93 FRANKREICHS GRANDEUR - EINST UND JETZT - ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN - HANNS-SEIDEL-STIFTUNG

Die Seite wird erstellt Sam Steffens
 
WEITER LESEN
Bernd Rill (Hrsg.)

Frankreichs Grandeur –
Einst und Jetzt

  93                 Argumente und Materialien
                     zum Zeitgeschehen

   www.hss.de
Bernd Rill (Hrsg.)

FRANKREICHS GRANDEUR –
EINST UND JETZT
Impressum

ISBN                             978-3-88795-435-2
Herausgeber                      Copyright 2014, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München
                                 Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel. 089/1258-0
                                 E-Mail: info@hss.de, Online: www.hss.de
Vorsitzende                      Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D.
Hauptgeschäftsführer             Dr. Peter Witterauf
Leiter der Akademie für          Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser
Politik und Zeitgeschehen
Leiter PRÖ / Publikationen       Hubertus Klingsbögl
Redaktion                        Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.)
                                 Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin)
                                 Susanne Berke, Dipl. Bibl. (Redakteurin)
                                 Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin)
                                 Marion Steib (Redaktionsassistentin)
Druck                            Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Hausdruckerei, München

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes
darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Hanns-
Seidel-Stiftung e.V. reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Das Copyright für diese Publikation liegt bei der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Namentlich gekennzeichnete redaktionelle Beiträge
geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder.
INHALT

05 EINFÜHRUNG
   Bernd Rill

11   VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL?
     Joseph Jurt

19 DER SCHOCK DER „GRANDE GUERRE“
   Frankreich im Ersten Weltkrieg
   Daniel Mollenhauer

31   1919-1939: FRANKREICHS SICHERHEIT DURCH HEGEMONIE?
     Roland Höhne

37 VICHY UND DIE KOLLABORATION
   Klaus-Ulrich Hammel

49 GROßMACHTANSPRUCH UND ARABISCHE POLITIK
   Roland Höhne

57 FRANKREICHS PREKÄRE ROLLE IN DER GLOBALISIERUNG
   Henrik Uterwedde

65 FRANKREICHS EUROPAPOLITIK: WIE PHOENIX AUS DER ASCHE?
   Gisela Müller-Brandeck-Bocquet

75 FRANKREICHS STREITKRÄFTE ZWISCHEN INTERNATIONALEM
   GESTALTUNGSANSPRUCH UND NATIONALEN BUDGETZWÄNGEN
   Ronja Kempin

85 ZUR WELTGELTUNG DER FRANZÖSISCHEN KULTUR IM
   ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG
   Volker Steinkamp

          ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93   3
EINFÜHRUNG
   BERND RILL ||| Wie definiert, beschreibt, misst man die „Grandeur“ eines Staates? Auf diese
Frage sind zu verschiedenen Zeiten verschiedene Antworten möglich. Es bieten sich quer durch die
Geschichte viererlei Maßstäbe an: politische, militärische, ökonomische, kulturelle, um in verein-
fachenden Schlagworten zu bleiben. Das Mongolenreich der „Goldenen Horde“ in Russland und
Westasien dürfte man wohl auf ganz überwiegend militärische Grandeur festlegen können, den Stadt-
staat Athen kurz vor seinem Aufgehen in der römischen Provinz „Achaia“ (also kurz vor 146 v.Chr.)
hingegen auf die kulturelle Komponente. Aber Frankreich hatte nach allen vier Maßstäben Grandeur,
und in dieser Publikation wird der Frage nachgegangen, wie viel davon ihm noch heute zuzuerken-
nen ist.

    An mehr als an ein zeitgeschichtliches Bild    talität zwischen Deutschen und Franzosen sind
ist dabei nicht gedacht, denn eindeutige Ver-      überhaupt derart deutlich, dass auch die inten-
falls-Szenarien mögen gut sein für Schlagzeilen,   sive, stabile, wünschenswerte und zukunfts-
aber wer wüsste nicht, dass solche Szenarien       fähige Zusammenarbeit beider daran so bald
sich einfach besser verkaufen als Optimismus       nichts ändern wird. Diese Publikation soll auch
oder differenzierende Herangehensweise. Des-       ein Beitrag dazu sein, für die andere Mentalität
halb befand Nicolas Beytout im konservativen       Frankreichs das Verständnis zu fördern. Auch
„Figaro“ vom 20. März 2007: „Frankreich fühlt      einen Partner in Freundschaft muss man in sei-
sich in schlechtem Zustand, und dennoch hat        ner ganz spezifischen Eigenart zu erfassen versu-
es alles, um sich gut zu fühlen.“                  chen, denn das fördert die Freundschaft.
    Nichtsdestoweniger ist der Niedergang Frank-       Zum Stichwort „geschichtsgesättigt“: Die
reichs ein Thema, das, über grelle Schlagzeilen    französische Entwicklung seit der Formation
hinaus, die französische Öffentlichkeit nicht      des west-karolingischen Teilreiches nach dem
loslässt und unter den renommierten Intellek-      Vertrag von Verdun (843) wurde in der Retro-
tuellen der Hauptstadt fast schon eine eigene      spektive als eine virtuelle Nachfolgerschaft des
Literatur- und Essay-Gattung hervorgerufen hat,    Römischen Reiches interpretiert, mit welchen
die „declinologie“. Dahinter muss ein Stand des    Argumenten und Konstrukten, muss allerdings
Bewusstseins vermutet werden, der jedenfalls       eher die Mediävisten interessieren als unsere
in dem Teil der Nation, der für den öffentli-      Publikation. Jedenfalls liegen die Wurzeln der
chen Diskurs relevant ist, allgemein vorhanden     in der Moderne sprichwörtlich gewordenen
ist und der sich dabei auf Denkmuster einlässt,    „exception française“ schon im Mittelalter. Die
die den gebildeten Franzosen vertraut sind.        substantivische Vokabel deutet darauf hin, dass
    Ein solcher Diskurs ist geschichtsgesättigt,   der heute empfundene Verlust an „Grandeur“
natürlich im Sinne einer positiven Sonderrolle     einen sehr hohen Vergleichsmaßstab bemüht,
Frankreichs unter den Staaten Europas, wenn        der eine Kontinuität des gut durchorganisierten
nicht gar der Welt, und das in einer Dimen-        Staates seit Karl dem Kahlen, dem König der
sion, die den durch zwei verlorene Weltkriege      Teilung von 843, bis heute postuliert. Das
hindurchgegangenen Deutschen fremd ist. Die        stößt bei der Betrachtung der internen Verhält-
Unterschiede in der historisch-politischen Men-    nisse und politischen Entwicklung zwar an sei-

