ERWEITERTER TEILDRUCK - CC Buchner
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
philo Qualifikationsphase herausgegeben von Bernd Rolf und Jörg Peters erarbeitet von Klaus Draken, Matthias Gillissen, Jörg Peters, Martina Peters und Bernd Rolf C. C. BUCHNER
philo – NRW Qualifikationsphase Unterrichtswerk für Philosophie in der Sekundarstufe II herausgegeben von Bernd Rolf und Jörg Peters erarbeitet von Klaus Draken, Matthias Gillissen, Jörg Peters, Martina Peters und Bernd Rolf TEILDRUCK ERWEITERTER EL 1 (GK ) K APIT 1. Auflage, 1. Druck 2015 Alle Drucke dieser Auflage sind, weil untereinander unverändert, nebeneinander benutzbar. Dieses Werk folgt der reformierten Rechtschreibung und Zeichensetzung. Ausnahmen bilden Texte, bei denen künstlerische, philologische oder lizenzrechtliche Gründe einer Änderung entgegenstehen. © 2015 C. C. Buchner Verlag, Bamberg Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Dies gilt insbeson- dere auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen und Mikroverfilmungen. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen. Layout und Satz: HOCHVIER GmbH & Co. KG, Bamberg Umschlaggestaltung: Wildner + Designer GmbH, Fürth Druck und Bindung: creo Druck & Medienservice GmbH, Bamberg www.ccbuchner.de ISBN des Gesamtbandes: 978-3-7661-6697-5
DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN Menschen-Bilder 4 DER MENSCH ALS NATUR- DER MENSCH ALS FREIES UND UND KULTURWESEN SELBSTBESTIMMTES WESEN Der Mensch als Produkt der Evolution 6 Ist unser Wille frei? 52 Evolution durch natürliche Auslese 8 Vollständig determiniert 54 Recht des Stärkeren? – Der Sozialdarwinismus 10 Willensfreiheit auf dem Prüfstand 56 Unser evolutionäres Erbe 12 Freiheit = Unbedingtheit? 58 Mängelwesen Mensch 14 Freiheit als Selbstbestimmung 60 Der Mensch – ein Kulturwesen 16 Freiheit versus Determination 62 > > M E THOD E N KO M PET ENZ : M E T H O D E N KO M P E T E N Z : 1 1 Eine philosophische Textanalyse und Philosophische Positionen miteinander vergleichen (I) -interpretation verfassen Zur Freiheit verurteilt 64 Braucht der Mensch Institutionen? 18 Der Mensch als Selbstentwurf 66 Der Mensch als Arbeiter 20 Freiheit in einer Welt voller Widerstand 68 Der handelnde Mensch 22 Determination durch Unbewusstes? 70 Symbolgebrauch und Sprache 24 Das bedrängte Ich 72 Kulturgut Spiel 26 Freiheit, Verantwortung, Strafe 74 Kultur – kritisch betrachtet 28 Wissen kompakt 76 Wissen kompakt 30 Gesamtübersicht 78 DAS VERHÄLTNIS Begriffsglossar 80 VON LEIB UND SEELE Was macht mich zum Ich? 32 Ich – eine Illusion? 34 Ich-Gewissheit 36 Körper und Seele – zwei unterschiedliche Substanzen 38 Die Seele als Teil des Körpers 40 Der Mensch – beseeltes Wesen oder Körpermaschine? 42 > M E THOD E N KO M PET ENZ : 1 Eine philosophische Position rekonstruieren Bin ich mein Gehirn? 44 Das psychophysische Problem 46 Ein Dualismus von Eigenschaften 48 Wissen kompakt 50
Menschen-Bilder A Betrachten Sie die beiden Abbildungen und besprechen Sie Fragen, die Ihnen dazu in den Sinn kommen. Diskutieren Sie anschließend die Aussagen in den Sprechbla- sen in Gruppen und stellen Sie Ihre Ergebnisse im Plenum vor. Sind Gedanken und Gefühle eigentlich dasselbe wie die Vorgänge in unserem Der Mensch hat Körper bzw. im Gehirn? Persönlichkeit, Geist und Seele. Das unterscheidet ihn vom Tier.
