IST FRANKREICH EIN SANIERUNGSFALL ODER DEUTSCHLAND? - November 2018 Gustav A. Horn, Sebastian Watzka - Hans-Böckler-Stiftung
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POLICY BRIEF IMK Policy Brief, November 2018 IST FRANKREICH EIN SANIERUNGSFALL ODER DEUTSCHLAND? Gustav A. Horn, Sebastian Watzka
WICHTIGE ENTSCHEIDUNGEN sische Wirtschaft die Finanzmarktkrise weitaus STEHEN AUS schlechter bewältigt als die deutsche. Gleichzei- tig fällt aber besonders im deutsch-französischen Kurz nach der Bundestagswahl im September Vergleich auch auf, wie gering die Lohnsteigerun- 2017 hat der französische Präsident Macron weit- gen in Deutschland zu Beginn der Währungsunion reichende Reformvorschläge für die EU als Gan- tatsächlich waren und erst seit der Finanzmarkt- zes, aber auch für sein eigenes Land gemacht krise aufholen. Dies spiegelte sich seinerzeit in (Macron 2017). Sein Ansatz spiegelt eine doppel- einer entsprechend schwachen Binnennachfrage te Sichtweise wider, die davon ausgeht, dass ei- in Deutschland wieder. Seit der Finanzmarktkrise nerseits Frankreich als nationale Volkswirtschaft hat sich das geändert. Insofern liegt es auch im einen erheblichen Reformbedarf hat und ande- Interesse der deutschen Regierung, diese binnen rerseits viele ökonomische Probleme nur noch wirtschaftlich nunmehr dynamischere Position in einem europäischen Kontext lösbar sind. In- außenwirtschaftlich abzusichern. sofern ruhen die Vorschläge des französischen Präsidenten auf zwei Säulen, einer nationalen und einer europäischen. Während die nationalen Maßnahmen angesichts der Mehrheitsverhält- WACHSTUM: DIE VERLOREN nisse im französischen Parlament von ihm relativ GEGANGENE SYNCHRONITÄT leicht umgesetzt werden könnten, ist er bei den europäischen Vorschlägen vor allem auf die Un- Zuweilen wird der Eindruck vermittelt, Frankreich terstützung Deutschlands angewiesen. Diese ist habe Deutschland als „kranker Mann“ Europas bisher allerdings noch sehr zögerlich. abgelöst und sei nur noch durch „marktorien- Zwar gelang im Rahmen der deutsch-franzö- tierte Strukturreformen“, damit sind angebots- sischen Regierungskonsultationen mit der Mese- seitige institutionelle Veränderungen gemeint, berger Erklärung eine Einigung, jedoch ist diese auf einen nachhaltigen Kurs für Wachstum und vor dem Hintergrund der französischen Vorstel- Beschäftigung zu bringen (SVR 2016, Ziffer 428). lungen eher als Minimallösung für zukünftige Das eigentliche Bild ist allerdings deutlich kom- Reformen des Euroraums zu verstehen. Insbe- plexer und soll im Folgenden differenzierter be- sondere blockiert die Bundesregierung weiterhin trachtet werden. Schaut man auf das Wachstum jeglichen substanziellen Fortschritt bei der Ver- des BIP, ergibt sich eine überraschende Überein- vollständigung der Bankenunion durch eine ge- stimmung. Seit Beginn der Währungsunion hat 76,571 mm = 3-spaltig / 1 Grafik & 3-spaltik meinsame Einlagensicherung. Die Unterstützung das BIP in Deutschland und Frankreich bis heute Deutschlands bei den ambitionierten Reformvor- schlägen Macrons ist daher eher als halbherzig BIP-Entwicklung seit Beginn der Währungsunion Abbildung 1 zu bewerten, der große Wurf blieb bislang aus. 01.01.1999=100 Die so entstandene Atempause im europä- ischen Reformprozess sollte genutzt werden, in Währungsunion BIP-Entwicklung seit Beginn der % um eine Bestandsaufnahme über wirtschaftli- 01.01.1999=100 che Tendenzen sowohl in Frankreich als auch 140 in Deutschland seit Beginn der Währungsunion 135 vorzunehmen, um daraus Schlussfolgerungen für 130 einen Reformprozess im Sinne beider Länder zu gewinnen. Im Rahmen eines Zyklenvergleichs 125 sollen zudem Gemeinsamkeiten und Unterschie- 120 de in den Reaktionen auf jüngste Krisen heraus- 115 gearbeitet werden. Bei dieser Analyse wird die Bedeutsamkeit vor 110 allem zweier Phasen deutlich. Zum einen hat die 105 lange Phase der Stagnation mit der einhergehen- – – – 100 den Lohnzurückhaltung in Deutschland zu Beginn 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 des vergangenen Jahrzehnts tiefe Spuren mit Deutschland Frankreich Euroraum Blick auf die relative Wettbewerbsfähigkeit beider Länder hinterlassen. Zum zweiten hat die franzö- schwarzEurostat; Quellen: = Euroraum Macrobond. orange = Deutschland rot = Frankreich IMK Policy Brief November 2018 Seite 2
gleich stark zugenommen. Es gibt also keinen ge- (Phase 1). Ab 2005 bis zum Beginn der Finanz- nerellen Wachstumsrückstand der französischen marktkrise glichen sich die Wachstumsraten mit Wirtschaft gegenüber der deutschen. Allerdings leichten Vorteilen für Deutschland wieder an. In ist anzumerken, dass beide Volkswirtschaften der Finanzmarktkrise bis 2009 brach das Wachs- hinter dem Euroraum zurückbleiben (Abbildung 1). tum in Deutschland wesentlich stärker ein als in Das insgesamt gleiche Wachstum ist freilich Frankreich. Seither (Phase 2) wächst die deut- in jeweils unterschiedlichen Phasen entstanden. sche Wirtschaft hingegen spürbar stärker und Vereinfacht lassen sich zwei Phasen unterschei- konnte ihren früheren Wachstumsrückstand in- den: die Phase von Beginn der Währungsunion zwischen vollständig aufholen. Wenn also von ei- bis zum Beginn der Finanzkrise, und die noch an- ner Krise in Frankreich und der starken Wirtschaft dauernde Phase seit der Finanzkrise. Nach einem in