ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner

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ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner
T E ILDR   UCK
      ITE R T E R
ERWE K APITEL 1 (GK )
ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner
philo
           Qualifikationsphase

herausgegeben von Bernd Rolf und Jörg Peters
erarbeitet von Klaus Draken, Matthias Gillissen,
   Jörg Peters, Martina Peters und Bernd Rolf

                 C.  C.  BUCHNER
ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner
philo – NRW
Qualifikationsphase

Unterrichtswerk für Philosophie in der Sekundarstufe II

herausgegeben von Bernd Rolf und Jörg Peters
erarbeitet von Klaus Draken, Matthias Gillissen, Jörg Peters, Martina Peters und Bernd Rolf

             TEILDRUCK
 ERWEITERTER
          EL 1 (GK )
         K APIT

1. Auflage, 1. Druck 2015
Alle Drucke dieser Auflage sind, weil untereinander unverändert, nebeneinander benutzbar.

Dieses Werk folgt der reformierten Rechtschreibung und Zeichensetzung. Ausnahmen bilden Texte,
bei denen künstlerische, philologische oder lizenzrechtliche Gründe einer Änderung entgegenstehen.

© 2015 C. C. Buchner Verlag, Bamberg

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Layout und Satz: HOCHVIER GmbH & Co. KG, Bamberg
Umschlaggestaltung: Wildner + Designer GmbH, Fürth
Druck und Bindung: creo Druck & Medienservice GmbH, Bamberg

www.ccbuchner.de

ISBN des Gesamtbandes: 978-3-7661-6697-5
ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner
DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Menschen-Bilder                                    4

DER MENSCH ALS NATUR-                                  DER MENSCH ALS FREIES UND
UND KULTURWESEN                                        SELBSTBESTIMMTES WESEN
Der Mensch als Produkt der Evolution               6   Ist unser Wille frei?                                   52
Evolution durch natürliche Auslese                 8   Vollständig determiniert                                54
Recht des Stärkeren? – Der Sozialdarwinismus      10   Willensfreiheit auf dem Prüfstand                       56
Unser evolutionäres Erbe                          12   Freiheit = Unbedingtheit?                               58
Mängelwesen Mensch                                14   Freiheit als Selbstbestimmung                           60
Der Mensch – ein Kulturwesen                      16   Freiheit versus Determination                           62
>                                                      >
    M E THOD E N KO M PET ENZ :                            M E T H O D E N KO M P E T E N Z :
1

                                                       1

    Eine philosophische Textanalyse und                    Philosophische Positionen miteinander vergleichen (I)
    -interpretation verfassen
                                                       Zur Freiheit verurteilt                                 64
Braucht der Mensch Institutionen?                 18   Der Mensch als Selbstentwurf                            66
Der Mensch als Arbeiter			                        20   Freiheit in einer Welt voller Widerstand                68
Der handelnde Mensch                              22   Determination durch Unbewusstes?                        70
Symbolgebrauch und Sprache                        24   Das bedrängte Ich                                       72
Kulturgut Spiel                                   26   Freiheit, Verantwortung, Strafe                         74
Kultur – kritisch betrachtet                      28
                                                       Wissen kompakt                                          76
Wissen kompakt                                    30

                                                       Gesamtübersicht                                         78
 DAS VERHÄLTNIS                                        Begriffsglossar                                         80
 VON LEIB UND SEELE
 Was macht mich zum Ich?                          32
 Ich – eine Illusion?                             34
 Ich-Gewissheit                                   36
 Körper und Seele –
 zwei unterschiedliche Substanzen                 38
 Die Seele als Teil des Körpers                   40
 Der Mensch – beseeltes Wesen
 oder Körpermaschine?                             42
>
    M E THOD E N KO M PET ENZ :
1

    Eine philosophische Position rekonstruieren

Bin ich mein Gehirn?                              44
Das psychophysische Problem                       46
Ein Dualismus von Eigenschaften                   48
Wissen kompakt                                    50
ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner
Menschen-Bilder
A   Betrachten Sie die beiden Abbildungen und besprechen Sie
    Fragen, die Ihnen dazu in den Sinn kommen.
    Diskutieren Sie anschließend die Aussagen in den Sprechbla-
    sen in Gruppen und stellen Sie Ihre Ergebnisse im Plenum vor.

                  Sind Gedanken und
                 Gefühle eigentlich dasselbe
                wie die Vorgänge in unserem                   Der Mensch hat
               Körper bzw. im Gehirn?                        Persönlichkeit, Geist und Seele.
                                                            Das unterscheidet ihn vom Tier.
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DAS MENSCHENBILD DER FORSCHUNGEN ZUR KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ (LK)                               5

  Wenn wir wie eine
 Maschine funktionieren,
dann sind wir doch vollstän-                                 Wer den Menschen ausschließlich
dig festgelegt. Wie kann es                                  als Naturwesen betrachtet, der
da Freiheit und Selbstbe-                                   übersieht, wie stark unser Leben durch
   stimmung geben?                                          kulturelle Faktoren bestimmt wird.

                                      Ich bin fest davon über-
                                     zeugt, dass die Frage der
                                    Künstlichen Intelligenz ent-
                                   scheidend für unsere Zukunft
                                   ist. Vielleicht lösen Roboter
                                    uns eines Tages sogar ab.

                   DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

                   DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN

                   DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE

                   DAS MENSCHENBILD DER FORSCHUNGEN
                   ZUR KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ (LK)

                   DER MENSCH ALS FREIES UND SELBST-
                   BESTIMMTES WESEN

                   Philosophische Probleme, die in diesem Kapitel reflektiert werden:
                   Was bedeutet es, dass wir ein Produkt der Evolution sind?
                   Was zeichnet den Menschen als kulturelles Wesen aus?
                   Was macht das Ich zum Ich?
                   Haben wir eine immaterielle Seele oder ist der Mensch bloße Materie?
                   Ist die Willensfreiheit eine Illusion?
                   Wie weit sind wir in unseren Entscheidungen determiniert?
                   Lässt sich Intelligenz künstlich herstellen?
                   Ist es denkbar, dass Roboter eines Tages die Herrschaft über die Erde übernehmen?
ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN

    Der Mensch als Produkt der Evolution

    M1 Schöpfung …                                          … oder Evolution?

                                                            i
                                                            Zeitgenössische Karikatur der Evolutionstheorie
                                                            Charles Darwins (Zeichnung von 1882)

                                                            o Darstellung der Schöpfung in der Luther-Bibel
                                                               (Lucas Cranach, 1534)

    M2 Eine Idee erschüttert die Welt
    Als der Naturwissenschaftler Charles Darwin bei der     traute – mit den Worten: „Es ist, als gestehe man einen
    Auswertung seiner Forschungsreise um die Welt           Mord.“ Erst 15 Jahre später fasste er den Mut, seine           10

    (1831-1835) zu der Erkenntnis gelangte, dass die Ar-    Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Charakte-
    ten der Lebewesen nicht unveränderlich sind, son-       ristisch für die Reaktion seiner Zeitgenossen ist eine
5   dern sich nach Gesetzen der Natur entwickeln, war       Bemerkung der Frau des Bischofs von Worcester:
    er gleichermaßen fasziniert wie erschrocken. Lange      „Mein Gott, hoffen wir, dass es nicht wahr ist; sollte
    hütete er seine Entdeckung als Geheimnis, bis er sich   es aber doch wahr sein, so lasst uns dafür beten, dass         15

    schließlich 1844 dem Botaniker Joseph Hooker anver-     es nicht allgemein bekannt wird.“            Originalbeitrag
ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN                               7

