindung“ haben meine befreiungstheologischen Freunde U. Duchrow, R. Krü-
ger , V. Petracca und ich als Psychoanalytiker den psychisch und sozial traumatisierenden Charakter der neo-
liberalen Globalisierung mit ihrem Kern des neoliberalen Reformprozesses untersucht. Ich möchte auf dieser
Grundlage hier einige grundlegende Aspekte der psychischen und sozialen Traumatisierungswirkung des Neo-
liberalismus in Ökonomie, Politik und Medien erörtern .
Meine Ausführungen gliedern sich in folgende Punkte:
     1. Kurze Skizze von Grundgedanken der Relationalen Psychoanalyse;
     2. Stichworte zum neoliberalen Reformprozeß;
     3. Neoliberale Traumatisierungsprozesse:
             • Massenarbeitslosigkeit als individuelles und soziales Trauma, v.a. Viktimisierung
                 und Opfer-Bestrafung;
             • „Pensée unique“ und das Bündnis von Politik und Medien zur Desorientierung der
                 Bevölkerung;
             • Absturzangst der Mittelschicht;
    4. Neoliberale Eliten und ihr pathologischer Narzißmus
    5. Zum Schluß möchte ich auf solidarische Gegenperspektiven eingehen – quasi als Umkehr der Aus-
          gangsfrage, nämlich nun „Was können wir mit der neoliberalen Globalsierung machen ?“ und der
          zentralen Antwort: Starve the cancer- nurture life !

Unser Ansatz ist durch die zentrale Bedeutung von Relationalität geprägt, d.h. von dem grundlegenden Ver-
ständnis des Menschen als Beziehungswesen, und durch die Bemühung, durch Relationales Denken und Ver-
stehen diese Bezogenheit des Menschen in seinen psychischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen an-
gemessen zu begreifen.

1) Stichworte zur Relationalen Psychoanalyse.
2

Die Relationale oder Intersubjektive Psychoanalyse ist eine wichtige Strömung der zeitgenössischen Psycho-
analyse, die sich auf die Erkenntnisse der primären Intersubjektivität der psychischen Entwicklung gründet-
von dem englischen Psychoanalytiker Winnicott stammt das ingeniöse Diktum „there is no such thing as a
baby“- so etwas wie ein Baby gibt es gar nicht, es gibt zunächst nur die Mutter-Baby-Einheit. Den Bezie-
hungspersonen der psychischen Frühzeit kommt eine basale psychische Funktion zu, vom deutsch-amerik.
Psychoanalytiker Kohut die Selbstobjektfunktion genannt, d.h. sie tragen konstitutiv zur Strukturbildung des
Selbst bei, und ihr Versagen führt zur Fragmentierung des Selbst durch die Beschädigung und den Verlust
seiner Kohärenz. Die früheste intersubjektive Situation des Säuglings ist durch seine umfassende Abhängigkeit
bestimmt- so wie er vom Saugen an der Mutterbrust abhängig ist, so versucht er auch psychisch durch Einsau-
gen, durch primäre Verinnerlichung sein spannungsvolles Erleben von Frustration und Abweisung durch die
frühesten Beziehungspersonen zu verarbeiten. Dies geschieht in dieser frühen Entwicklungsphase zentral
durch Verinnerlichung und Spaltung- insbes. der schottische Psychoanalytiker Fairbairn hat herausgearbeitet,
wie sehr das werdende Selbst gerade die aggressiven und ängstigenden Anteile der Beziehungspersonen ein-
saugt, in der bewußtlosen Orientierung auf Sicherung der überlebenswichtigen Realbeziehung zu den frühen
Beziehungspersonen, die das Kind als gut zu erleben bestrebt ist. Eine Formulierung Fairbairns besagt, daß das
Kind lieber ein Teufel in einer Welt von Engeln sein will, als ein Engel in einer Welt von Teufeln. Dadurch
erhält die Innenwelt eine bedrohliche Schicht, in der sich frühe Ängste und Schuldgefühle lagern und insbe-
sondere auch eine Strömung pathologischer Idealisierung übermächtiger Beziehungspersonen durch das kleine
Kind. Fairbairn erkennt hier eine wichtige mikrotraumatische Strukturkomponente der psychischen Entwick-
lung, die durch belastende Erfahrungen im späteren Leben zu aktuell-bedrohlichen Traumata reaktiviert und
verstärkt werden kann. Diese Einsicht unterstreicht die psychische Bedeutsamkeit der intersubjektiven Kontex-
te auch im Leben des erwachsenen Individuums. Zur Sicherung einer reifen Identitätsstruktur bleiben wir auf
konstruktive innere und reale Basalbeziehungen angewiesen, die nun mikro-und makrostrukturelle Bezüge
umfassen: zu Schule, Beruf und Arbeitsplatz, eigener Familie, Freunden und Kollegen, auch zu religiösen und
politischen Institutionen. Dementsprechend besitzen konstruktive sozioökonomische Strukturen eine wichtige
Grundfunktion für die Sicherung eines ausreichend guten Selbstwert-und Identitätsgefüges- eine Grundfunkti-
on, die in ihrer Tiefe erst durch ihre Beschädigung durch eine destruktive oder traumatische Mutation der sozi-
alstrukturellen Verhältnisse deutlich wird.
Die intersubjektive Trauma-Konzeption geht von dieser basalen intersubjektiven Einbettung des Menschen aus
und sieht Traumatisierung als men made disaster durch den massiven Bruch zwischen Individuum und inter-
subjektiver Einbettung bestimmt, was eine „dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis be-
wirkt“.
Einige Konzepte und Ergebnisse der Psychotraumatologie ermöglichen ein differenzierteres Wahrnehmen
traumatischer Prozesse. Viktimisierung etwa bedeutet eine fundamentale Täter-Opferverkehrung; dies heißt,
dass ein Individuum in einer Opfer-Situation von übermächtigen Tätern Schuld zugewiesen erhält und die
Sichtweise des Täters auch selbst übernimmt –d.h.sich dann oft selbst beschuldigt und den Täter rechtfertigt.
Zur Übernahme der Täter-Opferverkehrung trägt wesentlich der Vorgang einer kognitiv-affektiven Verwir-
rung unter dem Druck traumatischer Gewalt- und Übermachterfahrung bei. Diese Konfusion können wir als
Desorientierungstraumatisierung begreifen; sie führt zur affektiv-kognitiven Bindung an die Deutungs-
schemata der Täter und trägt zu den schweren depressiven Verstimmungen und zu den Selbstbeschuldigungen
bei, unter denen Viktimisierungsopfer in der Regel leiden.
Insbesondere ergibt sich durch die Konzepte der Relationalen Psychoanalyse auch eine Klärung unseres kriti-
schen Maßstabs. Im Licht ihrer Erkenntnisse führt eine grundlegende Linie von der Notwendigkeit einer guten
frühen intersubjektiven Erfahrungswelt des Kindes für dessen persönliche Entwicklung zur Notwendigkeit
einer psychisch konstruktiven Gestaltung sozioökonomischer Großstrukturen für alle Gesellschaftsglieder. Die
Makrostrukturen müssen sich an den zentralen Lebensbedürfnissen und -rechten der Menschen – vor allem im
Blick auf Verwurzelung, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, Recht auf Arbeit und Bildung, demokratische
Mitbestimmung und Mitverantwortung – orientieren und damit die Grundlage für eine autonome Existenzges-
taltung und Lebensplanung für die Einzelnen und Familien bieten.