Deutschland die Rede ist, dann muss sich dies Gleichlauf zu Beginn der Währungsunion fiel die 76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander auf die Zeit seit der Finanzmarktkrise beziehen. deutsche Wirtschaft in den Jahren 2001 bis 2005 Die Bedeutsamkeit der Finanzmarktkrise für deutlich sichtbar hinter die französische zurück die Wachstumsdifferenzen zeigt sich besonders 76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander markant in einem expliziten Vergleich der bei- BIP-Entwicklung vor und nach der Finanzkrise den Pfade vor und nach der Finanzmarktkrise. Abbildung 2 Vor der Finanzmarktkrise hatte Frankreich einen BIP-Entwicklung vor und nach der Finanzkrise Wachstumsvorsprung gegenüber Deutschland, a) Nach der Finanzkrise (seit 01.04.2009) BIP-Entwicklung vor und nach der Finanzkrise wobei Deutschland zum Schluss etwas aufholte. In der Krise fiel Deutschland wieder weit zurück. a) Nach der Finanzkrise (seit 01.04.2009) a) 125 nach der Finanzkrise (seit 01.04.2009) Aber seither ist das Wachstum in Deutschland 01.04.2009=100 merklich kräftiger (Abbildung 2). 120 125 Dies bestätigt sich auch bei einem Vergleich der jüngsten Aufschwungsphasen. 1 Im jüngs- 115 120 ten Aufschwung seit 2013 wuchs die deutsche Wirtschaft spürbar stärker als die französische. 110 115 Insbesondere gelang aber die Erholung unmit- telbar nach der Finanzmarktkrise in Deutschland 105 110 erheblich schneller und kräftiger. Vor gut einem Jahrzehnt unterschieden sich die Aufschwünge 100 105 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 37 in beiden Ländern noch kaum (Abbildung 3). Bei alldem darf allerdings nicht vergessen 100 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 37 werden, dass die Wohlstandsentwicklung, die sich anhand des BIP pro Kopf messen lässt, we- gen der unterschiedlichen Demographie insge- Vorvor b) derder Finanzkrise (01.01.1999 Finanzkrise - 01.01.2008) (01.01.1999 - 01.01.2008) 01.01.1999=100 samt deutlich zugunsten Deutschlands verlief. Bei insgesamt gleichem Wachstum, aber höhe- Vor der Finanzkrise (01.01.1999 - 01.01.2008) 125 rem Bevölkerungszuwachs in Frankreich ist dies leicht erklärlich. In den 2000er Jahren lag jedoch 120 125 die Pro-Kopf-Entwicklung in Frankreich trotz hö- herem Bevölkerungswachstum über der deut- 115 120 schen. Seit dem Aufschwung 2005 – unterbro- chen von der Finanzmarktkrise – hat sich dieser 110 115 Trend jedoch in markanter Form gedreht. Es ist eine immer größer werdende Lücke zugunsten 105 110 Deutschlands entstanden. Somit ist seit der Fi- nanzmarktkrise ein zunehmendes gesamtwirt- – – 100 105 schaftliches Wohlstandsgefälle zwischen beiden 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 37 Ländern entstanden (Abbildung 4). 100 Deutschland Frankreich 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 27 29 31 33 35 37 Deutschland Frankreich Quellen: Eurostat; Macrobond. Quelle: Macrobond. 1 Zur Methodik siehe Horn et al. 2017. Deutschland Frankreich Quelle: Macrobond. IMK Policy Brief November 2018 Seite 3
76,571 mm = 3-spaltig / 1 Grafik & 3-spaltik Abbildung 3 Abbildung 4 Entwicklung des Lebensstandards seit Beginn der 76,571 mm 76,571 mm == 3-spaltig 3-spaltig -- 22 Grafiken Grafiken && 3-spaltig 3-spaltig untereinander untereinander Währungsunion BIP-Entwicklung in den letzten drei Aufschwüngen Entwicklung des Lebensstandards BIP-Entwicklung in den letzten drei Aufschwüngen (rebasiert 1999=100) seit Beginn der Währungsunion a) seit 01.04.2013 1999=100 a)01.04.2013=100 Seit 01.04.2013 112 135 130 110 125 108 120 106 115 104 110 102 102 105 – – 100 100 100 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 11 33 55 77 99 11 11 13 13 15 15 17 17 19 19 21 21 Deutschland Frankreich b) 01.04. 2009 - 01.10.2011 b) 01.04. b) 01.04. 2009 2009 -- 01.10.2011 01.10.2011 Quellen: OECD ; BIP pro Kopf in Deutschland Macrobond. 01.04.2009=100 BIP pro Kopf in Frankreich 112 112 Quelle: Macrobond. 110 Aus dieser Darstellung folgt, dass beide Volkswirtschaften mit ähnlicher Dynamik in die 108 Währungsunion gestartet sind. Mit der Wäh- rungsunion ist die Synchronität der Wirtschafts- 106 106 entwicklung allerdings verloren gegangen. Erst 104 fiel Deutschland zurück und seit der Finanzkrise Frankreich. Zwar ist das Wachstumsergebnis 102 bislang insgesamt gleich, aber extrapoliert man die Unterschiede in der jüngsten Dynamik in die 100 1 3 5 7 9 11 13 15 17 17 19 19 21 21 Zukunft, zeigt sich ein gravierendes Potenzial für Spannungen zwischen den beiden stärksten c) 01.04.2003 - 01.01.2008 Volkswirtschaften der Währungsunion. Es besteht c) 01.04.2003 c) 01.04.2003 -- 01.01.2008 01.01.2008 01.04.2003=100 also wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf. 112 110 110 108 108 ARBEITSLOSIGKEIT AUF UNTERSCHIEDLICHEN PFADEN 106 106 Der gravierendste Aspekt der Asynchronität zeigt 104 104 sich in den zuletzt stark divergierenden Arbeits- 102 102 markttendenzen. Die schlechte Performance der französischen Wirtschaft seit der Finanzmarktkri- – – 100 100 11 33 55 77 99 11 13 15 17 19 21 se spiegelt sich in den Entwicklungen der Arbeits- 11 13 15 17 19 21 losenquoten wieder. Bis zur Finanzmarktkrise Deutschland Deutschland Deutschland Frankreich war die Arbeitslosenquote in Frankreich niedriger Deutschland Frankreich Frankreich als in Deutschland. Seither ist es umgekehrt, und Frankreich Quellen: Eurostat; Macrobond. der Abstand zugunsten Deutschlands nimmt Jahr Quelle: Macrobond. Quelle: Quelle: Macrobond. Macrobond. für Jahr zu. Es ist diese aus französischer Sicht IMK Policy Brief November 2018 Seite 4