DAS MENSCHENBILD DER FORSCHUNGEN ZUR KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ (LK) 5 Wenn wir wie eine Maschine funktionieren, dann sind wir doch vollstän- Wer den Menschen ausschließlich dig festgelegt. Wie kann es als Naturwesen betrachtet, der da Freiheit und Selbstbe- übersieht, wie stark unser Leben durch stimmung geben? kulturelle Faktoren bestimmt wird. Ich bin fest davon über- zeugt, dass die Frage der Künstlichen Intelligenz ent- scheidend für unsere Zukunft ist. Vielleicht lösen Roboter uns eines Tages sogar ab. DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN DAS VERHÄLTNIS VON LEIB UND SEELE DAS MENSCHENBILD DER FORSCHUNGEN ZUR KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ (LK) DER MENSCH ALS FREIES UND SELBST- BESTIMMTES WESEN Philosophische Probleme, die in diesem Kapitel reflektiert werden: Was bedeutet es, dass wir ein Produkt der Evolution sind? Was zeichnet den Menschen als kulturelles Wesen aus? Was macht das Ich zum Ich? Haben wir eine immaterielle Seele oder ist der Mensch bloße Materie? Ist die Willensfreiheit eine Illusion? Wie weit sind wir in unseren Entscheidungen determiniert? Lässt sich Intelligenz künstlich herstellen? Ist es denkbar, dass Roboter eines Tages die Herrschaft über die Erde übernehmen?
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN Der Mensch als Produkt der Evolution M1 Schöpfung … … oder Evolution? i Zeitgenössische Karikatur der Evolutionstheorie Charles Darwins (Zeichnung von 1882) o Darstellung der Schöpfung in der Luther-Bibel (Lucas Cranach, 1534) M2 Eine Idee erschüttert die Welt Als der Naturwissenschaftler Charles Darwin bei der traute – mit den Worten: „Es ist, als gestehe man einen Auswertung seiner Forschungsreise um die Welt Mord.“ Erst 15 Jahre später fasste er den Mut, seine 10 (1831-1835) zu der Erkenntnis gelangte, dass die Ar- Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Charakte- ten der Lebewesen nicht unveränderlich sind, son- ristisch für die Reaktion seiner Zeitgenossen ist eine 5 dern sich nach Gesetzen der Natur entwickeln, war Bemerkung der Frau des Bischofs von Worcester: er gleichermaßen fasziniert wie erschrocken. Lange „Mein Gott, hoffen wir, dass es nicht wahr ist; sollte hütete er seine Entdeckung als Geheimnis, bis er sich es aber doch wahr sein, so lasst uns dafür beten, dass 15 schließlich 1844 dem Botaniker Joseph Hooker anver- es nicht allgemein bekannt wird.“ Originalbeitrag
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 7 M3 Charles Darwin: Die Entstehung der Arten M4 Charles Darwin: Mit der Schrift On the Origin of Species begründete Charles Die Abstammung des Menschen Darwin (1809-1882) im Jahre 1859 die Evolutionstheorie. Bis zur Veröffentlichung der Forschungsergebnisse zur Abstam- Als ich mich als Naturforscher an Bord des „Beagle“ mung des Menschen vergingen weitere 22 Jahre. befand, war ich aufs höchste überrascht durch ge- Jeder, der nicht […] damit zufrieden ist, die Erschei- wisse Merkwürdigkeiten in der Verbreitung der Tiere nungen der Natur als unverbunden anzusehen, kann und Pflanzen Südamerikas sowie durch die geolo- nicht länger glauben, dass der Mensch das Werk eines 5 gischen Beziehungen der gegenwärtigen Bewohner besonderen Schöpfungsaktes ist. Er wird gezwungen dieses Erdteils zu den früheren. […] [D]iese Tatsachen sein zuzugeben, dass die große Ähnlichkeit eines 5 [schienen mir] Licht zu werfen auf die Entstehung der Embryos des Menschen mit dem z. B. eines Hundes, Arten, das Geheimnis aller Geheimnisse, wie einer – der Bau seines Schädels, seiner Glieder und seines unserer größten Philosophen sie nannte. Nach mei- ganzen Körpers nach