2. Stichworte zum Neoliberalismus.
Die Entwicklung unserer sozioökonomischen Verhältnisse wird seit über zwei Jahrzehnten in zunehmender
Härte durch destruktive Mutationsprozesse gekennzeichnet. Wir können diese Prozesse als Ablösung des euro-
päischen Sozialstaatsmodells, das die Jahrzehnte nach dem 2.Weltkrieg als konsensuelle ökonomisch-
politische Grundlage bestimmte, durch das neoliberale Modell begreifen.
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Im Sozialstaat erkämpften sich die Menschen in wichtigen Ansätzen eine psychosozial stabilisierende sozio-
ökonomische Makrostrukturen. Vollbeschäftigung, steigender Lebensstandard, die Errichtung von Strukturen
und Institutionen, die dem Solidaritätsprinzip und dem sozialen Ausgleich verpflichtet waren, entsprechen der
Ausdehnung des intersubjektiven Reifungsprinzips des Concern, d.h. einer Haltung authentischer Zuwendung
zum anderen, die hier auf die Ebene sozialstruktureller Regelungen gehoben wird.
Im Zuge der neoliberalen Wende wurde und wird die sozialstaatliche Einbindung des kapitalistischen Wirt-
schaftsgeschehens immer stärker und radikaler als Hemmnis der ungehinderten Entfaltung der Herrschaft des
sog. shareholder value angegriffen, d.h. der Orientierung am kurzfristigen Renditeziel und am Anstieg des
Börsenkurses. Durch die damit einhergehenden beschleunigten Rationalisierungs-und Innovationsprozesse
kommt es zu einer Entkoppelung von ökonomischem Erfolg und Beschäftigung- Stichwort jobless growth-
Wachstum ohne Arbeitsplätze. Massenarbeitslosigkeit wird hierbei- das zeigt die Erfahrung der letzten Jahr-
zehnte- nicht nur in Kauf genommen, sondern im Zuge permanenter Kostensenkungsstrategien durch Arbeits-
platzvernichtung gefördert.
Wenn wir Kriterien unseres oben angeführten auf die intersubjektive Psychoanalyse gegründeten kritischen
Maßstabs heranziehen, erkennen wir rasch, wie sehr die neoliberalen Prozesse bedeutende soziopsychische
Traumatisierungspotentiale enthalten und aktivieren. Sie sind zentral gegen wesentliche psychosoziale Bedürf-
nisse der Menschen gerichtet, v.a. das Bedürfnis nach sozialer Bindung und Zugehörigkeit, nach Leben und
Arbeiten in Würde, nach sozialer Gerechtigkeit und nach demokratischer Partizipation am sozialen Zusam-
menhang, nach Anerkennung und nach verläßlichen Planungshorizonten.

Die Arbeitslosigkeit als individuelle Traumatisierung
Am stärksten von der neoliberalen Traumatisierung betroffen sind die Opfer der Massenarbeitslosigkeit. Die
Etablierung der bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung implizierte auch die Durchsetzung der
Beruflichkeit der sozialen Identitätsbildung; dies bedeutet, daß die soziale Zugehörigkeit des Einzelnen als
vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wesentlich von seiner beruflichen Erwerbsarbeit abhängt, die nicht nur
durch materielles Einkommen die soziale Existenz sichert, sondern zugleich soziale Anerkennung und Würde
sowie ein sozial verankertes Identitätsgefühl vermittelt.
Die Traumatisierung durch unfreiwilligen Verlust der Erwerbsarbeit führt zu vielfältigen und desaströsen psy-
chischen Belastungen und Schädigungen; die Arbeitslosigkeitsforschung seit der Pionierstudie von Marie Ja-
hoda über den österreichischen Ort Marienthal in der Weltwirtschaftskrise hat dies in vielen Studien konkret
belegt.
Die psychotraumatischen Folgen des Arbeitsplatzverlustes vollziehen sich in einem typischen Prozeßverlauf:
Nach einer Anfangsphase der Erleichterung, die durch das Ende unerträglicher Ungewissheit und Angst ausge-
löst wird, kommt eine Phase von Auflehnung, Ohnmacht, Depression und Wut – die Umstände des Gesche-
hens werden immer wieder durchgespielt und dagegen protestiert; dann setzt sich depressives Ohnmachtserle-
ben durch mit Verzweiflung, Erschöpfung, Gefühlen von Erniedrigung und Wertlosigkeit, gefolgt schließlich
von der 4. und letzten Phase, dem Versinken in Apathie.
Die Beschreibungen des traumatischen Erlebens des Arbeitsplatzverlustes dokumentieren m.E. durch die deut-
liche Tiefe der psychischen Bedrohung, dass der dauerhafte Verlust des Arbeitsplatzes die Betroffenen einer
identitätsrelevanten konstruktiven Sozialbindung beraubt. Die Individuen werden durch Langzeitarbeitslosig-
keit einem massiven psychischen Haltverlust und drohender Persönlichkeitsfragmentierung ausgesetzt. Der
Dauerverlust des Arbeitsplatzes impliziert die tiefgreifende Beschädigung der konstruktiven vertrauensvollen
Sozialbindung und bedroht das Selbst mit fundamentaler Erschütterung und Fragmentierung , dem Verlust von
innerem Halt durch einen Bruch in seiner intersubjektiv gebildeten Struktur. Das Arbeitslosen-Selbst wird v.a.
von massiven Selbstzweifeln, Selbstwertverlust und Depression bedroht.
Die negativen internalisierten Erfahrungen der Frühphase, in der das werdende Selbst sich noch nicht abgren-
zen und wehren kann, werden im hilflosen Erleben der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der Erwerbstätigen
reaktiviert. Nicht umsonst ist eines der am schwersten zu ertragenden Gefühle der Arbeitslosen das, überflüs-
sig zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden und daran selber schuld zu sein: „Ich bin ein Versager, es muß
irgendwie an mir liegen, daß ich mit meinen Bewerbungen keinen Erfolg habe“, so ein arbeitsloser Pat. immer
wieder.
 Einige typische Zitate aus der Literatur können die psychische Leiderfahrung der Arbeitslos-Gemachten ver-
deutlichen; sie weisen m.E. deutlich auf den Aspekt der Bedrohung des Selbst durch den Verlust des Sozial-
bindungshaltes und des sozialen Grundvertrauens: eine 52-jährige ungelernte Arbeiterin: "Es ist hart, sich so
nutzlos zu fühlen. Ich fühle mich krank...Es gibt keine Hoffnung und keine Zukunft ... Ich könnte genauso gut
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tot sein."1 Weitere charakteristische Äußerungen von Betroffenen lauten etwa so: „ Was man verliert, die Ru-
he, die Sicherheit, das Ansehen, das Glück, ….“ Oder ein Anderer: „ Ich fühlte mich, als ob eine Bombe mich
getroffen hätte… habe keinen Platz mehr, wo ich hingehöre.“ (A. Wacker, Arbeitslosigkeit, Ffm 1977, S. 121)
die Erfahrung der Arbeitslosigkeit bedingt auch nach Finden einer neuen Stelle weiterwirkende Veränderung
so:“ Das Vertrauen ist weg, das ist meine neue Grundmentalität“ so eine früher arbeitslose Frau. (SZ Maga-
zin, 31.3.06)