76,571 mm = 3-spaltig / 1 Grafik & 3-spaltik Entwicklung der ArbeitslosenquotenAbbildung seit 5 beunruhigende Tendenz, die die Sichtweise eines Sanierungsfalls Frankreich begründet (Abbildung 5). Beginn der Währungsunion Eingesetzt hatte dieser Prozess aber bereits Entwicklung der Arbeitslosenquoten seit Beginn der Währungsunion vor der Finanzmarktkrise seit 2005 als die Ar- in % beitslosenquote in Deutschland ihren Höhepunkt 12 erreichte. Beide Volkswirtschaften hatten sei- nerzeit wie oben gezeigt einen durchaus kräfti- 10 gen und insgesamt ähnlich starken Aufschwung bis zur Finanzmarktkrise. Gleichwohl ging in 8 Deutschland die Arbeitslosenquote deutlich stär- 6 ker zurück als in Frankreich. Bemerkenswert ist, dass das Arbeitsvolumen, also die Zahl der ge- 4 leisteten Arbeitsstunden, wie weiter unten erläu- 2 tert wird, in Frankreich damals etwas kräftiger gestiegen ist als in Deutschland (Abbildung 8a). Die – – 0 Arbeitsproduktivität pro Stunde entwickelte sich 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2018 hingegen in Deutschland etwas dynamischer (Ab- bildung 6). Beides reicht jedoch bei weitem nicht Deutschland Deutschland Frankreich aus, die starke Divergenz in der Arbeitslosigkeit Frankreich Quellen: Eurostat; Macrobond. zu erklären. 76,571 mm = 3-spaltig / 1 Grafik & 3-spaltik Folglich müssen institutionelle Veränderun- Quellen:Eurostat; Macrobond. gen am Arbeitsmarkt maßgeblich gewesen sein. Abbildung 6 Und genau dies war in Deutschland ja mit der Arbeitsproduktivität und Reallohnentwicklung Agenda 2010 der Fall. Schon relativ bald nach In- krafttreten der Agenda war klar, dass statistische Arbeitsproduktivität und Reallohnentwicklung Effekte wie die Korrektur von Doppelzählungen jeweils pro Stunde jeweils pro Stunde 1999=100 und aber auch der erhöhte Druck auf Arbeitslo- 1999 = 100 se im Hinblick auf Anrechenbarkeiten von Ver- 130 mögen zu der raschen und von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung weitgehend unab- 120 hängigen Reduzierung der Arbeitslosenquote in Deutschland beigetragen haben (Horn und Lo geay 2007). Spätere Untersuchungen bestätigten 110 die ersten Eindrücke in systematischer Weise (Klinger und Weber 2016; Stops 2015). Damit er- 100 klärt sich die Divergenz zwischen dem deutschen und dem französischen Arbeitsmarkt im Hin- – 90 blick auf Arbeitslosigkeit in dieser Phase wohl in 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 A recht starkem Ausmaß durch Anfangseffekte der Agenda 2010. Reallohn Deutschland Reallohn Frankreich Vor allem seit der Finanzmarktkrise hält der Arbeitsproduktivität Deutschland Reallohn Deutschland Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland so- Arbeitsproduktivität Frankreich Arbeitsproduktivität Deutschland wohl absolut als auch insbesondere in Relation zu Quellen: EZB ; Macrobond. Reallohn Frankreich Frankreich in beeindruckender Weise an. Wäh- Arbeitsproduktivität Frankreich rend die Arbeitslosigkeit in Frankreich bis zuletzt noch über dem Niveau von vor der Finanzmarkt- Null-Tarif. Im Gegenteil: Die Agenda-Reformen krise lag, strebt die deutsche Wirtschaft allmählich des Arbeitsmarkts tragen noch immer dazu bei, auf einen Zustand der Vollbeschäftigung zu. Damit dass etliche Indikatoren der Arbeitsmarktperfor- hat sich mittlerweile eine sehr markante Lücke in mance für Deutschland schlecht ausfallen. So der Arbeitsmarktperformance zugunsten Deutsch- waren die realen Stundenlöhne in Deutschland lands und zum Nachteil Frankreichs aufgetan. 2010 gerade mal auf dem Niveau von 1999, wäh- Andererseits kamen die guten Entwicklungen rend dieselben Löhne in Frankreich bei gleicher der Arbeitslosenquoten in Deutschland nicht zum Produktivitätsentwicklung um 13 % gewachsen IMK Policy Brief November 2018 Seite 5
76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander 76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander Abbildung 7 BESCHÄFTIGUNGSENTWICKLUNG: Armutsrisikoquoten GELEISTETE ARBEITSSTUNDEN Armutsrisikoquoten Armutsrisikoquoten in % a) Von Erwerbstätigen VERSUS ANZAHL AN BESCHÄFTIGTEN a) Von Erwerbstätigen a) von Erwerbstätigen Die bemerkenswert divergente Tendenz auf dem 10 Arbeitsmarkt seit der Finanzmarktkrise in zwei 10 doch so eng verflochtenen Volkswirtschaften ist 9 erklärungsbedürftig. Anders als in der Zeit von 9 2005 bis 2007 können hierfür Arbeitsmarktrefor- 8 men nicht maßgeblich sein. Denn es gab in dieser 8 Zeit in beiden Ländern keine nennenswerten Ar- 7 beitsmarktreformen. Der Verweis auf eine durch 7 die Agenda 2010 merklich abgesenkte NAIRU 6 überzeugt für diesen Zeitraum nicht. Denn die 6 Lohnzuwächse in Deutschland haben sich in die- 5 sem Zeitraum im Vergleich zu vorher und zu den 5 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 übrigen Euroländern merklich beschleunigt. Es 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 ist derzeit Gegenstand zahlreicher Forschungen, b) Von Arbeitslosen mit welcher NAIRU dies vereinbar ist oder ob die- b) von Arbeitslosen b) Von Arbeitslosen se Zusammenhänge durch die Krisen strukturell verändert wurden. 