93 FRANKREICHS GRANDEUR - EINST UND JETZT - ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN - HANNS-SEIDEL-STIFTUNG
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Bernd Rill (Hrsg.) Frankreichs Grandeur – Einst und Jetzt 93 Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen www.hss.de
Bernd Rill (Hrsg.) FRANKREICHS GRANDEUR – EINST UND JETZT
Impressum ISBN 978-3-88795-435-2 Herausgeber Copyright 2014, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel. 089/1258-0 E-Mail: info@hss.de, Online: www.hss.de Vorsitzende Prof. Ursula Männle, Staatsministerin a.D. Hauptgeschäftsführer Dr. Peter Witterauf Leiter der Akademie für Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser Politik und Zeitgeschehen Leiter PRÖ / Publikationen Hubertus Klingsbögl Redaktion Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.) Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin) Susanne Berke, Dipl. Bibl. (Redakteurin) Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin) Marion Steib (Redaktionsassistentin) Druck Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Hausdruckerei, München Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Hanns- Seidel-Stiftung e.V. reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Das Copyright für diese Publikation liegt bei der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Namentlich gekennzeichnete redaktionelle Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder.
INHALT 05 EINFÜHRUNG Bernd Rill 11 VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL? Joseph Jurt 19 DER SCHOCK DER „GRANDE GUERRE“ Frankreich im Ersten Weltkrieg Daniel Mollenhauer 31 1919-1939: FRANKREICHS SICHERHEIT DURCH HEGEMONIE? Roland Höhne 37 VICHY UND DIE KOLLABORATION Klaus-Ulrich Hammel 49 GROßMACHTANSPRUCH UND ARABISCHE POLITIK Roland Höhne 57 FRANKREICHS PREKÄRE ROLLE IN DER GLOBALISIERUNG Henrik Uterwedde 65 FRANKREICHS EUROPAPOLITIK: WIE PHOENIX AUS DER ASCHE? Gisela Müller-Brandeck-Bocquet 75 FRANKREICHS STREITKRÄFTE ZWISCHEN INTERNATIONALEM GESTALTUNGSANSPRUCH UND NATIONALEN BUDGETZWÄNGEN Ronja Kempin 85 ZUR WELTGELTUNG DER FRANZÖSISCHEN KULTUR IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG Volker Steinkamp ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 3
EINFÜHRUNG BERND RILL ||| Wie definiert, beschreibt, misst man die „Grandeur“ eines Staates? Auf diese Frage sind zu verschiedenen Zeiten verschiedene Antworten möglich. Es bieten sich quer durch die Geschichte viererlei Maßstäbe an: politische, militärische, ökonomische, kulturelle, um in verein- fachenden Schlagworten zu bleiben. Das Mongolenreich der „Goldenen Horde“ in Russland und Westasien dürfte man wohl auf ganz überwiegend militärische Grandeur festlegen können, den Stadt- staat Athen kurz vor seinem Aufgehen in der römischen Provinz „Achaia“ (also kurz vor 146 v.Chr.) hingegen auf die kulturelle Komponente. Aber Frankreich hatte nach allen vier Maßstäben Grandeur, und in dieser Publikation wird der Frage nachgegangen, wie viel davon ihm noch heute zuzuerken- nen ist. An mehr als an ein zeitgeschichtliches Bild talität zwischen Deutschen und Franzosen sind ist dabei nicht gedacht, denn eindeutige Ver- überhaupt derart deutlich, dass auch die inten- falls-Szenarien mögen gut sein für Schlagzeilen, sive, stabile, wünschenswerte und zukunfts- aber wer wüsste nicht, dass solche Szenarien fähige Zusammenarbeit beider daran so bald sich einfach besser verkaufen als Optimismus nichts ändern wird. Diese Publikation soll auch oder differenzierende Herangehensweise. Des- ein Beitrag dazu sein, für die andere Mentalität halb befand Nicolas Beytout im konservativen Frankreichs das Verständnis zu fördern. Auch „Figaro“ vom 20. März 2007: „Frankreich fühlt einen Partner in Freundschaft muss man in sei- sich in schlechtem Zustand, und dennoch hat ner ganz spezifischen Eigenart zu erfassen versu- es alles, um sich gut zu fühlen.“ chen, denn das fördert die Freundschaft. Nichtsdestoweniger ist der Niedergang Frank- Zum Stichwort „geschichtsgesättigt“: Die reichs ein Thema, das, über grelle Schlagzeilen französische Entwicklung seit der Formation hinaus, die französische Öffentlichkeit nicht des west-karolingischen Teilreiches nach dem loslässt und unter den renommierten Intellek- Vertrag von Verdun (843) wurde in der Retro- tuellen der Hauptstadt fast schon eine eigene spektive als eine virtuelle Nachfolgerschaft des Literatur- und Essay-Gattung hervorgerufen hat, Römischen Reiches interpretiert, mit welchen die „declinologie“. Dahinter muss ein Stand des Argumenten und Konstrukten, muss allerdings Bewusstseins vermutet werden, der jedenfalls eher die Mediävisten interessieren als unsere in dem Teil der Nation, der für den öffentli- Publikation. Jedenfalls liegen die Wurzeln der chen Diskurs relevant ist, allgemein vorhanden in der Moderne sprichwörtlich gewordenen ist und der sich dabei auf Denkmuster einlässt, „exception française“ schon im Mittelalter. Die die den gebildeten Franzosen vertraut sind. substantivische Vokabel deutet darauf hin, dass Ein solcher Diskurs ist geschichtsgesättigt, der heute empfundene Verlust an „Grandeur“ natürlich im Sinne einer positiven Sonderrolle einen sehr hohen Vergleichsmaßstab bemüht, Frankreichs unter den Staaten Europas, wenn der eine Kontinuität des gut durchorganisierten nicht gar der Welt, und das in einer Dimen- Staates seit Karl dem Kahlen, dem König der sion, die den durch zwei verlorene Weltkriege Teilung von 843, bis heute postuliert. Das hindurchgegangenen Deutschen fremd ist. Die stößt bei der Betrachtung der internen Verhält- Unterschiede in der historisch-politischen Men- nisse und politischen Entwicklung zwar an sei- ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 5