                                 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93                   5
BERND RILL

ne Grenzen, da die Revolution von 1789 ff. bis     dafür geeignet, dass der Verlust an Grandeur
hin zur endgültigen Konstituierung der Repu-       nicht als linearer Prozess zu beschreiben ist.
blik (1879) zwischen Monarchisten, Bonapartis-     Denn unter Napoleon III. hat Frankreich eine
ten und Republikanern scharf umstritten war,       durchgreifende Modernisierung erlebt, man
aber wird aufrechterhalten im Verhältnis zum       könnte den Neffen des großen Korsen fast
europäischen Ausland, das an die „exception        schon mit den „Entwicklungsdiktatoren“ der
française“ nicht recht glauben wollte. Die Fall-   Dritten Welt im 20. Jahrhundert vergleichen.
höhe ist also desto dramatischer, je mehr an       Und die Republik hat durch einschneidende
Vorstellungen von historischer Dignität sie zur    Heeresreformen und intensiven Festungsbau
Voraussetzung hat.                                 an der Grenze zum deutschen Kaiserreich (ein
    Da man sich also für unser Thema auf das       Name für alle: Verdun) die richtigen Lehren
Feld der Historie begeben muss, ist der Gedanke    aus dem militärischen Versagen im Krieg von
naheliegend, dass auch der hier thematisierte      1870/71 gezogen. Dadurch bewahrte Frank-
Verlust an Grandeur einen Vorlauf hat, der nicht   reich seinen Status als einer der großen Akteure
erst mit der deutschen Wiedervereinigung von       im Spiel des „Europäischen Gleichgewichts“
1990, der EU-Erweiterung nach Osten und            und blieb ein begehrter Bündnispartner.
Südosten und insgesamt mit der Relativierung           Und durch das ganze 19. Jahrhundert blieb
der Position Europas in einer Welt der multi-      Paris so etwas wie die kulturelle Hauptstadt
polaren (oder US-gesteuerten, darauf kommt es      Europas, letztlich unangefochten durch alle in-
hier nicht an) Globalisierung einsetzt.            ternen Wirren (Revolutionen von 1830, 1848,
    Es sei die These gewagt: Der Niedergang        die blutige „Pariser Kommune“ von 1871) und
Frankreichs als einer Vormacht, Einflussmacht,     auch durch alle äußeren Niederlagen.
kulturellen Führungsnation beginnt schon mit           Im Ersten Weltkrieg hat das Land schwere
dem Zusammenbruch des napoleonischen Im-           Verluste an Menschenleben und im Norden
periums, besiegelt durch die Niederlage von        auch an Material und Infrastruktur hinnehmen
Waterloo (1815). Der große Napoleon hatte          müssen, die es derart an den Rand seiner Leis-
die Kräfte Frankreichs auf eine Weise überbe-      tungsfähigkeit brachten, dass der Schluss nicht
ansprucht, die nichts anderes als Erschöpfung      abwegig ist, es hätte ohne britische und ins-
hinterlassen konnte. Nach Waterloo war eine        besondere, gegen Kriegsende, amerikanische
französische Hegemonie in Europa nicht mehr        Unterstützung dem deutschen Ansturm wieder
möglich, die machtpolitisch und militärisch        nicht standgehalten.
verstandene „exception française“ war an ihr           Doch gegenüber dem besiegten Deutsch-
Ende gekommen. Das napoleonische Imperium          land war es nach Kriegsende aufgerufen, ohne
war ein lehrbuchtauglicher Fall von „imperial      die USA, die sich aus der europäischen Politik
overstretch“ gewesen.                              zurückzogen, und ohne viel britische Rücken-
    Bonaparte generierte den Bonapartismus,        deckung die Nachkriegsordnung zu wahren.
das war der letzte Sieg, den der krebskranke       Ein spezieller Beitrag in dieser Publikation stellt
Empereur von seinem fernen Verbannungsort          dar, dass es damit, je länger desto deutlicher,
St. Helena aus errang und dessen politische        überfordert war, auf politischem, militärischem,
Ideologie seinen Neffen als Napoleon III. in       aber auch auf ökonomischem Gebiet. Eine He-
Frankreich wieder an die Herrschaft brachte        gemonie auf dem Kontinent war nur durch die
(1851/52). Bekanntlich endete diese zweite         Niederhaltung Deutschlands zu gewährleisten,
Kaiserherrschaft auf französischem Boden mit       doch nicht nur Hitlers aggressive Außenpolitik,
der Niederlage und Gefangennahme Napo-             sondern das überlegen deutsche Potential an
leons III. bei Sedan und dem anschließenden        sich machten diese Aufgabe auf Dauer unmög-
Sieg der Deutschen auch über die Dritte Re-        lich. Die ab 1930 gebaute Verteidigungslinie an
publik, die kurz nach Sedan dem Kaiserreich        der deutschen Grenze, die nach dem Kriegs-
nachgefolgt war (1870/71).                         minister Maginot benannt wurde, war das
    Dabei sind die Entwicklung von „Second         sichtbare Zeichen des französischen Hegemonie-
Empire“ und Dritter Republik als Hinweis           Verzichtes – was einige hohe Militärs damals

6    ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93
EINFÜHRUNG

auch offen aussprachen: Wer nur sein eigenes          die sind, unter dem Druck von tödlicher Ge-
Territorium verteidigen will, verzichtet von An-      fahr in die Höhe blicken und sich aufrecht
fang an auf „power projection“ nach außen.            halten muss. Kurz, nach meiner Auffassung
    Im Mai / Juni 1940 fiel die französische          kann Frankreich ohne Grandeur nicht Frank-
Armee bekanntlich binnen weniger Wochen der           reich sein.“
deutschen „Blitzkriegs“-Strategie zum Opfer.              Solches Pathos klingt für viele wohl nicht
Die Niederlage war noch viel deutlicher als die       mehr ganz zeitgemäß. Man könnte auch bemer-
von 1870/71. Die Folgen für das französische          ken, dass die Formulierung von der „bestimm-
Selbstbewusstsein wurden nur dadurch relati-          ten Idee von Frankreich“ geborgt erscheint aus
viert, dass Deutschland den Krieg am Ende             einem programmatischen Satz des revanchisti-
dennoch verlor, wenn auch nicht mit einem             schen, antisemitischen Blut- und Boden-Schrift-
entscheidenden französischen Beitrag zu die-          stellers (darauf hatten die Barden des „Dritten
sem Ende. Die Vichy-Regierung und Kreise der          Reiches“ kein Monopol) Maurice Barres (1862-
politisch maßgeblichen Öffentlichkeit hatten          1923): „Wenn man von Frankreich eine be-
zunächst, auch aus ideologischen Gründen, ei-         stimmte Idee vorgibt, dann heißt das auch,
ne dauernde Unterordnung unter Deutschland            dass man uns erlaubt, eine bestimmte Rolle zu
akzeptiert. Die Anstrengungen der Resistance          spielen.“ Damit soll nicht behauptet werden, der
und der militärische Beitrag de Gaulles mit sei-      Staatsmann der historischen deutsch-französi-
nen Streitkräften von „France libre“ hätten nicht     schen Aussöhnung sei gleichen Geistes Kind
genügt, dem Land einen offiziell gleichberechtig-     gewesen wie Maurice Barres. Es soll nur gesagt
ten Status an der Seite der Sieger zu verschaffen,    sein, dass einem Nationalgefühl über die Dis-
wenn die Briten nicht darauf bestanden hätten,        positionsmarken hinaus, die man setzen kann,
um im Nachkriegseuropa Unterstützung gegen            um das Vorhandensein einer Einheit namens
den sowjetischen Koloss zu erhalten.                  „Nation“ zu konstatieren, stets ein unauflösba-
    Dennoch ist die Rolle de Gaulles für die          res Moment von Irrationalität innewohnt, denn
Nachkriegsgeschichte Frankreichs kaum zu              präzise Analyse und der Stolz, der den Glauben
überschätzen. Der General hatte die erklärte          an „Grandeur“ trägt, sind zwei verschiedene
Absicht, mit der „Verwicklung in den Abstieg“         Dinge.
zu „brechen“, so Alain Duhamel in „La Marque              Außerdem entwickelte de Gaulle beim Ab-
et la Trace“. Seine Memoiren begann er später         fassen seiner Memoiren einen literarischen
mit dem programmatischen Satz: „Während               Ehrgeiz, wie er bei deutschen Spitzenpolitikern
meines ganzen Lebens habe ich mir eine be-            unüblich sein dürfte. Er versuchte, seine Prosa
stimmte Idee von Frankreich gemacht.“ Er sagt         an dem stilistischen Vorbild des schwungvollen
es tatsächlich nicht genauer, er sagt nur: „une       Romantikers Chateaubriand zu orientieren –
certaine idee de la France“. Das wird in den          daher wohl die Prinzessin und die Madonna
folgenden Sätzen auf für einen derart vielseitigen    gleich zu Beginn, und er borgte eben auch bei
Politiker und Praktiker merkwürdig poetisie-          Maurice Barres, denn dieser konnte nun einmal
rende Weise nicht etwa näher ausgeführt, son-         hinreißend schreiben.
dern nur umspielt: „Was in mir an Affektivem              De Gaulle hat eine sehr ambitionierte Außen-
ist, stellt sich natürlich Frankreich vor, wie eine   politik betrieben und damit Frankreich nach-
Prinzessin in den Märchen oder die Madonna            haltig in den Mittelpunkt weltweiter Aufmerk-
auf Mauerfresken, wie für ein hervorragendes          samkeit gerückt, gerade als mit dem desaströsen
und exzeptionelles Geschick bestimmt.“                und für das Mutterland aussichtslosen Krieg in
    Doch dann wird der Autor handfester:              Algerien Ersteres ein wesentliches Attribut sei-
„Frankreich ist nicht wirklich es selbst, wenn        ner Weltgeltung verlor. Aber eigentlich hat er
es nicht einen ersten Rang besetzt; dass nur          an Frankreichs Position in der Welt nichts Sub-
ausgreifende Unternehmungen in der Lage sind,         stantielles geändert, und er wusste selbst, dass
die Gärstoffe der Zerstreuung auszugleichen,          das auch gar nicht möglich war. Den ständigen
die sein Volk in sich selbst trägt; dass unser        Sitz im Sicherheitsrat der UNO, eine hervorra-
Land, so wie es ist, unter den anderen, so wie        gende Plattform, um sich weit und breit Gehör