80 80 Das Bild des schwachen französischen Ar- 70 beitsmarkts ändert sich zudem bei einem genau- 70 eren Blick auf die Beschäftigungsentwicklung. 60 Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, die ein 60 Maß für das gesamte Beschäftigungsvolumen 50 darstellt, ist in Deutschland seit Beginn der Wäh- 50 rungsunion sogar weniger stark gestiegen als in 40 Frankreich (Abbildung 8a). Dies gilt in deutlichem 40 Ausmaß bis 2009, also zum Tiefpunkt der Finanz- – – 30 marktkrise, in der die geleisteten Arbeitsstunden 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 30 in Deutschland wegen des erheblich stärkeren 2006 Deutschland 2007 2008 2009 2010 2011 2012Frankreich 2013 2014 2015 2016 konjunkturellen Einbruchs dramatischer zurück- Deutschland gingen als in Frankreich. Seither ist der Vorsprung Frankreich Quellen: Eurostat; Macrobond. Frankreichs jedoch wieder etwas zusammenge- Deutschland Frankreich Quellen: Eurostat; Macrobond. schmolzen. Die höheren Wachstumsimpulse in Deutschland seit dieser Zeit haben ihre positiven Quellen: Eurostat; Macrobond. waren (Abbildung 6). Die Agenda-Reformen und Spuren am Arbeitsmarkt hinterlassen, ohne aller- speziell die Einführung des Arbeitslosengeld 2 dings dass das Niveau der insgesamt geleisteten (HARTZ IV) führten auch dazu, dass das Armuts- Arbeitsstunden in Deutschland bislang über das risiko unter arbeitslosen Menschen in Deutsch- französische gestiegen wäre. land derzeit bei 70 % liegt. Das Risiko, als ar- Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die beitsloser Mensch zu verarmen ist damit unter Zahl der Beschäftigten als Maßstab nimmt. Diese allen EU-Ländern in Deutschland am höchsten. ist in Frankreich seit Beginn der Währungsunion Und nicht nur das, auch unter den Erwerbstäti- um rund 14 % gestiegen, in Deutschland hinge- gen ist das Armutsrisiko in Deutschland inzwi- gen um etwas mehr als 15 % (Abbildung 8b). Der schen höher als in Frankreich (Abbildung 7). Die Verlauf entspricht dem im zeitlichen Vergleich Agenda-Reformen waren insofern auch mitver- der beiden Volkswirtschaften gängigen Muster: antwortlich dafür, dass sich in Deutschland ein Nach anfänglicher Synchronität fällt Deutschland neues Prekariat bilden konnte, das – arbeitslos zurück, beginnend 2005 und verstärkt seit der oder nicht – von fortschreitendem Wohlstand Finanzmarktkrise hat sich der Trend dann aber ausgeschlossen bleibt. spürbar gedreht. IMK Policy Brief November 2018 Seite 6
76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander 76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander Abbildung 8 76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander Abbildung 9 76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander Beschäftigung Beschäftigung Beschäftigung Beschäftigung Beschäftigung 76,571 mm = 3-spaltig(Personen)(Personen) - 2 Grafiken indrei in denuntereinander & 3-spaltig letzten den letzten drei Aufschwüngen a) a) Anzahlan Anzahl angearbeiteten gearbeitetenStunden Stunden Beschäftigung Aufschwüngen (Personen) in den letzten drei a) Anzahl an gearbeiteten Stunden Beschäftigung (Personen) a) seit 01.04.2013 Aufschwüngen in den letzten drei 01.01.1999=100 01.04.2013=100 a) seit 01.04.2013 Aufschwüngen 110 107 a) seit 01.04.2013 110 107 106 a) seit 01.04.2013 105 107 106 105 105 106 105 104 100 105 104 103 100 104 103 102 95 103 102 101 95 102 101 100 90 101 100 99 90 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2018 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2018 100 99 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 b) b)Anzahl Anzahlananbeschäftigten beschäftigtenPersonen Personen 99 b) Anzahl an beschäftigten Personen 1 2009 b) 01.04. 5 b) 01.04.2009 3 - 01.10.2011 7 9 11- 01.10.2011 13 15 17 19 21 01.01.1999=100 10301.04.2009=100 b) 01.04.2009 - 01.10.2011 103 b) 01.04.2009 - 01.10.2011 120 120 103 102 115 115 102 110 110 102 101 105 101 105 101 100 100 100 100 95 95 100 99 – – 90 90 99 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2018 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2018 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 99 1 3 Deutschland Frankreich c) 01.04.2003 - 501.01.2008 7 9 11 13 15 17 19 21 Quellen: EZB ; Macrobond. Deutschland c)01.04.2003 c)105 01.04.2003- 01.01.2008 - 01.01.2008 Deutschland Frankreich 01.04.2003=100 Frankreich c) 105 01.04.2003 - 01.01.2008 * 01.01.1999 = 100 * 01.01.1999 = 100 104 105 Aus Quellen: diesen Befunden ergeben sich zwangs- EZB; Macrobond. 104 Quellen: EZB; Macrobond. 103 läufig Schlussfolgerungen für die durchschnittli- 104 103 che Arbeitszeit pro Kopf. Sie ist in Deutschland 102 103 merklich niedriger als in Frankreich. Schließlich 102 wird ein geringeres Arbeitsvolumen mit einer 101 102 101 höheren Beschäftigtenzahl realisiert. Dabei ist 100 in Deutschland ein nahezu stetig abnehmender 101 100 Trend zu beobachten. Dagegen ist in Frankreich 99 100 erst seit 2013 ein Rückgang ähnlicher Größenord- 99 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 – – 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 nung zu verzeichnen. Diese Tendenzen sind Aus- 99 druck der relativ hohen Bedeutung von Teilzeit- 1 3 5 Deutschland 7 9 11 13 15 17 19 21 Deutschland Frankreich arbeit in Deutschland. Diese wird vor allem von Deutschland Frankreich Quellen: EZB; Macrobond. Frankreich Frauen freiwillig oder unfreiwillig gewählt. Mit Deutschland Quellen: EZB; Macrobond. Frankreich Blick auf die Beschäftigtenzahlen verstärkt der Quellen: EZB ;Macrobond. Quellen: EZB; Macrobond. Trend zur Teilzeit den Vorsprung Deutschlands. IMK Policy Brief November 2018 Seite 7