BERND RILL ne Grenzen, da die Revolution von 1789 ff. bis dafür geeignet, dass der Verlust an Grandeur hin zur endgültigen Konstituierung der Repu- nicht als linearer Prozess zu beschreiben ist. blik (1879) zwischen Monarchisten, Bonapartis- Denn unter Napoleon III. hat Frankreich eine ten und Republikanern scharf umstritten war, durchgreifende Modernisierung erlebt, man aber wird aufrechterhalten im Verhältnis zum könnte den Neffen des großen Korsen fast europäischen Ausland, das an die „exception schon mit den „Entwicklungsdiktatoren“ der française“ nicht recht glauben wollte. Die Fall- Dritten Welt im 20. Jahrhundert vergleichen. höhe ist also desto dramatischer, je mehr an Und die Republik hat durch einschneidende Vorstellungen von historischer Dignität sie zur Heeresreformen und intensiven Festungsbau Voraussetzung hat. an der Grenze zum deutschen Kaiserreich (ein Da man sich also für unser Thema auf das Name für alle: Verdun) die richtigen Lehren Feld der Historie begeben muss, ist der Gedanke aus dem militärischen Versagen im Krieg von naheliegend, dass auch der hier thematisierte 1870/71 gezogen. Dadurch bewahrte Frank- Verlust an Grandeur einen Vorlauf hat, der nicht reich seinen Status als einer der großen Akteure erst mit der deutschen Wiedervereinigung von im Spiel des „Europäischen Gleichgewichts“ 1990, der EU-Erweiterung nach Osten und und blieb ein begehrter Bündnispartner. Südosten und insgesamt mit der Relativierung Und durch das ganze 19. Jahrhundert blieb der Position Europas in einer Welt der multi- Paris so etwas wie die kulturelle Hauptstadt polaren (oder US-gesteuerten, darauf kommt es Europas, letztlich unangefochten durch alle in- hier nicht an) Globalisierung einsetzt. ternen Wirren (Revolutionen von 1830, 1848, Es sei die These gewagt: Der Niedergang die blutige „Pariser Kommune“ von 1871) und Frankreichs als einer Vormacht, Einflussmacht, auch durch alle äußeren Niederlagen. kulturellen Führungsnation beginnt schon mit Im Ersten Weltkrieg hat das Land schwere dem Zusammenbruch des napoleonischen Im- Verluste an Menschenleben und im Norden periums, besiegelt durch die Niederlage von auch an Material und Infrastruktur hinnehmen Waterloo (1815). Der große Napoleon hatte müssen, die es derart an den Rand seiner Leis- die Kräfte Frankreichs auf eine Weise überbe- tungsfähigkeit brachten, dass der Schluss nicht ansprucht, die nichts anderes als Erschöpfung abwegig ist, es hätte ohne britische und ins- hinterlassen konnte. Nach Waterloo war eine besondere, gegen Kriegsende, amerikanische französische Hegemonie in Europa nicht mehr Unterstützung dem deutschen Ansturm wieder möglich, die machtpolitisch und militärisch nicht standgehalten. verstandene „exception française“ war an ihr Doch gegenüber dem besiegten Deutsch- Ende gekommen. Das napoleonische Imperium land war es nach Kriegsende aufgerufen, ohne war ein lehrbuchtauglicher Fall von „imperial die USA, die sich aus der europäischen Politik overstretch“ gewesen. zurückzogen, und ohne viel britische Rücken- Bonaparte generierte den Bonapartismus, deckung die Nachkriegsordnung zu wahren. das war der letzte Sieg, den der krebskranke Ein spezieller Beitrag in dieser Publikation stellt Empereur von seinem fernen Verbannungsort dar, dass es damit, je länger desto deutlicher, St. Helena aus errang und dessen politische überfordert war, auf politischem, militärischem, Ideologie seinen Neffen als Napoleon III. in aber auch auf ökonomischem Gebiet. Eine He- Frankreich wieder an die Herrschaft brachte gemonie auf dem Kontinent war nur durch die (1851/52). Bekanntlich endete diese zweite Niederhaltung Deutschlands zu gewährleisten, Kaiserherrschaft auf französischem Boden mit doch nicht nur Hitlers aggressive Außenpolitik, der Niederlage und Gefangennahme Napo- sondern das überlegen deutsche Potential an leons III. bei Sedan und dem anschließenden sich machten diese Aufgabe auf Dauer unmög- Sieg der Deutschen auch über die Dritte Re- lich. Die ab 1930 gebaute Verteidigungslinie an publik, die kurz nach Sedan dem Kaiserreich der deutschen Grenze, die nach dem Kriegs- nachgefolgt war (1870/71). minister Maginot benannt wurde, war das Dabei sind die Entwicklung von „Second sichtbare Zeichen des französischen Hegemonie- Empire“ und Dritter Republik als Hinweis Verzichtes – was einige hohe Militärs damals 6 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93
EINFÜHRUNG auch offen aussprachen: Wer nur sein eigenes die sind, unter dem Druck von tödlicher Ge- Territorium verteidigen will, verzichtet von An- fahr in die Höhe blicken und sich aufrecht fang an auf „power projection“ nach außen. halten muss. Kurz, nach meiner Auffassung Im Mai / Juni 1940 fiel die französische kann Frankreich ohne Grandeur nicht Frank- Armee bekanntlich binnen weniger Wochen der reich sein.“ deutschen „Blitzkriegs“-Strategie zum Opfer. Solches Pathos klingt für viele wohl nicht Die Niederlage war noch viel deutlicher als die mehr ganz zeitgemäß. Man könnte auch bemer- von 1870/71. Die Folgen für das französische ken, dass die Formulierung von der „bestimm- Selbstbewusstsein wurden nur dadurch relati- ten Idee von Frankreich“ geborgt erscheint aus viert, dass Deutschland den Krieg am Ende einem programmatischen Satz des revanchisti- dennoch verlor, wenn auch nicht mit einem schen, antisemitischen Blut- und Boden-Schrift- entscheidenden französischen Beitrag zu die- stellers (darauf hatten die Barden des „Dritten sem Ende. Die Vichy-Regierung und Kreise der Reiches“ kein Monopol) Maurice Barres (1862- politisch maßgeblichen Öffentlichkeit hatten 1923): „Wenn man von Frankreich eine be- zunächst, auch aus ideologischen Gründen, ei- stimmte Idee vorgibt, dann heißt das auch, ne dauernde Unterordnung unter Deutschland dass man uns erlaubt, eine bestimmte Rolle zu akzeptiert. Die Anstrengungen der Resistance spielen.“ Damit soll nicht behauptet werden, der und der militärische Beitrag de Gaulles mit sei- Staatsmann der historischen deutsch-französi- nen Streitkräften von „France libre“ hätten nicht schen Aussöhnung sei gleichen Geistes Kind genügt, dem Land einen offiziell gleichberechtig- gewesen wie Maurice Barres. Es soll nur gesagt ten Status an der Seite der Sieger zu verschaffen, sein, dass einem Nationalgefühl über die Dis- wenn die Briten nicht darauf bestanden hätten, positionsmarken hinaus, die man setzen kann, um im Nachkriegseuropa Unterstützung gegen um das Vorhandensein einer Einheit namens den sowjetischen Koloss zu erhalten. „Nation“ zu konstatieren, stets ein unauflösba- Dennoch ist die Rolle de Gaulles für die res Moment von Irrationalität innewohnt, denn Nachkriegsgeschichte Frankreichs kaum zu präzise Analyse und der Stolz, der den Glauben überschätzen. Der General hatte die erklärte an „Grandeur“ trägt, sind zwei verschiedene Absicht, mit der „Verwicklung in den Abstieg“ Dinge. zu „brechen“, so Alain Duhamel in „La Marque Außerdem entwickelte de Gaulle beim Ab- et la Trace“. Seine Memoiren begann er später fassen seiner Memoiren einen literarischen mit dem programmatischen Satz: „Während Ehrgeiz, wie er bei deutschen Spitzenpolitikern meines ganzen Lebens habe ich mir eine be- unüblich sein dürfte. Er versuchte, seine Prosa stimmte Idee von Frankreich gemacht.