                                   ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93                   7
BERND RILL

zu verschaffen, hat er geerbt; die europäische       Maurice Vaisse einen Hinweis: „Es ist das
Integration hat er grundsätzlich anerkannt, was      Wort (le verbe) des Generals de Gaulle, das die
angesichts der Aussöhnung mit Deutschland            Grandeur Frankreichs geschaffen hat.“ Der
logisch war; seine ehrgeizige Ostpolitik, als ob     hochliterarische Ausdruck „le verbe“ klingt an
Frankreich mit der Sowjetunion auf gleichem          an das „Wort Gottes“, meint also nicht einfach
Machtniveau hätte verhandeln können, fand            das Reden, sondern das Aufweisen von über-
ihre deutliche Grenze darin, dass er den sowje-      greifenden Zusammenhängen, meint Sinnstif-
tischen Wunsch nach Anerkennung der Teilung          tung für das Leben überhaupt. Der Sinn aber
Deutschlands klar zurückwies. Seine „arabi-          ruht in der emotional, bedingten „bestimmten
sche Politik“ war eher originell dadurch, dass       Idee von Frankreich“. De Gaulle hat durch seine
er sich nach dem 6-Tage-Krieg vehement gegen         vielen engagierten, programmatischen, rheto-
Israel positionierte, als dass sie Frankreich des-   risch sorgfältig gemeißelten Reden und Presse-
halb bei den arabischen Staaten strategisch zu       konferenzen, die für ihn ein sehr wichtiges
nennenden Einfluss verschafft hätte. Und die         Führungsmittel waren, den Franzosen darüber
Förderung von Rüstungsexport, so sehr sie bei        hinweggeholfen, dass die Zeiten ihres großen
allen Beteiligten eine Rolle spielt, wird man        historischen Ruhmes, ihrer Grandeur, vorbei
nicht als die Hauptaufgabe von Außenpolitik          sind, dass sie eine europäische Macht mit eini-
bezeichnen wollen. De Gaulle hat die Ameri-          gen anderen zusammen sind und im Weltmaß-
kaner vielfach herausgefordert, aber trotz des       stab nur eine Mittelmacht. Die listige Idee, den
Bestehens auf eigener atomarer Bewaffnung hat        französischen Einfluss durch Ausnützung der
er den amerikanischen atomaren Schutz für            integrativen Strukturen in der EU international
Westeuropa doch stets zu schätzen gewusst,           zu stärken, widerspricht grundsätzlich dem
und das Verlassen des westlichen Bündnisses          Gedanken der europäischen Integration, hat
musste ihm bei seinem entwickelten Gespür            dementsprechend viele Gegner in der EU und
für Machtpolitik wie ein Sprung ins Nichts           ähnelt zu sehr den in die Historie abgesunkenen
erscheinen. Dass er die militärische Integration     Hegemonie-Bestrebungen, um weit führen zu
der NATO verlassen hat, darf diese Konstante         können.
nicht vergessen lassen. Denn er hat es wohl-             Frankreich ist nach wie vor weltweit prä-
weislich unterlassen, aus dem Bündnis gänzlich       sent mit seinen „Territoires d’Outremer“ und
auszutreten.                                         „Departements d’Outremer“, von St. Pierre et
    Wenn der General also die außenpolitische        Miquelon vor der Küste von Neufundland über
Welt eigentlich gar nicht verändert hat, warum       die Karibik und Guayana bis zur Komoren-
ist er dann für die französische Nachkriegsge-       Insel Mayotte im Indischen Ozean und bis nach
schichte so wichtig? Man kann hier anführen,         Polynesien im Südpazifik. Seine umfassende
dass die auf ihn zugeschnittene Verfassung der       Organisation der „Francophonie“ zeugt von
„Fünften Republik“ dem Lande bis heute eine          dem fortbestehenden Anspruch, ganz global
schlagkräftige Exekutive sichert, die außenpoli-     eine kulturbestimmende Nation zu sein, und
tisch entscheidend ins Gewicht fallen kann.          tatsächlich wäre die Welt ohne die französische
Das hat Präsident Sarkozy bewiesen, als er im        Sprache und Kultur unendlich ärmer. Die Sonne
August / September 2008 den Konflikt zwischen        der ehemaligen Grandeur strahlt noch – aber
Russland und Georgien vermittelte, ferner, als       im Abendschein.
er sich 2011 für die Bombardierung des Libyen            Wir Deutsche sollten jedoch den Stolz der
von Muammar al Ghaddafi stark machte. Prä-           meisten Franzosen auf ihre Geschichte und
sident Hollande ist solchen Handlungsmustern         Tradition nicht als unzeitgemäße Don-Quijote-
gefolgt, als er 2013 in Mali und in der Zentral-     rie abtun, sondern besser ein wenig neidisch
afrikanischen Republik intervenierte.                über den Rhein blicken. Denn man muss nicht
    Da diese Aktionen aber auch die Grenzen          undifferenziert über das alte Preußen der Auf-
französischer Machtprojektion aufgezeigt haben,      klärungszeit, die Weimarer Klassik oder sonst
müssen wir auf die obige Frage zurückkom-            ein Phänomen, das sich aus unserer Vergangen-
men. Da bietet die Feststellung des Historikers      heit immer noch vorweisen lässt, zu schwärmen

8    ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93
EINFÜHRUNG

anfangen, um zu erkennen: In der Vergangen-
heit ruhen lebendige Kräfte, auf die wir zur
Bewältigung der Zukunft lieber nicht verzich-
ten sollten. Das können wir von den Franzosen
lernen.

|||   BERND RILL

      bis Dezember 2013 Referent für Recht, Staat,
      Europäische Integration, Integrationspolitik und
      Dialog der Kulturen, Akademie für Politik und
      Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München

                                       ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93   9
VERBLASST DAS JAKOBINISCHE
GESELLSCHAFTSIDEAL?
   JOSEPH JURT ||| Was kann man unter dem jakobinischen Gesellschaftsideal verstehen? Ich denke,
man kann hier drei Aspekte unterscheiden: zunächst einmal die Säkularreligion der Nation, die eine
Bindekraft entfaltet und soziale Kohäsion schafft; dann das unmittelbare Verhältnis des Bürgers
zum Staat ohne Vermittlungsinstitutionen und schließlich die zentralistische Organisation des
Staates. Bestimmen diese Prinzipien, die auf das Konzept der modernen Nation zurückgehen, die
durch die Französische Revolution entstand, heute noch die Gesellschaft unseres Nachbarlandes
oder gehören sie endgültig der Vergangenheit an? Eine Antwort darauf ist nicht einfach.

