Ganzheitliche Ökologie und Nachhaltigkeit Prinzipien abendländischer Weltanschauung - Renovatio-Impulse Nr. 1 - Stand: November 2021 ...
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Ganzheitliche Ökologie und Nachhaltigkeit Prinzipien abendländischer Weltanschauung Renovatio-Impulse Nr. 1 – Stand: November 2021
Die vorliegende Publikation soll einen Beitrag zur Ökologie- Konservative dazu veranlasst, „Bündnisse mit Leuten einzu- und Nachhaltigkeitsdebatte leisten und dabei die besonde- gehen, die meinen, die Bemühungen Dinge zu erhalten, ren Impulse vorstellen, welche die christliche Soziallehre und seien nutzlos und altmodisch.“4 Umweltfragen würden heute die abendländische Tradition des Denkens zu dieser Debatte „an die erste Stelle von jedermanns Agenda“ gehören.5 beizutragen haben. Die wesentlichen Inhalte des Dokuments werden nachste- Die Themen Ökologie und Nachhaltigkeit sind für den lang- hend zusammengefasst. fristigen Bestand eines Gemeinwesens von fundamentaler ■ Das Ökologieverständnis der christlichen Soziallehre ist Bedeutung. Der Geograph Jared Diamond zeigte am Beispiel ganzheitlich: Die christliche Soziallehre betrachtet den einer Reihe untergegangener Kulturen, dass die Übernut- Menschen aufgrund seiner Sonderrolle in der Natur als zung von Ressourcen oder eine rasche Veränderung von Um- Hüter der Schöpfung und als Träger eines Erbes, das er in- weltbedingungen, die die Anpassungsfähigkeit dieser Kultu- takt an nachfolgende Generationen weiterzugeben hat. ren überforderte, entscheidend zu deren Zusammenbruch Aus dem Gebot der Nächstenliebe ergibt sich für Christen beitrug.1 ein Auftrag zum Schutz sämtlicher Lebensgrundgrundla- In der öffentlichen Diskussion in westlichen Gesellschaften gen eines Gemeinwesens. Zu diesen Lebensgrundlagen spielen diese Themen eine immer größere Rolle. Dahinter gehören sowohl die natürliche Umwelt als auch Instituti- steht ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass diese Gesell- onen wie die Familie und Nation, die Bindungen, die das schaften in immer stärkerem Maße von ihrer Substanz leben Gemeinwesen zusammenhalten, und sein geistiges und und dabei materielle und andere Bestände verbrauchen, die kulturelles Erbe. sie nicht mehr in ausreichendem Umfang erhalten und er- ■ Nachhaltigkeit als das Streben nach einer Zivilisation der neuern können. Dauerhaftigkeit: Nachhaltigkeit ist ein ganzheitliches Handlungsprinzip, das die langfristige Kontinuität eines Auch wenn die öffentliche Debatte zu Nachhaltigkeitsfragen Gemeinwesens durch einen schonenden Umgang mit sich derzeit weitgehend auf einzelne Aspekte des Themas be- den materiellen und immateriellen Ressourcen sicherstel- schränkt und somit nur einen kleinen Ausschnitt der Nach- len soll, von denen seine Kontinuität abhängt. Diese Res- haltigkeitsdefizite westlicher Gesellschaften anspricht, so sourcen sollen möglichst intakt und im besten Fall erwei- kann diese Debatte doch den Beginn der notwendigen Aus- tert an nachfolgende Generationen weitergegeben wer- einandersetzung mit den existenziellen Herausforderungen den. Nachhaltig ist der Zustand eines Gemeinwesens darstellen, denen diese Gesellschaften gegenüberstehen. dann, wenn dieses so beschaffen ist, dass es sich auf Dauer Aus der Perspektive der christlichen Soziallehre begrüßte Jo- nicht selbst zerstört oder sich gegenüber äußeren Bedro- seph Ratzinger (Benedikt XVI.) diese Debatte grundsätzlich, hungen verwundbar macht, die es zerstören könnten. Das weil das Streben nach Nachhaltigkeit bzw. nach der Dauer- Gegenteil eines nachhaltigen Gemeinwesens ist ein deka- haftigkeit des Gemeinwesens und nach dem schonenden dentes Gemeinwesen, dem die innere Kraft und der Wille Umgang mit den materiellen, geistigen und kulturellen Be- zur Dauer fehlen und das von einer Substanz lebt, die an- ständen, auf denen es beruht, ein grundlegender Bestandteil dere geschaffen haben, und die es konsumiert, ohne sie des Strebens nach dem Gemeinwohl ist, das die christliche ausreichend zu erneuern. Dieses Prinzip unterscheidet Soziallehre als den zentralen Auftrag politischen Handelns sich vom Denken moderner Fortschrittsutopien, die diese betrachtet. In der Umweltdebatte sah Ratzinger Ansätze für Lebensgrundlagen entweder als gegeben betrachten oder ein „neues Bewußtsein […] der Verantwortung für die davon ausgehen, dass materielles Wachstum ihre lang- Menschheit im Ganzen, der Verantwortung für die Schöp- fristige Sicherstellung hinreichend gewährleiste. fung“.2 ■ Ganzheitliche Ökologie und Nachhaltigkeit sind in der abendländischen Tradition fest verankert: Die Vorstel- Laut dem Historiker Peter Hersche mangelt es in Deutschland lung, dass der Mensch Teil einer von Gott geschaffenen seit langem an Akteuren, die sich auf die christlich-konserva- kosmischen Ordnung ist, die er nicht verändern kann und tive Tradition ökologischen Denkens beziehen. Aus dieser seit von der er abhängig ist, gehört zum Kernbestand aller Re- langem in den Hintergrund geratenen Tradition sei jenes ligionen und reicht zurück bis in vorgeschichtliche Zeit. Denken ursprünglich entstanden, das bereits vor rund 200 Das Christentum entwickelte auf dieser Grundlage im Mit- Jahren die ökologischen Herausforderungen erkannt habe, telalter eine eigene Schöpfungs-Spiritualität. Ganzheitli- die heute in besonderem Maße sichtbar werden.3 Roger Scru- ches ökologisches Denken bildete sich ab dem späten 19. ton hielt es in diesem Zusammenhang für erschütternd, dass Jahrhundert heraus. Seine Wurzeln liegen im Denken des gerade konservative Parteien die „Sache des Umweltschutzes christlichen Konservatismus und der Romantik, die damit [...] nicht als ihre eigene erkannt haben.“ Ein Grund dafür sei, auf Fehlentwicklungen der Moderne reagierten. Bis in die „dass das Denken der Konservativen durch die Ideologie der späten 1970er Jahre spielten christlich-konservative An- Konzerne […] und durch den Aufstieg des ökonomischen Den- sätze in der Umweltbewegung im deutschsprachigen kens bei modernen Politikern vergiftet wurde.“ Dies habe
Raum eine wichtige Rolle. Sie unterscheiden sich deutlich von den neuheidnischen Ansätzen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts herauszubilden begannen, sowie von den neomarxistisch geprägten und anderen utopischen An- sätzen, welche die Umweltbewegung seit den 1970er Jah- ren prägen. ■ Das Ökologie- und Nachhaltigkeitsverständnis christli- cher Weltanschauung unterscheidet sich von dem utopi- scher Ideologien: Diese Ideologien weisen sowohl in ihren rechts- als auch in ihren linksgerichteten Erscheinungs- formen in einigen Fällen ersatzreligiöse, totalitäre Ten- denzen auf oder greifen Umweltthemen aus einem neo- marxistischen Denken entspringenden Ressentiment ge- genüber westlichen Gesellschaften heraus auf, deren Um- sturz sie anstreben. Einige Strömungen in der Umweltbe- wegung lehnen zudem den Gedanken der Menschen- würde ganz oder teilweise ab und verneinen das Ziel der Kontinuität menschlichen Lebens. In anderen Strömun- gen wird das Gemeinwohl zugunsten von Einzelfragen wie dem Klimaschutz ausgeblendet. Außerdem ist in Tei- len der Umweltbewegung eine Tendenz zu mangelndem Realismus bei der Beurteilung der Lage der Umwelt sowie eine Neigung zu Hedonismus und gesinnungsethischer Selbstdarstellung zu beobachten. Die Themen Ökologie und Nachhaltigkeit sind eng mit kultu- reller Resilienz und somit mit dem Schwerpunkt der Arbeit des Renovatio-Instituts verbunden: ■ Kulturelle Resilienz ist die Fähigkeit einer Kultur sowie ei- nes auf einer bestimmten Kultur beruhenden Gemeinwe- sens, die existenziellen Herausforderungen, denen sie ge- genüberstehen, zu bewältigen. ■ Ökologie ist im ganzheitlichen Verständnis der christli- chen Soziallehre ein Denkansatz, der den umfassenden Schutz der Lebensgrundlagen des Menschen anstrebt. Diese Lebensgrundlagen sind nicht nur natürlicher, son- dern auch kultureller Art. ■ Nachhaltigkeit ist die Fähigkeit eines Gemeinwesens zu langfristiger Kontinuität, die durch den schonenden Um- gang mit den Beständen bzw. Ressourcen sichergestellt werden soll, von denen seine Existenz abhängt und auf denen sie beruht. Diese Publikation wird in unregelmäßigen Abständen aktua- lisiert. Änderungen werden im Änderungsverzeichnis am Ende dieses Textes dokumentiert.