4.Stichwort: Massenarbeitslosigkeit als indirekte oder soziale Traumatisierung
Von soziologischer Perspektive kommt Oskar Negt zu einer komprimierten Beschreibung der Gewalt der Ar-
beitslosigkeit:
 "Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt. Sie ist ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf
die Unversehrtheit der davon betroffenen Menschen. Sie ist ein Raub und Enteignung der Fähigkeiten und Ei-
genschaften, die innerhalb der Familie, der Schule und der Lehre ( ...) in einem mühsamen und aufwendigen
Bildungsprozess erworben wurden und die – von ihren gesellschaftlichen Betätigungsfeldern abgeschnitten in
Gefahr sind, zu verrotten und schwere Persönlichkeitsstörungen hervorzurufen"2.
Diese klare Bestimmung des Gewaltcharakters der Arbeitslosigkeit führt mit Notwendigkeit zur Einbeziehung
der ökonomisch-politischen Entscheidungsebene in das Feld der psychotraumatologischen Untersuchung der
Arbeitslosigkeit
Der angesprochene Wechsel in der ökonomischen und politischen Großwetterlage ist nicht naturgegeben oder
zufällig eingetreten, sondern wurde und wird durch die konzertierte Aktion der Eliten in Wirtschaft, Politik
und Medien als permanenter sog. Reformprozeß durchgesetzt . Die Dauermassenarbeitslosigkeit stellt ein ka-
tastrophales Symptom dafür dar, dass die neoliberale Wirtschaft nicht mehr für die sozioökonomische Kohäsi-
on, die soziale Inklusion aller zu sorgen bereit ist. Wie oben erwähnt, wird die Massenarbeitslosigkeit von den
neoliberalen Eliten stereotyp als Problem der individuellen Arbeitssuche der Arbeitslosen behandelt. Sie folgen
damit dem sog. Theorem der freiwilligen Arbeitslosigkeit, das aus der neoliberalen Marktvergötzung folgt;
dieses Theorem besagt, daß es, wenn man dem Markt nur seine Selbstregulation läßt, keine Arbeitslosigkeit
geben könne, weil sich dann der marktgerechte Preis einer im Überfluss vorhandenen Ware automatisch her-
stellt – wenn er unter dem Existenzniveau liegt, haben die Besitzer der Ware Arbeitkraft eben Pech gehabt.
Arbeitslosigkeit ist dadurch axiomatisch immer nur Folge eines zu hohen Preises der Arbeit. Erwerbslosigkeit,
insbesondere in der Form von Langzeitarbeitslosigkeit, ist damit ebenfalls axiomatisch immer freiwillig. Key-
nes konstatierte schon in den 1930er Jahren die Realitätsfremdheit der Behauptung der klassischen Theorie,
wonach es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit gebe.3 Aber er sah nicht voraus, zu welchem aggressiven In-
strument der Machteliten gegen die sog. „freiwilligen Arbeitslosen“ und das bedeutet ja zugleich, gegen die
„zu arbeiten Unwilligen“ sie im Neoliberalismus entwickelt würde. Das neoliberale Theorem der freiwilligen
Arbeitslosigkeit stellt eine Grundfigur traumatisierender Täter-Opfer-Verkehrung und Opferbeschuldigung
dar; es bietet damit eine wahnhafte Züge tragende Legitimation ideologischer und sozialer Gewalt gegen die
Opfer, zugleich stellt es eine permanente Beleidigung und einen dehumanisierend-ausgrenzenden Anschlag auf
ihre moralische Persönlichkeit dar. Durch seine pausenlose und vielfältige Orchestrierung in Politik und Me-
dien und durch seine Bedeutung für die Politik der „Anreize“, d.h. die Erwerbslosen durch ständige Schlecht-
erstellung in Billigjobs zu drängen und alle Zumutbarkeitsgrenzen aufzuheben, bildet es einen massiven Kern
auch politischer Diskreditierung und sozialer Existenzbedrohung der Arbeitslosen.
Die wahnhaft-aggressive Qualität der Diskreditierung der Arbeitslosen wird allein schon greifbar, wenn man
sich vor Augen führt, wie sehr die ArbeitnehmerInnen immer wieder für ihre Arbeitsplätze und gegen die
Schließung und Verlagerung ihrer Betriebe- etwa AEG oder BenQ als prominente schlimme Beispiele- kämp-
fen. Und kaum haben sie diesen Kampf und ihre Arbeitsplätze verloren, da sollen dieselben Menschen als ar-
beitslos Gemachte über Nacht zu Faulenzern und Sozialmißbrauchern sich verwandelt haben- aber nicht sie
haben sich verwandelt, sondern sie werden als Arbeitslose sofort zu Objekten eines tiefgreifenden soziopoliti-

1
  Ebd. 52.
2
  Negt, 2001, 10.
3
  Keynes beschreibt in der Leugnung der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit durch die klassischen Theoretiker die
typische wahnhafte Realitätsabwehr; er vergleicht sie mit „euklidischen Mathematikern in einer nichteuklidi-
schen Welt, die entdecken, daß scheinbar parallele gerade Linien in Wirklichkeit sich oft schneiden, und denen
kein anderes Mittel gegen die sich ereignenden bedauerlichen Zusammenstöße einfällt, als die Linien zu schel-
ten, daß sie nicht gerade bleiben.“ Keynes (1936) 2000, 14.
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schen paranoiden und persekutorischen, d.h. mit diskreditierenden und verfolgenden Mechanismen arbeitenden
Stimmungsmanagements der Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien.
Die generalisierte Erfahrung der Bedrohung des Arbeitsplatzes, der ja Garant von Lebensstandard, sozialer
Sicherheit und sozialer Einbindung ist, strahlt massiv in die Gesamtgesellschaft, in die Masse der Arbeitneh-
mer hinein. Durch die Erfahrung der Ausgrenzung wachsender Bevölkerungsgruppen wird die Stimmung der
Bevölkerung insgesamt beeinflußt, v.a. der Arbeitnehmer, im Sinne gesteigerter Einschüchterung, Disziplinie-
rung, Verunsicherung und Angst.
Als Hinweise auf die gesteigerte traumatisierende Wirkung von Massenarbeitslosigkeit auf die Bevöl-
kerung erwähne ich nur zwei Entwicklungen:
Zum einen den Anstieg des deutschen Angstindex, den die Versicherungsgruppe R+V seit 1991 veröffentlicht
und die den Anteil der Deutschen angibt, die der Zukunft mit „großer Angst“ gegenüberstehen. 1991 waren
dies 25%, 2005 waren es erstmals mehr als 50% . Dabei steigen v.a. die persönlichen Ängste deutlich an: nicht
mehr so sehr die Angst vor Kriminalität oder Terrorismus steht im Vordergrund, sondern die Angst vor eigener
Arbeitslosigkeit, sinkendem Lebensstandard und schwerer Krankheit. (SZ, 1.-2.4.06)
Zum anderen den ständig sinkenden Krankenstand der Arbeitnehmer, wobei innerhalb dieser Zahlen der Anteil
psychischer, v.a. depressiver Erkrankungen angestiegen ist. Immer mehr Menschen gehen aus Angst vor Ge-
fährdung des Arbeitsplatzes zur Arbeit, obwohl sie krank sind.
 Diese Angstentwicklung in der Bevölkerung führt zu einer verstärkten Opfer-und Verzichtsbereitschaft bei
den Noch- Beschäftigten, um nur die Arbeitsplätze zu sichern. Dadurch geraten sie in weitere spezifische psy-
chosoziale Streß-Zusammenhänge mit Traumatisierungspotential. Mit Richard Sennett- s. sein Buch „Der
flexible Mensch“- können wir diese Belastungsseite „emotional drift“ nennen. Dieser Begriff umfaßt Auswir-
kungen der im Neoliberalismus enorm verstärkten Zwänge zur Flexibilisierung von Arbeitsverhalten und Ar-
beitszeiten, zur psychischen Flexibilisierung i.S. eines überfordernden Motivationsmanagements und zur ge-
steigerten Mobilität. Der Abbau fester, d.h. unbefristeter Arbeitsverhältnisse und ihre gesteigerte Ersetzung
durch befristete Arbeitsverhältnisse bei Abbau des Kündigungsschutzes erzeugt das massenhafte Phänomen
der sog. „ Prekarisierung“, es entsteht geradezu ein „Prekariat“, d.h. der Entstabilisierung der mit den Arbeits-
verhältnissen insgesamt verunsicherten Lebensverhältnisse, des Wegbrechens der Möglichkeit verläßlicher
Lebensplanung für den Einzelnen und für Familien. Es vollzieht sich ein schleichender Prozeß der Beschädi-
gung von sozialer Vewurzelung und Bindung.