DIE IDEE DER NATION ALS SÄKULARRELIGION             chen danach nicht in den Büchern politischer
    Die Idee der Nation als Bürgernation, so wie    Schriftsteller zu suchen, die diese Revolution
sie im Kontext der Französischen Revolution         nicht vorausgesehen haben, und auch nicht in
entstand, wurde zu einer Orientierungsmatrix,       den Gesetzbüchern von Tyrannen, denen es
die eine Identitätswirkung auslöste, welche nur     genügte, ihre Macht zu missbrauchen und die
mit der zu vergleichen ist, die das Christentum     sich wenig um den Nachweis ihrer Legitimität
während Jahrhunderten ausübte. Die Idee der         scherten.“1
Nation bestimmte nicht nur das Leben, son-              Die Idee des totalen Bruchs mit der Vergan-
dern auch die Bereitschaft zum Opfertod (pro        genheit, der Wille, eine völlig neue Ordnung zu
patria mori). Das moderne Nationalbewusst-          begründen, waren in der Tat konstitutiv für das
sein, das sich damals ausbildete, übte eine dem     neue Selbstverständnis der französischen Re-
konfessionellen Wir-Bewusstsein ähnliche iden-      publik. Ihr zentrales Credo war, nach Mona
titäre Funktion aus. Die Nation wurde zum           Ozouf, die Idee der alterslosen Revolution; jede
Objekt einer Sakralisierung.                        Generation könne sich als erste betrachten und
    Die neue, nationale Identitätsvorstellung ar-   die Revolutionäre seien Kinder ohne Mutter,
tikulierte die Opposition zum Ancien Régime –       gemäß dem Motto aus Montesquieus „Esprit
ähnlich wie zur Zeit der Reformation – mit          des lois (prolem sine matre creatam)“, sie seien
der symbolischen Waffe des Bildersturms, der        in der Lage, die soziale und politische Ordnung
allerdings nach einer ersten Welle der Gewalt       völlig neu zu konzipieren. Die Franzosen such-
rationalisiert wurde und sich auf das Emblema-      ten so ihre republikanische Identität im Bruch
tische beschränkte.                                 mit der Zeit, d. h. der Vergangenheit, während
    Das Pathos des Neubeginns ging bis zur          die Vereinigten Staaten sich in der räumlichen
Schaffung eines neuen Kalenders, der den bis-       Trennung vom „Mutterland“ konstituierten.2
herigen Zeitrhythmus radikal verändern sollte.          Die Nation, die sich nun als eigenständiges
Robespierre unterstrich, dass man bei den           Subjekt verstand, musste sich ihre Symbole sel-
Repräsentationsformen früherer Systeme keine        ber schaffen. Sie tat dies teils durch die Substi-
Anleihen machen könne: „Die Theorie der             tution katholischer Riten durch rationalistische
revolutionären Regierung ist so neu wie die Re-     Gegenmodelle, häufig in antiker Einkleidung
volution, die sie hervorgebracht hat. Wir brau-     (Fest des höchsten Wesens) oder durch die

                                 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93                    11
JOSEPH JURT

Säkularisierung christlicher Kultformen (etwa       Zwischenbereiche; es sind dies gemeinsame
durch den Märtyrerkult, den man Marat wid-          glaubensähnliche Haltungen aller Art in Bezug
mete, dessen Statue an die Stelle der Heiligen-     auf scheinbar weltliche Gegenstände wie die
statuen trat).3                                     Nationalflagge, das Vaterland, bestimmte poli-
    Zu den neuen offiziellen Symbolen, die der      tische Organisationsformen, bestimmte Helden
moderne Nationalstaat, der aus der Französi-        oder historische Ereignisse. […] Sie sind in einem
schen Revolution hervorging, sich zu eigen          gewissen Sinn nicht von spezifisch religiösen
machte, zählten vor allem die Trikolore, die        Glaubensüberzeugungen zu unterscheiden.“5
Marseillaise und die Figur der Freiheit, die zur        Entfaltet die Säkularreligion der Nation
Verkörperung der Republik wurde. Im Kontext         heute noch in Frankreich diese Bindekraft?
der neoklassischen Antikenrezeption hatte die       Zweifellos findet man am Nationalfeiertag, dem
weibliche Allegorie der Freiheit mit den der        14. Juli, mit der Parade auf den Champs-Elysées
manumissio entlehnten Attributen der phrygi-        eine noch relativ ungebrochene Form der
schen Mütze (pileus) auf einem Stabe (vindicta)     Selbstdarstellung der Nation, der man kaum
zuerst Eingang in die Formensprache der jun-        anderswo in Europa so begegnet. Aber schon
gen amerikanischen Republik gefunden und            beim Bicentenaire der Französischen Revolu-
wurde von der Ersten Französischen Republik         tion, 1989, entfalteten die alten Symbole nicht
übernommen. Auch das Symbol der phrygi-             mehr die ungebrochene Wirkung. Damals fiel
schen Mütze (für uns Jakobinermütze) war            der spielerische Umgang mit diesem Erbe auf,
anglo-amerikanischen Ursprungs und wurde            etwa wenn man in Läden Mini-Guillotinen
von der Französischen Revolution über diesen        feilbot. Das stand im Gegensatz zum Ernst der
Umweg rezipiert.4                                   Debatten über die Nationalsymbole in den ost-
    Dieser neue Typus von Symbolen hatte            europäischen Ländern, die nach der Implosion
nicht mehr bloß eine unmittelbare Funktion als      des Sowjet-Imperiums ihre volle Souveränität
Erkennungszeichen in der kriegerischen Aus-         wieder erreichen konnten.6
einandersetzung, verwies auch nicht auf ein             Vor allem seit der Jahrhundertwende finden
Herrschergeschlecht, sondern übersetzte das         die Nationalsymbole in Frankreich nicht mehr
Zugehörigkeitsgefühl der Bürger, die nun die        fraglose Resonanz bei den Bürgern. Anlässlich
Quelle der Souveränität darstellten und das         eines Freundschaftsspieles im Stade de France
Geschick der Nation mitbestimmten.                  zwischen den Fußball-Nationalmannschaften
    Die Sakralisierung der Nation bewirkte un-      von Frankreich und Algerien am 6. Oktober
zweifelhaft, dass der Wille einer grundlegenden     2001 wurde die Marseillaise ausgepfiffen und
Neugestaltung der politischen Ordnung im            die Sportministerin, die Ruhe schaffen wollte,
Sinn einer Partizipation aller Bürger gegen die     mit einer Wasserflasche beworfen. Am 11. Mai
Privilegienordnung des Ancien Régime irreversi-     2002 wurde die Nationalhymne anlässlich ei-
bel wurde. Die unbedingte Schärfe der internen      nes Spieles zwischen dem SC Bastia und dem
Abgrenzung erklärt auch den missionarischen         FC Lorient von korsischen Fans ausgepfiffen.
Charakter, den die Revolution annahm.               Staatspräsident Chirac verließ die Tribüne, das
    Was erstaunt, ist, dass selbst Geister, die     Spiel wurde unterbrochen und erst nach einer
dem Christentum nahestanden, die säkulari-          Entschuldigung des Präsidenten der Französi-
sierte Religion der Nation bestätigten, indem sie   schen Fußball-Federation wieder aufgenommen.
den Tod für das Vaterland mit dem Opfertod          Im März 2003 wurde dann in einem Gesetz der
Christi in Verbindung brachten. Die Ausfüh-         „outrage au drapeau ou à l’hymne national“ zu
rungen von Joseph de Maistre in den Soirées de      einem Delikt erklärt. Die Nationalhymne wur-
Saint-Pétersbourg zeugen davon.                     de aber auch weiterhin ausgepfiffen: 2007 in
    Emile Durkheim hat seinerseits sehr klar ge-    Spielen mit Italien und Marokko, 2008 bei ei-
sehen, wie die Säkularreligion der Nation den       nem Freundschaftsspiel mit der Mannschaft von
Platz des Christentums einnahm, um die Kohä-        Tunesien. Die Regierung erklärte darauf, dass
renz der Gesellschaft zu garantieren. „Zwischen     jeder Sportanlass, bei dem die Nationalhymne
der Wissenschaft und dem Glauben gibt es            ausgepfiffen werde, sofort abgebrochen werde.