Die christliche Soziallehre beinhaltet ein ganzheitliches Öko- gesamten Schöpfung.9 Er ist daher vor allem anderen Leben logieverständnis. Sie betrachtet den Menschen aufgrund sei- schutzwürdig. ner Sonderrolle in der Natur als Hüter der Schöpfung und als Papst Benedikt XVI. betonte auf dieser Grundlage, dass es Träger eines Erbes, das er intakt an nachfolgende Generatio- falsch sei, „die Natur für wichtiger zu halten als die mensch- nen weiterzugeben hat. Aus dem Gebot der Nächstenliebe liche Person“. Diese „Einstellung verleitet zu neu-heidnischen ergibt sich für Christen ein Auftrag zum Schutz sämtlicher Le- Haltungen oder einem neuen Pantheismus“.10 Ohne den Ge- bensgrundlagen eines Gemeinwesens. Zu diesen Lebens- danken der Menschenwürde kann ökologisches Denken zu ei- grundlagen gehören sowohl die natürliche Umwelt als auch ner Verabsolutierung der Natur und in Verbindung damit zur Institutionen wie Familie und Nation, die Bindungen, die das Menschenverachtung führen. Der jüdische Philosoph Hans Jo- Gemeinwesen zusammenhalten, und sein geistiges und kul- nas sagte analog dazu, dass der Mensch aufgrund seiner hö- turelles Erbe. heren Würde Vorrang vor der Natur habe.11 Ein wesentliches Merkmal extremer und totalitärer Ideolo- gien ist es, dass sie den Gedanken einer unveräußerlichen Der Mensch verfügt über eine besondere Würde, die ihn über Würde des Menschen ablehnen oder diese Würde bestimm- alle anderen Lebewesen erhebt. Daraus folgt, dass der Schutz ten Gruppen von Menschen absprechen wollen. Tragfähige des Menschen Vorrang vor dem Schutz aller anderen Lebewe- Konzepte zum umfassenden Schutz des Menschen und seiner sen haben muss. Daraus folgt jedoch auch, dass der Mensch Lebensgrundlagen konnten auf dieser Grundlage bislang über einen Auftrag als Hüter der Schöpfung verfügt. nicht formuliert werden. ■ Rechte Ideologien, die auf der Grundlage der natürlichen Die Vorstellung, dass der Mensch über eine unveräußerliche Ordnung argumentieren, diese Ordnung bzw. die Rolle Würde verfügt, beruht auf der bereits im Alten Testament ver- des Menschen in ihr und die Würde des Menschen jedoch ankerten Vorstellung seiner Gottesebenbildlichkeit6 und ist nicht richtig erkannt haben, tendieren dazu, biologistisch eines der zentralen Elemente christlicher Weltanschauung. begründete Vorstellungen sozialer Ordnung zu entwi- In der traditionellen Liturgie der katholischen Kirche ist ein ckeln und einzelnen Gruppen von Menschen die Men- vermutlich im 5. Jahrhundert formuliertes Gebet enthalten, schenwürde abzusprechen.12 welches betont, dass „Gott […] die Würde dies Menschen wun- ■ Linke Ideologien, die häufig ebenfalls nicht von der derbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert“ hat.7 Würde des Menschen im christlichen Sinne ausgehen, tendieren ebenfalls dazu, menschenverachtende Vorstel- Laut Thomas von Aquin äußert sich diese Gottesebenbildlich- lungen im Zusammenhang mit ökologischen Fragen zu keit in bestimmten Eigenschaften der menschlichen Seele, entwickeln. Papst Franziskus kritisierte in diesem Zusam- nämlich dem freien Willen (zu dem auch die Fähigkeit zu lie- menhang Ansätze des Umwelt- und Naturschutzes, wel- ben gehört) und im Verstand des Menschen. Diese in der Na- che „die Unversehrtheit der Umwelt verteidigen“, aber tur einzigartigen Fähigkeiten befähigen den Menschen zum „dieselben Prinzipien nicht für das menschliche Leben an- Guten bzw. dazu, Gott zu erkennen und ihm zu dienen. Au- wenden.13 Wer bereits daran scheitere, den Wert ungebo- ßerdem geht christliche Weltanschauung davon aus, dass die renen Lebens zu erkennen und es zu schützen, verfüge Seele des Menschen kein Produkt biologischer Abläufe ist und nicht über die nötigen weltanschaulichen Voraussetzun- daher ewig existiert. Denker der Aufklärung wie Immanuel gen, um auch die natürliche Umwelt schützen und das Kant knüpften daran an, beriefen sich jedoch nicht auf die Verhältnis des Menschen zu ihr angemessen gestalten zu Gottesebenbildlichkeit, sondern bezogen sich auf das „Ver- können.14 mögen zur sittlichen Selbstbestimmung“ des Menschen als Begründung der Menschenwürde. Vor allem im 20. Jahrhun- Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das sich dert stellte sich aber heraus, dass eine absolute, universelle wesentlich auf den Naturrechtsgedanken und Impulse der und unverfügbare Menschenwürde ohne die Annahme der christlichen Soziallehre stützt, steht der Gedanke der Men- Gottesebenbildlichkeit nicht plausibel und tragfähig begrün- schenwürde aufgrund der Erfahrungen mit Wirken der er- det werden kann. wähnten Ideologien am Anfang des ersten Artikels. Der Arti- kel 1 des Chiemseer Entwurfs des Grundgesetzes zitierte den Der Mensch steht aufgrund seiner Personalität, also aufgrund katholischen Philosophen und Europa-Vordenker Richard der Eigenschaften, die ihn zum Ebenbild Gottes machen und Graf Coudenhove-Kalergi. Dieser hatte 1937 vor dem Hinter- ihm seine besondere Würde verleihen, in der Rangordnung grund des Wirkens totalitärer Ideologien erklärt, dass „der des Kosmos über der Pflanzen- und Tierwelt. Laut der Lehre Staat um des Menschen willen da“ ist „und nicht der Mensch der katholischen Kirche ist der Mensch aufgrund seiner Got- um des Staates willen“.15 tesebenbildlichkeit „zum Herrn über alle irdischen Geschöpfe gesetzt“.8 Laut Thomas von Aquin ist der Mensch das Ziel der
„Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn.“ (1 Mose 1,27): Michelangelo – Die Erschaffung Adams Jegliche Änderungen, die das Prinzip der Menschenwürde be- fung im Rhythmus und in der Logik der Schöpfung“ zu pfle- rühren, werden durch das Grundgesetz im Sinne des Natur- gen.23 Die Natur sei „Ausdruck eines Plans der Liebe und der rechtsgedankens für unzulässig erklärt.16 Das Bundesverfas- Wahrheit. Sie geht uns voraus und wird uns von Gott als Le- sungsgericht betonte 2017, dass die Menschenwürde den Aus- bensraum geschenkt. Sie spricht zu uns vom Schöpfer […] und gangspunkt der freiheitlichen demokratischen Grundord- von seiner Liebe zu den Menschen.