Der Umschlag zum Neoliberalismus und seine Wirkungen auf die Psyche der Mittelschichten
Massenarbeitslosigkeit und Abbau der sozialen Sicherungssysteme haben inzwischen auch die Mittelschicht
erreicht und lösen auch bei ihr immer stärkere Verunsicherung und Ängste aus. Ein Blick auf den historischen
Kontext verdeutlicht den Umschlag der soziopsychischen Befindlichkeit der Mittelschicht.
Der europäische Sozialstaat nach dem 2. Weltkrieg bewirkte auch und gerade eine Stärkung der Mittelschich-
ten. In den USA geschah dies schon durch den New Deal in den 30er Jahren, indem Roosevelt eine Verringe-
rung der Einkommensgegensätze erreichte. Das Europa der 50er Jahre ist vom Schlagwort der „nivellierten
Mittelstandsgesellschaft“ geprägt. Zunehmende Prosperität und Sekurität kennzeichnen die Situation. Arbeit-
nehmerschaft und Mittelschichten konnten hoffnungsvoll in die Zukunft ihrer Existenzgestaltung sehen.
„Wohlstand für alle“ und „keine Experimente“ hieß die Devise (CDU-Parolen). Sozialpartnerschaft kenn-
zeichnete die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit.
Im Blick auf diese soziopsychische Grundverfassung kommt es zum Bruch durch die neoliberale ökonomisch-
politische Gegenrevolution. Für die Masse der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und auch die Angehöri-
gen der Mittelschicht tritt eine neue aggressive Qualität der Politik der Machteliten zu Tage und löst immer
mehr Sicherheiten der Prosperitäts- und Sozialstaatsphase auf. Die Bedrohung der Mittelschichten vollzieht
sich schleichend, punktuell wird sie in den Medien mit folgenlosem Erschrecken registriert, das ist heute nicht
anders als vor zehn Jahren- wie die Zeit-Artikel beweisen.
In Deutschland sticht aber seit kurzem ein Faktor für die Mittelschichten hervor: die Hartz IV-Reformen.
Bislang bekamen auch Langzeitarbeitslose eine Arbeitslosenhilfe, die prozentual an ihr letztes Gehalt gekop-
pelt war. Jetzt werden Erwerbslose gleich welcher Gehaltsstufe erst an das Armutsniveau der Sozialhilfe ange-
glichen, ehe sie vom Staat einen Cent auf Sozialhilfeniveau erhalten. Das heißt konkret: Nach Auslaufen des
begrenzten Arbeitslosengeldes müssen bei weiterer Erwerbslosigkeit auch die Angehörigen der Mittelklasse
erst ihre Ersparnisse bis auf einen kleinen Freibetrag aufbrauchen, Verwandte ersten Grades zur Mitfinanzie-
rung ihres Lebensunterhaltes heranziehen, ihr Auto verkaufen, in eine kleinere Wohnung ziehen usw. – dies
alles, obwohl sie möglicherweise Jahrzehnte in eine Arbeitslosenversicherung einbezahlt, also eigentlich einen
Rechtsanspruch hatten. Wenn der oder die Mittelklasseangehörige dann schließlich 345 Euro im Monat vom
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Staat erhält, ist das an die Annahme jeder Arbeit, Straße fegen usw., oder einen 1 Euro-Job gekoppelt. Wer
diese Arbeit, die als Entwürdigung erfahren wird, ablehnt, bekommt die 345 Euro erst gekürzt, dann gestri-
chen. Hartz IV ist in Wahrheit ein Programm zur gigantischen Verarmung des Mittelstandes. Es ließen sich
viele weitere, durch die „Reformen“ verursachten Verschlechterungen für die Mittelschichten aufzählen – er-
höhte Gesundheitskosten, verschlechterte Altersvorsorge usw. – aber der mögliche Absturz z.B. von einem
Universitätsjob auf Sozialhilfeniveau ist das deutlichste sozio-ökonomische Symptom, das erklärt, warum sich
in der Mittelklasse als zentrale Stimmung Unsicherheit und Angst ausbreitet. Der meritorischen Grundmotiva-
tion der Mittelschicht- Aufstieg durch Fleiß und Leistung- kann nicht deutlicher der Boden unter den Füßen
entzogen werden. Auch die defensive Rückzugsposition der Mittelschicht, die nicht mehr auf Aufstieg, son-
dern nur noch die auf Sicherung des Erreichten gerichtet ist, ist in Zeiten von Hartz 4 bedroht.
So führt auch bei der Mittelschicht die verfestigte strukturelle Massenerwerbslosigkeit und ihre neoliberale
Behandlung zur Erschütterung des Grundvertrauens in die sozialpolitische Sicherheitsorientierung von Wirt-
schaft und Politik. Die generelle Verunsicherung im Hinblick auf die Planbarkeit der eigenen Zukunft tritt an
die Stelle einer lohnenden Mühe um die Entwicklung einer befriedigenden biographischen Linie, in der man
sich als Autor seines Lebensentwurfs bestätigt erleben kann. Lean production bewirkt den Abbau von mittleren
Hierarchie-Ebenen im Zuge der Computer-Rationalisierung. Permanente Umstrukturierungen treffen die An-
gestelltenschicht besonders, die hier mittlere administrative und Leitungsfunktionen ausübten. Erreichte Be-
schäftigungs-, Einkommens- und soziale Standards werden massiv bedroht und abgebaut. Was im Augenblick
noch relativ sicher erscheint, kann morgen durch Verlust des Arbeitsplatzes, durch Krankheit und Überschul-
dung in einem destruktiven Strudel verloren gehen.
Die meritorische Grundmotivation der Mittelschicht – Aufstieg durch Leistung – wird immer tiefer erschüttert.
Immer mehr fragen die Menschen, gerade aus der betroffenen Mittelschicht: Warum müssen wir das erleben?
Wir haben doch immer hart gearbeitet und gespart und jetzt verlieren wir unsere Existenz, unseren Halt!
Eine Kernfrage unserer sozioökonomischen und mentalitätsdynamischen Situation lautet nun: Wie reagiert die
Mittelschicht auf diese Erschütterung? Dringt sie durch zur kritischen Erkenntnis der Ursachen, der verant-
wortlichen Mächte und Akteure hinter den Märkten? Orientiert sie sich hin auf die Verbindung mit den ande-
ren Opferschichten und sozialen Bewegungen und gewinnt sie den Mut zur Wendung gegen die aggressiven
Machteliten? Oder bindet sie sich wie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik psychisch und politisch
überwiegend an die sie selber bedrohenden Strukturen und Machtgruppen, die diese Bindung durch geschick-
tes Feindbild-Management und nationalistische Identitätspolitik auf eine ideologische Volksgemeinschaft
orientieren und die Aggression auf äußere und innere Feinde ablenken ?