12     ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93
VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL?

Im Dezember 2010 wurde ein junger Algerier,             Im Ancien Régime gab es eine Vielfalt von
der eine Fahnenstange mit der Trikolore zer-        Rechtshoheiten und Körperschaften und damit
brochen hatte, erstmals im Geltungszeitraum         auch eine Vielzahl von Zugehörigkeiten. Die
des neuen Gesetzes zu einer Strafe verurteilt. In   Revolution fegte diese zwischengeschalteten
den USA hat im Übrigen der Oberste Gerichts-        Institutionen, die Privilegien verleihen konnten,
hof festgehalten, dass die Profanation des Ster-    weg und stellte das Individuum unmittelbar
nebanners kein Delikt darstelle und durch das       dem Staat, der die Nation politisch organisier-
Prinzip der Meinungsfreiheit geschützt sei.         te, gegenüber. Die Revolutionäre folgten hier
   Die hier geschilderten Vorgänge belegen,         Rousseau und nicht Montesquieu. In Ropus-
dass die Säkularreligion der Nation sich abge-      seaus Augen war die Abhängigkeit von anderen
schwächt hat. Man hat festgestellt, dass vor al-    eine Quelle der Unfreiheit. Die intermediären
lem Jugendliche maghrebinischer Herkunft aus        Körperschaften zwischen dem Individuum und
den Banlieues die Nationalhymne auspfiffen. Sie     dem Staat verhinderten den Menschen, frei zu
sind besonders von sozialem Ausschluss und          sein und sollten darum abgeschafft werden. Der
Arbeitslosigkeit betroffen. Sie vermögen sich       Bürger, direkter Ausdruck der volonté générale,
nicht mehr mit der Nation und ihren Symbolen        sollte darum – im Gegensatz zu England –
zu identifizieren. Das Problem ist vor allem        unabhängig von allen zwischengeschalteten
sozialer und nicht so sehr politischer Natur.7      Körperschaften sein und in enger und direkter
   Es lässt sich so in der Tat feststellen, dass    Beziehung zum Staat bleiben.
sich die jakobinische Säkularreligion der Nati-         „Die Staatsbürgerschaft ist wie die Nation
on abgeschwächt hat. Die soziale Kohäsion ist       ein unteilbares Ganzes“, schreibt die Soziologin
schwächer geworden, was sich andererseits in        Dominique Schnapper. „Sie muss vom Zentral-
einem Anwachsen nationalistischer, ja rassisti-     staat organisiert und garantiert werden, der
scher Reaktionen gegenüber denjenigen äußert,       Ausdruck der volonté générale ist und der auch
die sich ausgeschlossen fühlen und es oft auch      die Gesellschaft hervorbringt.“9 Die Verfassung
sind.                                               von 1791 definiert in Titel III, Artikel I klar
                                                    die Unteilbarkeit der nationalen Souveränität:
DER BÜRGER ALS UNMITTELBARER                        „La souveraineté est une, indivisible, inaliénable
ANGEHÖRIGER DES STAATES                             et imprescriptible. Elle appartient à la nation;
   Frankreich war seit seiner Konstitution als      aucune section du peuple, aucun individu ne
Nation zu Beginn der Neuzeit eine Staatsnati-       peut s’en attribuer l’exercice.“ In Frankreich ist
on. Die Kultur war ein Attribut, nicht jedoch       der Bürger unmittelbarer Angehöriger des Staa-
das Fundament der Nation. Als die National-         tes; keine Körperschaft kann Teil-Souveränität
versammlung 1789 die Souveränität der Nation        beanspruchen. Diese neue unmittelbare Staats-
ausrief, da wurde die Mitgliedschaft in dieser      bürgerschaft erlaubte dem Staat die direkte Be-
souveränen Nation in der politisch-rechtlichen      steuerung, die Heranziehung jeden Bürgers zum
Form der Staatsbürgerschaft und nicht im Sin-       Militärdienst sowie direkte Anordnungen an
ne einer ethnischen Zugehörigkeit zu einem          Fremde.
Volk vertreten. Die Grenzen der Nation waren            Dieses unmittelbare Verhältnis vom Bürger
diejenigen des Staates, dessen Souveränität sie     zum Staat ohne dazwischengeschaltete Körper-
selbst legitimierte. Die Zugehörigkeit war nur      schaften äußert sich auch in der leichten Ein-
in ihrem politischen Aspekt kodifiziert. „Die       bürgerung, die auf dem ius soli beruht (allerdings
bürgerrechtliche Dimension blieb unkodifiziert.     mit der Forderung eines mindestens 5-jährigen
Dies verursachte in der frühen Revolutionszeit      Aufenthalts im Lande). Dieses sehr liberale Ein-
keine Probleme, denn die Verfassung von 1791        bürgerungsgesetz stammt indes erst aus dem
garantierte Nicht-Staatsangehörigen die gleichen    Jahre 1889. Vorher galt in Frankreich das ius
wesentlichen Bürgerrechte wie den Staatsbür-        sanguinis. Man wurde Franzose durch Abstam-
gern: die Erb- und Vertragsfreiheit, die Freiheit   mung. Das führte dazu, dass die Situation der
der Person, des Eigentums und der Religion          Söhne von Einwandern, die in Frankreich zur
und die Gleichheit vor dem Gesetz.“8                Welt kamen, vorteilhafter war als die der fran-