“ Er sagt an dem stilistischen Vorbild des schwungvollen es tatsächlich nicht genauer, er sagt nur: „une Romantikers Chateaubriand zu orientieren – certaine idee de la France“. Das wird in den daher wohl die Prinzessin und die Madonna folgenden Sätzen auf für einen derart vielseitigen gleich zu Beginn, und er borgte eben auch bei Politiker und Praktiker merkwürdig poetisie- Maurice Barres, denn dieser konnte nun einmal rende Weise nicht etwa näher ausgeführt, son- hinreißend schreiben. dern nur umspielt: „Was in mir an Affektivem De Gaulle hat eine sehr ambitionierte Außen- ist, stellt sich natürlich Frankreich vor, wie eine politik betrieben und damit Frankreich nach- Prinzessin in den Märchen oder die Madonna haltig in den Mittelpunkt weltweiter Aufmerk- auf Mauerfresken, wie für ein hervorragendes samkeit gerückt, gerade als mit dem desaströsen und exzeptionelles Geschick bestimmt.“ und für das Mutterland aussichtslosen Krieg in Doch dann wird der Autor handfester: Algerien Ersteres ein wesentliches Attribut sei- „Frankreich ist nicht wirklich es selbst, wenn ner Weltgeltung verlor. Aber eigentlich hat er es nicht einen ersten Rang besetzt; dass nur an Frankreichs Position in der Welt nichts Sub- ausgreifende Unternehmungen in der Lage sind, stantielles geändert, und er wusste selbst, dass die Gärstoffe der Zerstreuung auszugleichen, das auch gar nicht möglich war. Den ständigen die sein Volk in sich selbst trägt; dass unser Sitz im Sicherheitsrat der UNO, eine hervorra- Land, so wie es ist, unter den anderen, so wie gende Plattform, um sich weit und breit Gehör ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 7
BERND RILL zu verschaffen, hat er geerbt; die europäische Maurice Vaisse einen Hinweis: „Es ist das Integration hat er grundsätzlich anerkannt, was Wort (le verbe) des Generals de Gaulle, das die angesichts der Aussöhnung mit Deutschland Grandeur Frankreichs geschaffen hat.“ Der logisch war; seine ehrgeizige Ostpolitik, als ob hochliterarische Ausdruck „le verbe“ klingt an Frankreich mit der Sowjetunion auf gleichem an das „Wort Gottes“, meint also nicht einfach Machtniveau hätte verhandeln können, fand das Reden, sondern das Aufweisen von über- ihre deutliche Grenze darin, dass er den sowje- greifenden Zusammenhängen, meint Sinnstif- tischen Wunsch nach Anerkennung der Teilung tung für das Leben überhaupt. Der Sinn aber Deutschlands klar zurückwies. Seine „arabi- ruht in der emotional, bedingten „bestimmten sche Politik“ war eher originell dadurch, dass Idee von Frankreich“. De Gaulle hat durch seine er sich nach dem 6-Tage-Krieg vehement gegen vielen engagierten, programmatischen, rheto- Israel positionierte, als dass sie Frankreich des- risch sorgfältig gemeißelten Reden und Presse- halb bei den arabischen Staaten strategisch zu konferenzen, die für ihn ein sehr wichtiges nennenden Einfluss verschafft hätte. Und die Führungsmittel waren, den Franzosen darüber Förderung von Rüstungsexport, so sehr sie bei hinweggeholfen, dass die Zeiten ihres großen allen Beteiligten eine Rolle spielt, wird man historischen Ruhmes, ihrer Grandeur, vorbei nicht als die Hauptaufgabe von Außenpolitik sind, dass sie eine europäische Macht mit eini- bezeichnen wollen. De Gaulle hat die Ameri- gen anderen zusammen sind und im Weltmaß- kaner vielfach herausgefordert, aber trotz des stab nur eine Mittelmacht. Die listige Idee, den Bestehens auf eigener atomarer Bewaffnung hat französischen Einfluss durch Ausnützung der er den amerikanischen atomaren Schutz für integrativen Strukturen in der EU international Westeuropa doch stets zu schätzen gewusst, zu stärken, widerspricht grundsätzlich dem und das Verlassen des westlichen Bündnisses Gedanken der europäischen Integration, hat musste ihm bei seinem entwickelten Gespür dementsprechend viele Gegner in der EU und für Machtpolitik wie ein Sprung ins Nichts ähnelt zu sehr den in die Historie abgesunkenen erscheinen. Dass er die militärische Integration Hegemonie-Bestrebungen, um weit führen zu der NATO verlassen hat, darf diese Konstante können. nicht vergessen lassen. Denn er hat es wohl- Frankreich ist nach wie vor weltweit prä- weislich unterlassen, aus dem Bündnis gänzlich sent mit seinen „Territoires d’Outremer“ und auszutreten. „Departements d’Outremer“, von St. Pierre et Wenn der General also die außenpolitische Miquelon vor der Küste von Neufundland über Welt eigentlich gar nicht verändert hat, warum die Karibik und Guayana bis zur Komoren- ist er dann für die französische Nachkriegsge- Insel Mayotte im Indischen Ozean und bis nach schichte so wichtig? Man kann hier anführen, Polynesien im Südpazifik. Seine umfassende dass die auf ihn zugeschnittene Verfassung der Organisation der „Francophonie“ zeugt von „Fünften Republik“ dem Lande bis heute eine dem fortbestehenden Anspruch, ganz global schlagkräftige Exekutive sichert, die außenpoli- eine kulturbestimmende Nation zu sein, und tisch entscheidend ins Gewicht fallen kann. tatsächlich wäre die Welt ohne die französische Das hat Präsident Sarkozy bewiesen, als er im Sprache und Kultur unendlich ärmer. Die Sonne August / September 2008 den Konflikt zwischen der ehemaligen Grandeur strahlt noch – aber Russland und Georgien vermittelte, ferner, als im Abendschein. er sich 2011 für die Bombardierung des Libyen Wir Deutsche sollten jedoch den Stolz der von Muammar al Ghaddafi stark machte. Prä- meisten Franzosen auf ihre Geschichte und sident Hollande ist solchen Handlungsmustern Tradition nicht als unzeitgemäße Don-Quijote- gefolgt, als er 2013 in Mali und in der Zentral- rie abtun, sondern besser ein wenig neidisch afrikanischen Republik intervenierte. über den Rhein blicken. Denn man muss nicht Da diese Aktionen aber auch die Grenzen undifferenziert über das alte Preußen der Auf- französischer Machtprojektion aufgezeigt haben, klärungszeit, die Weimarer Klassik oder sonst müssen wir auf die obige Frage zurückkom- ein Phänomen, das sich aus unserer Vergangen- men. Da bietet die Feststellung des Historikers heit immer noch vorweisen lässt, zu schwärmen 8 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93