76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander 76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander 76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander 76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander 76,571 mm = 3-spaltig - 2 Grafiken & 3-spaltig untereinander Abbildung 10 Überschrift Abbildung 11 Überschrift Überschrift Beschäftigung Beschäftigung (Personen) (Personen) vornach vor und und nach der Finanzkrise Beschäftigung (Personen) vor und der nachFinanzkrise der Finanzkrise Demographische Entwicklung und Arbeitsmarkt a) Bevölkerungsentwicklung a) Bevölkerungsentwicklung a) nach der Finanzkrise (seit 01.04.2009) a) Bevölkerungsentwicklung a) nach der(seit a) nach der Finanzkrise Finanzkrise (seit 01.04.2009) 01.04.2009) a) Bevölkerungsentwicklung 01.04.2009=100 110 1999=100 110 110 110 110 105 108 108 105 105 106 100 106 100 104 100 104 95 102 95 102 95 100 90 100 901999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 98 90 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 98 1 4 7 10 13 16 19 22 25 28 31 34 37 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 1 4 7 10 13 16 19 22 25 28 31 34 37 b) Arbeitskräftepotenzial b) vor derb)Finanzkrise vor der Finanzkrise (01.01.1999(01.01.1999 - 01.01.2008)- 01.01.2008) b) Arbeitskräftepotenzial b) Arbeitskräftepotenzial b) vor der Finanzkrise (01.01.1999 - 01.01.2008) b) Arbeitskräftepotenzial 01.01.1999=100 1999=100 112 110 112 110 110 112 110 108 108 110 108 108 106 108 106 106 106 104 106 104 104 104 104 102 102 102 102 100 102 100 100 100 98 – – 100 981999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 98 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 98 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 98 1 4 7 10 13 16 19 22 25 28 31 34 37 1 4 7 10 13 16 19 22 25 28 31 34 37 Deutschland Frankreich c)c)Partizipations- Partizipations-und undBeschäftigungsquoten Beschäftigungsquoten Deutschland c)inPartizipations- % und Beschäftigungsquoten Quellen: EZBDeutschland Frankreich ; Macrobond. c) Partizipations- und Beschäftigungsquoten Frankreich Quellen: EZB; Macrobond. 85 Quellen: EZB; Macrobond. 85 83 85 83 81 Der Arbeitsmarkt absorbiert hier offenkundig 83 81 79 stärker, und dies erklärt, warum der Beschäftig- 81 79 77 79 tenzuwachs in Deutschland höher war. 77 75 77 In dieses Gesamtbild fügen sich die konjunk- 75 73 75 turellen Beschäftigungsreaktionen während der 73 71 73 jüngsten Aufschwungsphasen. Noch vor gut ei- 71 69 71 nem Jahrzehnt (ab 2003) stieg die Zahl der Be- 69 67 69 schäftigten in Frankreich während des damaligen 67 65 – 67 Aufschwungs genauso stark wie in Deutschland 651999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 65 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 (4 %). Aber bereits in der kurzen Erholungsphase 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 nach der Finanzmarktkrise stieg das Beschäfti- Deutschland Partizipationsquote Frankreich Partizipationsquote gungsniveau in Deutschland dann etwas stärker Deutschland Beschäftigungsquote (2 % versus 1 %). Diese Trendwende setzte sich im Frankreich Beschäftigungsquote jüngsten Aufschwung fort, in dem die Beschäf- tigung in Deutschland erneut spürbar stärker Quellen: OECD ; Macrobond. zunahm (Abbildung 9). Insgesamt lässt sich damit IMK Policy Brief November 2018 Seite 8
76,571 mm = 3-spaltig / 1 Grafik & 3-spaltik Reales BIP und inländische Nachfrage Abbildung 12 eine markant divergierende Beschäftigtenent- wicklung vor und nach der Finanzmarktkrise in den beiden Ländern feststellen (Abbildung 10). Reales BIP und inländische Nachfrage 1999=100 Dabei muss noch berücksichtigt werden, dass die demographischen Verhältnisse beider 140 Länder durchaus unterschiedlich waren. Bis 2011 nahm zwar die Gesamtbevölkerung in Frankreich 130 zu, während sie in Deutschland rückläufig war. Allerdings übertrug sich dieser divergierende Ef- 120 fekt nicht im selben Ausmaß auf das Erwerbs personenpotenzial. 2 Trotzdem bedeutet die im Vergleich zu Deutschland stärker zunehmende 110 Zahl der Erwerbsbevölkerung, dass die Absorp- tionserfordernisse an den französischen Arbeits- – 100 markt stärker zugenommen haben als für den 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 deutschen Arbeitsmarkt. Seit 2011 haben sich die- se Tendenzen jedoch wieder verändert. Während inländische Nachfrage Deutschland inländische Nachfrage Frankreich in Frankreich das Arbeitsangebot fast stagniert, Quellen: BIP Eurostat; DeutschlandMacrobond. nimmt es in Deutschland nun kräftig zu (Abbildung BIP Frankreich Fußnote: 01.01.1999 = 100 11). Vor diesem Hintergrund wäre vor 2011 eine BIP Deutschland tendenziell höhere Arbeitslosigkeit in Frankreich Quellen: Eurostat; BIP Frankreich Macrobond. als in Deutschland wenig überraschend, während 76,571 mm = 3-spaltig / 1 Grafik & 3-spaltik inländische Nachfrage Deutschland seit 2011 der umgekehrte Fall plausibler wäre. inländische Nachfrage Frankreich Exportentwicklung seit Beginn der Abbildung 13 Währungsunion DER BALANCIERTE AUFSCHWUNG Exportentwicklung