“ Sie sei zudem „eine Gabe nung sowie eines ihrer unverzichtbaren Grundprinzipien dar- des Schöpfers, der die ihr innewohnenden Ordnungen ge- stelle.17 Der Schutz der Menschenwürde erstreckt sich dabei zeichnet hat“ und sie „bebaue und hüte“.24 Papst Johannes sowohl für das geborene als auch auf das ungeborene Paul II. zufolge sei es der Wille des Schöpfers, dass „daß der menschliche Leben.18 Mensch der Natur als ‚Herr‘ und besonnener und weiser ‚Hü- ter‘ und nicht als ‚Ausbeuter‘ und skrupelloser ‚Zerstörer‘ ge- genübertritt“.25 Der Schöpfungsauftrag Gottes an den Menschen beinhaltet Laut dem Philosophen Rémi Brague geht dieser Auftrag auch die ihm laut dem Buch Genesis übertragenen Aufgaben, die aus dem vierten Gebot des Christentums hervor Der Mensch Erde zu bevölkern, über sie zu herrschen und sie zu hüten. könne nur leben und von der Erde, die ihn ernähre, Besitz er- Dieser Auftrag sei ein Ordnungs- und Schutzauftrag zur „Ab- greifen, wenn er ehre, was vor ihm war, die Erde eingeschlos- wehr der stets drohenden Chaosmächte“. Der Mensch wird in sen. Das vierte Gebot lehre den Menschen nicht nur, seine El- diesem Zusammenhang als „Mandatar des Schöpfers“ ver- tern zu ehren, sondern auch die Erde als seine Mutter.26 standen, der die Schöpfung durch Arbeit weiter entfalten und dabei dem Wohl des Ganzen einschließlich dem Wohl künfti- Da die Natur den organischen Prinzipien des Lebens folgt, ger Generationen dienen solle.19 kann ihre Bewahrung nicht ihre Konservierung in einem be- stimmten Zustand bedeuten. Die „Bewahrung der Schöp- Aufgrund seiner besonderen Rolle in der Ordnung der Natur fung“ ist die Bewahrung bestimmter wertvoller Eigenschaf- hat der Mensch den Auftrag, Verantwortung für die Schöp- ten der Natur, etwa ihrer Fähigkeit, die für den Menschen le- fung zu übernehmen. Gott fordert nach den Worten des Bu- bensnotwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, aber ches Genesis, dass die Menschen walten sollen „über die Fi- auch ihres ästhetischen und kulturellen Wertes sowie ihres sche des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, Eigenwertes. über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen.“20 Die Natur kann diesem Denken nicht Eigentum des Menschen sein. Sie ist dem Buch Leviticus nach das Eigentum Gottes, mit Gott setzte den Menschen außerdem in den Garten Eden, „da- dem der Mensch seinem Auftrag gemäß umgehen muss.27 Da- mit er ihn bebaue und hüte!“21 Laut der Lehre der katholi- bei ist der Mensch nicht nur dem Auftrag Gottes, sondern schen Kirche hat „Gott die Erde und ihre Güter der Mensch- auch der Ordnung der Natur und ihren Gesetzen und Grenzen heit zur gemeinsamen Verwaltung anvertraut, damit sie für unterworfen. Der evangelische Theologe Jürgen Moltmann die Erde sorge, durch ihre Arbeit über sie herrsche und ihre betonte, dass das Christentum die Schöpfungsordnung prin- Früchte genieße“.22 Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) sagte, zipiell positiv als „verwirklichte Möglichkeit des göttlichen dass dieser Herrschaftsauftrag mit Verantwortung verbunden Geistes“ betrachte.28 Der Mensch muss diese Ordnung respek- sei. Der Mensch habe den Auftrag, „die Welt als Gottes Schöp- tieren, denn sie ist, einem der Psalmen nach, „immer und
ewig“ und durch den Menschen nicht zu übertreten, ohne dass er Schaden nimmt.29 Als Naturwissenschaft ist die Ökologie ein Teilbereich der Bi- ologie, der die Wechselwirkungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt untersucht. Die ganzheitliche Ökologie der Der Begriff der Liebe bzw. der Nächstenliebe wird aufgrund christlichen Soziallehre ist hingegen ein Denkansatz, der die seiner Überlagerung durch moderne Bedeutungen häufig Lebensgrundlagen von Mensch und Gemeinwesen in einem missverstanden und auf positive Gefühlsregungen reduziert. umfassenden Sinn verstehen will, ihre Bewahrung anstrebt Christliche Nächstenliebe (caritas) ist jedoch kein Gefühl, son- und Wechselwirkungen zwischen Mensch, Natur und Gesell- dern der Wille zu dienen. Christliche Nächstenliebe beinhal- schaft analysiert, um die Voraussetzungen gelingenden ge- tet den Auftrag, sich in der Nachfolge Christi dienend für das sellschaftlichen Lebens zu verstehen.37 Dieser Ansatz beruht Wohl anderer Menschen und die Bewahrung der Dinge ein- auf der Anerkennung der Tatsache, dass gelingendes indivi- zusetzen, auf denen das Wohl von Mensch und Gemeinwesen duelles und gemeinschaftliches Leben von einer Vielzahl von beruht. Voraussetzungen abhängig sind, die bewahrt werden müs- sen, um dieses Ziel zu erreichen. Benedikt XVI. beschrieb die Nächstenliebe als eine „außeror- dentliche Kraft“, die ihren Ursprung in Gott habe, und die den Diese Lebensgrundlagen sind nicht nur natürlicher, sondern Menschen zu entsprechendem Dienst dränge.30 Johannes auch kultureller und geistiger Art. Papst Benedikt XVI. sprach Chrysostomos, einer der Kirchenlehrer, sagte, dass Christen diesbezüglich von einer „Ökologie des Menschen“.38 Die kul- dazu berufen seien, „dass wir Sterne seien“ und dienend un- turellen und geistigen Lebensgrundlagen des Menschen ter den Menschen leben. Die beste Predigt sei die dienende müssten genauso geachtet und vor Verletzungen geschützt Tat. Die Nächstenliebe beinhaltet laut Benedikt XVI. auch eine werden wie die natürliche Umwelt.39 Es gebe eine Tendenz Pflicht zum Dienst am Gemeinwohl. Jemanden zu lieben be- moderner Ideologien dazu, die Natur des Menschen zu leug- deute, „sein Wohl im Auge haben und sich wirkungsvoll da- nen, etwa die geschlechtliche Identität des Menschen als für einsetzen.“ Dazu gehöre auch der Dienst am Gemeinwohl. Mann und Frau. Der Überschreitung der Grenzen der Tragfä- Sich für das Gemeinwohl einzusetzen „bedeutet, die Gesamt- higkeit der natürlichen Umwelt und der Leugnung der Gren- heit der Institutionen, die das soziale Leben rechtlich, zivil, zen der Natur des Menschen liege der gleiche ideologische politisch und kulturell strukturieren, einerseits zu schützen Impuls zugrunde. und andererseits sich ihrer zu bedienen, so daß auf diese Papst Franziskus sprach von einer „ganzheitlichen Ökologie“ Weise die Polis, die Stadt Gestalt gewinnt.“ 31 bzw. von einer „Sozialökologie“ und einer „Humanökologie“, Dem christlichen Philosophen Josef Pieper zufolge ist das Ge- die über den Schutz der natürlichen Umwelt hinausgehe. Der meinwohl das Gut, für das eine menschliche Gemeinschaft Ökologiebegriff der christlichen Soziallehre umfasse auch die existiert und „der Inbegriff der Werte, welche ein Gemeinwe- Suche nach einer Gesellschaftsordnung, die nachhaltig mit sen, vor allem das staatliche Gemeinwesen, verwirklichen ihren natürlichen und kulturellen Lebensgrundlagen um- müßte, wenn von ihm soll gesagt werden können, es habe die gehe sowie das Nachdenken darüber, „was die Lebens- oder in ihm angelegten Möglichkeiten realisiert“.32 Überlebensbedingungen einer Gesellschaft sind“.40 Die christliche Soziallehre betont zudem, dass ein Gemeinwe- Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der für seine natur- sen, das in Achtung der gottgesetzten Ordnung zur Blüte ge- kundliche Forschung einen Nobelpreis erhielt, hatte einen langt sei, ein „verwirklichter Gottesgedanke“ sei und zur ähnlichen ganzheitlichen Ökologiebegriff beschrieben, der „Ehre und Verherrlichung des Schöpfers“ beitrage. Es sei un- auf die Erhaltung aller Lebensgrundlagen des Menschen aus- bedingt schützenswert.33 Der Dienst am Gemeinwohl ist aus gerichtet ist. Lorenz zufolge sind Umweltvernichtung und christlicher Sicht ein Weg, Christus nachzufolgen, und somit kulturelle Dekadenz Teil des gleichen Problemkomplexes.41 ein Weg zur Heiligkeit.34 Dekadenz sei die Folge einer „Störung der Systemganzheit“, die unter anderem durch Traditionsabbrüche ausgelöst Thomas von Aquin zufolge sind das Streben nach Kontinuität werde.42 Auch der jüdische Philosoph Hans Jonas beschrieb ei- sowie die intakte Weitergabe des erhaltenen Erbes wesentli- nen umfassenden, verantwortungsethisch fundierten Ökolo- che Aspekte des Dienstes am Gemeinwohl. Beim Regieren giebegriff, der nach der „Permanenz echten menschlichen Le- komme es für den Regierenden vor allem darauf an, „das, was bens auf Erden“ strebt.43 er zu regieren übernommen hat, heil zu erhalten.