demselben Bauplan wie bei den 10 ner Heimkehr (1837) wurde mir immer klarer, dass anderen Säugetieren und zwar unabhängig von dem sich vielleicht durch Sammeln und Vergleichen aller Gebrauch, welcher etwa von den Teilen gemacht wird, 10 damit zusammenhängenden Tatsachen etwas zur Lö- […] und eine Menge analoger Tatsachen, – dass alles sung der Frage tun ließe. […] dies in der offenbarsten Art auf den Schluss hinweist, Was die Entstehung der Arten betrifft, so muss ein Na- dass der Mensch mit anderen Säugetieren der ge- 15 turforscher, der die gegenseitige Verwandtschaft der meinsame Nachkomme eines gleichen Urerzeugers ist. organischen Wesen, ihre embryonalen Beziehungen, Wir haben gesehen, dass der Mensch unaufhörlich 15 ihre geographische Verbreitung, ihre geologische Auf- individuelle Verschiedenheiten in allen Teilen seines einanderfolge und ähnliche Tatsachen erwägt, zu dem Körpers und in seinen geistigen Eigenschaften dar- Schlusse kommen, dass die Arten nicht unabhängig bietet. Diese Verschiedenheiten oder Abänderungen 20 voneinander erschaffen worden sind, sondern ähnlich scheinen durch dieselben allgemeinen Ursachen her- den Varietäten von anderen Arten abstammen. […] beigeführt worden zu sein und denselben Gesetzen 20 Niemand wird überrascht sein, dass vieles über den zu gehorchen, wie bei den niederen Tieren. Ursprung der Arten und Varietäten unerklärt bleibt, Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (1871) wenn er bedenkt, wie gering unsere Kenntnis der ge- 25 genseitigen Beziehungen der uns umgebenden Lebe- wesen ist. […] Mag aber auch vieles dunkel sein und 1 Vergleichen Sie die beiden Darstellungen. Lei- A noch lange unaufgeklärt bleiben: auf Grund meiner ten Sie daraus jeweils Konsequenzen für das sorgsamen Studien und des unbefangensten Urteils, Selbstverständnis des Menschen ab. > M1 dessen ich fähig bin, halte ich trotzdem die Meinung 2 Stellen Sie Vermutungen an über die Gründe 30 für irrig, der bis vor kurzem die meisten Naturfor- für Darwins Gewissensqualen und die Reaktion der Öffentlichkeit. > M2 scher zu-neigten (wie auch ich selber in früheren 3 Stellen Sie Darwins Entdeckungen dar und er- Jahren), dass nämlich jede Art selbständig erschaffen läutern Sie, worin Darwin selbst ihr revolutio- sein soll. Ich bin fest überzeugt, dass die Arten nicht näres Potential sah. > M3/M4 unveränderlich, sondern dass die zu einer Gattung 4 Recherchieren Sie, wie die Religionsgemein- 35 gehörenden die Nachkommen anderer, meist schon schaften heute zur Evolutionstheorie stehen. erloschener Arten, und dass die anerkannten Varie- täten einer bestimmten Art Nachkommen dieser sind. Medienhinweis: Und ebenso fest bin ich überzeugt, dass die natürliche Wer Wind sät … (USA 1960, Regie: Stanley Kramer) Zuchtwahl [engl.: natural selection] das wichtigste, – Gerichtsdrama zum Thema Kreationismus versus 40 wenn auch nicht einzige Mittel der Abänderung war. Evolutionslehre Die Entstehung der Arten (1859)
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 9 M2 Ernst Mayr: Was ist natürliche Auslese? Auslese um zwei Spielarten von Qualität handelt. 