seit Beginn der Währungsunion 01.01.1999=100 Im vorigen Jahrzehnt, mit Auswirkungen teilweise 300 bis heute, war in der deutschen Wirtschaftspolitik das einseitige Narrativ dominierend, Deutschland 250 sei eine kleine offene Volkswirtschaft, die im glo- balen Standortwettbewerb allein mit überlege- nen Angebotsbedingungen gesamtwirtschaftlich 200 erfolgreich sein könne. Diese Sichtweise wurde vor allem vom Sachverständigenrat und Hans- 150 Werner Sinn propagiert (SVR 2002; Sinn 2003). In der Logik einer solchen Erzählung ist gesamt- – – wirtschaftlicher Erfolg im Kern stark an die Ex- 100 1999 2001 1003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2018 porte gekoppelt. Sie allein dienen als Ausweis des Erfolgs im globalen Standortwettbewerb. Deutschland Frankreich Deutschland Folglich musste die heimische Wirtschaftspolitik vor allem wettbewerbsfähig sein und Exporterfol- Frankreich Quellen: Eurostat; Macrobond. * 01.01.1999 = 100 ge erzeugen. Eine florierende Binnennachfrage – basierend auf einkommensstarken Verbrauchern Quellen: Eurostat; Macrobond. und innovativen Unternehmern – fehlte im neo- ist das Ergebnis mit Blick auf Binnennachfrage liberalen Dogma der deutschen wirtschaftspoli- und Ausfuhren letztlich nicht überraschend (Ab- tischen Beratungen um die Jahrtausendwende bildungen 12 und 13). vollends. In Frankreich war diese Sichtweise bei Seit Beginn des vorigen Jahrzehnts, und le- weitem nicht so prägend (Piketty 2017). Insofern diglich durch die Finanzmarktkrise unterbrochen, haben die Ausfuhren der deutschen Wirtschaft immer stärker zugenommen als jene Frankreichs 2 Jeweils gemessen im Alter zwischen 25 und 64 Jahren (Abbildung 13). Das heißt, angesichts des in etwa IMK Policy Brief November 2018 Seite 9
gleichen Wachstums insgesamt, war Deutsch- im vorigen Jahrzehnt deutlich ab. Zeitweise wa- land immer stärker von der Auslandskonjunktur ren die Löhne pro Stunde sogar leicht rückläu- abhängig, was auch den wesentlich stärkeren fig. Dies war das Ergebnis nicht nur der Arbeits- Einbruch während der Finanzmarktkrise verur- marktreformen jener Zeit, sondern des schon län- sacht hat. Umgekehrt erklärt das auch den stärke- ger anhaltenden Drucks auf den Lohnbildungs- ren Impuls mit der globalen Erholung nach dieser prozess (Dustmann et al. 2014). Er war gleichsam Krise. Dies kann als ein globaler Nachfrageeffekt wirtschaftspolitischer Ausdruck des seinerzeit gesehen werden, der der deutschen Wirtschaft vorherrschenden Narrativs einer mangelhaften 76,571 mm = 3-spaltig / 1 Grafik & 3-spaltik vor allem wegen ihres hohen Anteils an Investi- deutschen Wettbewerbsfähigkeit, deren Wieder- tionsgütern während des globalen Aufschwungs zugute kam (Horn und Lindner 2016). Mit Blick Abbildung 14 auf den Vergleich zur französischen Wirtschaft Nominale Stundenlöhne wäre dies ein unproblematisches Ergebnis, in Nominale Stundenlöhne01.01.1999 = 100 dem lediglich eine unterschiedliche Wirtschafts- 01.01.1999=100 struktur zum Ausdruck käme, die für die beiden 170 Volkswirtschaften je nach globaler Wirtschafts lage Vor- und Nachteile hätte. 160 Die hohen Exporte bei gleichzeitig prägnant 150 schwacher Binnennachfrage sind auch das Er- gebnis einer Angebotspolitik, die auf dem oben 140 geschilderten Narrativ beruht. Diese war keines- 130 wegs neutral mit Blick auf die französische Wirt- 120 schaftslage, sondern hat ihr geschadet. Das gilt bis zur Finanzmarktkrise. Danach ist ein Bruch 110 mit dieser wirtschaftspolitischen Strategie vollzo- – – 100 gen worden, der sich für Deutschland sehr posi- 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2018 tiv ausgewirkt hat, ohne aber Frankreich bisher hinreichend zu nutzen. Deutschland Deutschland Frankreich Frankreich Im Kern lassen sich zwei Gründe für die relativ positive Beschäftigungstendenz seit der Finanz- Quellen: EZB ; Macrobond. marktkrise in Deutschland erkennen. Der erste Quellen: EZB; Macrobond. ist, dass Deutschland den Konjunktureinbruch im 76,571 mm = 3-spaltig / 1 Grafik & 3-spaltik Gefolge der Finanzmarktkrise durch stabilisieren- de Maßnahmen vor allem auf dem Arbeitsmarkt Abbildung 15 wesentlich besser bewältigte als Frankreich. Der Lohnstückkosten zweite Grund ist ein seit der Finanzmarktkrise binnen- und außenwirtschaftlich balancierterer Lohnstückkosten 1999=100 1999=100 Aufschwung, bei dem anders als in den voran- gegangenen Aufschwüngen auch dem privaten 150 Konsum eine entscheidende Rolle zukommt und eben nicht nur den Exporten. 140 Es geht dabei um die preisliche Wettbewerbs- 130 fähigkeit, die in einem engen Zusammenhang mit den Lohnstückkosten, also dem Verhältnis von 120 Entlohnung zur Produktivität, steht. Im Mittel- 110 punkt steht dabei zunächst die Lohnentwicklung in beiden Ländern. Hier zeigen sich bedeutsame 100 Unterschiede. Etwa zwei Jahre nach Beginn der – – Währungsunion haben sich die deutsche und die 90 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 französische Lohnentwicklung voneinander ab- gekoppelt (Abbildung 14). Während in Frankreich Deutschland Frankreich Deutschland die Lohn entwicklung einem stetigen Aufwärts- Euroraum EZB-Ziel von 2 % p.a. Frankreich pfad folgte, schwächte sie sich in Deutschland EZB-Ziel Quellen: Eurostat; von 2% p.a. Macrobond. Euroraum IMK Policy Brief November 2018 Seite 10 Quellen: Eurostat; Macrobond.