“35 Der Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt kritisierte, dass in Deutschland die Vorstellung vorherrsche, dass das Gemein- wohl nicht gepflegt und bewahrt werden müsse, weil es eine Der christliche Auftrag zum Dienst am Gemeinwohl umfasst Selbstverständlichkeit darstelle. Dabei werde übersehen, dass alle Grundlagen des Gemeinwohls im Sinne des ganzheitli- die Herausbildung gemeinwohlfähiger staatlicher Ordnun- chen Ökologiebegriffs. Der Schutz des Gemeinwohls umfasst gen in Europa lange Zeiträume in Anspruch genommen habe. laut christlicher Soziallehre daher auch den Schutz der geisti- Das Gemeinwohl und seine Grundlagen stellten eine Errun- gen und materiellen Grundlagen, auf denen es beruht.44 genschaft dar, die auch wieder verloren gehen könne.36 Gemäß der Lehre der katholischen Kirche verbinde eine nach- haltige Entwicklung in christlichem Sinne „die Weisheit der
Vorfahren mit den heutigen technischen Kenntnissen [...], wo- Roger Scruton beschrieb das Streben nach „Haushalten mit bei immer ein nachhaltiger Umgang mit dem Gebiet zu ge- unseren Ressourcen“ als ein Prinzip des Konservatismus, der währleisten ist, der zugleich den Lebensstil und die Wertesys- auf dem christlichen Welt- und Menschenbild aufbaut. Zu teme der Bewohner bewahrt“.45 diesen Ressourcen gehöre nicht nur die natürliche Umwelt, sondern auch die sozialen und kulturellen Bestände von Ge- Laut Romano Guardini beinhaltet der Dienst des Christen, sellschaften.51 dass er sich „für das Leben verantwortlich fühlt – für alles das, was Leben heißt: Mensch, Volk, Kultur, Ordnung des Landes Botho Strauß wies in Anlehnung an George Steiner darauf hin, und der Erde.“ Laut Papst Johannes Paul II. bezeichnete es als „daß nicht nur das natürliche, biologische Haus der Erde, son- „Aufgabe des Staates, für die Verteidigung und den Schutz je- dern ebenso das geistige beschädigt und bedroht ist und ner gemeinsamen Güter, wie die natürliche und die mensch- nicht minder dringend der Erhaltungs- und Schutzmaßnah- liche Umwelt, zu sorgen […] die unter anderem den Rahmen men bedürfte“.52 bilden, in dem allein es jedem einzelnen möglich ist, seine persönlichen Ziele auf gerechte Weise zu verwirklichen.“46 Die Kirche habe laut Papst Benedikt XVI. „eine Verantwortung Das ganzheitliche Ökologieverständnis der Weltanschauung für die Schöpfung und muß diese Verantwortung auch öffent- des Christentums betrachtet neben den natürlichen Lebens- lich geltend machen.“ Wenn sie dies tue, dann müsse „sie grundlagen auch Familie, Kultur und Nation als schützens- nicht nur die Erde, das Wasser und die Luft als Gaben der wert. Schöpfung verteidigen“, sondern „vor allem den Menschen gegen seine Selbstzerstörung schützen.“ Dies sei das Ziel der Laut der Lehre der katholischen Kirche strebt ganzheitliche „Ökologie des Menschen“, die das „gesunde Zusammenleben Ökologie im Sinne der christlichen Soziallehre auch die Be- in der Gesellschaft wie das gute Verhältnis zur Natur betrifft“. wahrung der kulturellen Institutionen an, von denen das Es sei ein „Widerspruch, von den neuen Generationen die Überleben eines Gemeinwesens abhängt, „angefangen von Achtung der natürlichen Umwelt zu verlangen, wenn Erzie- der elementaren sozialen Zelle der Familie“.53 Zu einem ver- hung und Gesetze ihnen nicht helfen, sich selbst zu achten.“ antwortungsvollen Umgang mit dem eigenen Erbe, der "die Pflichten „gegenüber der Umwelt verbinden sich mit den Ressourcen für die nachfolgenden Generationen bewahrt“, Pflichten, die wir gegenüber dem Menschen an sich und in gehöre auch der Schutz kultureller Ressourcen wie der Wert- Beziehung zu den anderen haben.“47 schätzung der Familie oder des Sinns für Solidarität, wie Papst Franziskus unterstrich.54 Da die Familie der Ort der Weiter- Papst Benedikt XVI. sprach außerdem von den „Verpflichtun- gabe des Lebens ist, ist sie ein Garant der Nachhaltigkeit. Dies gen […] die aus der Beziehung des Menschen zur natürlichen gilt auch für die christliche Sexualethik, die die Weitergabe Umwelt entstehen“. Der Umgang mit ihr stelle „für uns eine des Lebens betont. Verantwortung gegenüber den Armen, den künftigen Gene- rationen und der ganzen Menschheit dar“. Dieser Umgang sei im Sinne der „Solidarität und Gerechtigkeit zwischen den Ge- nerationen“ zu gestalten. Die Natur sei „Gabe des Schöpfers“ Die Lehre der katholischen Kirche bejaht die Bewahrung der und der Auftrag des Menschen sei es, dass er sie „bebaue und Völker und Kulturen. Joseph Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) hüte“, wie es im Buch Genesis heißt. Es widerspreche dabei betonte, dass der Erhalt spiritueller und kultureller Ressour- christlicher Weltanschauung, „die Natur für wichtiger zu hal- cen für die Menschheit nicht weniger überlebenswichtig sei ten als die menschliche Person“.48 als der Erhalt der natürlichen Umwelt.55 Laut Papst Franziskus Papst Franziskus rief Christen daher dazu auf den Krisen der gäben diese Ressourcen den Menschen „Identität und Sinn“, Gegenwart entgegenzutreten und die globale Entwicklung in weshalb sie schützenswert seien.56 Die „menschliche Vielfalt“ eine andere Richtung zu steuern. Die Welt stehe einer „um- der Völker und Kulturen und ihre kulturellen Identitäten fassenden anthropologischen und sozio-ökologischen Krise“ stellten einen „einzigartigen Reichtum“ dar. Dieser müsse gegenüber, die damit verbunden sei, dass zunehmend ebenso erhalten werden wie die natürliche Umwelt.57 Es sei „Symptome eines Bruchs“ zu beobachten seien. Um dem zu diese kulturelle „Vielfalt, die unsere Menschheit schön begegnen, sei die Schaffung einer Kultur erforderlich, „die es macht“.58 Ihre Träger glichen den „Hütern eines Schatzes“.59 braucht, um dieser Krise entgegenzutreten.“ Außerdem sei es Franziskus prägte den Begriff der „Kulturökologie“ für den Er- notwendig, eine Führerschaft heranzubilden, die diesbezüg- halt des kulturellen Erbes eines Gemeinwesens und die Ab- lich Wege aufzeige.49 wehr von gegen dieses Erbe gerichteten Bedrohungen, die „sogar noch gravierender“ sein könnten als Bedrohungen für Franziskus betonte außerdem die Bedeutung der „Vielfalt von die natürliche Umwelt.60 Vereinigungen“ außerhalb der Politik, die sich „für das Ge- meinwohl einsetzen“, indem sie „etwas, das allen gehört, zu Die „konsumistische Sicht des Menschen, die durch das Rä- schützen, zu sanieren, zu verbessern oder zu verschönern“ derwerk der aktuellen globalisierten Wirtschaft angetrieben unternehmen und dadurch Bindungen sowie „örtliches sozi- wird“, bedrohe Franziskus zufolge auch die kulturellen Le- ales Gewebe“ stärken oder schaffen und zur „Bildung einer bensgrundlagen und führe dazu, „die Kulturen gleichförmig gemeinsamen Identität“ beitragen, „einer Geschichte, die zu machen und die große kulturelle Vielfalt, die einen Schatz bleibt und weitergegeben wird.“50 für die Menschheit darstellt, zu schwächen.61 Neben dem na- türlichen Erbe werde durch das Wirken dieser Ideologie auch