     M3 Charles Darwin: Die Entstehung der Arten                      M4 Charles Darwin:
     Mit der Schrift On the Origin of Species begründete Charles         Die Abstammung des Menschen
     Darwin (1809-1882) im Jahre 1859 die Evolutionstheorie.          Bis zur Veröffentlichung der Forschungsergebnisse zur Abstam-
     Als ich mich als Naturforscher an Bord des „Beagle“              mung des Menschen vergingen weitere 22 Jahre.
     befand, war ich aufs höchste überrascht durch ge-                Jeder, der nicht […] damit zufrieden ist, die Erschei-
     wisse Merkwürdigkeiten in der Verbreitung der Tiere              nungen der Natur als unverbunden anzusehen, kann
     und Pflanzen Südamerikas sowie durch die geolo-                  nicht länger glauben, dass der Mensch das Werk eines
 5   gischen Beziehungen der gegenwärtigen Bewohner                   besonderen Schöpfungsaktes ist. Er wird gezwungen
     dieses Erdteils zu den früheren. […] [D]iese Tatsachen           sein zuzugeben, dass die große Ähnlichkeit eines                   5

     [schienen mir] Licht zu werfen auf die Entstehung der            Embryos des Menschen mit dem z. B. eines Hundes,
     Arten, das Geheimnis aller Geheimnisse, wie einer                – der Bau seines Schädels, seiner Glieder und seines
     unserer größten Philosophen sie nannte. Nach mei-                ganzen Körpers nach demselben Bauplan wie bei den
10   ner Heimkehr (1837) wurde mir immer klarer, dass                 anderen Säugetieren und zwar unabhängig von dem
     sich vielleicht durch Sammeln und Vergleichen aller              Gebrauch, welcher etwa von den Teilen gemacht wird,                10

     damit zusammenhängenden Tatsachen etwas zur Lö-                  […] und eine Menge analoger Tatsachen, – dass alles
     sung der Frage tun ließe. […]                                    dies in der offenbarsten Art auf den Schluss hinweist,
     Was die Entstehung der Arten betrifft, so muss ein Na-           dass der Mensch mit anderen Säugetieren der ge-
15   turforscher, der die gegenseitige Verwandtschaft der             meinsame Nachkomme eines gleichen Urerzeugers ist.
     organischen Wesen, ihre embryonalen Beziehungen,                 Wir haben gesehen, dass der Mensch unaufhörlich                    15

     ihre geographische Verbreitung, ihre geologische Auf-            individuelle Verschiedenheiten in allen Teilen seines
     einanderfolge und ähnliche Tatsachen erwägt, zu dem              Körpers und in seinen geistigen Eigenschaften dar-
     Schlusse kommen, dass die Arten nicht unabhängig                 bietet. Diese Verschiedenheiten oder Abänderungen
20   voneinander erschaffen worden sind, sondern ähnlich              scheinen durch dieselben allgemeinen Ursachen her-
     den Varietäten von anderen Arten abstammen. […]                  beigeführt worden zu sein und denselben Gesetzen                   20

     Niemand wird überrascht sein, dass vieles über den               zu gehorchen, wie bei den niederen Tieren.
     Ursprung der Arten und Varietäten unerklärt bleibt,                                                Die Abstammung des Menschen
                                                                                              und die geschlechtliche Zuchtwahl (1871)
     wenn er bedenkt, wie gering unsere Kenntnis der ge-
25   genseitigen Beziehungen der uns umgebenden Lebe-
     wesen ist. […] Mag aber auch vieles dunkel sein und                     1	
                                                                               Vergleichen Sie die beiden Darstellungen. Lei-
                                                                                                                                         A
     noch lange unaufgeklärt bleiben: auf Grund meiner                         ten Sie daraus jeweils Konsequenzen für das
     sorgsamen Studien und des unbefangensten Urteils,                         Selbstverständnis des Menschen ab. > M1
     dessen ich fähig bin, halte ich trotzdem die Meinung                    2	
                                                                               Stellen Sie Vermutungen an über die Gründe
30   für irrig, der bis vor kurzem die meisten Naturfor-                       für Darwins Gewissensqualen und die Reaktion
                                                                               der Öffentlichkeit. > M2
     scher zu-neigten (wie auch ich selber in früheren
                                                                             3	
                                                                               Stellen Sie Darwins Entdeckungen dar und er-
     Jahren), dass nämlich jede Art selbständig erschaffen
                                                                               läutern Sie, worin Darwin selbst ihr revolutio-
     sein soll. Ich bin fest überzeugt, dass die Arten nicht                   näres Potential sah. > M3/M4
     unveränderlich, sondern dass die zu einer Gattung                       4	
                                                                               Recherchieren Sie, wie die Religionsgemein-
35   gehörenden die Nachkommen anderer, meist schon                            schaften heute zur Evolutionstheorie stehen.
     erloschener Arten, und dass die anerkannten Varie-
     täten einer bestimmten Art Nachkommen dieser sind.
                                                                        Medienhinweis:
     Und ebenso fest bin ich überzeugt, dass die natürliche
                                                                        Wer Wind sät … (USA 1960, Regie: Stanley Kramer)
     Zuchtwahl [engl.: natural selection] das wichtigste,               – Gerichtsdrama zum Thema Kreationismus versus
40   wenn auch nicht einzige Mittel der Abänderung war.                 Evolutionslehre
                                    Die Entstehung der Arten (1859)
ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner
8     DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

Evolution durch natürliche Auslese

M1 Auf dem Weg zum Menschen
ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN                         9

     M2 Ernst Mayr: Was ist natürliche Auslese?                      Auslese um zwei Spielarten von Qualität handelt.            40

     Der deutsch-amerikanische Biologe Ernst Mayr (1904-2005)        Was Darwin „natürliche Auslese“ nannte, bezieht
     ist der Hauptvertreter der modernen synthetischen Evolutions-   sich auf jede Eigenschaft, die dem Überleben zuträg-
     theorie, die Darwins Erkenntnisse mit Ergebnissen der Genfor-
                                                                     lich ist, etwa eine bessere Nutzung der Ressourcen,
     schung verbindet.
                                                                     eine bessere Anpassung an Wetter und Klima, eine
     Darwins Wahl des Wortes selection, „Auslese“ (in                höhere Widerstandskraft gegen Krankheiten und eine          45

     älteren Übersetzungen: „Zuchtwahl“), war nicht be-              größere Fähigkeit, Feinden zu entkommen.
     sonders glücklich. Es lässt ein wirkendes Wesen oder            Abgesehen von den überlegenen Eigenschaften zum
     Prinzip in der Natur vermuten, das, da es die Zu-               Überleben kann ein Individuum jedoch auch schlicht
 5   kunft voraussagen kann, „die Besten“ auswählt. Die              dadurch einen höheren genetischen Beitrag für die
     natürliche Auslese tut selbstverständlich nichts der-           nächste Generation leisten, dass es sich erfolgreicher      50

     gleichen. Der Ausdruck steht einfach für die Tatsa-             fortpflanzt. Diese Art von Selektion bezeichnete Dar-
     che, dass nur ein paar (im Durchschnitt zwei) von               win als „sexuelle Auslese“. Besonders beeindruckt war
     allen Nachkommen eines Elternpaares lange genug                 er von den männlichen sekundären Geschlechtsmerk-
10   überleben, um sich fortzupflanzen. Es gibt weder                malen, etwa von dem prachtvollen Gefieder männli-
     eine spezielle Selektionskraft in der Natur noch einen          cher Paradiesvögel, der riesenhaften Größe der Ele-         55

     bestimmten Handelnden, der selektiert. Es gibt viele            fantenrobben oder dem eindrucksvollen Geweih von
     Gründe für den Erfolg der wenigen Überlebenden.                 Hirschen. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass
     Einem Teil, vielleicht sogar einem Großteil des Über-           Selektion die Evolution solcher Merkmale entweder
15   lebens liegt ein zufallsabhängiger Prozess zugrunde,            begünstigt, weil sie im Konkurrenzkampf mit anderen
     das heißt: Glück. Zum größten Teil hängt es vom                 Männchen um die Weibchen recht hilfreich sind oder          60