EINFÜHRUNG anfangen, um zu erkennen: In der Vergangen- heit ruhen lebendige Kräfte, auf die wir zur Bewältigung der Zukunft lieber nicht verzich- ten sollten. Das können wir von den Franzosen lernen. ||| BERND RILL bis Dezember 2013 Referent für Recht, Staat, Europäische Integration, Integrationspolitik und Dialog der Kulturen, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 9
VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL? JOSEPH JURT ||| Was kann man unter dem jakobinischen Gesellschaftsideal verstehen? Ich denke, man kann hier drei Aspekte unterscheiden: zunächst einmal die Säkularreligion der Nation, die eine Bindekraft entfaltet und soziale Kohäsion schafft; dann das unmittelbare Verhältnis des Bürgers zum Staat ohne Vermittlungsinstitutionen und schließlich die zentralistische Organisation des Staates. Bestimmen diese Prinzipien, die auf das Konzept der modernen Nation zurückgehen, die durch die Französische Revolution entstand, heute noch die Gesellschaft unseres Nachbarlandes oder gehören sie endgültig der Vergangenheit an? Eine Antwort darauf ist nicht einfach. DIE IDEE DER NATION ALS SÄKULARRELIGION chen danach nicht in den Büchern politischer Die Idee der Nation als Bürgernation, so wie Schriftsteller zu suchen, die diese Revolution sie im Kontext der Französischen Revolution nicht vorausgesehen haben, und auch nicht in entstand, wurde zu einer Orientierungsmatrix, den Gesetzbüchern von Tyrannen, denen es die eine Identitätswirkung auslöste, welche nur genügte, ihre Macht zu missbrauchen und die mit der zu vergleichen ist, die das Christentum sich wenig um den Nachweis ihrer Legitimität während Jahrhunderten ausübte. Die Idee der scherten.“1 Nation bestimmte nicht nur das Leben, son- Die Idee des totalen Bruchs mit der Vergan- dern auch die Bereitschaft zum Opfertod (pro genheit, der Wille, eine völlig neue Ordnung zu patria mori). Das moderne Nationalbewusst- begründen, waren in der Tat konstitutiv für das sein, das sich damals ausbildete, übte eine dem neue Selbstverständnis der französischen Re- konfessionellen Wir-Bewusstsein ähnliche iden- publik. Ihr zentrales Credo war, nach Mona titäre Funktion aus. Die Nation wurde zum Ozouf, die Idee der alterslosen Revolution; jede Objekt einer Sakralisierung. Generation könne sich als erste betrachten und Die neue, nationale Identitätsvorstellung ar- die Revolutionäre seien Kinder ohne Mutter, tikulierte die Opposition zum Ancien Régime – gemäß dem Motto aus Montesquieus „Esprit ähnlich wie zur Zeit der Reformation – mit des lois (prolem sine matre creatam)“, sie seien der symbolischen Waffe des Bildersturms, der in der Lage, die soziale und politische Ordnung allerdings nach einer ersten Welle der Gewalt völlig neu zu konzipieren. Die Franzosen such- rationalisiert wurde und sich auf das Emblema- ten so ihre republikanische Identität im Bruch tische beschränkte. mit der Zeit, d. h. der Vergangenheit, während Das Pathos des Neubeginns ging bis zur die Vereinigten Staaten sich in der räumlichen Schaffung eines neuen Kalenders, der den bis- Trennung vom „Mutterland“ konstituierten.2 herigen Zeitrhythmus radikal verändern sollte. Die Nation, die sich nun als eigenständiges Robespierre unterstrich, dass man bei den Subjekt verstand, musste sich ihre Symbole sel- Repräsentationsformen früherer Systeme keine ber schaffen. Sie tat dies teils durch die Substi- Anleihen machen könne: „Die Theorie der tution katholischer Riten durch rationalistische revolutionären Regierung ist so neu wie die Re- Gegenmodelle, häufig in antiker Einkleidung volution, die sie hervorgebracht hat. Wir brau- (Fest des höchsten Wesens) oder durch die ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 11
JOSEPH JURT Säkularisierung christlicher Kultformen (etwa Zwischenbereiche; es sind dies gemeinsame durch den Märtyrerkult, den man Marat wid- glaubensähnliche Haltungen aller Art in Bezug mete, dessen Statue an die Stelle der Heiligen- auf scheinbar weltliche Gegenstände wie die statuen trat).3 Nationalflagge, das Vaterland, bestimmte poli- Zu den neuen offiziellen Symbolen, die der tische Organisationsformen, bestimmte Helden moderne Nationalstaat, der aus der Französi- oder historische Ereignisse. […] Sie sind in einem schen Revolution hervorging, sich zu eigen gewissen Sinn nicht von spezifisch religiösen machte, zählten vor allem die Trikolore, die Glaubensüberzeugungen zu unterscheiden.“5 Marseillaise und die Figur der Freiheit, die zur Entfaltet die Säkularreligion der Nation Verkörperung der Republik wurde. Im Kontext heute noch in Frankreich diese Bindekraft? der neoklassischen Antikenrezeption hatte die Zweifellos findet man am Nationalfeiertag, dem weibliche Allegorie der Freiheit mit den der 14. Juli, mit der Parade auf den Champs-Elysées manumissio entlehnten Attributen der phrygi- eine noch relativ ungebrochene Form der schen Mütze (pileus) auf einem Stabe (vindicta) Selbstdarstellung der Nation, der man kaum zuerst Eingang in die Formensprache der jun- anderswo in Europa so begegnet. Aber schon gen amerikanischen Republik gefunden und beim Bicentenaire der Französischen Revolu- wurde von der Ersten Französischen Republik tion, 1989, entfalteten die alten Symbole nicht übernommen. Auch das Symbol der phrygi- mehr die ungebrochene Wirkung. Damals fiel schen Mütze (für uns Jakobinermütze) war der spielerische Umgang mit diesem Erbe auf, anglo-amerikanischen Ursprungs und wurde etwa wenn man in Läden Mini-Guillotinen von der Französischen Revolution über diesen feilbot. Das stand im Gegensatz zum Ernst der Umweg rezipiert.4 Debatten über die Nationalsymbole in den ost- Dieser neue Typus von Symbolen hatte europäischen Ländern, die nach der Implosion nicht mehr bloß eine unmittelbare Funktion als des Sowjet-Imperiums ihre volle Souveränität Erkennungszeichen in der kriegerischen Aus- wieder erreichen konnten.6 einandersetzung, verwies auch nicht auf ein Vor allem seit der Jahrhundertwende finden Herrschergeschlecht, sondern übersetzte das die Nationalsymbole in Frankreich nicht mehr Zugehörigkeitsgefühl der Bürger, die nun die fraglose Resonanz bei den Bürgern. Anlässlich Quelle der Souveränität darstellten und das eines Freundschaftsspieles im Stade de France Geschick der Nation mitbestimmten. zwischen den Fußball-Nationalmannschaften Die Sakralisierung der Nation bewirkte un- von Frankreich und Algerien am 6. Oktober zweifelhaft, dass der Wille einer grundlegenden 2001 wurde die Marseillaise ausgepfiffen und Neugestaltung der politischen Ordnung im die Sportministerin, die Ruhe schaffen wollte, Sinn