das historische und kulturelle Erbe bedroht, das „Grundlage geistig-kulturellen Erbes würde den „Erben mit degradieren“. für den Aufbau funktionierender Gemeinwesen“ sei. Ganz- Die „Hütung des Erbes“ im Sinne der „Behütung vor Degrada- heitliche Ökologie erfordere es, dass im Wandel die „ur- tion“ sei daher eine „Sache jedes Augenblicks“. Bei dieser Auf- sprüngliche Identität bewahrt bleibt“ und setze „die Pflege gabe nicht nachzulassen sei „die beste Garantie der Dauer“ der kulturellen Reichtümer der Menschheit im weitesten Sinn und das „Gedeihen des Menschen in unverkümmerter voraus.“62 Auch der Schutz ästhetischer Werte bzw. die Erhal- Menschlichkeit“.70 tung des Schönen in der Welt sei eine Forderung ganzheitli- Die Bewahrung der Nation als Forderung ganzheitlicher Öko- cher Ökologie.63 logie Papst Johannes Paul II. betonte ebenfalls die Bedeutung der Die christliche Soziallehre betrachtet darüber hinaus auch die Kultur für das Gemeinwohl. Sie stelle das Wesen eines Ge- Nation (als Fortsetzung der Familie) als eine schutzwürdige meinwesens dar und müsse unbedingt geschützt werden.64 kulturelle Institution, wie Johannes Paul II. betonte.71 Die in Josef Pieper sprach in diesem Zusammenhang von den „un- ihr vorhandenen Bindungen müssen gepflegt und bewahrt sichtbaren Fundamenten", derer es in schwierigen Zeiten be- bleiben, damit ein solidarisch nach dem Gemeinwohl stre- darf, etwa während der Herrschaft totalitärer Regierungen, bendes Gemeinwesen möglich ist. Joseph Ratzinger (Benedikt „damit das Leben eines Volkes gesund oder doch der Gesun- XVI.) bezeichnete „das Erhalten und das Verteidigen des Be- dung fähig bleibt“.65 stehenden als die große Aufgabe politischen Handelns“. Im Ein Gemeinwesen kann nur dann Kontinuität erlangen, wenn antiken Rom sei mit dem Begriff des „Conservator mundi“ der diejenigen, die es regieren, über viele Generationen hinweg „höchste Dienst umschrieben“ worden, „der in der Mensch- im Sinne des Gemeinwohls zu handeln in der Lage sind. Dies heit zu leisten war“, nämlich die Ordnung des Reiches gegen- setzt laut Scruton voran, dass sie sich diesem Gemeinwesen über allen Bedrohungen von innen und außen zu erhalten, kulturell verbunden fühlen.66 Der Staatsrechtler Ernst-Wolf- weil dieses Reich ein Raum war, in dem Menschen in Sicher- gang Böckenförde betonte, dass der säkularisierte Staat „zu- heit und Würde leben konnten. Christen hätten dies immer nehmend auf vorhandene und gelebte Kultur als die Kraft an- zu schätzen gewusst.72 gewiesen“ sei, „die eine relative Gemeinsamkeit vermittelt und ein die staatliche Ordnung tragendes Ethos hervor- bringt“. Diese Kultur habe sich „weithin aus bestimmten reli- giösen Wurzeln, aus davon geprägten Traditionen und Ver- Die christliche Soziallehre beruht auf einem organischen Ge- haltensweisen geformt.“ Migration und ihre potenziell un- sellschaftsverständnis. Ein Gemeinwesen stellt aus ihrer Sicht günstigen kulturellen Auswirkungen könnten dazu führen, eine Einheit von Individuen und Gemeinschaft dar und dass „der kulturelle Sockel“, auf dem ein Staat beruht, „sich gleicht einem biologischen Organismus, in dem das Ganze zunehmend parzelliert, aushöhlt und seine verbindende Kraft mehr darstellt als die Summe seiner Bestandteile. Dem Gan- einbüßt“.67 zen wohne ein Geist inne, der durch Zergliederung des Gan- zen nicht verstanden werden kann.73 Paul Collier bezeichnet die Verbindung aus den Institutionen, Normen und Regeln einer Gesellschaft als „Sozialmodell“. Un- Eine soziale Ordnung und ihre Institutionen können dem- terschiedliche Kulturen brächten unterschiedliche Sozialmo- nach nicht oder allenfalls nur bedingt als rationale Entwürfe delle hervor, die unterschiedlich gut dazu befähigt seien, eine durch den Menschen geplant und geschaffen werden. Dieser gemeinwohlorientierte politische Ordnung, einen Rechtstaat Gedanke steht dem Machbarkeitsgedanken der Moderne dia- oder eine freiheitliche Demokratie zu stützen. Kultur sei ein metral entgegen. Am Beispiel von Nationen oder der Kirche „öffentliches Gut par excellence“. Ein funktionierendes Sozial- wird am deutlichsten sichtbar, dass Ordnungen und Instituti- modell bzw. die Kultur, die es trägt, sei das Werk von Jahrhun- onen nach organischen Prinzipien wachsen. derten und Teil des Gemeineigentums, das wie ein wertvolles Konrad Lorenz sah im Sinne dieses organischen Verständnis- Erbe gepflegt werden müsse. Dies sei nur möglich, wenn der ses in den Abläufen des Lebens bzw. der Evolution ein konser- Zugriff auf dieses Erbe begrenzt werde und nicht universell vatives organisches Prinzip wirken. Das Leben entwickele sich darauf zugegriffen werden könne.68 über lange Zeiträume, wobei nur das Bewährte weitergege- Ein „Abreißen der Tradition“ zählte Konrad Lorenz zu den Her- ben werde. Dadurch habe das Leben Traditionsbestände ge- ausforderungen, „die unsere Kultur mit Vernichtung bedro- schaffen, in denen mehr Informationen über die Wirklichkeit hen“. Dies könne dazu führen, dass die europäische Kultur gespeichert seien, als sie der Mensch ohne Rückgriff auf diese „ausgelöscht werden kann wie eine Kerzenflamme“. Lorenz Bestände mit dem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln er- zufolge liege „kumulierende Tradition“ aller Kulturentwick- langen könne.74 lung zugrunde. Die dabei geschaffene kulturelle Substanz sei Dem Historiker Rolf Peter Sieferle zufolge habe dieses organi- für das Überleben eines Gemeinwesens von höchster Bedeu- sche Verständnis der Gesellschaft im 19. Jahrhundert eine we- tung. Eine „größte Konservativität im Festhalten am Bewähr- sentliche geistige Grundlage für das Entstehen der Umwelt- ten und Erprobten“ gehöre daher „zu den lebensnotwendi- bewegung dargestellt. Die christlich beeinflussten konserva- gen Eigenschaften“ eines Gemeinwesens.69 tiven Strömungen dieser Zeit hätten sich damals gegen das Auch Hans Jonas erklärte, dass nicht nur die natürlichen Le- Denken der Aufklärung und dessen mechanisches Welt- und bensgrundlagen des Menschen bewahrt werden müssten, da- Menschenbild gestellt. Dieses habe Gesellschaften mit me- mit der Mensch eine Zukunft haben könne. Der Verfall des chanischen Analogien zu verstehen versucht und sie, so wie