40 Der deutsch-amerikanische Biologe Ernst Mayr (1904-2005) Was Darwin „natürliche Auslese“ nannte, bezieht ist der Hauptvertreter der modernen synthetischen Evolutions- sich auf jede Eigenschaft, die dem Überleben zuträg- theorie, die Darwins Erkenntnisse mit Ergebnissen der Genfor- lich ist, etwa eine bessere Nutzung der Ressourcen, schung verbindet. eine bessere Anpassung an Wetter und Klima, eine Darwins Wahl des Wortes selection, „Auslese“ (in höhere Widerstandskraft gegen Krankheiten und eine 45 älteren Übersetzungen: „Zuchtwahl“), war nicht be- größere Fähigkeit, Feinden zu entkommen. sonders glücklich. Es lässt ein wirkendes Wesen oder Abgesehen von den überlegenen Eigenschaften zum Prinzip in der Natur vermuten, das, da es die Zu- Überleben kann ein Individuum jedoch auch schlicht 5 kunft voraussagen kann, „die Besten“ auswählt. Die dadurch einen höheren genetischen Beitrag für die natürliche Auslese tut selbstverständlich nichts der- nächste Generation leisten, dass es sich erfolgreicher 50 gleichen. Der Ausdruck steht einfach für die Tatsa- fortpflanzt. Diese Art von Selektion bezeichnete Dar- che, dass nur ein paar (im Durchschnitt zwei) von win als „sexuelle Auslese“. Besonders beeindruckt war allen Nachkommen eines Elternpaares lange genug er von den männlichen sekundären Geschlechtsmerk- 10 überleben, um sich fortzupflanzen. Es gibt weder malen, etwa von dem prachtvollen Gefieder männli- eine spezielle Selektionskraft in der Natur noch einen cher Paradiesvögel, der riesenhaften Größe der Ele- 55 bestimmten Handelnden, der selektiert. Es gibt viele fantenrobben oder dem eindrucksvollen Geweih von Gründe für den Erfolg der wenigen Überlebenden. Hirschen. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass Einem Teil, vielleicht sogar einem Großteil des Über- Selektion die Evolution solcher Merkmale entweder 15 lebens liegt ein zufallsabhängiger Prozess zugrunde, begünstigt, weil sie im Konkurrenzkampf mit anderen das heißt: Glück. Zum größten Teil hängt es vom Männchen um die Weibchen recht hilfreich sind oder 60 überlegenen Funktionieren der physiologischen Vor- weil Weibchen von Männchen mit diesen Eigenschaf- gänge im Körper des überlebenden Individuums ab, ten angezogen werden. … und Darwin hat doch recht (1991) kraft dessen es mit den Wechselfällen der Umwelt 20 besser fertig werden kann als andere Mitglieder der 1 Erläutern Sie, was mit der Bildfolge zum Aus- A Population. […] Den Erfolg eines Individuums be- druck gebracht werden soll. > M1 stimmt genau die Fähigkeit der inneren Maschinerie 2 Erklären Sie den Mechanismus der Evolution des Körpers des Lebewesens (einschließlich des Im- nach Darwin bzw. Mayr. > M2 munsystems), mit den Herausforderungen der Um- 3 Wenden Sie das Erklärungsmodell auf die Evo- 25 welt fertig zu werden. Nicht die Umwelt selektiert, lution des aufrechten Ganges an. > M1/M2 sondern der Organismus, der sich im Meistern der Umwelt als mehr oder weniger erfolgreich erweist. Es Exkursionsvorschlag: Neanderthal-Museum gibt keine äußere Selektionskraft. (Adresse: Talstraße 300, 40822 Mettmann) Einige wenige Beispiele mögen dies verdeutlichen. Besuchen Sie die Ausstellung und tragen Sie weitere 30 Nehmen wir zum Beispiel die Widerstandskraft ge- Daten und Fakten zur Evolutionstheorie zusammen. gen Krankheitserreger. Bakterien und andere Krank- Gehen Sie auch der Frage nach, wie weit der Mensch heitsverursacher stellen die Umwelt dar; die Abwehr durch Bedingungen der Evolution geprägt ist und welche weiteren Aspekte für die Entwicklung des eines Tieres gegen sie besteht aus intrazellulären Se- Menschen bestimmend sind. lektionsprozessen. […] Der Erfolg eines Organismus 35 hängt in hohem Maße von seiner normalen Entwick- Medienhinweis: lung vom befruchteten Ei bis zum Erwachsensein ab. Zeitreise erleben – Texte und Filme aus der Dauer- Gegen fast alle Abweichungen von der Normalität im ausstellung des Neanderthal-Museums in Mettmann Laufe der Entwicklung wird Selektion wirksam. […] auf CD-ROM Schließlich ist hervorzuheben, dass es sich bei der