     überlegenen Funktionieren der physiologischen Vor-              weil Weibchen von Männchen mit diesen Eigenschaf-
     gänge im Körper des überlebenden Individuums ab,                ten angezogen werden. … und Darwin hat doch recht (1991)
     kraft dessen es mit den Wechselfällen der Umwelt
20   besser fertig werden kann als andere Mitglieder der
                                                                            1	
                                                                              Erläutern Sie, was mit der Bildfolge zum Aus-
                                                                                                                                 A
     Population. […] Den Erfolg eines Individuums be-                         druck gebracht werden soll. > M1
     stimmt genau die Fähigkeit der inneren Maschinerie                     2	
                                                                              Erklären Sie den Mechanismus der Evolution
     des Körpers des Lebewesens (einschließlich des Im-                       nach Darwin bzw. Mayr. > M2
     munsystems), mit den Herausforderungen der Um-                         3	
                                                                              Wenden Sie das Erklärungsmodell auf die Evo-
25   welt fertig zu werden. Nicht die Umwelt selektiert,                      lution des aufrechten Ganges an. > M1/M2
     sondern der Organismus, der sich im Meistern der
     Umwelt als mehr oder weniger erfolgreich erweist. Es              Exkursionsvorschlag: Neanderthal-Museum
     gibt keine äußere Selektionskraft.                                (Adresse: Talstraße 300, 40822 Mettmann)
     Einige wenige Beispiele mögen dies verdeutlichen.                 Besuchen Sie die Ausstellung und tragen Sie weitere
30   Nehmen wir zum Beispiel die Widerstandskraft ge-                  Daten und Fakten zur Evolutionstheorie zusammen.
     gen Krankheitserreger. Bakterien und andere Krank-                Gehen Sie auch der Frage nach, wie weit der Mensch
     heitsverursacher stellen die Umwelt dar; die Abwehr               durch Bedingungen der Evolution geprägt ist und
                                                                       welche weiteren Aspekte für die Entwicklung des
     eines Tieres gegen sie besteht aus intrazellulären Se-
                                                                       Menschen bestimmend sind.
     lektionsprozessen. […] Der Erfolg eines Organismus
35   hängt in hohem Maße von seiner normalen Entwick-
                                                                       Medienhinweis:
     lung vom befruchteten Ei bis zum Erwachsensein ab.
                                                                       Zeitreise erleben – Texte und Filme aus der Dauer-
     Gegen fast alle Abweichungen von der Normalität im                ausstellung des Neanderthal-Museums in Mettmann
     Laufe der Entwicklung wird Selektion wirksam. […]                 auf CD-ROM
     Schließlich ist hervorzuheben, dass es sich bei der
10         DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

     Recht des Stärkeren? – Der Sozialdarwinismus

     M1 Herbert Spencer:                                                   chen Materials. […] Der Kampf, an dem ein von Hau-              10

        Überleben der Passendsten                                          se aus schwaches Menschenmaterial zu Grunde geht,
     Auch Darwins Kennzeichnung der natürlichen Selektion durch            stählt das starke: außerdem stärkt der Kampf ums
     die Metapher struggle for life („Kampf ums Dasein“) wurde viel-       Überleben dieses Starke durch Ausscheidung schwä-
     fach als unglücklich empfunden. Eine angemessenere Bezeich-
                                                                           cherer Elemente. Die Kindheit großer Rassen sehen
     nung prägte 1864 der englische Philosoph Herbert Spencer
     (1820-1903) mit dem Ausdruck survival of the fittest („Überle-        wir stets von Krieg umtobt […].                                 15

     ben der Passendsten bzw. Angepasstesten“), den Darwin später                                       Houston Stewart Chamberlain, in:
     übernahm.                                                                                Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899)

     Wenn […] Individuen einer Spezies […] notwendig in                    [Das Verbinden von Höher- und Minderwertigem] wi-
     zahllosen Richtungen und Graden auseinander ge-                       derspricht dem Willen der Natur zur Höherzüchtung
     hen müssen, […] dann müssen auch unter allen In-                      des Lebens überhaupt. Die Voraussetzung hierzu liegt
     dividuen einige stets weniger als andere der Gefahr                   […] im restlosen Sieg des ersteren. Der Stärkere hat
 5   ausgesetzt sein, dass ihr Gleichgewicht durch eine                    zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu              20

     besondere einwirkende Kraft […] vollständig zerstört                  verschmelzen. […].
     werde. […] Die notwendige Folge wird sein, dass jene                  Der Kampf ums tägliche Brot lässt alles Schwache
     Individuen, deren Funktionen am meisten von dem                       und Kränkliche, weniger Entschlossene unterliegen,
     Gleichgewichte mit dem modifizierten Aggregate                        während der Kampf der Männchen um das Weibchen
10   äußerer Kräfte abweichen, zu Grunde gehen müs-                        nur dem Gesündesten das Zeugungsrecht oder doch                 25

     sen, während dagegen jene fortleben werden, deren                     die Möglichkeit hierzu gewährt. Immer aber ist der
     Funktionen am ehesten dem Gleichgewicht mit dem                       Kampf ein Mittel zur Förderung der Gesundheit und
     abgeänderten Aggregate äußerer Kräfte nahe kom-                       Widerstandskraft der Art und mithin eine Ursache
     men. Dieses Überleben der Passendsten aber hat auch                   zur Höherentwicklung derselben. […]
15   die Vermehrung der Passendsten zur Folge.                             Was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnis-              30

                            Die Prinzipien der Biologie (1864, dt. 1877)   sen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns
                                                                           sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Pro-
     M2 Ideologisierung eines Begriffs                                     dukt des Ariers*. Gerade diese Tatsache aber lässt den
     Rassisten und Nationalsozialisten – u. a. Ernst Haeckel (1834-        nicht unbegründeten Rückschluss zu, dass er allein
     1919), Houston Stewart Chamberlain (1855-1929), Adolf Hitler          der Begründer höheren Menschentums überhaupt                    35
     (1889-1945) – missbrauchten die von Darwin verworfene For-
                                                                           war, mithin der Urtyp dessen, was wir unter dem
     mulierung struggle for life zur Stützung ihrer Ideologie.
                                                                           Worte „Mensch“ verstehen. […] Den gewaltigsten Ge-
     Es ist die natürliche Züchtung im Kampf ums Dasein,                   gensatz zum Arier bildet der Jude. […]
     der die Mannigfaltigkeit des natürlichen Lebens her-                  Die völkische Weltanschauung […] glaubt somit
     vorgebracht hat und der auch die Völkergeschichte                     keineswegs an eine Gleichheit der Rassen, sondern               40

     bestimmt; hinzu käme jedoch die künstliche Züch-                      erkennt mit ihrer Verschiedenheit auch ihren höhe-
 5   tung etwa der Spartaner, die bereits die neugebo-                     ren und minderen Wert und fühlt sich durch diese
     renen Kinder einer Auslese unterwarfen und alle                       Erkenntnis verpflichtet, gemäß dem ewigen Wollen,
     schwächlichen töteten.                                                das dieses beherrscht, den Sieg des Besseren, Stärke-
               Ernst Haeckel, in: Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868)   ren zu befördern, die Unterordnung des Schlechteren             45

     Die erste, grundlegende Bedingung [für die Entste-                    und Schwächeren zu verlangen.
     hung edler Rassen] ist das Vorhandensein vortreffli-                                            Adolf Hitler, in: Mein Kampf (1924)
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN                      11

     M3 Hoimar von Ditfurth: Wer überlebt?                           M4 Christian Illies / Vittorio Hösle:
     Die nationalsozialistische Propaganda [war] uner-                  Ein naturalistischer Fehlschluss
     müdlich bestrebt […], uns davon zu überzeugen, dass             Unter „Sozialdarwinismus“ werden die Ansätze zu-
     die Mitglieder nichtgermanischer Völker und Rassen,             sammengefasst, welche evolutionsbiologische Kate-
     insbesondere Juden und Slawen, nicht in dem glei-               gorien auf soziale und gesellschaftliche Prozesse
 5   chen vollgültigen Sinne als „Menschen“ angesehen                übertragen, um mit ihrer Hilfe zu Werturteilen über
     werden könnten wie wir (sondern nur als „Untermen-              solche Prozesse zu gelangen. Vereinfacht ist das Ar-       5

     schen“, sozusagen als Mitglieder degenerierter Ne-              gument solcher in der praktischen Ausprägung oft
     benlinien unserer Art). […] Nicht wenige Menschen               sehr verschiedener Richtungen, dass das Selektions-
     unterliegen diesem Irrtum [, dass eine solchermaßen             geschehen erstens nicht neutral sei, sondern einen
10   inhumane Betrachtungsweise sich aus der Beobach-                evolutionären Fortschritt impliziere, und zweitens
     tung der Verhältnisse in der Natur ableiten lasse,] bis         auch für gesellschaftliche Prozesse Bedeutung habe.        10

     auf den heutigen Tag […]. So spukt in den Köpfen                Es gehe darum, auch den gesellschaftlichen Fortschritt
     allzu vieler Menschen bis heute der Darwin‘sche Be-             nicht zu behindern, sondern gerade zu befördern,
     griff vom „Kampf ums Dasein“ herum als Bestäti-                 drohten doch sonst Rückschritt und Degeneration.
15   gung ihres Verdachts, dass in der belebten Natur ein            Der beste Weg dahin sei in der Regel, den Kampf ums
     unerbittlicher Kampf aller gegen alle stattfinde. […]           Dasein zu intensivieren. Lasse man die Menschen            15