Die Rolle des Zeugen und Anwalts der Opfer.
Nachdem wir betrachtet haben, was der Neoliberalismus mit den Opfern der Massenarbeitslosigkeit macht
und wie er die Mittelschichten traumatisch bedroht, müssen wir nun unsere Aufmerksamkeit auf einen hoch-
wichtigen Aspekt richten, der die Durchsetzung des neoliberalen Programms in dieser massiven und relativ
widerstandslosen Weise erst ermöglicht.
Es geht um die enorme Bedeutung kognitiver und affektiver Mentalitätsformierung durch die Medien, die im
Neoliberalismus eine überragende Macht gewonnen hat. Es handelt sich hier um einen Prozeß der massive
Züge einer Desorientierungstraumatisierung trägt. Diese besteht, wie oben erwähnt, zentral in der Verwirrung
der kognitiven Kategorien und affektiven Wertungen des Opfers, d.h. darin, dem Opfer einer Traumatisierung
das Trauma-Geschehen als positiv, als notwendig darzustellen und den Täter zu rechtfertigen, das Opfer damit
in seiner Bemühung um Verständnis der Situation zu verwirren, es in seiner Bindung an den Täter zu bestärken
und seine Motivation zu Selbstbehauptung und Gegenwehr zu unterminieren.
Die desorientierungstraumatische Beeinflussung der Menschen durch neoliberale Politik und Medien fächert
sich in verschiedene Facetten auf, die ich hier nur stichwortartig anführen kann.
Im Rahmen des Verfassungsgutes der „Pressefreiheit“ werden die Medien von der Bevölkerung als Vertrau-
ensinstanz erlebt, als Anwalt der Bevölkerung gegen staatliche und wirtschaftliche Machtinteressen. Sie stehen
damit in einer hochrelevanten Position eines gesellschaftlichen Wahrnehmungs-und Bewertungsorgans, das
der Bevölkerung in der modernen Gesellschaft verläßliche Orientierung vermittelt. Die Rolle der Medien als
Anwalt der Bevölkerung entspricht damit der in der Psychotraumatologie hochbedeutsamen Rolle des Zeugen,
des Dritten oder Anwalts der Opfer. Bei vielen Traumatisierungen wird deren Wirkung verstärkt, bzw. ihr Zu-
standekommen erst ermöglicht, indem niemand als Zeuge der Traumatisierung des Opfers durch den Täter
vorhanden ist, wenn z.B. die Mutter die Augen vor dem Mißbrauch der Tochter durch den Vater verschließt,
um das äußere Zerbrechen der Familie zu vermeiden – innerlich ist sie schon zerbrochen. Umgekehrt ist es ein
wesentliches Moment der Traumatherapie, daß der Therapeut als Dritter, als Zeuge und Anwalt des Opfers
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erlebt wird, der die traumatische Gewalterfahrung sieht und ausspricht und damit auch die vom Täter forcierte
Desorientierung aufzuheben bemüht ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Spiegel-Urteil die Aufgabe der Presse, d.h. der Medien,
in einer prinzipiell mit der Orientierungs- und Anwaltfunktion übereinstimmenden Weise bestimmt:
„Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch die Mei-
nungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese
ständige Diskussion in Gang; sie beschafft die Informationen, nimmt selbst dazu Stellung und wirkt damit als
orientierende Kraft in der öffentlichen Auseinandersetzung…. In der repräsentativen Demokratie steht die
Presse zugleich als ständiges Vermittlungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten
Vertretern in Parlament und Regierung. Sie fasst die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich
neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammen, stellt sie zur Erörterung und trägt sie an die
politische handelnden Staatsorgane heran, die auf diese Weise ihre Entscheidungen … ständig am Maßstab
der im Volk tatsächlich vertretenen Auffassungen messen können.“4
Das hier anvisierte Modell kritischer Öffentlichkeit ist unter neoliberalen Bedingungen in einem schwerwie-
genden Zerfall begriffen; der Spielraum des rationalen Diskurses ist in den herrschenden Medien auf die Erör-
terung von Varianten neoliberaler Politik zusammengeschrumpft. Dies bedeutet insbesondere, dass die Medien
kaum mehr die Erwartungen und Bedürfnisse der Bevölkerungsgruppen an Staat und Wirtschaft zum kriti-
schen Ausdruck bringen, sondern im wesentlichen die neoliberale Programmatik von oben nach unten, d.h.
von den ökonomischen und politischen Eliten in die Bevölkerung hinein zu vermitteln suchen.
Die verstärkten desorientierungstraumatischen Anstrengungen sind eine Folge der sozialfeindlichen neolibera-
len Programmatik, die in ihrer ungeschminkten Darbietung nicht mehrheitsfähig wäre, d.h. die neoliberale
Politik muß sich in ihren zentralen Achsen der Macht-und Besitzsteigerung der neoliberalen Eliten und Ge-
winner einerseits und der Verschlechterung der sozialen Situation der Masse der Bevölkerung und des Abbaus
sozialer Rechte andererseits immer wieder gegen die Bedürfnisse und Interessen der Mehrheit durchsetzen.
Diesen demokratietheoretisch hochrelevanten Gesichtspunkt gilt es in seiner Tiefe zu bedenken. A. Müller
schreibt dazu treffend:“ Das Volk denkt offenbar anders, als die Eliten wollen. Und dennoch nimmt man auf
diesen Willen keine Rücksicht, sondern macht weiter mit dem Versuch, die Menschen mit Hilfe von Propa-
ganda im Sinne der Eliten „rumzukriegen“. Das ist ein im Kern undemokratisches Vorgehen… Neoliberalis-
mus und Demokratie vertragen sich nicht.“ ( A.Müller 2006, 167)
 So haben unter neoliberalen Bedingungen die Opfer in den neoliberal vereinten Parteien nicht nur keine Lob-
by, sondern es fehlt ihnen durch die Komplizenschaft neoliberaler Politik und neoliberaler Medien die grund-
legende Instanz eines objektiven Dritten, der als Zeuge die Not wahrnimmt und anerkennt. Das Fehlen dieser
Instanz stellt ein wesentliches traumaverstärkendes Element für die Opfer dar. Insbesondere die flächende-
ckende Übernahme der neoliberalen Reformrhetorik durch die Leitmedien wirkt sich als zusätzliche Traumati-
sierung der Opfer aus, als moralische Verstoßung aus dem sozialen Kreis der Dazugehörigen durch die enorme
Macht der Opferbeschuldigung. Ökonomische Opfersituation, Opferbeschuldigung, Opferverfolgung und Op-
ferbestrafung summieren sich so zu einem multiplen Trauma.
Die radikale Vereinseitigung der sozialen Ausrichtung des Neoliberalismus im Vergleich mit dem sozialstaat-
lichen Kapitalismus führt nicht nur zu einer schleichenden Entdemokratisierung, sondern auch zu einer histo-
risch sehr bedrohlichen Veränderung seiner geistig-politischen Präsentation und Rechtfertigung. Mit dem Mot-
to „Wohlstand für alle“ als einer durch reale sozioökonomische Fortschritte gestützten Orientierung am Wohl-
ergehen aller konnte sich die soziale Marktwirtschaft in einem rational-universalistischen Argumentationsraum
positionieren. Dagegen ist der neoliberale Kapitalismus, wie wir gesehen haben, sozial regressiv, er ist desin-
teressiert am Wohlergehen der Gesamtbevölkerung; sein Programm und seine Auswirkungen sind im Rahmen
einer humanen, d.h. universalen Werterationalität nicht zu begründen. Daher verlagert sich seine Rechtferti-
gung immer stärker von rational-diskursiver Argumentation zu Persuasion, d.h. dem zunehmenden Einsatz
irrationaler Einflußweisen. Der Sozialpsychologe Ottomeyer spricht von der zunehmenden Paranoia in den
Zeiten der Globalisierung, er registriert diese Regression von einer vorherrschenden rational und emotional
reiferen Orientierung auf eine irrationale Atmosphäre. Die im Kern doch gelassene Hoffnung auf rationale
Überzeugung rationaler Subjekte wird abgelöst durch die Orientierung auf Verhinderung von Widerspruch; so
wird ein latentes Klima der Einschüchterung erzeugt, in dem universal-humane Rationalität durch eine rational
nicht ausgewiesene, sondern machtpolitisch dominierte Freund-Feind-Einteilung vorherrscht, und diese bildet
einen Grundzug paranoider Entwicklungen.