10 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN Recht des Stärkeren? – Der Sozialdarwinismus M1 Herbert Spencer: chen Materials. […] Der Kampf, an dem ein von Hau- 10 Überleben der Passendsten se aus schwaches Menschenmaterial zu Grunde geht, Auch Darwins Kennzeichnung der natürlichen Selektion durch stählt das starke: außerdem stärkt der Kampf ums die Metapher struggle for life („Kampf ums Dasein“) wurde viel- Überleben dieses Starke durch Ausscheidung schwä- fach als unglücklich empfunden. Eine angemessenere Bezeich- cherer Elemente. Die Kindheit großer Rassen sehen nung prägte 1864 der englische Philosoph Herbert Spencer (1820-1903) mit dem Ausdruck survival of the fittest („Überle- wir stets von Krieg umtobt […]. 15 ben der Passendsten bzw. Angepasstesten“), den Darwin später Houston Stewart Chamberlain, in: übernahm. Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899) Wenn […] Individuen einer Spezies […] notwendig in [Das Verbinden von Höher- und Minderwertigem] wi- zahllosen Richtungen und Graden auseinander ge- derspricht dem Willen der Natur zur Höherzüchtung hen müssen, […] dann müssen auch unter allen In- des Lebens überhaupt. Die Voraussetzung hierzu liegt dividuen einige stets weniger als andere der Gefahr […] im restlosen Sieg des ersteren. Der Stärkere hat 5 ausgesetzt sein, dass ihr Gleichgewicht durch eine zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu 20 besondere einwirkende Kraft […] vollständig zerstört verschmelzen. […]. werde. […] Die notwendige Folge wird sein, dass jene Der Kampf ums tägliche Brot lässt alles Schwache Individuen, deren Funktionen am meisten von dem und Kränkliche, weniger Entschlossene unterliegen, Gleichgewichte mit dem modifizierten Aggregate während der Kampf der Männchen um das Weibchen 10 äußerer Kräfte abweichen, zu Grunde gehen müs- nur dem Gesündesten das Zeugungsrecht oder doch 25 sen, während dagegen jene fortleben werden, deren die Möglichkeit hierzu gewährt. Immer aber ist der Funktionen am ehesten dem Gleichgewicht mit dem Kampf ein Mittel zur Förderung der Gesundheit und abgeänderten Aggregate äußerer Kräfte nahe kom- Widerstandskraft der Art und mithin eine Ursache men. Dieses Überleben der Passendsten aber hat auch zur Höherentwicklung derselben. […] 15 die Vermehrung der Passendsten zur Folge. Was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnis- 30 Die Prinzipien der Biologie (1864, dt. 1877) sen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Pro- M2 Ideologisierung eines Begriffs dukt des Ariers*. Gerade diese Tatsache aber lässt den Rassisten und Nationalsozialisten – u. a. Ernst Haeckel (1834- nicht unbegründeten Rückschluss zu, dass er allein 1919), Houston Stewart Chamberlain (1855-1929), Adolf Hitler der Begründer höheren Menschentums überhaupt 35 (1889-1945) – missbrauchten die von Darwin verworfene For- war, mithin der Urtyp dessen, was wir unter dem mulierung struggle for life zur Stützung ihrer Ideologie. Worte „Mensch“ verstehen. […] Den gewaltigsten Ge- Es ist die natürliche Züchtung im Kampf ums Dasein, gensatz zum Arier bildet der Jude. […] der die Mannigfaltigkeit des natürlichen Lebens her- Die völkische Weltanschauung […] glaubt somit vorgebracht hat und der auch die Völkergeschichte keineswegs an eine Gleichheit der Rassen, sondern 40 bestimmt; hinzu käme jedoch die künstliche Züch- erkennt mit ihrer Verschiedenheit auch ihren höhe- 5 tung etwa der Spartaner, die bereits die neugebo- ren und minderen Wert und fühlt sich durch diese renen Kinder einer Auslese unterwarfen und alle Erkenntnis verpflichtet, gemäß dem ewigen Wollen, schwächlichen töteten. das dieses beherrscht, den Sieg des Besseren, Stärke- Ernst Haeckel, in: Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868) ren zu befördern, die Unterordnung des Schlechteren 45 Die erste, grundlegende Bedingung [für die Entste- und Schwächeren zu verlangen. hung edler Rassen] ist das Vorhandensein vortreffli- Adolf Hitler, in: Mein Kampf (1924)