     Gemeint aber ist mit dem zugegeben missverständ-                diesen Kampf untereinander frei austragen, so werde
     lich – martialischen – Terminus eine Form natür-                es zu positiven sozialen Entwicklungen kommen.
     licher Auslese, in welcher der „Tüchtigste“ in aller            Der […] philosophisch wichtigste Einwurf ist erstmals
20   Regel keineswegs deshalb „überlebt“, weil er seine              ausführlich von George Edward Moore in seinen
     Konkurrenten umbringt. Entscheidend ist auch gar                Principia […] entwickelt worden […]: Der Sozialdar-        20

     nicht die Frage seines Überlebens als Individuum.               winismus beruht auf einem fundamentalen Denkfeh-
     Was die Artentwicklung vorantreibt, ist die Entschei-           ler, den Moore einen „naturalistischen Fehlschluss“
     dung darüber, wessen Erbanlagen mit der größeren                nennt. Vereinfacht besteht dieser darin, dass man
25   Wahrscheinlichkeit an die nachfolgende Generation               von der Art, wie eine Sache ist (oder sein wird), kei-
     weitergegeben werden. Dabei kann ein Lebewesen                  ne Schlüsse darüber ziehen kann, wie sie sein soll.        25

     den Kürzeren ziehen, das als Individuum womöglich               Selbst wenn – so ließe sich etwa sagen – die Säu-
     unbehelligt steinalt wird, das aber seine „Erbanla-             getiere die Dinosaurier verdrängt haben, folgt doch
     gen“ (in Gestalt einer entsprechenden Zahl direkter             daraus nicht, dass dies „gut“ ist. Eine Tatsachenbe-
30   Nachkommen) nicht mit der gleichen Häufigkeit an                schreibung – und auch zukünftige Ereignisse sind
     die nächste Generation weitergeben kann wie seine               Tatsachen – legitimiert nicht, Werturteile zu fällen.      30

     Konkurrenten – vielleicht, weil es bei der Werbung                                                         Darwin (2005)
     um einen Sexualpartner nicht geschickt genug vor-

35
     geht oder nicht findig genug bei der Nahrungsbe-
     schaffung für seinen Nachwuchs oder nicht wachsam                     1	
                                                                             Untersuchen Sie, inwiefern die Metapher
                                                                                                                                A
     genug bei dessen Sicherung gegen natürliche Feinde                      „Kampf ums Dasein“ durch Haeckel, Cham-
     oder aus einem Dutzend anderer denkbarer Gründe.                        berlain und Hitler (s. M2) gegenüber dem, was
     Das […] Erbgut der Konkurrenten hat sich in unse-                       Spencer und Darwin damit meinen (s.  M1),
                                                                             umgedeutet wird. > M1/M2
     rem Fall als das der „Tüchtigeren“ im „Kampf ums
                                                                           2	
                                                                             Erläutern Sie die Annahmen des Sozialdarwinis-
40   Dasein“ durchgesetzt, ohne dass in diesem „Kampf“                       mus und nehmen Sie dazu Stellung. > M2/M3
     ein einziger Tropfen Blut geflossen zu sein braucht.                  3	
                                                                             Erklären Sie, warum die Position des Sozialdar-
                           Innenansichten eines Artgenossen (1990)           winismus nach von Ditfurth sowie Illies und
                                                                             Hösle nicht haltbar ist. > M3/M4
12         DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

     Unser evolutionäres Erbe

     M1 William F. Allman: Kooperation statt Kampf                    anderen Menschen auf, die ihnen beim ersten Tref-
     William F. Allman arbeitet als Wissenschaftsjournalist für den   fen völlig fremd sind. Daraus erwachsen langjährige
     U.S. News and World Report.                                      Freundschaften oder sogar intime Paarbeziehungen,
     Die Zahl der […] Wissenschaftler wächst, die […]                 die für das Überleben der Art entscheidend sind.
     den Evolutionsgedanken […] auf die Erforschung des               Die lebenswichtige Fähigkeit des Menschen, Bezie-                   5

     menschlichen Geistes übertragen. Diese Wissen-                   hungen aufbauen zu können, hat auch heute nicht
     schaftler sind nicht etwa Sozialdarwinisten alter                an Bedeutung verloren – ob im Schlafzimmer oder
 5   Schule, die überzeugt waren, das menschliche Ver-                im Büro, ob in einem entlegenen Winkel der Erde
     halten sei genetisch fixiert und durch den Grundsatz             oder im Kiosk an der Ecke. Unser ganzes Leben lang
     vom „Überleben des Stärkeren“ geprägt. […] Statt des-            müssen wir komplexe soziale Beziehungen zu ande-                   10

     sen behaupten diese Forscher, die natürliche Selek-              ren Menschen aufbauen, abbauen oder neu definie-
     tion habe den Geist des Menschen im Laufe einer sehr             ren. So entsteht ein großes soziales Netz aus Bezie-
10   langen Evolution auf die Lösung bestimmter Pro-                  hungen zwischen Geschwistern, Eltern und Kindern,
     bleme programmiert, die für das Überleben unserer                Ehepartnern, Arbeitskollegen, Nachbarn, Gemeinden,
     Vorfahren unerlässlich waren, und — das urzeitliche              Regierungen und Nationen. Da wir gerne alles im                    15

     Erbe sei in unseren Köpfen heute noch lebendig. […]              Kontext sozialer Beziehungen sehen, neigen wir auch
     Die Palette von Verhaltensweisen, die tief in unserer            dazu, unser Verhältnis gegenüber nichtmenschlichen
15   Geschichte verwurzelt sind, ist recht beachtlich: die            Wesen, leblosen Gegenständen und übernatürlichen
     Art, wie wir unsere Partner wählen, die Fähigkeit, in            Phänomenen zu vermenschlichen: Wir machen Kat-
     großen Gruppen zusammenzuleben, unsere Liebe zur                 zen, Hunde, Pferde und andere Tiere zu Freunden,                   20

     Musik und unsere Vorstellungen von Schönheit, aber               wir reden unseren Autos gut zu und streicheln liebe-
     auch, dass wir über Treulosigkeit in Rage geraten                voll unsere Segeljachten; wir verfluchen den Regen,
20   oder uns gelegentlich gegen Menschen von anderem                 wenn er uns das Picknick verdirbt, und vereinen uns
     Aussehen feindselig verhalten […],fällt in diese Spar-           im Gelübde mit unseren Göttern.
     te. […]                                                          Die Tatsache, dass unser heutiges Verhalten diese                  25