Kathedralen als Werke einer nachhaltigen Kultur - Karl Friedrich Schinkel: Mittelalterliche Stadt am Fluss die Natur, für vollständig durch den Menschen kontrollierbar Die Abhängigkeit des Menschen von der Natur und die ge- gehalten. Außerdem sei die Aufklärung für die immer weiter- genseitige Abhängigkeit der Geschöpfe untereinander wer- reichende Ausbeutung der Natur für den Menschen eingetre- den von christlichem Denken als gottgewollt wahrgenom- ten.75 men, weil in ihnen ein tieferer Sinn enthalten ist. Sie ist laut der Lehre der katholischen Kirche Teil einer kosmischen Ord- Laut Scruton ist Leben gleichbedeutend mit dem Kampf ge- nung, die auf dem Dienst am Nächsten beruht. Die gegensei- gen die Entropie, die alle natürlichen Dinge mit der Zeit auf- tige Abhängigkeit aller Lebewesen und ihre „unzähligen Ver- lösen. Der Konservatismus sei in diesem Sinne eine „Politik schiedenheiten und Ungleichheiten“ seien von Gott gewollt. des Aufschubs, dessen Zweck darin liegt, Gesundheit und Le- Im Dienst aneinander sollten sie sich gegenseitig ergänzen.77 ben eines sozialen Organismus solange als möglich zu ge- währleisten.“ Es gehe ihm „darum, den Kräften der Entropie, Der Mensch, der diese Pflichten erfüllt, handelt gerecht. Rus- die unser soziales und ökologisches Gleichgewicht bedrohen, sell Kirk zufolge ist der Gerechte ein entschlossener Verteidi- wachsamen Widerstand entgegenzusetzen. Ziel muss sein, ger der Dinge, die ihm überantwortet sind. Gerechte Frauen künftigen Generationen jene Ordnung weiterzugeben, deren und Männer seien Voraussetzung dafür, dass der Egoismus zeitweilige Treuhänder wir sind, und diese in der Zwischen- der Menschen eine Kultur nicht zerstört.78 zeit aufrechtzuerhalten und zu verbessern.“76 Christliche Weltanschauung nimmt den Menschen als Teil ei- ner Generationenkette wahr. Sie blickt über den Horizont der gegenwärtig lebenden Generationen hinaus und ist grund- sätzlich langfristig angelegt. Auf dieser Grundlage konnte das Der Schutz der Lebensgrundlagen des Menschen ist auch eine Christentum seine großen Werke schaffen, die zu errichten Forderung des Solidaritätsprinzips der christlichen Sozial- oft die Arbeit vieler Generationen erforderte. Kathedralen lehre. Dieses Prinzip ist Ausdruck der natürlichen Pflichten sind ein architektonischer Ausdruck des generationenüber- des Menschen, in diesem Fall seiner Pflichten gegenüber greifenden Denkens des Christentums. Ihre Errichtung er- nachfolgenden Generationen, aber auch seinen Pflichten ge- streckte sich häufig über Jahrhunderte bzw. über mehrere Ge- genüber Gott bzw. der Pflicht zur Erfüllung des von ihm er- nerationen. teilten Auftrags, die Welt zu hüten und zu bewahren. Für Ernst Jünger ist die Geburt des Menschen „der Akt, der uns in unser eigentliches Erdreich versenkt, und der mit tausend
symbolischen Fäden unseren Platz in der Umwelt bestimmt“. Dem Historiker Ernest Renan zufolge sei eine Nation eine Durch die Geburt werde man Teil „der Nation, der Gemein- übergenerationelle Solidargemeinschaft der Gewesenen, der schaft, durch Geburt Verbundener“. Man trete durch sie von Lebenden und der Künftigen.86 Edmund Burke schrieb über einem festen Punkt aus in das Leben ein, „aber in einer Bewe- generationenübergreifende Solidarität, dass die Ziele eines gung, die schon lange vor uns begonnen hat und erst spät Gemeinwesens „nicht in einer Generation zu erreichen sind“. nach uns enden wird“. Das Leben des Menschen sei „nur eine Ein Gemeinwesen könne daher nur als „Gemeinschaft zwi- Strecke dieser riesigen Bahn“. Für jene, die behaupten, dass schen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und die Geburt ein Zufall sei, treffe dies jedoch tatsächlich zu, denen, welche noch leben sollen“, funktionieren. Der primäre denn wer sich keiner Bindung und Tradition bewusst sei, der Sinn einer Gesellschaft sei nicht die Befriedigung der Bedürf- sei in der Tat ein „zufälliger Mensch“.79 nisse ihrer Mitglieder, sondern die Schaffung einer Verbin- dung zwischen früheren und künftigen Generationen und die Sicherstellung der Kontinuität des Erbes. Dieses sei ein von je- Nachhaltigkeit ist Ausdruck einer Solidarität, die sich über die der Generation zu pflegendes und an die nächste Generation Generationenkette hinweg erstreckt, wie katholische und weiterzugebendes wertvolles Gut.87 evangelische Kirche 1997 in einer gemeinsamen Erklärung Roger Scruton betonte, dass der auf diesen Gedanken beru- betonten. Solidarität beziehe sich „nicht nur auf die gegen- hende Konservatismus eine „Philosophie des Bewahrens“ sei, wärtige Generation; sie schließt die Verantwortung für die der es nicht nur um die Konservierung der Vergangenheit kommenden Generationen ein.“ Die gegenwärtige Genera- gehe, weil sie vor allem auch künftige Generationen und de- tion dürfe „nicht auf Kosten der Kinder und Kindeskinder ren Wohl im Blick habe.88 wirtschaften, die Ressourcen verbrauchen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft aushöhlen, Schul- Solidarität mit nachfolgenden Generationen beruht auch auf den machen und die Umwelt belasten.“ Auch die künftigen der Erwartung, dass die eigenen Nachkommen auf viele Ge- Generationen hätten „das Recht, in einer intakten Umwelt zu nerationen hin den Ort bewohnen werden, der die Heimat leben und deren Ressourcen in Anspruch zu nehmen.“80 der heute lebenden Menschen ist. Diese Erwartung motiviert dazu, Opfer für diese Nachkommen zu bringen. Wer an dieser ■ Eine „ganzheitliche menschliche Entwicklung“ beruht Kontinuität zweifelt, wird solche Opfer für weniger sinnvoll laut Benedikt XVI. auf „Solidarität und Gerechtigkeit zwi- halten. schen den Generationen“.81 Es stelle eine „sehr ernste Ver- pflichtung“ dar, „die Erde den neuen Generationen in ei- nem Zustand zu übergeben, so daß auch sie würdig auf ihr Die Ehrung der eigenen Vorfahren, auf der generationen- leben und sie weiter kultivieren können.“82 übergreifende Solidarität beruht, ist eine Forderung des Vier- ■ Papst Franziskus schrieb über generationenübergreifende ten Gebots des Christentums und des Judentums. Alle Hoch- Solidarität, dass der Begriff des Gemeinwohls „auch die zu- kulturen der Menschheit haben in ihrer Tradition diese natur- künftigen Generationen mit ein“ beziehe. Ohne „eine So- rechtliche Forderung anerkannt, weil sie den Menschen lidarität zwischen den Generationen kann von nachhalti- gleichermaßen als Träger eines Erbes betrachten, das er wei- ger Entwicklung keine Rede“ sein. Die natürliche Umwelt terzugeben habe. Ahnenkulte gehören zu den ältesten For- stelle ein Erbe dar, das intakt übergeben werden müsse.83 men religiöser Praxis und spielten eine wichtige Rolle für die ■ Laut Papst Paul VI. seien wir „Erben unserer Väter und Be- Identität und Kontinuität früher Gemeinschaften von Men- schenkte unserer Mitbürger“ und daher allen verpflichtet, schen.89 und jene können uns nicht gleichgültig sein, die nach uns den Kreis der Menschheitsfamilie weiten. Die Solidarität Roger Scruton schrieb über die Dankbarkeit gegenüber den aller, die etwas Wirkliches ist, bringt für uns nicht nur Vor- eigenen Ahnen im abendländischen Erbe, dass sie uns Men- teile mit sich, sondern auch Pflichten.