4
    Zit. nach Arnim, 2001, 199f.
8

Einen wichtigen Beitrag zu dieser Irrationalisierung leistet die Sachzwang-Einstellung zum neoliberalen Pro-
zess und der von Politik und Medien hierbei geformte Monolithismus. Autoren wie K.G. Zinn oder Heribert
Prantl weisen darauf hin, dass die öffentlichen wie die privatkapitalistisch verfassten Medien zwar einen ge-
wissen politischen Pluralismus präsentieren, dass im Bereich der Wirtschaftsredaktionen jedoch seit Jahren
eine Art neoliberale Einheitspartei herrscht (Zinn, 2000, S. 4, ebenfalls Prantl 2005, S.91) Ramonet beschreibt
die Macht der neoliberalen "pensee unique", die nicht mehr überzeugen will, sondern durch die schiere Über-
macht der täglich wiederholten Dogmen als massive Einschüchterung wirkt (Ramonet, 1997, S. 76, S. 156).).
Eine entscheidende psychische Wirkung dieses Einheitsdenkens und seiner ritualistischen Wiederholung be-
steht sicherlich in der eindrucksvollen Demonstration einer magischen Macht. Die ständige Wiederholung
undiskutierter Formeln zeigt:“ Widerstand nützt nichts, hinter den Formeln steht eine unüberwindbare Kraft-
du kannst noch so sehr dagegen reden, morgen bringt die Macht unbeeinflußt die Formeln wieder; wer davon
abweicht, macht sich zum Außenseiter, denn durch die Formeln wird auch bestimmt, wer dazugehört.“
Der Neoliberalismus hat eine Reihe von Dogmen entwickelt, die einen unhinterfragbar mythischen Charakter
angenommen haben und durch magische Bekenntnisrituale vor rationaler Reflexion abgeschirmt und geradezu
sakralisiert erscheinen. Ich erwähne ein zentrales Beispiel einer solchen unerschütterlich repetierten mythi-
schen Formel: es geht um die stereotype Behauptung, die Bevorzugung der Kapital- und Geldvermögensbesit-
zer durch die neoliberale Politik sei notwendig, um Arbeitsplätze zu schaffen: "die Gewinne von heute sind die
Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen" – so die neoliberale Botschaft der sog. An-
gebotspolitik. Unter den Bedingungen von shareholder value und jobless growth bleibt von diesem Dreischritt
nur der erste Schritt der Gewinnsteigerung übrig. Aber das hindert den neoliberalen Diskurs nicht, diese These
als Axiom ständig zu wiederholen und die gegenläufigen Erfahrungen vieler Jahre neoliberaler Politik zu igno-
rieren, bzw. sie sofort in die Forderung nach noch mehr Vergünstigungen für die Kapitalseite umzuinterpretie-
ren, damit es zur Schaffung von Arbeitsplätzen kommen könne.
Ein im letzten Jahrzehnt neu entwickeltes direktes Instrument neoliberaler Formierung der Öffentlichkeit stel-
len Initiativen wie die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ dar, mit denen –von Wirtschaftsverbänden
finanziert- neoliberale Politiker medienwirksam als Experten plaziert, neoliberale Themen in die Medien ge-
schleust oder ganze Kampagnen wie „Du bist Deutschland“ auf die Beine gestellt werden.
Unter dem Druck des hemmungslosen Neoliberalismus regrediert die soziale und politische Kultur insgesamt
immer stärker auf eine sozialdarwinistische Amoralität. Die mühsam erkämpfte Stufe des kollektiven concern
wird verlassen zugunsten einer Stärkung verfolgender und paranoider Einstellungen. Die Opfer, Arbeitslose
und Sozialhilfe-Empfänger zumal, werden per se unter den Generalverdacht des Sozialmissbrauchs gestellt. Da
ist es nur konsequent, dass aus diesem allgemeinen Klima in Politik und Medien die Forderung des seinerzeiti-
gen baden-württembergischen Finanzministers Mayer-Vorfelder nach Sozialdetektiven erwuchs, die- vor kur-
zem wiederum noch unvorstellbar- im Zuge der Umsetzung der Hartz-4-Gesetze mit der Einführung breiter
Kontrollmechanismen tatsächlich auch verwirklicht wurde.

Was macht der Neoliberalismus mit den herrschenden Eliten ?
Wo Opfer und Objekte von »man made disasters«, von soziotraumatischen Prozessen und Strukturen,
existieren, da existieren auch pathologische und traumatisierende Akteure.
Die Erkenntnisse der Relationalen Psychoanalyse implizieren, wie oben dargestellt, einen kritisch-normativen
Kern, der auf die Sicherung und Förderung der grundlegenden Entwicklungs-und Lebensbedürfnisse aller in
konstruktiven mikro-wie makrostrukturellen Bezügen gerichtet ist. Die strukturell verfestigte Herauslösung
von Herrschaftseliten, die ihre eigenen Besitz-und Machtsteigerungsinteressen verfolgen, entspricht in dieser
Perspektive einer schwerwiegenden soziopsychischen relationalen Pathologie. Sie beruht auf dem Zerbrechen
der grundlegenden Perspektive und Praxis konstruktiver durch wechselseitiger Anerkennung und Förderung
geprägten Beziehungen in sozialen Großstrukturen.
Autokratische Elitenherrschaft (s. Bruder 2005) bedeutet auf dem Subjekt-Pol der autokratischen Herrschaft
zentral die Entgrenzung des Narzissmus; dieser mutiert dadurch aus einer sozial eingebundenen Regulierung
des Selbstwertgefühls zu einer pathologische Züge aufweisenden Formierung der Selbst- und Identitätsstruktu-
ren. Der Psychaoanalytiker Mario Erdheim (1990, XIV u. 390) spricht von der »Explosion« des Narzissmus
am sozialen Ort der Herrschaft.
Entgrenzter Narzissmus als Kennzeichen der soziopsychischen Pathologie von Herrschaftseliten impliziert
neben der offensichtlichen Etablierung soziopsychischer Grandiositätsvorstellungen v.a. die verfestigte Ten-
denz zur Dehumanisierung der Anderen und die Paranoia des Macht-Selbst und seine Mechanismen der affek-
tiv- kognitiven Machtausübung über die Beherrschten.
9