     Während Evolution bisher gerne mit den Schlag-                   Altlast der Evolution mit sich herumschleppt, bedeu-
     worten „jeder gegen jeden“ oder „das Überleben des               tet aber nicht, dass dieses Vermächtnis im modernen
25   Stärkeren“ charakterisiert wurde, machen diese neu-              Kontext auch zwangsläufig erwünscht, unvermeid-
     en Forschungsergebnisse deutlich, dass nette Men-                bar oder unveränderlich ist. Unser Heißhunger auf
     schen oftmals schneller ans Ziel gelangen. Der kon-              Süßes beispielsweise spiegelt die Situation wider,                 30

     tinuierliche Erfolg der Spezies Homo sapiens basiert             dass süße, reife Früchte für die Frühmenschen eine
     letztlich auf dem Faktum, dass er das Lebewesen mit              energiereiche, wenn auch seltene Nahrungsquelle
30   der höchsten Kooperationsbereitschaft ist. Wir Men-              darstellten. In der heutigen Zeit, in der es Süßigkei-
     schen knüpfen nicht nur mit Mitgliedern der eigenen              ten und Schokolade im Übermaß gibt, bringt unser
     Familien enge, langanhaltende Bande (ein Merkmal,                süßer Zahn jedoch nur Nachteile. Trotzdem können                   35

     das wir bei vielen Tierarten finden), sondern auch               die meisten Menschen ihren Appetit auf Süßigkeiten
     mit Menschen, die überhaupt nicht mit uns verwandt               ganz gut bremsen, und darüber hinaus gibt es Mittel
35   sind. Genauso wie die Frühmenschen der afrikani-                 und Wege, mit Hilfe von künstlichen Süßstoffen die-
     schen Savanne nehmen die Großstädter des ausge-                  se angeborene Verhaltensweise zu übertölpeln.
     henden 20. Jahrhunderts noch immer Kontakt mit                                       Mammutjäger in der Metro (1994/dt.1999)   40
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN                              13

     M2 Wolfgang Welsch:                                           Evolutionär gesehen, gehört die Inhärenz von Altem
        Kontinuität und Neuerung                                   schlicht zu den Existenzbedingungen alles Neuen.
     Wolfgang Welsch (*1946) war bis 2012 Professor für Philoso-   […] Man [muss] diese Gesetzlichkeit akzeptieren –
     phie an der Universität Jena.                                 und richtig bewerten. Sie bedeutet wohl, dass das
     Manche meinen, die Herkunft des Menschen aus der              Neue von den alten Potentialen zehrt, aber das heißt               45

     kosmischen und biotischen* Evolution bedeute wenig            auch, dass es von diesen alten Potentialen her seine
     oder schier nichts für unsere Seinsweise. Die evolu-          Kraft gewinnt. […] Man hat also keinen Grund, das
     tionäre Vorgeschichte sei zwar zur Hervorbringung             Alte, das in einem wirksam ist, despektierlich zu be-
 5   unserer Spezies nötig gewesen, aber auf unsere jetzi-         trachten oder sich seiner zu schämen, sondern man
     ge Verfassung habe sie keinen Einfluss mehr, sie liege        hat allen Anlass, sich an seiner Permanenz und Er-                 50

     hinter uns. […] Wie falsch das ist, möchte ich Ihnen          möglichungsfunktion zu erfreuen. […]
     im Folgenden nahebringen. Wenn Sie ihren Körper,              Bei aller Kontinuität und Gradualität: Sind wir Men-
     ihr Verhalten, ihre Kognition analysieren, stoßen Sie         schen nicht dennoch vergleichsweise besondere We-
10   auf Ältestes, auf evolutionäre Errungenschaften, die          sen? Wir tun doch Dinge, zu denen es im Tierreich
     lange vor dem Menschen gemacht wurden und die                 kein Analogon* gibt. Kein anderes Lebewesen ist so                 55

     für uns alle noch immer essentiell sind.                      sehr über die ganze Erde verbreitet, errichtet Dome,
     Von Zeit zu Zeit rate ich, sich eine evolutionäre Karte       surft im Internet oder betreibt Weltraumfahrt. Al-
     des Menschen vors Auge zu rufen. Auf ihr wäre ein-            lein die Menschen haben dergleichen wie Dichtung,
15   getragen, wo in der Evolution Erfindungen gemacht             Philosophie, Wissenschaft und Technik entwickelt.
     wurden, die noch unsere Existenz bestimmen. Eine              Insofern sind wir bei aller Kontinuität unseres evo-               60

     solche Karte würde weit hinter die Prozesse der Ho-           lutionären Erbes doch in unseren Hervorbringungen
     minisation zurückreichen. Von einzelnen Teilen un-            deutlich anders als die anderen Lebewesen. […]
     seres Körpers ausgehend, hätte man lange und immer            Wie ist der Mensch zu dieser Besonderheit gekom-
20   längere Linien in die Vergangenheit zu ziehen – bei-          men? Evolutionär muss man davon ausgehen, dass
     spielsweise zur Erfindung des beidäugig koordinier-           unseren Vorfahren auf dem Weg zur Menschwerdung                    65

     ten Sehens (vor über 220 Mio. Jahren), der Lungen-            gar kein anderes Startkapital zur Verfügung stand
     atmung (vor ca. 380 Mio. Jahren), des zentralen Ner-          als das Kapital, das unseren nächsten Verwandten,
     vensystems (vor 590 Mio. Jahren), des Blutkreislaufs          den Schimpansen, ebenfalls zur Verfügung stand.
25   (vor gut 600 Mio. Jahren), der Immunabwehr (vor ca.           Die spannende Frage ist dann, wie dieses prähuma-
     2 Mrd. Jahren), der Sexualität (vor 2,1 Mrd. Jahren),         ne Startkapital im Verlauf der Hominisation* eine                  70

     des genetischen Codes (vor nahezu 4 Mrd. Jahren) –            Ausrichtung annehmen konnte, die uns Menschen
     also letztlich bis zum Anfang des Lebens. All diese           schließlich zu den eindrucksvollen Leistungen […]
     Dinge, die für unsere Existenz konstitutiv sind, besit-       befähigte, die uns von unseren Verwandten so deut-
30   zen wir, weil sie in Urzeiten – längst vor dem Men-           lich unterscheiden.        Mensch und Welt. Die evolutionäre
                                                                                                 Perspektive der Philosophie (2012)
     schen – erfunden wurden und durch die Stammesge-
     schichte an jeden Einzelnen von uns weitergegeben
     worden sind. Ja, Ältestes ist uns inhärent. Unser Sein
                                                                          1	Stellen Sie Beispiele dafür zusammen, wie un-
                                                                                                                                      A
     erstreckt sich bis in Urzeiten. […]
                                                                               ser evolutionäres Erbe unsere Existenz prägt.
35   Manche empfinden den Hinweis auf solche Kontinu-
                                                                               > M1/M2
     itäten als bedrückend: Mit einer Auszeichnung, mit
                                                                          2	  Untersuchen Sie, wie Allman und Welsch die
     der Sonderstellung des Menschen sei es nun leider                         evolutionäre Prägung des Menschen bewerten.
     vorbei. Ich schlage eine andere Lesart vor – eine,                        > M1/M2
     welche die positiven Aspekte dieses Kontinuitätsbe-                  3	  Diskutieren Sie mögliche Antworten auf die
40   fundes hervorhebt.                                                        Frage Welschs (Z. 64f.). > M2
14        DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

     Mängelwesen Mensch

     M1 Arnold Gehlen: Die organische
        Unspezialisiertheit des Menschen
                               Arnold Gehlen (1904-1976) lehr-      geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den
                               te Philosophie und Soziologie u.     meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen,
                               a. an den Universitäten in Leipzig
                                                                    er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel
                               und Wien. Er ist einer der Haupt-
                               vertreter der modernen philoso-      an echten Instinkten und er unterliegt während der
                               phischen Anthropologie.              ganzen Säuglings- und Kinderzeit einer ganz un-            5

                               Dieses Buch setzt sich [einer        vergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit
                               sehr verbreiteten] […] An-           anderen Worten: innerhalb natürlicher, urwüchsi-
                               sicht entgegen. Das ist die […]      ger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten
                               „naturalistische“ und sich           der gewandtesten Fluchttiere und der gefährlichsten
 5   „biologisch“ nennende Auffassung des Menschen vom              Raubtiere schon längst ausgerottet sein.                   10