“84 schen lehre, „Raum zu schaffen in unserem Herzen für unsere ■ Papst Franziskus rief Christen 2018 zu einem generatio- Nachfolger, deren Zuneigung wir verdienen möchten“. Men- nenübergreifenden Dienstethos im Geist „der Erbauer der schen lernten dadurch auch, ihre eigenen Interessen zuguns- mittelalterlichen Kathedralen in ganz Europa“ auf: „Diese ten denen nachfolgender Generationen zurückzustellen, und gewaltigen Bauten erzählen, wie wichtig die Teilnahme dass sie das Gute, dass sie ererbt haben, „nicht besitzen, um eines jeden an einem Werk ist, dass die Grenzen der Zeit es zu verbrauchen, sondern um es klug zu nutzen und dann überdauert. Der Baumeister an einer Kathedrale wusste, weiterzugeben“.90 dass er die Vollendung seines Werkes nicht erleben Der atheistische Evolutionsbiologe Richard Dawkins ver- würde. Trotzdem hat er kräftig mitgeholfen, denn er ver- suchte, eine naturalistische Begründung für die Ehrung der stand sich als Teil eines Projektes, das seinen Kindern zu- eigenen Ahnen zu formulieren, die ebenfalls die Bedeutung gutekommen sollte und die es dann ihrerseits für ihre Kin- des Erbes betont. Er verwies darauf, dass der Mensch über der verschönern und erweitert würden. Jeder Mann und eine lange Ahnenreihe an Lebewesen verfüge, die sich über jede Frau dieser Erde – und besonders wer Regierungsver- hunderte von Millionen Jahren in jeder Generation habe be- antwortung trägt – soll diesen Geist des Dienens und der währen müssen. Der Mensch könne stolz auf die „Elite der generationsübergreifenden Solidarität pflegen und so ein Vorfahren“ sein. Vom Beginn des Lebens an habe sich jeder Zeichen der Hoffnung für unsere zerrissene Welt sein.“85
seiner Vorfahren gegen die Herausforderungen, denen er ge- und der Dinge, die sie ausmachen, etwa ihre Menschen, ihre genüberstand, hinreichend erfolgreich durchgesetzt, egal ob Kultur und ihre Natur. Konservative seien von der Überzeu- es Feinde, Krankheiten oder die Gefahren der Natur waren.91 gung geprägt, „dass das Wichtigste, was Lebende tun kön- nen“, es sei, „sich niederzulassen, ein Heim für sich zu schaf- fen und dieses Heim an ihre Kinder weiterzugeben.“98 Der „O- Der Philosoph Edmund Burke (1729–1797) betonte, dass der ikos“ sei ein „Ort des Sinns“, an dem es ein „Wir“ gibt und traditionelle, auf christlicher Weltanschauung beruhende nicht nur eine Ansammlung von Individuen. Solche Orte Konservatismus im Sinne des oben beschriebenen Welt- und seien Inseln der Werte in einem Meer von Preisen. Sie würden Menschenbilds das anvertraute Land als Erbe betrachte, das Bindungskraft entwickeln und den Willen stärken, sich für sie Menschen von ihren Vorfahren erhalten und intakt an nach- einzusetzen und Verantwortung für sie zu übernehmen.99 Der folgende Generationen zu übergeben hätten, weil sie inner- Konservatismus sei die „Philosophie der Zugehörigkeit“ und halb der Kette der Generationen Pflichten sowohl gegenüber der Bindung an das, was man liebe und vor Verfall bewahren Vorfahren als auch gegenüber Nachkommen hätten.92 wolle.100 Er knüpfe an die antike römische Tugend der pietas an, die ein ähnliches Konzept beschreibe.101 Der Mensch stehe laut Hans Jonas gegenüber künftigen Gene- rationen in einem Verantwortungsverhältnis und nicht in ei- Das „Gefühl territorialer Zugehörigkeit“ und Bindung an Ge- nem liberalen Vertragsverhältnis.93 Scruton zufolge sehe die meinschaft von Menschen habe dazu beigetragen, „ein ererb- abendländische Tradition den Menschen als „kollektiven Er- tes soziales und ökologisches Gleichgewicht zu bewahren“. ben von großartigen und seltenen Gütern“. Sein Ziel müsse es Der Wunsch, eine bestimmte Umwelt zu schützen und dafür sein, „an diesen Gütern festzuhalten, um sie an unsere Kinder Opfer zu bringen, setze voraus, dass man sich mit dieser iden- zu übergeben“. Ein intaktes Verhältnis der Generationen un- tifiziere und eine Bindung an sie empfinde.102 Umwelt- und tereinander könne nicht auf Vertragsdenken beruhen, son- Naturschutz setzten die Liebe zum Eigenen voraus.103 Diese dern sich nur auf dienende Liebe stützen, die den Menschen Liebe gelte utopischen Ideologien als verdächtig.104 Der Auf- „als einen Teil der fortlaufenden Kette von Geben und Entge- lösungsdruck, der „in einer Welt der ersetzbaren Beziehun- gennehmen“ sehe, dem es nicht zustehe, dass Gute, dass er gen, der allgegenwärtigen Kommerzialisierung, der an- erbe, zu verderben.94 schwellenden Migration und der ständigen Erosion unseres sozialen und politischen Erbes“ herrsche, erschwere es, solche Der Althistoriker Egon Flaig führte kulturelle Nachhaltigkeits- Bindungen aufzubauen. In „einer Welt, in der alles und jedes defizite in europäischen Gesellschaften auf den Verlust der in Bewegung ist“, sei es zunehmend schwierig, einen Ort und „kulturellen Dankbarkeit“ gegenüber den eigenen Vorfahren eine Heimat zu finden, gegenüber der man Bindungen auf- zurück. Moderne und postmoderne Ideologien hätten mit der bauen kann.105 Zudem gebe es eine Tendenz zur „oikonomia abendländischen Tradition gebrochen und würden den Men- ohne oikos“, die damit verbunden sei, politische Entscheidun- schen darauf reduzieren, „ökonomisch motivierte Wesen gen ausschließlich von wirtschaftlichen Faktoren abhängig ohne kulturelle Imprägnierung“ zu sein. Kulturelle Substanz zu machen. Beispiele dafür seien nicht nur Entscheidungen werde über viele Generationen hinweg aufgebaut. Ihre Wei- auf Kosten der natürlichen Umwelt, sondern auch die Ent- tergabe und Weiterentwicklung von Generation zu Genera- scheidung, aus wirtschaftlichen Gründen Massenzuwande- tion setze Dankbarkeit gegenüber den eigenen Vorfahren vo- rung zu fördern, ohne auf deren kulturelle Folgen Rücksicht raus. Wo diese fehle, breche das Erbe eines Gemeinwesens zu nehmen.106 ab.95 Auch der Philosoph Martin Drenthen beobachtete, dass Ge- Ähnlich wie Flaig sieht Rüdiger Safranski in westlichen Ge- meinschaften von Menschen, die über eine enge Bindung an sellschaften zunehmend einen Menschentypus vertreten, der einen bestimmten Ort oder Raum verfügen den sie als Heimat nicht Träger eines Erbes sein wolle, sondern nur ein Konsu- wahrnehmen, eher dazu bereit sind, für diesen Verantwor- ment. Es entstehe „eine Gesellschaft von Endverbrauchern, tung zu übernehmen, als Akteure, die nicht über eine solche die, aus der Generationenkette gelöst, nur noch für sich selbst Bindung verfügen. Durch „durchlebte Erfahrung“ entstehe sorgen“.96 „eine besondere Beziehung und damit ein Gefühl der Zuge- Kardinal Robert Sarah sagte im September 2019, dass die geis- hörigkeit zu und der Verbundenheit mit einem bestimmten tig-kulturelle Krise der westlichen Welt auch eine Folge der Ort.