Die Allmachtsphantasien des autokratischen Macht-Selbst verleugnen reale Bezogenheiten und Abhängigkei-
ten, sie verbinden sich mit manisch getönten Autarkiephantasien, in denen sich das Machtselbst als grandioses
ab-solutes, d.h. losgelöstes Zentrum alles Wertvollen erlebt. Dem Vorgang der Selbstidealisierung und
Selbstvergötzung entspricht die Entwertung und Verachtung der machtlosen Beherrschten, zu denen keine
innere emotional-mitfühlende Verbindung (Empathie) zugelassen werden kann.
Die narzisstische Struktur autokratischer Macht steht so der Kultur universaler humaner Werte prinzipiell
feindselig gegenüber. Die verfestigte autokratische Herrschaft mit ihrer massiven und oft grotesken Selbstidea-
lisierung der Mächtigen und der Entwertung der Beherrschten konstituiert eine Art soziopolitische Apartheid
mit mehr oder weniger deutlicher rassistischer Ausprägung. Die Adelsherrschaft stellt den Prototyp dieser
selbstvergötzenden Herrschaftsmentalität dar, die aber früh von den »Industrie-Baronen« und der »Finanz-
Aristokratie« der aufsteigenden bürgerlichen Schichten übernommen wurde. (Zum Adelsrassismus s. Priester
2003, 46ff.)
V.a. der Mechanismus der Dehumanisierung erleichtert die Instrumentalisierung der Beherrschten; Dehuma-
nisierung von Menschen stellt sich psychoanalytisch gesehen als komplexes psychisches Geschehen dar, das
mit verschiedenen Mechanismen die in jedem Menschen angelegte Identifizierung mit den anderen Menschen
qua Menschsein aufzulösen trachtet. Der psychoanalytische Affektforscher R. Krause (2001, 954ff.) hat meh-
rere dieser Mechanismen aufgezeigt. Diese von ihm »Desidentifikationsmechanismen« genannten Prozesse
bestehen in ihrem affektdynamischen Kern darin, Differenzen zwischen Menschen hochgradig im Sinne von
gut-schlecht und mächtig-ohnmächtig zu polarisieren und zu Exklusionskriterien zu erheben. Desidentifizie-
rung zeigt sich so als triumphierende Herauslösung aus menschlichen Bindungsnetzen in ihrer qualitativen
affektiven Verschiedenartigkeit. Der interpersonelle Stil ist monoman auf das Sieger-Verlierer-Schema ausge-
richtet, er zielt auf Dominanz-Herstellung durch Auslösung von Angst und Unsicherheit bei anderen. Krause
unterstreicht die Funktionalität dieser Mechanismen für die Durchsetzung jeglicher Form von Apartheid (ebd.).
Je mehr Macht, umso größer wiederum die Angst vor ihrer Gefährdung. Die Herrschaftseliten werden daher
von der ständigen Angst und Sorge um ihre Machtsicherung und -ausdehnung verfolgt. »Paranoia ist die
Krankheit der Herrschaft«, fasste Elias Canetti diesen Sachverhalt prägnant (zit. nach Erdheim 2005, 14).
Die innere Instabilität autokratischer Macht mobilisiert eine ständige Suche nach Feinden, die der Feindschaft
und der Zersetzung der herrschenden Macht bezichtigt werden; die Aggression sowohl der Herrschaftseliten
wie der Beherrschten soll damit auf phantasmatische Bahnen gelenkt und die Herrschaftsstruktur stabilisiert
werden. So wird die Entwicklung der westlichen Elitenherrschaft begleitet von einer ständigen Produktion und
Aufrechterhaltung von Feindbildern5 – vor allem die Juden, die Hexen, die Fremden –, mittels derer die struk-
turelle aggressive Binnenspannung immer wieder psychisch abgeleitet wird und sich in Krisen oft auch in mas-
siven aggressiv-explosiven Ausbrüchen entlädt.
Diese prägenden Züge eines pathologischen Narzißmus auf der Seite der abgehobenen Besitz-und Machteliten
bestimmen auch die Eliten in der kapitalistischen Gewinnmaximierungswirtschaft und in verschärfter Form die
Eliten der neoliberal globalisierten Welt.
Die neoliberalen Eliten verschärfen die in der Verabsolutierung der Gewinnmaximierung liegende »erbar-
mungslose Amoralität« (J. Robinson zit. nach Negt 2001, 222), die rücksichtslose Dehumanisierung der Arbei-
tenden als „Kostenfaktor“, den es zu reduzieren gilt; letztlich betreiben sie den Abschied aus der Verantwor-
tung gegenüber der Gesellschaft und ihrem Zusammenhalt.
Wir befassen uns hier mit einer strukturell bedingten Psychodynamik, die sich durchaus in Spannung befinden
mag mit der persönlich-bewusst akzentuierten Identität einer Person und ihrem Selbstbild; diese strukturell
bedingte Psychodynamik erscheint wesentlich durch den Mechanismus der Dissoziation bestimmt. Die psy-
chische Dissoziation der Akteure steht heute in Wechselwirkung mit der sozioökonomischen Dissoziation-
sentwicklung, der radikalisierten Entbettung der Wirtschaft entspricht die radikalisierte psychische Entbettung
von Selbstanteilen, wie Liftons Definition von Dissoziation es ausspricht: »Teile des Selbst lösen sich und
formieren eine Gegensphäre, die seinen Zusammenhalt und seine Steuerfunktion als symbolische Repräsentanz
der Gesamtperson stört«. (ebd. 243)
 Eine euphemistische Sprache und Semantik, die kollektive Akzeptanz von Orwells »Schönsprech« in Verbin-
dung mit einer »Sprache der Fühllosigkeit“ ermöglicht den aggressiven Akteuren »zu zerstören ohne zu zerstö-
ren«, d.h. ohne als Zerstörer gesehen und gewertet zu werden. Die Dissoziation bedeutet auch eine Dissoziati-
on der Gewissensfunktion; diese erfährt eine charakteristische Verschiebung, die sie wegzieht von den konkre-
ten Menschen, den realen und potentiellen Opfern der Akteure, und hinorientiert auf den partikularen Loyali-
tätsbezug der Gruppe der Akteure oder einen abstrakten Systembezug.

5
    Zur Geschichte der europäischen Feindbild-Entwicklung s Wegener 1999.
10

Dementsprechend ist die Herrschaft des shareholder value nur an Finanzindices der Börsenkurse von Unter-
nehmen gebunden; die abstrakte Verabsolutierung dieser kurzfristigen Indices führt zur Entwertung der kon-
kreten Unternehmenseinheiten, der Fabriken, der Beschäftigten, ihres Lebensniveaus, der Unternehmensstand-
orte. War der Kapitaleigentümer in der Zeit des Industriekapitalismus noch persönlich mit dem Unternehmen
verbunden, das er beherrschte, und legte Wert darauf, seine Beschäftigten patriarchalisch an sein Unternehmen
zu binden, so bedeutet die finanzkapitalistische Globalisierung eine Destruktion der humanen Aspekte dieser
Herrschaft. Das Kapital akzeptiert keine Loyalitätsverpflichtung mehr, es ist nur sich und seinen Gewinnzie-
len loyal (Roth 2003); allein für die Gnade des Besitzes eines Arbeitsplatzes verlangt es von den Beschäftigten
höchste Motivation, Flexibilität und Bereitschaft zu Lohnverzicht, während es selber kaum zu einer minimalen
reziproken Loyalitätsverpflichtung bereit ist. Die entbettete Wirtschaft, ihre shareholder und Manager bewegen
sich wie aggressiv-narzisstisch gestörte Individuen rücksichtslos durch eine sensible Welt, walzen sich ihren
Weg frei und überlassen es den anderen, für die Reparatur von Beschädigungen zu sorgen.
Vielleicht die rücksichtsloseste Verkörperung der neoliberalen Persönlichkeitdeformation stellt der Typus des
neoliberalen Unternehmensberaters dar, den D. Kurbjuweit den „ McKinsey-Mensch“ genannt hat; dieser
arbeitet auf einer technokratisch-sadistischen psychischen Grundlage; er setzt das Modell der scheinbar sach-
zwanghaft vorgegebenen intersubjektiven Herrschaftsrelation als Effizienzzwang praktisch um und wird so
zum Feind des sich nicht nach diesem Modell maximal verausgabenden und maximal effizienzbewussten Be-
schäftigten.
Psychisch essentielle Lebensbedürfnisse nach Verwurzelung, nach Kontinuität einer Identitätsentwicklung und
ihrer Stabilisierung in einer überschaubaren und verlässlichen sozialen Lebenswelt finden keine Berücksichti-
gung mehr. Kurbjuweit (2003, 91ff.) sieht in der »Zertrümmerung von Heimat« ein Kennzeichen der soziopsy-
chischen Destruktivität der neoliberalen Wirtschaft. Die shareholder und ihre Manager und Berater sind die
Heimat-Zertrümmerer und damit auch eine tiefgreifende Bedrohung der Bindungsfähigkeit der Menschen.
(Negt 2001, 179ff.)
Wer die neoliberalen Imperative lange genug zu seinen eigenen gemacht hat, der hat einen bedeutenden neoli-
beralisierten Anteil in seinem Selbst entwickelt; d.h. er hat für seinen Wirkungsbereich die neoliberale Ideolo-
gie verinnerlicht mit allen sozio- und psychodestruktiven Wirkungen. Er ist damit selbst in seiner Persönlich-
keitsganzheit, die mit der Ganzheit der Gesellschaft unhintergehbar verbunden ist, fragmentiert. Die neolibera-
len Eliten laden insbesondere durch ihre systematische Abwehr sozialer Verantwortung für die Gesamtbevöl-
kerung und ihre Lebensbedürfnisse eine bedeutende humane Schuld auf sich; auch wenn sie es in ihrer Ver-
blendetheit nicht wahrhaben wollen, so sind sie mit dem Ausdruck von B.Moore „räuberische Eliten“, die in
ihrer Gier nach Besitz-und Machtsteigerung die Anderen ihrer Lebensgrundlagen berauben. Aber mit der De-
humanisierung ihrer Opfer dehumanisieren sie sich auch selbst, berauben sich selbst der Grundlage wirklicher
humaner Anerkennung. Die immer stärkere räumliche Isolation der Reichen in vielen Ländern, ihre Selbst-
Ghettoisierung, entspricht ihrer sozialen und psychischen Isolation und ihrer Angst vor den Anderen. Es ist
leider nicht zu erwarten, daß die neoliberalen Eliten aus eigener Einsicht von ihrem aggressiv-narzißtischen
Weg umkehren, aber einzelne Angehörige der Eliten äußern doch ermutigende kritische Einsichten, so etwa
der erfolgreiche Reeder Peter Krämer; er lehnt noch mehr Privilegien für sich ab und beklagt »das Eliteversa-
gen in diesem Land«; er fordert dringend dazu auf, dass »wir Reichen unsere Taschen öffnen«, sonst »werden
wir scheitern« (Bad. Zeitung v. 4.1.2005).