einer Partizipation aller Bürger gegen die mit einer Wasserflasche beworfen. Am 11. Mai Privilegienordnung des Ancien Régime irreversi- 2002 wurde die Nationalhymne anlässlich ei- bel wurde. Die unbedingte Schärfe der internen nes Spieles zwischen dem SC Bastia und dem Abgrenzung erklärt auch den missionarischen FC Lorient von korsischen Fans ausgepfiffen. Charakter, den die Revolution annahm. Staatspräsident Chirac verließ die Tribüne, das Was erstaunt, ist, dass selbst Geister, die Spiel wurde unterbrochen und erst nach einer dem Christentum nahestanden, die säkulari- Entschuldigung des Präsidenten der Französi- sierte Religion der Nation bestätigten, indem sie schen Fußball-Federation wieder aufgenommen. den Tod für das Vaterland mit dem Opfertod Im März 2003 wurde dann in einem Gesetz der Christi in Verbindung brachten. Die Ausfüh- „outrage au drapeau ou à l’hymne national“ zu rungen von Joseph de Maistre in den Soirées de einem Delikt erklärt. Die Nationalhymne wur- Saint-Pétersbourg zeugen davon. de aber auch weiterhin ausgepfiffen: 2007 in Emile Durkheim hat seinerseits sehr klar ge- Spielen mit Italien und Marokko, 2008 bei ei- sehen, wie die Säkularreligion der Nation den nem Freundschaftsspiel mit der Mannschaft von Platz des Christentums einnahm, um die Kohä- Tunesien. Die Regierung erklärte darauf, dass renz der Gesellschaft zu garantieren. „Zwischen jeder Sportanlass, bei dem die Nationalhymne der Wissenschaft und dem Glauben gibt es ausgepfiffen werde, sofort abgebrochen werde. 12 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93
VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL? Im Dezember 2010 wurde ein junger Algerier, Im Ancien Régime gab es eine Vielfalt von der eine Fahnenstange mit der Trikolore zer- Rechtshoheiten und Körperschaften und damit brochen hatte, erstmals im Geltungszeitraum auch eine Vielzahl von Zugehörigkeiten. Die des neuen Gesetzes zu einer Strafe verurteilt. In Revolution fegte diese zwischengeschalteten den USA hat im Übrigen der Oberste Gerichts- Institutionen, die Privilegien verleihen konnten, hof festgehalten, dass die Profanation des Ster- weg und stellte das Individuum unmittelbar nebanners kein Delikt darstelle und durch das dem Staat, der die Nation politisch organisier- Prinzip der Meinungsfreiheit geschützt sei. te, gegenüber. Die Revolutionäre folgten hier Die hier geschilderten Vorgänge belegen, Rousseau und nicht Montesquieu. In Ropus- dass die Säkularreligion der Nation sich abge- seaus Augen war die Abhängigkeit von anderen schwächt hat. Man hat festgestellt, dass vor al- eine Quelle der Unfreiheit. Die intermediären lem Jugendliche maghrebinischer Herkunft aus Körperschaften zwischen dem Individuum und den Banlieues die Nationalhymne auspfiffen. Sie dem Staat verhinderten den Menschen, frei zu sind besonders von sozialem Ausschluss und sein und sollten darum abgeschafft werden. Der Arbeitslosigkeit betroffen. Sie vermögen sich Bürger, direkter Ausdruck der volonté générale, nicht mehr mit der Nation und ihren Symbolen sollte darum – im Gegensatz zu England – zu identifizieren. Das Problem ist vor allem unabhängig von allen zwischengeschalteten sozialer und nicht so sehr politischer Natur.7 Körperschaften sein und in enger und direkter Es lässt sich so in der Tat feststellen, dass Beziehung zum Staat bleiben. sich die jakobinische Säkularreligion der Nati- „Die Staatsbürgerschaft ist wie die Nation on abgeschwächt hat. Die soziale Kohäsion ist ein unteilbares Ganzes“, schreibt die Soziologin schwächer geworden, was sich andererseits in Dominique Schnapper. „Sie muss vom Zentral- einem Anwachsen nationalistischer, ja rassisti- staat organisiert und garantiert werden, der scher Reaktionen gegenüber denjenigen äußert, Ausdruck der volonté générale ist und der auch die sich ausgeschlossen fühlen und es oft auch die Gesellschaft hervorbringt.“9 Die Verfassung sind. von 1791 definiert in Titel III, Artikel I klar die Unteilbarkeit der nationalen Souveränität: DER BÜRGER ALS UNMITTELBARER „La souveraineté est une, indivisible, inaliénable ANGEHÖRIGER DES STAATES et imprescriptible. Elle appartient à la nation; Frankreich war seit seiner Konstitution als aucune section du peuple, aucun individu ne Nation zu Beginn der Neuzeit eine Staatsnati- peut s’en attribuer l’exercice.“ In Frankreich ist on. Die Kultur war ein Attribut, nicht jedoch der Bürger unmittelbarer Angehöriger des Staa- das Fundament der Nation. Als die National- tes; keine Körperschaft kann Teil-Souveränität versammlung 1789 die Souveränität der Nation beanspruchen. Diese neue unmittelbare Staats- ausrief, da wurde die Mitgliedschaft in dieser bürgerschaft erlaubte dem Staat die direkte Be- souveränen Nation in der politisch-rechtlichen steuerung, die Heranziehung jeden Bürgers zum Form der Staatsbürgerschaft und nicht im Sin- Militärdienst sowie direkte Anordnungen an ne einer ethnischen Zugehörigkeit zu einem Fremde. Volk vertreten. Die Grenzen der Nation waren Dieses unmittelbare Verhältnis vom Bürger diejenigen des Staates, dessen Souveränität sie zum Staat ohne dazwischengeschaltete Körper- selbst legitimierte. Die Zugehörigkeit war nur schaften äußert sich auch in der leichten Ein- in ihrem politischen Aspekt kodifiziert. „Die bürgerung, die auf dem ius soli beruht (allerdings bürgerrechtliche Dimension blieb unkodifiziert. mit der Forderung eines mindestens 5-jährigen Dies verursachte in der frühen Revolutionszeit Aufenthalts im Lande). Dieses sehr liberale Ein- keine Probleme, denn die Verfassung von 1791 bürgerungsgesetz stammt indes erst aus dem garantierte Nicht-Staatsangehörigen die gleichen Jahre 1889. Vorher galt in Frankreich das ius wesentlichen Bürgerrechte wie den Staatsbür- sanguinis. Man wurde Franzose durch Abstam- gern: die Erb- und Vertragsfreiheit, die Freiheit mung. Das führte dazu, dass die Situation der der Person, des Eigentums und der Religion Söhne von Einwandern, die in Frankreich zur und die Gleichheit vor dem Gesetz.“8 Welt kamen, vorteilhafter war als die der fran- ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 13