“ Weigerung von Menschen sei, sich als Träger eines Erbes zu Bereits Ernst Rudorff, der im späten 19. Jahrhundert einer der verstehen. Der moderne Mensch lehne die Vorstellung ab, Pioniere des Umweltschutzgedankens war, habe die Bedeu- eine begrenzte und abhängige Kreatur zu sein, die von einem tung des Heimatgefühls als Quelle der Motivation für den Vater abstamme, in eine Familie hineingeboren sei und von Schutz der natürlichen Umwelt betont. Der Fremde werde einem Erbe bzw. von einer Überlieferung lebe. Wer es ab- laut Drenthen in diesem Denken als potenzieller Gast wahr- lehne, der Nachkomme seiner Vorfahren und der Sohn seines genommen, so dass dieses Denken Gastfreundschaft betone, Vaters zu sein, habe auch eine Neigung, Gott abzulehnen.97 solange der Fremde als Gast in Erscheinung tritt.107 Die Forde- rungen des modernen Lebens nach erhöhter Mobilität sowie Individualisierung lösen diese Bindung an einen Ort auf. Der Roger Scruton schuf den Begriff der Oikophilia (griechisch für Mensch verbringe laut Drenthen sein Leben zunehmend an „die Liebe zum Heim“) zur Beschreibung des konservativen global gleichförmigen „Nicht-Orten“, denen gegenüber er Konzepts der Liebe zum Eigenen bzw. zur eigenen Heimat
kaum Bindung oder Verantwortungsgefühl entwickeln zur Übernutzung von Ressourcen dadurch reduziert werden könne.108 könnten, dass man handelnde Akteure dazu zwinge, für die Folgen ihrer Handlungen einzustehen bzw. deren Kosten zu tragen.112 Roger Scruton betonte in diesem Zusammenhang, dass die Bewältigung ökologischer Herausforderung nur auf der Grundlage des konservativen Eigentumsbegriffs gelingen Das Subsidiaritätsprinzip der christlichen Soziallehre be- könne: stimmt das richtige Verhältnis zwischen sozialen Einheiten, das eine der Voraussetzungen von Nachhaltigkeit ist. Es be- ■ Dieser binde das Recht auf Eigentum an die Pflicht, mit trachtet die Familie als Grundlage der Gesellschaft. Familie diesem verantwortlich umzugehen. Voraussetzung dafür und Nation werden von der Soziallehre als Grundordnungen sei, dass Eigentum dezentral verteilt sei und die Folgen sei- und wesentliche Systeme von Bindungen angesehen, inner- nes guten Gebrauchs oder seines Missbrauchs bzw. die da- halb der sich der Mensch als Gemeinschaftswesen bewegt. bei entstehenden Kosten jeweils die Handelnden sowie Gesellschaftliche Aufgaben sollten dabei jeweils von der ihre unmittelbaren Interessen direkt betreffen. kleinsten Einheit und auf der niedrigsten Organisationsebene ■ Eine zu große Konzentration von Eigentum führe dazu, durchgeführt oder gelöst werden, die dazu in der Lage ist. dass der Zusammenhang von Handeln und Folgen aufge- löst werde. Ein globaler Konzern habe allenfalls nur einen Das Subsidiaritätsprinzip beruht auf der Anerkennung der abgeschwächten wirtschaftlichen Anreiz dafür, die lang- Natur des Menschen als Gemeinschaftswesen und der Einge- fristigen Folgen seiner Entscheidungen für einen be- bundenheit des Menschen in natürliche Gemeinschaften, vor stimmten Ort oder eine bestimmte Gemeinschaft von allem in die Familie. Christliche Weltanschauung betrachtet Menschen zu berücksichtigen. die Gesellschaft als System von aufeinander bezogenen Bin- ■ Solche Akteure könnten außerdem die Folgen ihres Han- dungen und Gemeinschaften, die bei der Familie beginnen delns, etwa Umweltfolgen, auf andere abwälzen, etwa und sich über die Nationen sowie Gemeinschaften von Natio- durch politische Einflussnahme. Zudem würden solche nen (etwa die Gemeinschaft europäischer Nationen) fortset- Konzentrationen lokale Wirtschaftsstrukturen schwä- zen. chen. Ulrich vom Hagen bezeichnete den Ansatz der christlichen Der „globale Kapitalismus“ sei somit „weniger eine Übung in Soziallehre zur Gestaltung einer nachhaltigen, subsidiär orga- der Ökonomie des freien Marktes“, sondern „eine Art Räuber- nisierten Wirtschaftsordnung als „Gemeinwirtschaft, welche banden-Verhalten, das die Kosten im Interesse der hier und die Dinge örtlich und beständig hält“. Diese Ordnung beruhe heute machbaren Gewinne der zukünftigen Generation auf- auf kleinen sozialen Einheiten, vor allem der Familie, sowie bürdet“ und „Raub an den zukünftigen Generationen“ auf geringer Staatsintervention, einer möglichst breiten Ver- begeht.113 teilung des Privateigentums „als der besten Garantie politi- scher und sozialer Freiheit“ sowie auf freiwillig gewähltem einfachem Leben. Die wirtschaftliche Dimension des Lebens Der Zukunftsforscher Robert Jungk warnte in den 1970er Jah- werde in dieser Ordnung als Unterstützungsfunktion des geis- ren vor dem „Atomstaat“, der in Folge der Einführung von tigen Lebens sowie des Familienlebens betrachtet. Es handele Großtechnologien seien könne. Solche Technologien würden sich somit um eine christozentrische Ordnung im Sinne des durch die mit ihnen verbundenen Risiken Sachzwänge und Gedankens des sozialen Königtums Christi.109 eine Entwicklung hin zu immer größerem Zentralismus und Dem Subsidiaritätsprinzip zufolge beruht eine nachhaltige staatlicher Kontrolle erzeugen.114 Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf dem Grundsatz, dass Entscheidungen dort getroffen werden, wo die Entschei- denden die Folgen ihres Handelns unmittelbar zu tragen und Dezentrale, subsidiäre Strukturen haben sich im Vergleich zu zu verantworten haben. Christliche Soziallehre lehnt die Ver- zentralistischen Strukturen als krisenfester erwiesen. Solche lagerung der meisten wirtschaftlichen und politischen Ent- Strukturen haben zudem das hervorgebracht, was im positi- scheidungen auf die Ebene globaler Konzerne oder Bürokra- ven Sinne die Vielfalt der Kulturen Europas und der Welt aus- tien ab, weil hier keine Beziehung mehr zwischen Entschei- macht. dungsträgern und den Folgen ihrer Entscheidungen gewähr- leistet sei. Sie bejaht hingegen eine Gestaltung von Märkten, die diejenigen für Kosten verantwortlich macht, die sie verur- sachen.110 Das Ziel der vollständigen Beherrschung der Natur durch den Laut Benedikt XVI. ist es wichtig, dass „die wirtschaftlichen Menschen mit den Mitteln der Technik teilen alle modernen und sozialen Kosten für die Benutzung der allgemeinen Um- Ideologien. In Verbindung mit ihrer Tendenz zu kurzfristigem weltressourcen offen dargelegt sowie von den Nutznießern Denken und ihrer Bejahung des Hedonismus führen sie zur voll getragen werden und nicht von anderen Völkern oder zu- Vernutzung der natürlichen Umwelt und anderer Lebens- künftigen Generationen“.111 Der Wirtschaftswissenschaftler grundlagen des Menschen. Gleichzeitig beseitigen diese Ide- Joseph Stiglitz erklärte ebenfalls, dass wirtschaftliche Anreize ologien die kulturellen und geistigen Eindämmungen, die
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