gewinnung merkliche Lohnkostensenkungen er- beschrieben, ist dies wegen der beschäftigungs- forderlich mache. mindernden Schwäche der Binnennachfrage Diese Strategie erschien aus deutscher Sicht zu- keine Erfolgsgeschichte; schon gar nicht aus nächst erfolgreich. Denn die Produktivitätsent- der Sicht des Euroraums als Ganzes und speziell wicklung war in beiden Ländern bis Mitte des Frankreichs. Für Frankreich war es eine schwe- vorigen Jahrzehnts nicht sehr unterschiedlich. Im re Hypothek (Horn et al. 2005). Schließlich ist Aufschwung unmittelbar vor der Finanzmarkt- dies eine Strategie realer Abwertung innerhalb krise zeigte die französische Wirtschaft jedoch des Euroraums. Das ist kein Problem, wenn es Schwächen. Seitdem erhöht sich die Produk- zuvor eine Überbewertung gegeben hätte, die tivität in Frankreich deutlich langsamer als in korrigiert werden musste. Ist dies aber nicht Deutschland, wo sie in nahezu unvermindertem der Fall, sind Friktionen eines destabilisierenden Tempo weiter steigt (Abbildung 6). Abwertungswettlaufs innerhalb des gemein- Mit dieser Kombination aus schwacher Lohn- samen Währungsraums unvermeidlich. Dieser und trendmäßiger Produktivitätsentwicklung in wird von vielen sogar als existenzbedrohend für Deutschland sowie trendmäßiger Lohn- und re- die gemeinsame Währung angesehen. Auf die- lativ schwächerer Produktivitätsentwicklung in se Problematik ist an vielen Stellen in den ver- Frankreich war offenkundig, dass die deutsche gangenen Jahren hingewiesen worden (Eichen- Wirtschaft einen im Vergleich zu Frankreich merk- green 2010; Storm und Nastepaad 2014; Stiglitz lich niedrigeren Lohnstückkostenpfad eingeschla- 2016). Diese Untersuchungen basieren auf der gen hatte. Auch im Vergleich zum Euroraum als Prämisse, dass es einer solchen Korrektur im Ganzes blieb Deutschland mit Blick auf die Kos- Falle Deutschlands nicht oder höchstens in ei- tenbelastung durch Löhne bis zur Finanzmarktkri- nem deutlich geringerem Umfang bedurft hät- se weit zurück (Abbildung 15). Dies schlug sich dann te. Hierfür spricht in der Tat vieles. So war das in einer entsprechend niedrigeren Inflation nieder. Leistungsbilanzdefizit Deutschlands zu Beginn Mit anderen Worten, Deutschland gewann an der Währungsunion von der Größenordnung her preislicher Wettbewerbsfähigkeit; in der Folge wa- nicht bedenklich, insbesondere wenn man die ren die Exporte Deutschlands entsprechend stark Breite: 157,15 mm = 6-spaltig - 1 Grafik & 6-spaltig nachfolgenden quantitativ und qualitativ weit- und die Binnennachfrage entsprechend schwach. aus erheblicheren Leistungsbilanzüberschüsse Leistungsbilanzsalden Anders als vielfach der Länder im im Euroraum öffentlichen Diskurs betrachtet (Abbildung 16). in Mrd. EUR Abbildung 16 Leistungsbilanzsalden der Länder im Euroraum in Mrd. EUR 500 Irland 400 Italien Portugal Spanien Österreich 300 Belgien 200 Deutschland 100 Niederlande 0 Griechenland Frankreich -100 Quelle: -200 Quellen: Macrobond (AMECO); Berechnungen des IMK (Datenstand 13.03.2018). -300 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Quellen: Macrobond (AMECO ); Berechnungen des IMK (Datenstand 13.03.2018). IMK Policy Brief November 2018 Seite 11
Gleichzeitig zeigen weder die Inflations- noch die Einkommensentwicklung relativ stabil. Dies die Lohnstückkostentwicklungen in Deutschland wiederum führte, anders als es während dieses ein Kosten- und damit ein Wettbewerbsproblem Zeitraums in anderen Volkswirtschaften zu be- an. Vor diesem Hintergrund war die reale Abwer- obachten war, zu einer vergleichsweise stabilen tung verfehlt. Auch der Rückgriff auf frühere, tat- Konsumentwicklung. sächlich erhebliche Kostensteigerungen im Um- Mit der als Stabilisierungspolitik erfolgreichen feld der deutschen Wiedervereinigung ist nicht Stimulanz des Konsums richtete sich, ohne dass hilfreich. Denn die Währungsumstellung von DM dies in nennenswertem Umfang Gegenstand öf- zu Euro hat diesen seinerzeit durchaus vorhande- fentlicher Diskurse war, die Wirtschaftspolitik in nen Kostendifferenzen Rechnung getragen, was Deutschland neu aus. Stand im vorigen Jahrzehnt auch in dem einsetzenden Abbau des Leistungs- im Mittelpunkt der Bemühungen, durch Druck bilanzdefizits zum Ausdruck kam. Bereits 2001 auf die Löhne mittels Arbeitsmarktreformen die war die Leistungsbilanz Deutschlands wieder preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und ausgeglichen. Das einzig verbleibende Argument damit die Exporte zu steigern, rückte nunmehr der Befürworter einer realen Abwertungsstrate- das Ziel einer kräftigeren Binnennachfrage in gie war die seinerzeit absolute und auch im Ver- den Vordergrund. Aus dieser Warte erscheinen gleich nicht zuletzt zu Frankreich hohe Arbeitslo- Lohnsteigerungen nicht mehr als Bedrohung sigkeit in Deutschland. wirtschaftlicher Aktivität, sondern als deren Trei- ber. Mit höheren Reallöhnen erweitern sich die Konsum möglichkeiten der privaten Haushalte. Dies führt zu einer verstärkten Binnennachfrage DER HEIMLICHE PARADIGMENWECHSEL mit höherer Beschäftigung und höheren Einnah- IN DEUTSCHLAND UND DER men des Staates. Diese Effekte sind nicht nur das Produkt theoretischer Überlegungen, sondern ÖFFENTLICHE IN FRANKREICH lassen sich in Deutschland seit 2011 Jahr für Jahr Seit der Finanzmarktkrise, und insbesondere in beobachten. Dieser Tugendkreislauf wirkt, so der Phase der unmittelbaren Erholung, entwickel- lange wie die Lohnsteigerungen die preisliche te sich ein merklicher Vorsprung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit nicht gefährden, was in Wirtschaft. Dies ist insofern bemerkenswert, als Deutschland derzeit erkennbar nicht der Fall ist. während der Finanzmarktkrise die Produktivi- Dieser Strategiewechsel ist, wie auch die mit tät in Deutschland drastisch eingebrochen war, den zuvor dominierenden neoliberalen Vorstel- während sie in Frankreich vergleichsweise wenig lungen unvereinbarenden Stabilisierungsmaß- abnahm. Hier zeigt sich eine wesentliche Beson- nahmen, nie Gegenstand eines nennenswerten derheit der deutschen Wirtschaft im Vergleich zur öffentlichen wirtschaftspolitischen Diskurses in französischen. Es geht um externe versus interne Deutschland gewesen. Er vollzog sich gleichsam Flexibilität. Unter ersterer