JOSEPH JURT zösischen Altersgenossen. Die Söhne von Aus- Kommunitarismus, die Angst, eine Gruppe ländern mussten keinen Militärdienst leisten würde sich innerhalb der „République une et und waren darum früher auf dem Arbeitsmarkt indivisible“ absondern. Die Staatsbürgerschaft präsent. Mit dem Gesetz vom 26. Juni 1889 allein vermag aber nicht die Integration zu wurde das ius soli eingeführt. Die in Frankreich schaffen. Gruppen oder Gemeinschaften, die von ausländischen Eltern geborenen Kinder gewisse kulturelle Eigenschaften teilen, könnten wurden mit dem Erreichen der Mündigkeit aber dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen. Franzosen. Es blieb ihnen die Frist von einem Wenn in Deutschland die politische Integra- Jahr, um diese Einbürgerung abzulehnen und tion über die Erlangung der Staatsbürgerschaft die alte Staatsbürgerschaft zu behalten.10 Mit schwieriger ist, so gelingt doch die wirtschaftli- diesem Einbürgerungsgesetz wird die Distanz che Integration besser. „Die jungen Leute in zwischen den Einheimischen und den Fremden Vororten großer Städte sind – anders als die stärker markiert. Die Staatsbürgerschaft meint meisten jungen Türken in Berlin – Franzosen, nun auch eine explizite Zugehörigkeit zum Staat und sie sind als Franzosen diskriminiert“, be- (mit dem Wahlrecht und der Militärpflicht). merkt dazu Alfred Grosser. „Als Franzose dis- Gérard Noiriel unterstreicht in diesem Zu- kriminiert zu sein aber ist noch schlimmer, als sammenhang die Tatsache, dass es zwischen als Ausländer diskriminiert zu sein. Diese Leute dem ius sanguinis und dem ius soli keinen qua- kommen nicht aus ihren ,Ghettos‘ heraus und litativen Unterschied gibt. Länder mit großen haben keine Berufschancen. In den letzten Jah- Auswandererquoten wie Deutschland und Ita- ren sehen sie sich einer Polizei gegenüber, die lien bevorzugen das ius sanguinis, um so auch sie nur angreift und brandmarkt. Manche von die ausgewanderten Landsleute zu behalten. In diesen suchen eine neue Identität. Und finden Frankreich gab es ab Ende des 19. Jahrhun- sie im Islam – nicht, weil sie Islamisten wären, derts kaum eine Auswanderungsbewegung wie sondern weil sie von Frankreich, ihrem Vater- in den meisten anderen europäischen Ländern. land, schlecht behandelt worden sind.“13 Darum wollte man die Einwanderer über das Die Angst vor dem Kommunitarismus be- ius soli einbürgern, dies auch, um über mehr stimmt auch die Sprachpolitik Frankreichs. Soldaten zu verfügen, was auch darum als 1991 schuf man eine eigene Gebietskörperschaft wichtig erschien, weil Frankreich demogra- auf Korsika. Im Artikel I des dazu erlassenen phisch gegenüber Deutschland enorm ins Hin- Gesetzes sprach man von Korsika als einer „le- tertreffen geraten war. Es handelte sich nicht so bendigen, historisch gewachsenen kulturellen sehr um eine großzügige Politik im Sinne der Gemeinschaft“, die aus dem „korsischen Volk Menschenrechts-Deklaration, sondern, wie Gé- als einem Bestandteil des französischen Volkes“ rard Noiriel schreibt, „une politique annexion- bestehe. Der Verfassungsrat erklärte diesen Ge- niste, qui vise non pas un territoire mais une setzestext als mit dem Prinzip der unteilbaren population.“11 Republik nicht vereinbar.14 Ein Jahr danach hob Daher ist es nicht sinnvoll, dem französi- man die französische Sprache auf Verfassungs- schen ius soli, das ja erst 1889 zur Norm wurde rang: „Le français est la langue de la Républi- und dies aus demographisch-militärischen que.“ Die Charta des Europa-Rates hinsichtlich Gründen, einen höheren moralischen Stellen- der Rechte der Minderheitensprachen wurde wert zuzuschreiben als dem deutschen ius san- gleichzeitig vom französischen Verfassungsrat guinis.12 Tatsache bleibt indes, dass in Frank- als nicht verfassungskonform betrachtet. Auch reich geborene Söhne und Töchter mit 18 Jahren hier wieder die Angst vor dem Kommunitaris- automatisch die Staatsbürgerschaft bekommen, mus. Auch die Ursprungssprachen der Einwan- während sie in Deutschland erst ein Gesuch derer werden so behandelt wie die Dialekte, die stellen müssen. man leicht herablassend patois nennt. Der Dis- Gleichzeitig sind dazwischengeschaltete Kör- kurs über die Nationalsprache ist so seit zwei perschaften aufgrund der Unmittelbarkeit des Jahrhunderten, schreibt Anne-Marie Thiesse, Citoyen zum Staat verpönt. Das Stichwort, das durch die Angst vor einem Aufbrechen der immer wieder beschworen wird, ist das des Einheit der Nation vermittels der Ko-Existenz 14 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93
VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL? mehrerer Sprachen geprägt. Man verkennt da- die der meisten europäischen Nationen. Aber bei, dass gerade die Förderung der Zweispra- auch diese ist zentralstaatlich konzipiert. Seit ein chigkeit einen großen Vorteil darstellt.15 paar Jahren werden alle Forschungszentren der Hinsichtlich des unmittelbaren Verhältnis- französischen Universitäten evaluiert. Damit ses des Bürgers zum Staat kann man sagen, wird eine nationale Organisation beauftragt, dass man zu sehr an diesem jakobinischen die AERES (Agence d’évaluation de la recher- Prinzip festhält. Zum Nachteil der Integration. che et de l’enseignement supérieur), die diese Evaluation in ganz Frankreich nach demselben DAS PRINZIP DES ZENTRALISMUS Schema vornimmt. Das Prinzip der zentralistischen Organisati- Es gibt aber auch schon Widerstände gegen on des Staates wird ebenfalls vom Konzept der diesen Zentralismus. So etwa die Protestaktion unteilbaren Souveränität der Nation abgeleitet. der Bretonen im Oktober 2013, die nicht bloß Dieses Prinzip entwickelte sich seit der absolu- eine soziale Bewegung war, sondern Bretonen ten Monarchie und wurde durch die Französi- fast aller Parteien und sozialen Gruppen um- sche Revolution noch verstärkt. Der Begriff des fasste, die gegen die Einführung einer Schwer- Jakobinismus verbindet sich gerade mit dem verkehrsabgabe in der Bretagne und gegen die extremen Zentralismus, mit der Konzentration Schließung von Agrarbetrieben demonstrierten. der gesamten politischen Gewalt in Paris und Dabei forderte man auch mehr Autonomie für einer totalen administrativen, juristischen und die Region. Mit der Zerstörung von Mautstellen kulturellen Uniformität des Landes. wurde indirekt auch die Hoheit des Zentral- Mit der Loi Defferre von 1982 wurde eine staates in Frage gestellt. Die kilometerabhängige sehr moderate Dezentralisierung veranlasst. neue Maut wurde als illegale Steuer des franzö- Doch die Kompetenzen, die man den Regionen sischen Staates gegenüber der „bretonischen und den Départements zusprach, waren sehr Nation“ bezeichnet. Mit den roten Mützen, die begrenzt und sind nicht vergleichbar mit denen, die Protestierenden