     Tiere aus […]. Sieht man den Menschen von außen                Die Tendenz der Naturentwicklung geht nämlich da-
     an, seinen Körperbau […], so drängt sich allerdings            hin, organisch hochspezialisierte Formen in ihre je
     eine bestimmte Theorie auf […], die Theorie von der            ganz bestimmten Umwelten einzupassen, also die
     geradlinigen Abstammung des Menschen von den                   unübersehbar mannigfaltigen in der Natur zustan-
10   Anthropoiden. Diese Theorie behauptet gerade des-              de kommenden „Milieus“ als Lebensräume für dar-            15

     wegen biologisch zu denken, weil sie vom Leiblichen,           in eingepasste Lebewesen auszunutzen. Die flachen
     vom Körperbau, von den Entwicklungsgesetzen or-                Ränder tropischer Gewässer wie die ozeanische Tief-
     ganischen Lebens aus denkt. Eben deswegen kommt                see, die kahlen Abhänge nördlicher Alpengebirge
     sie an die „Innenseite“ des Menschen nicht heran […].          wie das Unterholz lichter Mischwälder sind ebenso
15   Wenn es um den Menschen geht, darf also eine bio-              spezifische Umwelten für spezialisierte, nur darin le-     20

     logische Betrachtung nicht bloß auf das Somatische,            bensfähige Tiere, wie die Haut der Warmblüter für
     Körperliche gehen. Worin besteht dann die anthropo-            die Parasiten, und so in unzähligen, je besonderen
     biologische Fragestellung? Sie besteht allein in der           Fällen. Der Mensch dagegen hat, morphologisch
     Frage nach den Existenzbedingungen des Menschen.               gesehen, so gut wie keine Spezialisierungen. Er be-
20   Man sehe sich dieses sonderbare und unvergleichli-             steht aus einer Reihe von Unspezialisiertheiten, die       25

     che Wesen an, dem alle tierischen Lebensbedingun-              unter entwicklungsbiologischem Gesichtspunkt als
     gen fehlen, und frage sich: vor welchen Aufgaben               Primitivismen erscheinen: sein Gebiss z. B. hat eine
     steht ein solches Wesen, wenn es sein Leben erhal-             primitive Lückenlosigkeit und eine Unbestimmtheit
     ten, sein Dasein fristen, wenn es seine bare Existenz          der Struktur, die es weder zu einem Pflanzenfresser-
25   durchhalten will? […]                                          noch zu einem Fleischfressergebiss, d. h. Raubtierge-      30

     Morphologisch ist […] der Mensch im Gegensatz zu               biss machen. Gegenüber den Großaffen, die hochspe-
     allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel               zialisierte Baumtiere mit überentwickelten Armen für
     bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als          Hangelkletterei sind, die Kletterfuß, Haarkleid und
     Unangepasstheiten, Unspezialisiertheiten, als Primiti-         gewaltigen Eckzahn haben, ist der Mensch als Natur-
30   vismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind:           wesen gesehen hoffnungslos unangepasst. Er ist von         35

     also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und            einer einzigartigen […] biologischen Mittellosigkeit.
     damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen na-                                                  Der Mensch (1940)
     türliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN                            15

     M2 Unzufriedenheit

                                                                                           Bill Watterson: Calvin und Hobbes

     M3 Arnold Gehlen:
        Die Weltoffenheit des Menschen
     Die Resultate der neueren Biologie geben uns die         sich hat, der Mensch sei „nicht festgestellt“ oder „sich
     Möglichkeit, die exponierte und riskierte Konstituti-    selbst noch Aufgabe“. […] Es muss die bloße Exis-                30

     on des Menschen in einen weiteren Zusammenhang           tenzfähigkeit eines solchen Wesens fraglich sein, und
     zu stellen. Die „Umwelt“ der meisten Tiere, und gera-    die bare Lebensfristung ein Problem, das zu lösen der
 5   de der höheren Säuger ist das nicht auswechselbare       Mensch allein auf sich selbst gestellt ist, und wozu er
     Milieu, an das der spezialisierte Organbau des Tie-      die Möglichkeiten aus sich selbst herauszuholen hat
     res angepasst ist, innerhalb dessen wieder die eben-     Das wäre also das handelnde Wesen. Der Mensch (1940)             35

     so artspezifischen angeborenen Instinktbewegungen
     arbeiten. Spezialisierter Organbau und Umwelt sind
10   also Begriffe die sich gegenseitig voraussetzen. Wenn
     nun der Mensch Welt hat, […] so bedeutet auch dies
     zunächst eine negative Tatsache. Der Mensch ist
     weltoffen heißt: er entbehrt der tierischen Einpassung          1	
                                                                       Erläutern Sie Gehlens Kritik an einer aus-
                                                                                                                               A
     in ein Ausschnitt-Milieu. […] Die physische Unspezi-              schließlich naturalistischen Betrachtung des
15   alisiertheit des Menschen, seine organische Mittello-             Menschen. > M1
     sigkeit sowie der erstaunliche Mangel an echten Ins-            2	
                                                                       Untersuchen Sie Gehlens Bestimmung der Un-
                                                                       spezialisiertheit des Menschen. > M1
     tinkten bilden also unter sich einen Zusammenhang,
                                                                     3	
                                                                       Überlegen Sie, wie Calvin Hobbes davon über-
     zu dem die „Weltoffenheit“ (M. Scheler) oder, was
                                                                        zeugen könnte, dass er trotz der vom Tiger
     dasselbe ist, die Umweltenthebung den Gegenbegriff                 aufgezählten Mängel mit seinen menschlichen
20   bilden. Umgekehrt entsprechen beim Tier die Organ-                 Fähigkeiten zufrieden sein kann. > M2
     spezialisierung, das Instinktrepertoire und die Um-             4	Erklären Sie den Zusammenhang von Spezia-
     weltfesselung einander. Es ist das anthropologisch                 lisierung und Umweltgebundenheit einerseits
     entscheidend wichtig. Wir haben damit einen Struk-                 und Unspezialisiertheit und Weltoffenheit an-
     turbegriff des Menschen […]. Wir haben jetzt […] den               dererseits. Was würde Gehlen auf die Fest-
                                                                        stellung des Tigers im Comic M2 antworten?
25   Entwurf eines organisch mangelhaften, deswegen
                                                                        > M3/M2
     weltoffenen, d. h. in keinem bestimmten Ausschnitt-             5	Interpretieren Sie die Bestimmungen, der
     Milieu natürlich lebensfähigen Wesens, und verste-                 Mensch sei „nicht festgestellt“ oder „sich selbst
     hen jetzt auch, was es mit den Bestimmungen auf                    noch Aufgabe“. > M3
16          DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

     Der Mensch – ein Kulturwesen
     >
         MET H O D E NKO M P E TE N Z : Eine philosophische Textanalyse und -interpretation verfassen
1

         Wie man den Gedankengang bzw. die Argumentationsstruktur eines philosophischen Textes analysiert
         und darstellt, wurde bereits erläutert (s. philo Einführungsphase, S. 28f., 44f., 136f.). Philosophische
         Texte sind jedoch nicht nur Gegenstand der Analyse; sie enthalten oft Aussagen, die nicht unmittelbar
         verständlich sind und daher der Interpretation bedürfen.
         Beim Verfassen einer philosophischen Textanalyse und -interpretation empfiehlt es sich,
         in folgenden Schritten vorzugehen:
         •	Stellen Sie die dem Text zugrunde liegende philosophische Frage bzw. das Anliegen
            sowie die zentrale These dar.
         •	Analysieren Sie den gedanklichen Aufbau bzw. die Argumentationsstruktur des Textes
            und stellen Sie diese mit Hilfe sog. performativer Verben dar.
         •	Interpretieren Sie wesentliche und nicht unmittelbar verständliche Aussagen des Textes,
            indem Sie erläutern, wie diese zu verstehen sind.
         • Belegen Sie Ihre Aussagen und Interpretationen durch Zitate.

     M1 „Ein Bild vom Menschen“ –
        Analyse und Interpretation eines Textes von Arnold Gehlen
     Aufgabenstellung:
     Analysieren Sie den folgenden Text und interpretieren Sie die wesentlichen Aussagen.