                                ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93                     13
JOSEPH JURT

zösischen Altersgenossen. Die Söhne von Aus-        Kommunitarismus, die Angst, eine Gruppe
ländern mussten keinen Militärdienst leisten        würde sich innerhalb der „République une et
und waren darum früher auf dem Arbeitsmarkt         indivisible“ absondern. Die Staatsbürgerschaft
präsent. Mit dem Gesetz vom 26. Juni 1889           allein vermag aber nicht die Integration zu
wurde das ius soli eingeführt. Die in Frankreich    schaffen. Gruppen oder Gemeinschaften, die
von ausländischen Eltern geborenen Kinder           gewisse kulturelle Eigenschaften teilen, könnten
wurden mit dem Erreichen der Mündigkeit             aber dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen.
Franzosen. Es blieb ihnen die Frist von einem       Wenn in Deutschland die politische Integra-
Jahr, um diese Einbürgerung abzulehnen und          tion über die Erlangung der Staatsbürgerschaft
die alte Staatsbürgerschaft zu behalten.10 Mit      schwieriger ist, so gelingt doch die wirtschaftli-
diesem Einbürgerungsgesetz wird die Distanz         che Integration besser. „Die jungen Leute in
zwischen den Einheimischen und den Fremden          Vororten großer Städte sind – anders als die
stärker markiert. Die Staatsbürgerschaft meint      meisten jungen Türken in Berlin – Franzosen,
nun auch eine explizite Zugehörigkeit zum Staat     und sie sind als Franzosen diskriminiert“, be-
(mit dem Wahlrecht und der Militärpflicht).         merkt dazu Alfred Grosser. „Als Franzose dis-
Gérard Noiriel unterstreicht in diesem Zu-          kriminiert zu sein aber ist noch schlimmer, als
sammenhang die Tatsache, dass es zwischen           als Ausländer diskriminiert zu sein. Diese Leute
dem ius sanguinis und dem ius soli keinen qua-      kommen nicht aus ihren ,Ghettos‘ heraus und
litativen Unterschied gibt. Länder mit großen       haben keine Berufschancen. In den letzten Jah-
Auswandererquoten wie Deutschland und Ita-          ren sehen sie sich einer Polizei gegenüber, die
lien bevorzugen das ius sanguinis, um so auch       sie nur angreift und brandmarkt. Manche von
die ausgewanderten Landsleute zu behalten. In       diesen suchen eine neue Identität. Und finden
Frankreich gab es ab Ende des 19. Jahrhun-          sie im Islam – nicht, weil sie Islamisten wären,
derts kaum eine Auswanderungsbewegung wie           sondern weil sie von Frankreich, ihrem Vater-
in den meisten anderen europäischen Ländern.        land, schlecht behandelt worden sind.“13
Darum wollte man die Einwanderer über das               Die Angst vor dem Kommunitarismus be-
ius soli einbürgern, dies auch, um über mehr        stimmt auch die Sprachpolitik Frankreichs.
Soldaten zu verfügen, was auch darum als            1991 schuf man eine eigene Gebietskörperschaft
wichtig erschien, weil Frankreich demogra-          auf Korsika. Im Artikel I des dazu erlassenen
phisch gegenüber Deutschland enorm ins Hin-         Gesetzes sprach man von Korsika als einer „le-
tertreffen geraten war. Es handelte sich nicht so   bendigen, historisch gewachsenen kulturellen
sehr um eine großzügige Politik im Sinne der        Gemeinschaft“, die aus dem „korsischen Volk
Menschenrechts-Deklaration, sondern, wie Gé-        als einem Bestandteil des französischen Volkes“
rard Noiriel schreibt, „une politique annexion-     bestehe. Der Verfassungsrat erklärte diesen Ge-
niste, qui vise non pas un territoire mais une      setzestext als mit dem Prinzip der unteilbaren
population.“11                                      Republik nicht vereinbar.14 Ein Jahr danach hob
    Daher ist es nicht sinnvoll, dem französi-      man die französische Sprache auf Verfassungs-
schen ius soli, das ja erst 1889 zur Norm wurde     rang: „Le français est la langue de la Républi-
und dies aus demographisch-militärischen            que.“ Die Charta des Europa-Rates hinsichtlich
Gründen, einen höheren moralischen Stellen-         der Rechte der Minderheitensprachen wurde
wert zuzuschreiben als dem deutschen ius san-       gleichzeitig vom französischen Verfassungsrat
guinis.12 Tatsache bleibt indes, dass in Frank-     als nicht verfassungskonform betrachtet. Auch
reich geborene Söhne und Töchter mit 18 Jahren      hier wieder die Angst vor dem Kommunitaris-
automatisch die Staatsbürgerschaft bekommen,        mus. Auch die Ursprungssprachen der Einwan-
während sie in Deutschland erst ein Gesuch          derer werden so behandelt wie die Dialekte, die
stellen müssen.                                     man leicht herablassend patois nennt. Der Dis-
    Gleichzeitig sind dazwischengeschaltete Kör-    kurs über die Nationalsprache ist so seit zwei
perschaften aufgrund der Unmittelbarkeit des        Jahrhunderten, schreibt Anne-Marie Thiesse,
Citoyen zum Staat verpönt. Das Stichwort, das       durch die Angst vor einem Aufbrechen der
immer wieder beschworen wird, ist das des           Einheit der Nation vermittels der Ko-Existenz

14     ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93
VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL?

mehrerer Sprachen geprägt. Man verkennt da-          die der meisten europäischen Nationen. Aber
bei, dass gerade die Förderung der Zweispra-         auch diese ist zentralstaatlich konzipiert. Seit ein
chigkeit einen großen Vorteil darstellt.15           paar Jahren werden alle Forschungszentren der
   Hinsichtlich des unmittelbaren Verhältnis-        französischen Universitäten evaluiert. Damit
ses des Bürgers zum Staat kann man sagen,            wird eine nationale Organisation beauftragt,
dass man zu sehr an diesem jakobinischen             die AERES (Agence d’évaluation de la recher-
Prinzip festhält. Zum Nachteil der Integration.      che et de l’enseignement supérieur), die diese
                                                     Evaluation in ganz Frankreich nach demselben
DAS PRINZIP DES ZENTRALISMUS                         Schema vornimmt.
    Das Prinzip der zentralistischen Organisati-         Es gibt aber auch schon Widerstände gegen
on des Staates wird ebenfalls vom Konzept der        diesen Zentralismus. So etwa die Protestaktion
unteilbaren Souveränität der Nation abgeleitet.      der Bretonen im Oktober 2013, die nicht bloß
Dieses Prinzip entwickelte sich seit der absolu-     eine soziale Bewegung war, sondern Bretonen
ten Monarchie und wurde durch die Französi-          fast aller Parteien und sozialen Gruppen um-
sche Revolution noch verstärkt. Der Begriff des      fasste, die gegen die Einführung einer Schwer-
Jakobinismus verbindet sich gerade mit dem           verkehrsabgabe in der Bretagne und gegen die
extremen Zentralismus, mit der Konzentration         Schließung von Agrarbetrieben demonstrierten.
der gesamten politischen Gewalt in Paris und         Dabei forderte man auch mehr Autonomie für
einer totalen administrativen, juristischen und      die Region. Mit der Zerstörung von Mautstellen
kulturellen Uniformität des Landes.                  wurde indirekt auch die Hoheit des Zentral-
    Mit der Loi Defferre von 1982 wurde eine         staates in Frage gestellt. Die kilometerabhängige
sehr moderate Dezentralisierung veranlasst.          neue Maut wurde als illegale Steuer des franzö-
Doch die Kompetenzen, die man den Regionen           sischen Staates gegenüber der „bretonischen
und den Départements zusprach, waren sehr            Nation“ bezeichnet. Mit den roten Mützen, die
begrenzt und sind nicht vergleichbar mit denen,      die Protestierenden trugen, erinnerten sie an den
die Regionen oder Bundesländer in föderalis-         Widerstand der Bretonen gegen eine neue Steu-
tisch organisierten Staaten kennen. Der breto-       er, die Ludwig XIV. 1675 eingeführt hatte.17
nische Politiker Christian Troadec fordert so            Die nach wie vor sehr zentralistische Organi-
für die Bretagne eine Regionalisierung mit mehr      sation des Staates in Frankreich steht in einem
„institutioneller und finanzieller Autonomie“.       gewissen Widerspruch zu anderen Bewegungen
Um zu verdeutlichen, wie groß noch die Be-           in Europa, etwa in Spanien oder in England,
vormundung durch Paris ist, vergleicht er die        die allerdings bis zu einem Separatismus der
Bretagne mit Schottland. Schottland habe etwa        Regionen führen könnten. Die zentralistische
gleich viel Einwohner, könne indes über ein          Organisation steht aber auch in Widerspruch
Budget von 44 Milliarden autonom verfügen,           zum Prinzip der Subsidiarität, die zu einem
während die Mittel der Bretagne sich nur auf         Grundsatz der EU erklärt wurde.
eine Milliarde beliefen.16                               Das jakobinische Prinzip des Zentralismus
    In Frankreich wird die Idee der Gleichheit       bestimmt letztlich immer noch weitgehend die
sehr hochgehalten; gleichzeitig befürchtet man,      Organisation des französischen Staates. Diese
dass sich in den Provinzen Lokalfürsten etab-        Organisationsweise hat zweifellos ihre Schwä-
lieren könnten, die mehr partikuläre Interessen      chen und Schwerfälligkeiten, die oft mit den
vertreten. Die zentralistische Organisation des      Schwerfälligkeiten und Schwächen der Verwal-
Staates erklärt auch das beliebte Doppelman-         tung zusammenhängen, gegenüber der sich Poli-
dat von Politikern als Député-Maire: Der Bür-        tiker als ohnmächtig empfinden.18
germeister einer großen Stadt ist oft gleichzeitig       Das Fazit ist gemischt: Das kohäsionsstif-
Mitglied der Nationalversammlung. Man erhofft        tende jakobinische Prinzip der Säkularreligion
so vom Bürgermeister, dass er sich für seine         der Nation hat an Bindekraft verloren. Das ja-
Stadt bei der Zentralregierung einsetzt.             kobinische Prinzip der Unteilbarkeit der Souve-
    Frankreich betreibt auch eine sehr aktive        ränität, das keine intermediären Körperschaften
Kulturpolitik, deren Budget weit höher ist als       zwischen dem Staat und dem Bürger toleriert,