trugen, erinnerten sie an den die Regionen oder Bundesländer in föderalis- Widerstand der Bretonen gegen eine neue Steu- tisch organisierten Staaten kennen. Der breto- er, die Ludwig XIV. 1675 eingeführt hatte.17 nische Politiker Christian Troadec fordert so Die nach wie vor sehr zentralistische Organi- für die Bretagne eine Regionalisierung mit mehr sation des Staates in Frankreich steht in einem „institutioneller und finanzieller Autonomie“. gewissen Widerspruch zu anderen Bewegungen Um zu verdeutlichen, wie groß noch die Be- in Europa, etwa in Spanien oder in England, vormundung durch Paris ist, vergleicht er die die allerdings bis zu einem Separatismus der Bretagne mit Schottland. Schottland habe etwa Regionen führen könnten. Die zentralistische gleich viel Einwohner, könne indes über ein Organisation steht aber auch in Widerspruch Budget von 44 Milliarden autonom verfügen, zum Prinzip der Subsidiarität, die zu einem während die Mittel der Bretagne sich nur auf Grundsatz der EU erklärt wurde. eine Milliarde beliefen.16 Das jakobinische Prinzip des Zentralismus In Frankreich wird die Idee der Gleichheit bestimmt letztlich immer noch weitgehend die sehr hochgehalten; gleichzeitig befürchtet man, Organisation des französischen Staates. Diese dass sich in den Provinzen Lokalfürsten etab- Organisationsweise hat zweifellos ihre Schwä- lieren könnten, die mehr partikuläre Interessen chen und Schwerfälligkeiten, die oft mit den vertreten. Die zentralistische Organisation des Schwerfälligkeiten und Schwächen der Verwal- Staates erklärt auch das beliebte Doppelman- tung zusammenhängen, gegenüber der sich Poli- dat von Politikern als Député-Maire: Der Bür- tiker als ohnmächtig empfinden.18 germeister einer großen Stadt ist oft gleichzeitig Das Fazit ist gemischt: Das kohäsionsstif- Mitglied der Nationalversammlung. Man erhofft tende jakobinische Prinzip der Säkularreligion so vom Bürgermeister, dass er sich für seine der Nation hat an Bindekraft verloren. Das ja- Stadt bei der Zentralregierung einsetzt. kobinische Prinzip der Unteilbarkeit der Souve- Frankreich betreibt auch eine sehr aktive ränität, das keine intermediären Körperschaften Kulturpolitik, deren Budget weit höher ist als zwischen dem Staat und dem Bürger toleriert, ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 15
JOSEPH JURT sowie die ebenfalls von diesem Prinzip abgelei- ANMERKUNGEN tete zentralistische Organisation des Staates be- 1 stimmen nach wie vor die französische Gesell- Fink, Gonthier-Louis: Die Problematik der franzö- sischen nationalen Identität in der Zeit des Um- schaft, nicht unbedingt zu ihrem Vorteil. bruchs zwischen Ancien Régime und Thermidor (1750-1794), in: Identitäten. Erfahrungen und Fik- ||| PROF. DR. DR. H.C. JOSEPH JURT tionen um 1800, hrsg. von Gonthier-Louis Fink und emeritierter Professor für französische Andreas Klinger, Bern u. a. 2004, S. 17. 2 Literaturwissenschaft, Albert-Ludwigs-Universität, Ozouf, Mona: L’idée républicaine et l’interpréta- Freiburg tion du passé national, in: Le Monde, 19.6.1998, S. 14. Das Motto „problem sine matre creatam“, das Montesquieu seinem Esprit des lois voranstellte, stammte aus Ovids Metamorphosen II, 553, und unterstrich den Anspruch des Autors, für sein Werk gebe es keine Vorbilder. 3 Vgl. Herding, Klaus: Im Zeichen der Aufklärung. Studien zur Moderne, Frankfurt a. M. 1989, S. 95- 126: „Davids ‚Marat’ als dernier appel à l’unité révolutionnaire“. 4 Vgl. Jurt, Joseph: Die Allegorie der Freiheit in der französischen Tradition, in: Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung, hrsg. von K. Knabel, D. Rieger und S. Wodianka, Göttingen 2005, S. 113-126. Die Phrygische Mütze war zunächst die Kopfbedeckung der alten Phrygier (eine kegelför- mige, hohe Mütze mit nach vorn geneigter ausge- stopfter Kuppe, an den Ohren oft mit zwei schmalen Laschen versehen). Die Jakobiner assoziierten sie mit dem pileus, der Kopfbedeckung, die den befrei- ten Sklaven in der Antike auszeichnete; die rote Mütze wurde von ihnen als Symbol der Freiheit und der republikanischen Gesinnung getragen. 5 Durkheim, Emile: De la définition des phénomènes religieux, in: L’année sociologique, 2, 1897-1898, S. 20: „Entre la science et la foi il existe des intermédiaires; ce sont les croyances communes de toute sorte, relatives à des objets laïques en apparence, tels que le drapeau, la patrie, telle forme d’organisation politique, tel héros ou tel événement historique etc. ... Elles sont, dans une certaine mesure, indiscernables des croyances proprement religieuses.“ Zur Rolle der Nationalsymbole siehe auch Jurt, Joseph: Die Rolle der Nationalsymbole in Deutschland und Frankreich, in: Marianne – Germania, Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext 1789-1914, hrsg. von E. François, M. C. Hook-Demarle, R. Meyer-Kalkus und M. Werner, Leipzig 1998, S. 141-155. 6 Vgl. Reichler, Claude: La réserve du symbolique, in: Les Temps Modernes 550/1992, S. 85-93. 7 Vgl. Marsaud, Cyril: L’hymne national sifflé dans les stades: une polémique française, in: www.cafebabel.fr, Stand: 24.11.2008. Man kann sich fragen, ob sich am 19. November 2013 etwas gewandelt hat, als die Fußballmannschaft Frank- reichs im Zeichen der napoleonischen Losung 16 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93
VERBLASST DAS JAKOBINISCHE GESELLSCHAFTSIDEAL? „Impossible n’est pas français“ den Sieg über die onsfähigkeit des Landes beruht. Man geht nach Mannschaft der Ukraine davontrug und sich für die dem Soziologen Matthias Bös davon aus, dass sich Weltmeisterschaft in Rio de Janeiro qualifizierte. der Fremde schnell integrieren kann und muss. Sie- Nach dem Spiel stimmte die Mannschaft spontan he hierzu Bös, Matthias: Ethnisierung des Rechts? die Marseillaise an, und 80 000 Zuschauer stimm- Staatsbürgerschaft in Deutschland, Frankreich, ten in den Jubelgesang ein und schwenkten die Großbritannien und den USA, in: Kölner Zeitschrift Trikolore-Fähnchen. Von einem neuen (stark über- für Soziologie und Sozialpsychologie 45/1993, triebenen?) Optimismus zeugte etwa die Reaktion S. 619-643; Jurt, Joseph: Allemagne-France: débat der Regionalzeitung La Dépêche du Midi nach dem sur la nation. Les Français vus d’Allemagne, in: Spiel: „Wenn ‚Les Bleus‘ die sehr unwahrschein- Commentaire 4/1996, S. 335-339. liche Qualifikation gelungen ist, dann wird alles 13 Grosser, Alfred: Gesellschaft und Politik in Frank- möglich: Vollbeschäftigung und ein zweistelliges reich und Deutschland, in: zur debatte 6/2013, S. 7. Wachstum scheinen kaum mehr als ein Kinder- 14 Nach Thiesse, Anne-Marie: Faire les Français. spiel. Die Nation hat plötzlich einen Grund gefun- Quelle identité nationale?, Paris 2010, S. 109. den, an sich selbst zu glauben.