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 11 M3 Hoimar von Ditfurth: Wer überlebt? M4 Christian Illies / Vittorio Hösle: Die nationalsozialistische Propaganda [war] uner- Ein naturalistischer Fehlschluss müdlich bestrebt […], uns davon zu überzeugen, dass Unter „Sozialdarwinismus“ werden die Ansätze zu- die Mitglieder nichtgermanischer Völker und Rassen, sammengefasst, welche evolutionsbiologische Kate- insbesondere Juden und Slawen, nicht in dem glei- gorien auf soziale und gesellschaftliche Prozesse 5 chen vollgültigen Sinne als „Menschen“ angesehen übertragen, um mit ihrer Hilfe zu Werturteilen über werden könnten wie wir (sondern nur als „Untermen- solche Prozesse zu gelangen. Vereinfacht ist das Ar- 5 schen“, sozusagen als Mitglieder degenerierter Ne- gument solcher in der praktischen Ausprägung oft benlinien unserer Art). […] Nicht wenige Menschen sehr verschiedener Richtungen, dass das Selektions- unterliegen diesem Irrtum [, dass eine solchermaßen geschehen erstens nicht neutral sei, sondern einen 10 inhumane Betrachtungsweise sich aus der Beobach- evolutionären Fortschritt impliziere, und zweitens tung der Verhältnisse in der Natur ableiten lasse,] bis auch für gesellschaftliche Prozesse Bedeutung habe. 10 auf den heutigen Tag […]. So spukt in den Köpfen Es gehe darum, auch den gesellschaftlichen Fortschritt allzu vieler Menschen bis heute der Darwin‘sche Be- nicht zu behindern, sondern gerade zu befördern, griff vom „Kampf ums Dasein“ herum als Bestäti- drohten doch sonst Rückschritt und Degeneration. 15 gung ihres Verdachts, dass in der belebten Natur ein Der beste Weg dahin sei in der Regel, den Kampf ums unerbittlicher Kampf aller gegen alle stattfinde. […] Dasein zu intensivieren. Lasse man die Menschen 15 Gemeint aber ist mit dem zugegeben missverständ- diesen Kampf untereinander frei austragen, so werde lich – martialischen – Terminus eine Form natür- es zu positiven sozialen Entwicklungen kommen. licher Auslese, in welcher der „Tüchtigste“ in aller Der […] philosophisch wichtigste Einwurf ist erstmals 20 Regel keineswegs deshalb „überlebt“, weil er seine ausführlich von George Edward Moore in seinen Konkurrenten umbringt. Entscheidend ist auch gar Principia […] entwickelt worden […]: Der Sozialdar- 20 nicht die Frage seines Überlebens als Individuum. winismus beruht auf einem fundamentalen Denkfeh- Was die Artentwicklung vorantreibt, ist die Entschei- ler, den Moore einen „naturalistischen Fehlschluss“ dung darüber, wessen Erbanlagen mit der größeren nennt. Vereinfacht besteht dieser darin, dass man 25 Wahrscheinlichkeit an die nachfolgende Generation von der Art, wie eine Sache ist (oder sein wird), kei- weitergegeben werden. Dabei kann ein Lebewesen ne Schlüsse darüber ziehen kann, wie sie sein soll. 25 den Kürzeren ziehen, das als Individuum womöglich Selbst wenn – so ließe sich etwa sagen – die Säu- unbehelligt steinalt wird, das aber seine „Erbanla- getiere die Dinosaurier verdrängt haben, folgt doch gen“ (in Gestalt einer entsprechenden Zahl direkter daraus nicht, dass dies „gut“ ist. Eine Tatsachenbe- 30 Nachkommen) nicht mit der gleichen Häufigkeit an schreibung – und auch zukünftige Ereignisse sind die nächste Generation weitergeben kann wie seine Tatsachen – legitimiert nicht, Werturteile zu fällen. 