Solidarische Gegen-Perspektiven.
Die neoliberale Umwälzung ist im Kern die Durchführung eines Programms der Spaltung der sozialen und
psychischen Lebensganzheit; sie zielt auf die Entbettung einer verabsolutierten Ökonomie aus dem soziorelati-
onalen Zusammenhang und die als psychische Dissoziation wirkende Entbettung ökonomisierter Selbstanteile
aus dem Gesamtzusammenhang der psychischen Persönlichkeit. Diese Entbettungsprozesse werden von dem
amerikanischen Autor Korten mit dem Wachstum von Krebsgeschwüren verglichen, die sich der gesunden
Gesamtregulierung des Organismus entziehen und auf seine Kosten wuchern. Im Gegensatz zu diesem Spal-
tungs-und Entbettungsvorgang verlangt die Perspektive sozialer und psychischer Heilung die Herstellung le-
bendiger Grundbezogenheit in der Ganzheit von Psyche und Gesellschaft, um so die psychischen und sozialen
Spaltungsfolgen zu überwinden. Dies können wir im Carcinom-Gleichnis durch die prägnante Losung ausdrü-
cken: Starve the cancer- nurture life !
Dieser heilsame Weg soziopsychischer Re-Integration gründet sich auf eine bewußte alternative Mentalitäts-
entwicklung, die weitere konstruktive Folgen in sozialen Bewegungen und die Vision einer solidarischen Welt
impliziert.
11

Gegen die destruktive Ausrottungs-Mentalität entwickelte Lifton als heilsame Gegenperspektive das Konzept
der „Gattungsmentalität“, heute muß diese gegen die „Ausgrenzungsmentalität“ der neoliberalen Sozialde-
struktion gestellt werden. Gegen die Ausgrenzungsmentalität setzt die Gattungsmentalität das solidarische
Prinzip, dass wir uns als Angehörige der gleichen Gattung wahrnehmen, respektieren und in den Bereich unse-
rer inneren und realen Fürsorge einbeziehen, d.h. ein neues ganzheitliches Denken und Empfinden entwickeln,
die zu Kernelementen des „Gattungsselbst“, eines solidarischen Selbst, werden. Dies entspricht einer Mentali-
tät des kollektiven „Concern“, eines verallgemeinerten sozialen Sich-Kümmerns. Gattungsbewußtsein und
Gattungsmentalität werden getragen vom Prinzip der Solidarität oder -wie H.E. Richter es nennt- vom Prinzip
der Sympathie, das von der liebevollen Eltern-Kind-Beziehung zur solidarischen Gestaltung der sozialen
Strukturen drängt. Er drückt die die intersubjektive Psychoanalyse prägende Verbindung mikro-und makro-
struktureller Verhältnisse aus, wenn er schreibt: „ Das Sympathie-Prinzip fordert die Gleichsetzung, das echte
Teilen von Stärke und Schwäche, die Symmetrie von Geben und Nehmen. Es verlangt die politische Befreiung
der Unterdrückten“.6
Wenn wir heute aus der heute dominierenden ungeheuren Empfindungslosigkeit heraustreten, entziehen wir
uns der verordneten Gleichgültigkeit und der latenten oder manifesten Viktimisierungseinstellung. Wir sind
dann auf dem Weg, zu hilfreichen Zeugen und Anwälten der Betroffenen zu werden. Wir werden nicht mehr
vertrauensselig die Leitmedien für authentische Spiegel der sozialen Wirklichkeit halten, sondern uns um
Möglichkeiten kritischer Gegeninformation und Gegenöffentlichkeit kümmern. Wir werden Wege finden, uns
im Rahmen unserer Möglichkeiten für konstruktive Veränderungen im Kleinen wie im Strukturellen einzuset-
zen, sei es in Selbsthilfe-Gruppen, sei es in den Gewerkschaften, in fortschrittlichen christlichen Gruppen, in
der attac-Bewegung usw. Damit tragen wir zur Hilfe für die Betroffenen bei, ihr eigenes Selbstwertgefühl zu
schützen und ihre Fähigkeiten zur solidarischen Gegenwehr zu stärken.
Die lebendige praktische Brücke von der kritischen Analyse der neoliberal-kapitalistischen psychischen und
sozialen Destruktion zur Vision einer solidarischen Gesellschaft bilden die sozialen Bewegungen, die sog.
alten wie die neuen, in denen sich Betroffene und Engagierte gegen soziale und ökologische Bedrohungen zur
Wehr setzen. Die von den solidarischen Bewegungen repräsentierten Perspektiven enthalten die grundlegende
Kritik und Umkehrung der neoliberalen Prozesse. So demonstriert insbesondere das Motto der globalisie-
rungskritischen attac-Bewegung „Eine andere Welt ist möglich“ das Bewusstsein und die Ablehnung der
grundlegenden neoliberalen Sachzwang-Mentalität;
Gegen neoliberale Ausgrenzungsprozesse setzen die solidarischen Subjekte universale Werte und Perspekti-
ven, die das Leben aller, v.a. der Opfer schützen sollen:
-gegen den latenten und offenen Rassismus der neoliberalen Spaltungen setzen sie die Einsicht, dass die ent-
scheidende Trennlinie nicht zwischen ethnischen oder religiösen Gruppen besteht, sondern zwischen Oben und
Unten, zwischen den besitz- und machtgierigen Eliten und den von ihnen ausgeplünderten Schichten auf der
ganzen Welt.
-gegen Dehumanisierung setzen sie die Forderung nach Humanisierung, nach realer Umsetzung vor allem der
sozialen Menschenrechte für alle Menschen: v.a. das Recht auf Gesundheit und gesunde Ernährung, auf Arbeit
in Würde, auf Wohnung, auf Bildung, auf Verwurzelung.
-Gegen Viktimisierung und Opferbeschuldigung und -verfolgung setzen sie die Forderung nach Entviktimisie-
rung, nach Herstellung der Würde der Opfer und wirklicher Beseitigung der Opfersituationen;
-Gegen Desorientierung durch die neoliberal gelenkte Öffentlichkeit und neoliberale Politik entwickeln sie
Wege einer Gegenöffentlichkeit von unten, die ungeschönte Informationen über die oft verschlungenen und
geheimgehaltenen Wege neoliberaler Angriffe und über die solidarischen Widerstandsbewegungen und -
aktionen geben und zur Kräftigung und Vernetzung der solidarischen Bewegungen beitragen.
Die solidarischen Bewegungen stehen mit ihren Zielen im Kampf zur gesellschaftlichen und politischen Wie-
deraneignung gestohlener und bedrohter human-sozialer Ressourcen auf allen Ebenen letztlich in einer post-
kapitalistischen Perspektive.Sie entwickeln sich und setzen da an, wo Menschen sich und ihre Lebenswelt durch
den Neoliberalismus und seine politische Durchsetzung in ihrem alltäglichen Leben in Gefahr gebracht sehen.
Dort sind Menschen motivierbar , handelnde Subjekte zu werden und sich aus den zerstörerischen Fängen des
neoliberalen Kapitalismus zu lösen und können dabei erfahren, wie das Solidarischwerden auch ihrem eigenen
Menschwerden dient. Ob es in solchen Kämpfen etwa um würdige Arbeit für alle geht und um gerechte Vertei-
lung der Arbeit zwischen den Geschlechtern , oder um eine lebensfördernde Landwirtschaft gegen das Agro-
Business, oder um die Bewahrung öffentlicher Güter und Dienste der Grundversorgung gegen deren Privatisie-
rung (Wasser, Transport, Energie, Wohnung, Bildung, Gesundheit usw), ob es um Steuergerechtigkeit, die Ab-

6
    Ebd, 263.
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