“ 15 8 Ebd., S. 112-113. Brubaker, Rogers: Einwanderung und National- 16 staat in Frankreich und Deutschland, in: Der Staat Balmer, Rudolf: Rote Mützen und bretonische 28/1989, S. 18. Fahnen, in: Neue Zürcher Zeitung, 22.11.2013, S. 8. 17 9 Schnapper, Dominique: La communauté des citoyens. Vgl. Rist, Manfred: Die Bretagne wird zum Brenn- Sur l’idée moderne de la nation, Paris 1994, S. 91: punkt der Unzufriedenheit, in: Neue Zürcher Zei- „La citoyenneté est comme la nation un tout tung, 6.11.2013, S. 3; auch Le Bourdonnec, Yanick: indivisible, elle doit être organisée, garantie par un Halte à la gauche centralisatrice!, in: Le Monde, État centralisé, expression de la volonté générale, 14.11.2013 sowie die Gegenposition von Morvan, producteur de la société.“ Françoise: Bonnets rouges: des dérives autonomistes 10 derrière les revendications sociales, in: Le Monde, Thiesse, Anne-Marie: Faire les Français. Quelle 13.11.2013. identité nationale?, Paris 2010, S. 160-161. 18 11 Siehe dazu die Reaktion des Philosophen Hassner, Noiriel, Gérard: A quoi sert l’identité nationale?, Pierre: „Ce qui fonde un Etat, c’est la coïncidence Marseille 2007, S. 22. d’une communauté, d’un territoire, d’une autorité, 12 Man hat immer wieder betont, dass im deutschen d’une légitimité et d’une administration. Or ces élé- Selbstverständnis der Nation der ethnische Aspekt, ments constitutifs sont en train de se disjoindre.“ sprich die Abstammung, neben den kulturellen Zitiert bei Fressoz, Françoise: François Hollande Gemeinsamkeiten eine wichtige Rolle gespielt hat. à la recherche du pouvoir perdu, in: Le Monde, Man hat darum die Tradition des deutschen ius 21.11.2013, S. 23. sanguinis der französischen Tradition des ius soli entgegengesetzt. Das ius sanguinis war aber ein modernes Konzept, das man dem Territorialprinzip der absoluten Monarchie entgegensetzte; es sollte Personen, die außerhalb des Staatsterritoriums ge- boren wurden, erlauben, die Staatsangehörigkeit der Eltern (bzw. des Vaters) beizubehalten. Selbst wenn es bisweilen auch ethnisch interpretiert wur- de, hatte dieses Prinzip nichts mit dem späteren Rassismus der Nationalsozialisten zu tun. Die Op- position der Staatsbürgerschaftskonzepte in Frank- reich und Deutschland ist keineswegs so radikal, wie oft behauptet wird. Die meisten Franzosen sind heute Franzosen, weil ihre Eltern Franzosen waren. Auch bei in Frankreich geborenen Ausländern ver- langt man als Voraussetzung der Zuerkennung der französischen Staatsbürgerschaft einen Aufenthalt im Land von mindestens fünf Jahren, d. h man setzt voraus, dass zum Land durch diesen Aufent- halt eine persönliche Beziehung entstanden ist. Frankreich wendet auch nicht ein systematisches ius soli an. Zweifellos ist die Einbürgerung in Frankreich leichter als in Deutschland, was auch auf einer optimistischen Sichtweise der Assimilati- ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 17
DER SCHOCK DER „GRANDE GUERRE“ Frankreich im Ersten Weltkrieg DANIEL MOLLENHAUER ||| Bis heute wird der Erste Weltkrieg in Frankreich „La Grande Guerre“, der „große Krieg“ genannt. Die Erinnerung an ihn ist unverändert lebendig: Filme, Comics und neu eröffnete Museen zeugen ebenso davon wie die zahlreichen Gedenkveranstaltungen, die im Jubilä- umsjahr 2014 geplant sind. Was aber bedeutete der Krieg für Frankreich? Und was bedeutet er heute? Auf diese Fragen versucht der vorliegende Beitrag eine Antwort zu geben. Als Lazare (eigentlich: Lazzaro) Ponticelli der Erste Weltkrieg, „la Grande Guerre“, im 1897 in einem kleinen Dorf in der italienischen französischen kollektiven Gedächtnis einen so Emilia-Romagna geboren wurde, deutete nichts viel größeren Stellenwert besitzt als in Deutsch- darauf hin, dass ihm gut 110 Jahre später ein- land? Was bedeutete der Krieg für Frankreich?3 mal die Ehre eines französischen Staatsbegräb- nisses zuteil werden sollte. Diese hatte er der DER WELTKRIEG IN FRANKREICH Tatsache zu verdanken, dass er sich 1914 bei Frankreich war – im Unterschied zu Deutsch- Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Freiwilliger land – nicht nur Kriegsteilnehmer, sondern in der Fremdenlegion engagiert hatte. Lazare gleichzeitig auch Kriegsschauplatz. Diese schein- Ponticelli überlebte den Krieg – und zwar länger bar banale Feststellung war für die französische als jeder andere seiner ehemaligen Kameraden. Wahrnehmung und Deutung des Krieges schon Seit Januar 2008 war er schließlich der letzte bei den Zeitgenossen von fundamentaler Be- Veteran des „Großen Krieges“, der noch am deutung, und sie ist es bis heute geblieben. Von Leben war: „Le dernier poilu“. Sein Tod am August 1914 bis November 1918 fand das 12. März 2008 war ein Ereignis, das landesweit Kriegsgeschehen auf französischem Territorium für Aufmerksamkeit sorgte. Fünf Tage später statt, trugen die Schlachten der Westfront fran- fand im Invalidendom mit großem Pomp und zösische Namen, waren es französische Land- in Anwesenheit des Präsidenten der Republik, schaften, die von den hin und her wogenden Nicolas Sarkozy, das Staatsbegräbnis statt.1 Angriffen und Gegenangriffen verwüstet, fran- Der mutmaßlich letzte deutsche Weltkriegs- zösische Städte, die vom Artilleriebeschuss zer- veteran, der Oberlandesgerichtsrat a. D. Dr. Erich stört wurden. Und es war die französische Kästner, ist ebenfalls 2008, nur wenige Wochen Hauptstadt Paris, die zweimal, nämlich im vor Ponticelli, gestorben – sein Tod jedoch ist Spätsommer 1914 und erneut im Frühjahr 1918, von der Öffentlichkeit vollkommen unbemerkt in die Reichweite der deutschen Geschütze geblieben.2 Niemand wäre hierzulande auf die kam. Die Materialität des Krieges und die exis- Idee gekommen, ihm zu Ehren eine Schweige- tenzielle Bedrohung, die der Krieg für den minute in allen Schulen des Landes einzurich- Fortbestand der eigenen Nation bedeutete, wa- ten. Wie ist diese auffällige deutsch-französische ren dadurch für Franzosen sehr viel unmittel- Asymmetrie zu erklären? Woran liegt es, dass barer spürbar als dies etwa für Engländer oder ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 93 19
Sie können auch lesen