versteht man die Mög- unterhalb des Radars öffentlicher Aufmerksam- lichkeit, rasch durch Entlassungen von Arbeits- keit. Das erklärt, warum in öffentlichen Debatten kräften auf konjunkturelle Krisen reagieren zu immer noch das Narrativ des Beschäftigungs- können. Letztere hingegen bezeichnet die rasche wachstums dank der schöpfenden Kraft der neo- Verkürzung von Arbeitszeiten in Schwächepha- liberalen Arbeitsmarktreformen dominiert, ob- sen. Ersteres verlagert die Krisenfolgen auf den wohl es mit der aktuellen wirtschaftspolitischen externen Arbeitsmarkt (Horn et al. 2013). Letzte- Realität nur noch wenig zu tun hat. res belässt sie intern im Unternehmen. Im Ergeb- Dieser Teil des öffentlichen Diskurses wird nis wird im ersten Fall die Produktivitätsentwick- aber sehr wohl in Frankreich wahrgenommen. lung nur wenig belastet, während sie im zweiten Daher werden die Arbeitsmarktreformen in stark unter Druck gerät. Deutschland vielfach als ein Vorbild für Frank- Was unter dem Blickwinkel der Produktivität reich gesehen, um den gleichen Wachstumspfad als Belastung erscheint, ist aus der Perspektive wie die deutsche Volkswirtschaft zu erreichen der Beschäftigungsentwicklung ein klarer Vorteil. (DIW 2017, FAZ 2017). In Frankreich hat sich hie- Dies hat mit der konjunkturellen Stabilisierungs- rüber eine kontroverse öffentliche Debatte entfal- wirkung einer derartigen Flexibilität zu tun. Trotz tet. Und in der Tat könnte eine Veränderung der des massiven Einbruchs der Produktion blieb Machtbalance am Arbeitsmarkt, die zu Lasten der die Beschäftigung erhalten. Damit blieb auch Gewerkschaften geht, zu merklich schwächeren IMK Policy Brief November 2018 Seite 12
Lohnzuwächsen führen. Dies ist nicht nur, wie in Frankreich die Machtbalance auf dem Arbeits- oben gezeigt, überflüssig, sondern auch schäd- markt erhalten. Sinnvoll wäre es, wenn auf dem lich. Denn auf diese Weise würden die Löhne in französischen Arbeitsmarkt die interne Flexibilität Deutschland und in der übrigen Währungsunion in Gestalt variablerer Arbeitszeiten gestärkt wer- erneut unter Druck geraten. Es bestünde die Ge- den könnte. Dies würde helfen, die Absorbtions- fahr weiterer interner Abwertungsrunden, die am fähigkeit des Arbeitsmarktes zu steigern. Ende die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und In Deutschland sollte hingegen der eingeschla damit Wachstum, Beschäftigung und Preisstabi- gene Weg konsequent fortgesetzt werden. Insbe- lität im ganzen Euroraum belasten würden. Die- sondere gilt es, durch expansive Fiskal- und Lohn- se Gefahr kann aber gebannt werden, wenn die politik den Inflationspfad zurück auf die Ziellinie gesamtwirtschaftlichen Vorstellungen des franzö- der EZB zu bringen. Erst wenn dies gelungen ist, sischen Präsidenten für die Währungsunion um- sollte wieder ein ruhigeres Tempo bei Löhnen und gesetzt werden und seine Arbeitsmarktreformen Staatsausgaben angestrebt werden. LITERATUR DIW (2017): Deutsch-französisches Reformkonzept Klinger, S. / Weber, E. (2016): Decomposing Beve- für die Europäische Währungsunion: Marktdiszi- ridge Curve Dynamics by Correlated Unobserved plin und Risikoteilung unter einem Hut. Presse Components. In: Oxford Bulletin of Economics mitteilung vom 17.01.2018. http://bit.ly/2yoMttI, and Statistics, Bd. 78, H. 6, S. 877-894. aufgerufen am 24.09.2018. Macron, E. (2017): Rede von Staatspräsident Mac- Dustmann, C. / Fitzenberger, B. / Spitz-Oener, A. (2014): ron an der Sorbonne. Initiative für Europa, her- From Sick Man of Europe to Economic Super- ausgegeben von der französichen Botschaft Ber- star: Germany‘s Resurgent Economy. In: Journal lin, 26.09.2017. http://bit.ly/2RYDI1I, aufgerufen of Economic Perspectives, Bd. 28, H. 1. am 19.12.2017. Eichengreen, B. (2010): Imbalances in the Euro Area, Piketty, T. (2017): Of productivity in France and in http://bit.ly/2Ow7Kfa, aufgerufen am 08.02.2018. Germany. Le blog de Thomas Piketty, http://bit.ly/2NOiSz2, aufgerufen am 30.01.2018. FAZ (2017) : Deutschland sollte mehr Risikoteilung akzeptieren. Ein Aufruf von deutschen und franzö- Sachverständigenrat (SVR) 2016: Zeit für Reformen. sischen Ökonomen. http://bit.ly/2JbGUDv, aufgeru- Jahresgutachten 2016/2017. fen am 24.09.2018. Sachverständigenrat (SVR) 2002: Zwanzig Punkte für Horn, G. A. / Herzog-Stein, A. / Hohlfeld, P. / Rietzler, K. / Beschäftigung und Wachstum. Jahresgutachten Stephan, S. / Theobald, T. / Tober, S. / Watzka, S. (2017): 2002/2003. Ein Aufschwung mit Maß und Mitte. Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung 2017/2018. Sinn, H. W. (2003): Ist Deutschland noch zu retten?. IMK Report Nr. 130, Oktober. Econ Verlag. Horn ,G. A. / Lindner, F. (2016) : Die deutschen Leis- Stiglitz J. E. (2016): The Euro: How a Common Cur- tungsbilanzüberschüsse: Hohe Wettbewerbsfä- rency Threatens the Future of Europe. higkeit oder zu schwache Nachfrage?. W. W. Norton & Company. In: Wirtschaftsdienst, H. 11, S.11-16. Stops, M. (2015): Revisiting German labour market Horn, G. A. / Herzog-Stein, A. / Stein, U. (2013): Macroe- reform effects: A panel data analysis for occu- conomic Implications of the German Short-time pational labour markets. IAB-Discussion Paper, Work Policy during the Great Recession. 02/2015. In: Global Policy, H. 4, S. 30-40. Storm, S. / Naastepad, C. W.M. (2014): Crisis and Reco- Horn, G. A. / Logeay, C. (2007): Viel Lärm um nichts?. very in the German Economy: The Real Lessons. IMK Report Nr. 20. INET Working Paper Nr. 10. Horn, G. A. / Mülhaupt, B. / Rietzler, K. (2005): Quo vadis Euroraum? Deutsche Lohnpolitik belastet Wäh- rungsunion. IMK Report Nr. 1. IMK Policy Brief November 2018 Seite 13
Impressum Herausgeber Hans-Böckler-Stiftung, Hans-Böckler-Str. 39, 40476 Düsseldorf, Deutschland Telefon +49 211 7778-312, imk@boeckler.de, www.imk-boeckler.de Autoren Prof. Dr. Gustav A. Horn, gustav-horn@boeckler.de PD Dr. Sebastian Watzka, sebastian-watzka@boeckler.de Der IMK Policy Brief ist als unregelmäßig erscheinende Online-Publikation erhältlich über http://www.boeckler.de/imk_5036.htm ISSN 2365-2098 Alle Rechte vorbehalten. Die Anfertigung von Fotokopien für Ausbildungszwecke und nichtkommerzielle Zwecke ist mit Quellenangabe gestattet.
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