     Wir sehen […], wo wir auch hinblicken, den Menschen über die Erde verbreitet und trotz
     seiner physischen Mittellosigkeit sich zunehmend die Natur unterwerfen. Es ist dabei
     keine „Umwelt“, kein Inbegriff natürlicher und urwüchsiger Bedingungen angebbar,
     der erfüllt sein muss, damit „der Mensch“ leben kann, sondern wir sehen ihn überall,
 5   unter Pol und Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in Wald, Sumpf, Gebirge
     und Steppe „sich halten“. Und zwar lebt er als „Kulturwesen“, d. h. von den Resul-
     taten seiner voraussehenden, geplanten und gemeinsamen Tätigkeit, die ihm erlaubt,
     aus sehr beliebigen Konstellationen von Naturbedingungen durch deren voraussehende
     und tätige Veränderungen sich Techniken und Mittel seiner Existenz zurechtzumachen.
10   Man kann daher die „Kultursphäre“ jeweils den Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger
     Bedingungen nennen, innerhalb deren der Mensch allein lebt und leben kann. Irgend-
     welche Techniken der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung, irgendwelche Waffen,
     Organisationsformen gemeinsamer Tätigkeit und Schutzmaßnahmen vor Feinden, vor
     der Witterung usw. gehören daher zu den Beständen auch der primitivsten Kultur, und
15   „Naturmenschen“, d. h. kulturlose gibt es überhaupt nicht. […]
     Der Mensch ist also organisch „Mängelwesen“ (Herder), er wäre in jeder natürlichen
     Umwelt lebensunfähig, und so muss er sich eine zweite Natur, eine künstliche bearbei-
     tete und passend gemachte Ersatzwelt, die seiner versagenden organischen Ausstattung
     entgegenkommt, erst schaffen, und er tut dies überall, wo wir ihn sehen. Er lebt sozu-
20   sagen in einer künstlich entgifteten, handlich gemachten und von ihm ins Lebensdien-
     liche veränderten Natur, die eben die Kultursphäre ist. Man kann auch sagen, dass er
     biologisch zur Naturbeherrschung gezwungen ist.                Ein Bild vom Menschen (1942)
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN                  17

     Analyse und Interpretation:
     Im vorliegenden Textausschnitt aus dem Aufsatz „Ein Bild vom Menschen“ (1942) befasst sich         Fragestellung
     Arnold Gehlen mit der Frage, wie sich der Mensch trotz seiner physischen Mittellosigkeit über      und zentrale These
     die Erde verbreiten und sich zunehmend die Natur unterwerfen konnte. Seine These lautet,
     dass ihm dies als Kultur schaffendes Wesen möglich war.
 5   Gehlen geht von der „physischen Mittellosigkeit des Menschen“ (Z. 2) aus. Damit greift er seine    Darstellung
     Bestimmung des Menschen als eines organisch unspezialisierten Wesens auf. Diese besagt,            des gedanklichen
     dass der Mensch im Unterschied zum Tier nicht über organische Spezialisierungen verfügt,           Aufbaus
     durch die er an eine bestimmte Umwelt angepasst ist. Ihm fehlt z. B. ein Haarkleid, das ihn
     vor Kälte schützt, er besitzt keine natürlichen Angriffsorgane usw. Der Mensch lässt sich da-
10   her auch – mit einem Begriff von Herder, den Gehlen hier aufgreift – als organisches „Män-
     gelwesen“ (Z. 16) bezeichnen. Aufgrund seiner mangelhaften organischen Ausstattung ist              Interpretation
     er jedem Tier in seiner spezifischen Umwelt unterlegen, so dass er – unter ausschließlich           wesentlicher
                                                                                                         Textstellen
     natürlichen Bedingungen – schon längst ausgestorben sein müsste. Tatsächlich hat sich der
     Mensch aber über die ganze Erde verbreitetet und ist in vielfältigen Umwelten lebensfä-
15   hig: „wir sehen ihn überall, unter Pol und Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in
     Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe ‚sich halten‘“ (Z. 4-6). Daher stellt sich die Frage, wodurch      Beleg von
     ihm dies möglich ist. Zur Erklärung führt Gehlen die Fähigkeit des Menschen an, „urwüch-           Aussagen und
                                                                                                        Interpretationen
     sige Bedingungen“ so zu „veränder[n]“ und sich „zurechtzumachen“, dass er darin „leben             durch Zitate
     kann“ (Z. 10-11). Diese Veränderung der natürlichen Lebensbedingungen geschieht durch
20   „voraussehende, geplante und gemeinsame Tätigkeit“ (Z. 7). Zur Veranschaulichung dieser Tä-
     tigkeit verweist Gehlen auf „Techniken der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung“, „Schutz-
     maßnahmen vor Feinden, vor der Witterung usw.“ (Z. 12-14). Der letzte Hinweis lässt sich so
     verstehen, dass der Mensch, der in Ermangelung eines Haarkleides nur in gemäßigten Klima-
     zonen überleben könnte, gelernt hat, Kleidung herzustellen und schützende Wohnstätten zu
25   errichten, so dass er es auch in Regionen mit lebensfeindlicher Kälte aushalten kann. Das
     Fehlen natürlicher Angriffsorgane gleicht er durch Herstellung von Waffen zum Kampf gegen
     Feinde aus usw.
     Den „Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger Bedingungen“ (Z. 10f.), die „ins Lebensdienliche
     veränderte Natur“ (Z. 20f.) bezeichnet Gehlen als „Kultursphäre“ (Z. 10, 21). Die Kultur stellt
30   mithin „eine künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt“, die „zweite Natur“ (Z. 17)
     des Menschen dar.
     Die Konsequenz dieser Theorie ist, dass es „Naturmenschen, d. h. kulturlose“ Menschen (Z. 15)
     überhaupt nicht geben kann. Seine organische Unspezialisiertheit zwingt den Menschen, seine
     natürliche Umwelt zu bearbeiten, d. h. er muss Kultur schaffen, damit er überleben kann.

     M2 „Mensch und Institutionen“ –
        Analyse und Interpretation eines Textes von Arnold Gehlen                             ANWENDUNG
     Aufgabenstellung:
     Analysieren Sie den folgenden Text (S. 18, M1) und interpretieren Sie die wesentlichen Aussagen.

           1	
             Vollziehen Sie nach, wie die Textanalyse und -interpretation angelegt ist.   > M1
                                                                                                       A
           2 Verfassen Sie eine Analyse und Interpretation nach dem Muster in M1.         >   M2
18       DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN

     Braucht der Mensch Institutionen?

     M1 Arnold Gehlen:
        Institutionen als Formen der Kultur
     [Im] Fischer-Lexikon „Anthropologie“ [steht]: „Die         Verbände, denen man angehört, regeln uns nicht nur
     Instinkte bestimmen beim Menschen nicht, wie beim          in unserem Verhalten ein, sie greifen bis in unsere            40

     Tier, einzelne Verhaltensabläufe. Stattdessen nimmt        Wertgefühle und Willensentschlüsse durch, und diese
     jede Kultur aus der Vielheit der möglichen mensch-         verlaufen dann ohne Bremsung und Zweifel wie von
 5   lichen Verhaltensweisen bestimmte Varianten heraus         selbst, d. h. selbstverständlich, ohne dass eine andere
     und erhebt sie zu gesellschaftlich sanktionierten Ver-     Möglichkeit vorstellbar wäre, also schließlich mit der
     haltensmustern […].“                                       Überzeugungskraft des Natürlichen. Vom Inneren der             45

     Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen die Insti-         Einzelperson her gesehen bedeutet das […] eine le-
     tutionen einmal als die Formen der Bewältigung le-         benswichtige Entlastung. Mensch und Institutionen (1960)
10   benswichtiger Aufgaben oder Umstände, so wie die
     Fortpflanzung oder die Verteidigung oder die Ernäh-        M2 Theodor W. Adorno / Arnold Gehlen:
     rung ein geregeltes und dauerndes Zusammenwirken              Freiheit und Institution
     erfordern; sie erscheinen von der anderen Seite als        1965 kam es im Westdeutschen Rundfunk zu einem Streitge-
     die stabilisierenden Gewalten: Sie sind die Formen,        spräch zwischen Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno (1903-
                                                                1969), einem Hauptvertreter der Kritischen Theorie, über die
15   die ein seiner Natur nach riskiertes und unstabiles,
                                                                Rolle von Institutionen.
     affektüberlastetes Wesen findet, um sich gegenseitig
     und um sich selbst zu ertragen, etwas worauf man           Adorno: Wir sind uns darüber einig, dass die Men-
     in sich und den anderen zählen und sich verlassen          schen heute [...] von den Institutionen und das heißt
     kann.                                                      hier in erster Linie von der ins Ungeheuerliche zu-
20   Der Einzelne erlebt […] eine Institution wie das Eigen-    sammengeballten Wirtschaft und in zweiter von den
     tum oder die Ehe als ein überpersönliches vorgefun-        Verwaltungen in einem umfassenden Sinn, die aber               5

     denes Muster, dem er sich einordnet; oder in anderen       mit der Wirtschaft teils fusioniert und teils ihr nach-
     Fällen tritt er in eine Institution seines Berufes, eine   gebildet sind, dass die Menschen also davon abhän-
     Behörde, eine Fabrik ein in dem Bewusstsein, dass sie      gig sind. [...] Sie sind dazu geneigt, diese Institutionen
25   als dieselbe seit langem bestand und bestehen wird,        als eine Notwendigkeit aufgrund der Mangelsituati-
     im Wechsel der Menschen, die in sie ein- oder wieder       on des Menschen [...] zu bejahen. […] Demgegenüber             10

     austreten. […]                                             würde ich sagen: Auf der einen Seite ist genau diese
     Die Formen, in denen die Menschen miteinander le-          Macht der Institutionen über die Menschen das, was
     ben oder arbeiten, in denen sich die Herrschaft aus-       man in der alten Sprache der Philosophie als hetero-
30   gestaltet oder der Kontakt mit dem Übersinnlichen          nom bezeichnete. [...] Sie stehen den Menschen als
     – sie alle gerinnen zu […] Institutionen, die schließ-     eine fremde und bedrohliche Macht entgegen. [...]              15

     lich den Individuen gegenüber etwas wie eine Selbst-       Sie sind [...] geneigt, [...] diese Art Fatalität als et-
     macht gewinnen, so dass man das Verhalten des              was Schicksalhaftes und letztlich auf die Natur des
     Einzelnen in der Regel ziemlich sicher voraussagen         Menschen Zurückweisendes zu akzeptieren. [...] Dem
35   kann, wenn man seine Stellung in dem System der            würde zunächst einmal entgegenzustellen sein die
     Gesellschaft kennt, wenn man weiß, von welchen In-         Analyse, die kritische Analyse dieser Institutionen            20

     stitutionen er eingefasst ist. Die Forderungen des Be-     und dann schließlich die Frage, [...] ob [...] diese In-
     rufs oder der Familie, des Staates oder irgendwelcher      stitutionen zu verändern wären und solche an ihre
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN                         19

     Stelle zu setzen, die für die Menschen vielleicht [...]    Subjekte. Ich will ja gar nichts anderes, als dass die
     weniger entlastend sind als die Institutionen heute,       Welt so eingerichtet wird, dass die Menschen nicht
25   aber auch dafür nicht diese entsetzlich drückende          ihre überflüssigen Anhängsel sind, sondern [...] dass
     Last sind, die jeden Einzelnen unter sich zu begraben      die Dinge um der Menschen willen da sind und nicht            70

     droht und die schließlich so etwas wie die Bildung ei-     die Menschen um der Dinge willen, die sie noch dazu
     nes freien Subjekts überhaupt nicht mehr zulässt. [...]    selbst gemacht haben. Und dass die Institutionen
     Ich meine [...] die Frage, ob die Institutionen wirk-      schließlich auf die Menschen selbst zurückweisen,
30   lich eine Notwendigkeit der Menschennatur sind oder        das ist für mich jedenfalls ein sehr geringer Trost. [...]
     ob sie die Frucht einer geschichtlichen Entwicklung        Ich meine, die Not, die die Menschen zu diesen Ent-           75

     sind, deren Gründe durchsichtig sind und die sich          lastungen treibt, ist gerade die Belastung, die von
     unter Umständen auch verändern lässt [...].                den Institutionen, also von der ihnen fremden und
     Gehlen: Herr Adorno, ich gebe Ihnen vollkommen zu,         über sie übermächtigen Einrichtung der Welt ihnen
35   diese fundamentalen anthropologischen Einrichtun-          angetan wird. [...] Und das scheint mir geradezu ein
     gen wie Familie, Recht, Ehe, Eigentum usw., Wirt-          Urphänomen der Anthropologie heute zu sein, dass              80

     schaft, Zusammenwirtschaften bieten ein ungeheuer          die Menschen sich flüchten zu genau der Macht, die
     mannigfaches Bild in der Geschichte, und ich kann          ihnen das Unheil [...] antut.
     auch nicht absehen, dass sich diese Substanzen selbst      Gehlen: Ich möchte [...] einen Gegenvorwurf anbrin-
40   einmal auflösen. Sie werden sich weiter transformie-       gen. Obzwar ich das Gefühl habe, dass wir uns in tie-
     ren. […] [Aber wir müssen] endlich den Streitpunkt         fen Prämissen einig sind, habe ich den Eindruck, dass         85

     finden. Er liegt vielleicht darin, dass ich geneigt bin,   es gefährlich ist und dass Sie die Neigung haben, den
     wie Aristoteles [...] dem Gesichtspunkt der Sicherheit     Menschen mit dem bisschen unzufrieden zu machen,
     eine große Rolle einzuräumen. Ich glaube, dass die         was ihm aus dem ganzen katastrophalen Zustand
45   Institutionen Bändigungen der Verfallsbereitschaft         noch in den Händen geblieben ist.
     des Menschen sind. Ich glaube auch, dass die Ins-          Adorno: Ja, dann möchte ich darauf wirklich den               90

     titutionen den Menschen vor sich selbst schützen.          Satz von Grabbe zitieren: „Denn nichts als nur Ver-
     Gewiss auch Freiheit beschränken. Aber man sieht ja        zweiflung kann uns retten.“ Freiheit und Institution (1965)
     immer wieder, dass es Revolutionäre gibt. [...] Nicht
50   wahr, wir sind beide ungefähr gleich alt und wir ha-
     ben nun alle erlebt: vier Regierungsformen, drei Re-
     volutionen und zwei Weltkriege. […] In der Zeit ist
                                                                       1	
                                                                         Stellen Sie dar, was Institutionen nach Arnold
                                                                                                                              A
     doch ungeheuer viel an Institutionen zerrieben und
     abgebaut worden. Der Erfolg ist eine allgemeine in-                 Gehlen für den Menschen leisten. > M1
55   nere Unsicherheit […]. Da bin ich doch dafür, dass                2	
                                                                         Untersuchen Sie, worin Adorno und Gehlen ge-
                                                                         gensätzlicher Auffassungen sind und worin sie
     man das, was an Institutionen da ist, nun auch [...]
                                                                         sich im Laufe des Gesprächs annähern. > M2
     konserviert. Und da kann ja dann wirklich jeder se-
                                                                       3	
                                                                         Erörtern Sie an einzelnen Beispielen, ob und
     hen, an seiner Stelle, dass er da mal etwas verbessert,             inwiefern Institutionen das Leben des Indivi-
     aber damit kann man nicht anfangen. [...] Erst muss                 duums stabilisieren und entlasten oder seine
60   man hineingehen, muss ziemlich viel schlucken. [...]                Freiheit einschränken. > M1/M2
     Adorno: […] Ich mache eigentlich [...] die Beobach-
     tung, dass die Menschen sich viel zu genau in den
     ihnen vorgezeichneten Bahnen bewegen, dass sie viel          Medienhinweis:
     zu wenig Widerstand überhaupt noch aufbringen.               Freiheit und Institution – Arnold Gehlen und Theo-
65   [...] Die Menschen sind heute wesentlich Anhängsel           dor W. Adorno im Gespräch (YouTube-Video)
     der Maschinerie und nicht die ihrer selbstmächtigen
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