                                 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93                      15
JOSEPH JURT

sowie die ebenfalls von diesem Prinzip abgelei-
                                                           ANMERKUNGEN
tete zentralistische Organisation des Staates be-
                                                           1
stimmen nach wie vor die französische Gesell-                  Fink, Gonthier-Louis: Die Problematik der franzö-
                                                               sischen nationalen Identität in der Zeit des Um-
schaft, nicht unbedingt zu ihrem Vorteil.
                                                               bruchs zwischen Ancien Régime und Thermidor
                                                               (1750-1794), in: Identitäten. Erfahrungen und Fik-
|||   PROF. DR. DR. H.C. JOSEPH JURT                           tionen um 1800, hrsg. von Gonthier-Louis Fink und
      emeritierter Professor für französische                  Andreas Klinger, Bern u. a. 2004, S. 17.
                                                           2
      Literaturwissenschaft, Albert-Ludwigs-Universität,       Ozouf, Mona: L’idée républicaine et l’interpréta-
      Freiburg                                                 tion du passé national, in: Le Monde, 19.6.1998,
                                                               S. 14. Das Motto „problem sine matre creatam“, das
                                                               Montesquieu seinem Esprit des lois voranstellte,
                                                               stammte aus Ovids Metamorphosen II, 553, und
                                                               unterstrich den Anspruch des Autors, für sein Werk
                                                               gebe es keine Vorbilder.
                                                           3
                                                               Vgl. Herding, Klaus: Im Zeichen der Aufklärung.
                                                               Studien zur Moderne, Frankfurt a. M. 1989, S. 95-
                                                               126: „Davids ‚Marat’ als dernier appel à l’unité
                                                               révolutionnaire“.
                                                           4
                                                               Vgl. Jurt, Joseph: Die Allegorie der Freiheit in der
                                                               französischen Tradition, in: Nationale Mythen –
                                                               kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen
                                                               und Medien der Erinnerung, hrsg. von K. Knabel,
                                                               D. Rieger und S. Wodianka, Göttingen 2005,
                                                               S. 113-126. Die Phrygische Mütze war zunächst die
                                                               Kopfbedeckung der alten Phrygier (eine kegelför-
                                                               mige, hohe Mütze mit nach vorn geneigter ausge-
                                                               stopfter Kuppe, an den Ohren oft mit zwei schmalen
                                                               Laschen versehen). Die Jakobiner assoziierten sie
                                                               mit dem pileus, der Kopfbedeckung, die den befrei-
                                                               ten Sklaven in der Antike auszeichnete; die rote
                                                               Mütze wurde von ihnen als Symbol der Freiheit
                                                               und der republikanischen Gesinnung getragen.
                                                           5
                                                               Durkheim, Emile: De la définition des phénomènes
                                                               religieux, in: L’année sociologique, 2, 1897-1898,
                                                               S. 20: „Entre la science et la foi il existe des
                                                               intermédiaires; ce sont les croyances communes de
                                                               toute sorte, relatives à des objets laïques en
                                                               apparence, tels que le drapeau, la patrie, telle forme
                                                               d’organisation politique, tel héros ou tel événement
                                                               historique etc. ... Elles sont, dans une certaine
                                                               mesure, indiscernables des croyances proprement
                                                               religieuses.“ Zur Rolle der Nationalsymbole siehe
                                                               auch Jurt, Joseph: Die Rolle der Nationalsymbole
                                                               in Deutschland und Frankreich, in: Marianne –
                                                               Germania, Deutsch-französischer Kulturtransfer im
                                                               europäischen Kontext 1789-1914, hrsg. von E.
                                                               François, M. C. Hook-Demarle, R. Meyer-Kalkus
                                                               und M. Werner, Leipzig 1998, S. 141-155.
                                                           6
                                                               Vgl. Reichler, Claude: La réserve du symbolique,
                                                               in: Les Temps Modernes 550/1992, S. 85-93.
                                                           7
                                                               Vgl. Marsaud, Cyril: L’hymne national sifflé dans
                                                               les stades: une polémique française, in:
                                                               www.cafebabel.fr, Stand: 24.11.2008. Man kann
                                                               sich fragen, ob sich am 19. November 2013 etwas
                                                               gewandelt hat, als die Fußballmannschaft Frank-
                                                               reichs im Zeichen der napoleonischen Losung

16        ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93
VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL?