30 Konkurrenten – vielleicht, weil es bei der Werbung Darwin (2005) um einen Sexualpartner nicht geschickt genug vor- 35 geht oder nicht findig genug bei der Nahrungsbe- schaffung für seinen Nachwuchs oder nicht wachsam 1 Untersuchen Sie, inwiefern die Metapher A genug bei dessen Sicherung gegen natürliche Feinde „Kampf ums Dasein“ durch Haeckel, Cham- oder aus einem Dutzend anderer denkbarer Gründe. berlain und Hitler (s. M2) gegenüber dem, was Das […] Erbgut der Konkurrenten hat sich in unse- Spencer und Darwin damit meinen (s. M1), umgedeutet wird. > M1/M2 rem Fall als das der „Tüchtigeren“ im „Kampf ums 2 Erläutern Sie die Annahmen des Sozialdarwinis- 40 Dasein“ durchgesetzt, ohne dass in diesem „Kampf“ mus und nehmen Sie dazu Stellung. > M2/M3 ein einziger Tropfen Blut geflossen zu sein braucht. 3 Erklären Sie, warum die Position des Sozialdar- Innenansichten eines Artgenossen (1990) winismus nach von Ditfurth sowie Illies und Hösle nicht haltbar ist. > M3/M4
12 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN Unser evolutionäres Erbe M1 William F. Allman: Kooperation statt Kampf anderen Menschen auf, die ihnen beim ersten Tref- William F. Allman arbeitet als Wissenschaftsjournalist für den fen völlig fremd sind. Daraus erwachsen langjährige U.S. News and World Report. Freundschaften oder sogar intime Paarbeziehungen, Die Zahl der […] Wissenschaftler wächst, die […] die für das Überleben der Art entscheidend sind. den Evolutionsgedanken […] auf die Erforschung des Die lebenswichtige Fähigkeit des Menschen, Bezie- 5 menschlichen Geistes übertragen. Diese Wissen- hungen aufbauen zu können, hat auch heute nicht schaftler sind nicht etwa Sozialdarwinisten alter an Bedeutung verloren – ob im Schlafzimmer oder 5 Schule, die überzeugt waren, das menschliche Ver- im Büro, ob in einem entlegenen Winkel der Erde halten sei genetisch fixiert und durch den Grundsatz oder im Kiosk an der Ecke. Unser ganzes Leben lang vom „Überleben des Stärkeren“ geprägt. […] Statt des- müssen wir komplexe soziale Beziehungen zu ande- 10 sen behaupten diese Forscher, die natürliche Selek- ren Menschen aufbauen, abbauen oder neu definie- tion habe den Geist des Menschen im Laufe einer sehr ren. So entsteht ein großes soziales Netz aus Bezie- 10 langen Evolution auf die Lösung bestimmter Pro- hungen zwischen Geschwistern, Eltern und Kindern, bleme programmiert, die für das Überleben unserer Ehepartnern, Arbeitskollegen, Nachbarn, Gemeinden, Vorfahren unerlässlich waren, und — das urzeitliche Regierungen und Nationen. Da wir gerne alles im 15 Erbe sei in unseren Köpfen heute noch lebendig. […] Kontext sozialer Beziehungen sehen, neigen wir auch Die Palette von Verhaltensweisen, die tief in unserer dazu, unser Verhältnis gegenüber nichtmenschlichen 15 Geschichte verwurzelt sind, ist recht beachtlich: die Wesen, leblosen Gegenständen und übernatürlichen Art, wie wir unsere Partner wählen, die Fähigkeit, in Phänomenen zu vermenschlichen: Wir machen Kat- großen Gruppen zusammenzuleben, unsere Liebe zur zen, Hunde, Pferde und andere Tiere zu Freunden, 20 Musik und unsere Vorstellungen von Schönheit, aber wir reden unseren Autos gut zu und streicheln liebe- auch, dass wir über Treulosigkeit in Rage geraten voll unsere Segeljachten; wir verfluchen den Regen, 20 oder uns gelegentlich gegen Menschen von anderem wenn er uns das Picknick verdirbt, und vereinen uns Aussehen feindselig verhalten […],fällt in diese Spar- im Gelübde mit unseren Göttern. te. […] Die Tatsache, dass unser heutiges Verhalten diese 25 Während Evolution bisher gerne mit den Schlag- Altlast der Evolution mit sich herumschleppt, bedeu- worten „jeder gegen jeden“ oder „das Überleben des tet aber nicht, dass dieses Vermächtnis im modernen 25 Stärkeren“ charakterisiert wurde, machen diese neu- Kontext auch zwangsläufig