     „Impossible n’est pas français“ den Sieg über die             onsfähigkeit des Landes beruht. Man geht nach
     Mannschaft der Ukraine davontrug und sich für die             dem Soziologen Matthias Bös davon aus, dass sich
     Weltmeisterschaft in Rio de Janeiro qualifizierte.            der Fremde schnell integrieren kann und muss. Sie-
     Nach dem Spiel stimmte die Mannschaft spontan                 he hierzu Bös, Matthias: Ethnisierung des Rechts?
     die Marseillaise an, und 80 000 Zuschauer stimm-              Staatsbürgerschaft in Deutschland, Frankreich,
     ten in den Jubelgesang ein und schwenkten die                 Großbritannien und den USA, in: Kölner Zeitschrift
     Trikolore-Fähnchen. Von einem neuen (stark über-              für Soziologie und Sozialpsychologie 45/1993,
     triebenen?) Optimismus zeugte etwa die Reaktion               S. 619-643; Jurt, Joseph: Allemagne-France: débat
     der Regionalzeitung La Dépêche du Midi nach dem               sur la nation. Les Français vus d’Allemagne, in:
     Spiel: „Wenn ‚Les Bleus‘ die sehr unwahrschein-               Commentaire 4/1996, S. 335-339.
     liche Qualifikation gelungen ist, dann wird alles        13
                                                                   Grosser, Alfred: Gesellschaft und Politik in Frank-
     möglich: Vollbeschäftigung und ein zweistelliges              reich und Deutschland, in: zur debatte 6/2013, S. 7.
     Wachstum scheinen kaum mehr als ein Kinder-              14
                                                                   Nach Thiesse, Anne-Marie: Faire les Français.
     spiel. Die Nation hat plötzlich einen Grund gefun-
                                                                   Quelle identité nationale?, Paris 2010, S. 109.
     den, an sich selbst zu glauben.“                         15
8                                                                  Ebd., S. 112-113.
     Brubaker, Rogers: Einwanderung und National-             16
     staat in Frankreich und Deutschland, in: Der Staat            Balmer, Rudolf: Rote Mützen und bretonische
     28/1989, S. 18.                                               Fahnen, in: Neue Zürcher Zeitung, 22.11.2013, S. 8.
                                                              17
9
     Schnapper, Dominique: La communauté des citoyens.             Vgl. Rist, Manfred: Die Bretagne wird zum Brenn-
     Sur l’idée moderne de la nation, Paris 1994, S. 91:           punkt der Unzufriedenheit, in: Neue Zürcher Zei-
     „La citoyenneté est comme la nation un tout                   tung, 6.11.2013, S. 3; auch Le Bourdonnec, Yanick:
     indivisible, elle doit être organisée, garantie par un        Halte à la gauche centralisatrice!, in: Le Monde,
     État centralisé, expression de la volonté générale,           14.11.2013 sowie die Gegenposition von Morvan,
     producteur de la société.“                                    Françoise: Bonnets rouges: des dérives autonomistes
10                                                                 derrière les revendications sociales, in: Le Monde,
     Thiesse, Anne-Marie: Faire les Français. Quelle
                                                                   13.11.2013.
     identité nationale?, Paris 2010, S. 160-161.             18
11                                                                 Siehe dazu die Reaktion des Philosophen Hassner,
     Noiriel, Gérard: A quoi sert l’identité nationale?,           Pierre: „Ce qui fonde un Etat, c’est la coïncidence
     Marseille 2007, S. 22.                                        d’une communauté, d’un territoire, d’une autorité,
12
     Man hat immer wieder betont, dass im deutschen                d’une légitimité et d’une administration. Or ces élé-
     Selbstverständnis der Nation der ethnische Aspekt,            ments constitutifs sont en train de se disjoindre.“
     sprich die Abstammung, neben den kulturellen                  Zitiert bei Fressoz, Françoise: François Hollande
     Gemeinsamkeiten eine wichtige Rolle gespielt hat.             à la recherche du pouvoir perdu, in: Le Monde,
     Man hat darum die Tradition des deutschen ius                 21.11.2013, S. 23.
     sanguinis der französischen Tradition des ius soli
     entgegengesetzt. Das ius sanguinis war aber ein
     modernes Konzept, das man dem Territorialprinzip
     der absoluten Monarchie entgegensetzte; es sollte
     Personen, die außerhalb des Staatsterritoriums ge-
     boren wurden, erlauben, die Staatsangehörigkeit
     der Eltern (bzw. des Vaters) beizubehalten. Selbst
     wenn es bisweilen auch ethnisch interpretiert wur-
     de, hatte dieses Prinzip nichts mit dem späteren
     Rassismus der Nationalsozialisten zu tun. Die Op-
     position der Staatsbürgerschaftskonzepte in Frank-
     reich und Deutschland ist keineswegs so radikal,
     wie oft behauptet wird. Die meisten Franzosen sind
     heute Franzosen, weil ihre Eltern Franzosen waren.
     Auch bei in Frankreich geborenen Ausländern ver-
     langt man als Voraussetzung der Zuerkennung der
     französischen Staatsbürgerschaft einen Aufenthalt
     im Land von mindestens fünf Jahren, d. h man
     setzt voraus, dass zum Land durch diesen Aufent-
     halt eine persönliche Beziehung entstanden ist.
     Frankreich wendet auch nicht ein systematisches
     ius soli an. Zweifellos ist die Einbürgerung in
     Frankreich leichter als in Deutschland, was auch
     auf einer optimistischen Sichtweise der Assimilati-

                                        ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93                              17
DER SCHOCK DER „GRANDE GUERRE“
Frankreich im Ersten Weltkrieg

   DANIEL MOLLENHAUER ||| Bis heute wird der Erste Weltkrieg in Frankreich „La Grande Guerre“,
der „große Krieg“ genannt. Die Erinnerung an ihn ist unverändert lebendig: Filme, Comics und neu
eröffnete Museen zeugen ebenso davon wie die zahlreichen Gedenkveranstaltungen, die im Jubilä-
umsjahr 2014 geplant sind. Was aber bedeutete der Krieg für Frankreich? Und was bedeutet er
heute? Auf diese Fragen versucht der vorliegende Beitrag eine Antwort zu geben.

    Als Lazare (eigentlich: Lazzaro) Ponticelli      der Erste Weltkrieg, „la Grande Guerre“, im
1897 in einem kleinen Dorf in der italienischen      französischen kollektiven Gedächtnis einen so
Emilia-Romagna geboren wurde, deutete nichts         viel größeren Stellenwert besitzt als in Deutsch-
darauf hin, dass ihm gut 110 Jahre später ein-       land? Was bedeutete der Krieg für Frankreich?3
mal die Ehre eines französischen Staatsbegräb-
nisses zuteil werden sollte. Diese hatte er der      DER WELTKRIEG IN FRANKREICH
Tatsache zu verdanken, dass er sich 1914 bei             Frankreich war – im Unterschied zu Deutsch-
Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Freiwilliger     land – nicht nur Kriegsteilnehmer, sondern
in der Fremdenlegion engagiert hatte. Lazare         gleichzeitig auch Kriegsschauplatz. Diese schein-
Ponticelli überlebte den Krieg – und zwar länger     bar banale Feststellung war für die französische
als jeder andere seiner ehemaligen Kameraden.        Wahrnehmung und Deutung des Krieges schon
Seit Januar 2008 war er schließlich der letzte       bei den Zeitgenossen von fundamentaler Be-
Veteran des „Großen Krieges“, der noch am            deutung, und sie ist es bis heute geblieben. Von
Leben war: „Le dernier poilu“. Sein Tod am           August 1914 bis November 1918 fand das
12. März 2008 war ein Ereignis, das landesweit       Kriegsgeschehen auf französischem Territorium
für Aufmerksamkeit sorgte. Fünf Tage später          statt, trugen die Schlachten der Westfront fran-
fand im Invalidendom mit großem Pomp und             zösische Namen, waren es französische Land-
in Anwesenheit des Präsidenten der Republik,         schaften, die von den hin und her wogenden
Nicolas Sarkozy, das Staatsbegräbnis statt.1         Angriffen und Gegenangriffen verwüstet, fran-
    Der mutmaßlich letzte deutsche Weltkriegs-       zösische Städte, die vom Artilleriebeschuss zer-
veteran, der Oberlandesgerichtsrat a. D. Dr. Erich   stört wurden. Und es war die französische
Kästner, ist ebenfalls 2008, nur wenige Wochen       Hauptstadt Paris, die zweimal, nämlich im
vor Ponticelli, gestorben – sein Tod jedoch ist      Spätsommer 1914 und erneut im Frühjahr 1918,
von der Öffentlichkeit vollkommen unbemerkt          in die Reichweite der deutschen Geschütze
geblieben.2 Niemand wäre hierzulande auf die         kam. Die Materialität des Krieges und die exis-
Idee gekommen, ihm zu Ehren eine Schweige-           tenzielle Bedrohung, die der Krieg für den
minute in allen Schulen des Landes einzurich-        Fortbestand der eigenen Nation bedeutete, wa-
ten. Wie ist diese auffällige deutsch-französische   ren dadurch für Franzosen sehr viel unmittel-
Asymmetrie zu erklären? Woran liegt es, dass         barer spürbar als dies etwa für Engländer oder

                                 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93                    19
Sie können auch lesen