erwünscht, unvermeid- en Forschungsergebnisse deutlich, dass nette Men- bar oder unveränderlich ist. Unser Heißhunger auf schen oftmals schneller ans Ziel gelangen. Der kon- Süßes beispielsweise spiegelt die Situation wider, 30 tinuierliche Erfolg der Spezies Homo sapiens basiert dass süße, reife Früchte für die Frühmenschen eine letztlich auf dem Faktum, dass er das Lebewesen mit energiereiche, wenn auch seltene Nahrungsquelle 30 der höchsten Kooperationsbereitschaft ist. Wir Men- darstellten. In der heutigen Zeit, in der es Süßigkei- schen knüpfen nicht nur mit Mitgliedern der eigenen ten und Schokolade im Übermaß gibt, bringt unser Familien enge, langanhaltende Bande (ein Merkmal, süßer Zahn jedoch nur Nachteile. Trotzdem können 35 das wir bei vielen Tierarten finden), sondern auch die meisten Menschen ihren Appetit auf Süßigkeiten mit Menschen, die überhaupt nicht mit uns verwandt ganz gut bremsen, und darüber hinaus gibt es Mittel 35 sind. Genauso wie die Frühmenschen der afrikani- und Wege, mit Hilfe von künstlichen Süßstoffen die- schen Savanne nehmen die Großstädter des ausge- se angeborene Verhaltensweise zu übertölpeln. henden 20. Jahrhunderts noch immer Kontakt mit Mammutjäger in der Metro (1994/dt.1999) 40
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 13 M2 Wolfgang Welsch: Evolutionär gesehen, gehört die Inhärenz von Altem Kontinuität und Neuerung schlicht zu den Existenzbedingungen alles Neuen. Wolfgang Welsch (*1946) war bis 2012 Professor für Philoso- […] Man [muss] diese Gesetzlichkeit akzeptieren – phie an der Universität Jena. und richtig bewerten. Sie bedeutet wohl, dass das Manche meinen, die Herkunft des Menschen aus der Neue von den alten Potentialen zehrt, aber das heißt 45 kosmischen und biotischen* Evolution bedeute wenig auch, dass es von diesen alten Potentialen her seine oder schier nichts für unsere Seinsweise. Die evolu- Kraft gewinnt. […] Man hat also keinen Grund, das tionäre Vorgeschichte sei zwar zur Hervorbringung Alte, das in einem wirksam ist, despektierlich zu be- 5 unserer Spezies nötig gewesen, aber auf unsere jetzi- trachten oder sich seiner zu schämen, sondern man ge Verfassung habe sie keinen Einfluss mehr, sie liege hat allen Anlass, sich an seiner Permanenz und Er- 50 hinter uns. […] Wie falsch das ist, möchte ich Ihnen möglichungsfunktion zu erfreuen. […] im Folgenden nahebringen. Wenn Sie ihren Körper, Bei aller Kontinuität und Gradualität: Sind wir Men- ihr Verhalten, ihre Kognition analysieren, stoßen Sie schen nicht dennoch vergleichsweise besondere We- 10 auf Ältestes, auf evolutionäre Errungenschaften, die sen? Wir tun doch Dinge, zu denen es im Tierreich lange vor dem Menschen gemacht wurden und die kein Analogon* gibt. Kein anderes Lebewesen ist so 55 für uns alle noch immer essentiell sind. sehr über die ganze Erde verbreitet, errichtet Dome, Von Zeit zu Zeit rate ich, sich eine evolutionäre Karte surft im Internet oder betreibt Weltraumfahrt. Al- des Menschen vors Auge zu rufen. Auf ihr wäre ein- lein die Menschen haben dergleichen wie Dichtung, 15 getragen, wo in der Evolution Erfindungen gemacht Philosophie, Wissenschaft und Technik entwickelt. wurden, die noch unsere Existenz bestimmen. Eine Insofern sind wir bei aller Kontinuität unseres evo- 60 solche Karte würde weit hinter die Prozesse der Ho- lutionären Erbes doch in unseren Hervorbringungen minisation zurückreichen. Von einzelnen Teilen un- deutlich anders als die anderen Lebewesen. […] seres Körpers ausgehend, hätte man lange und immer Wie ist der Mensch zu dieser Besonderheit gekom- 20 längere Linien in die Vergangenheit zu ziehen – bei- men? Evolutionär muss man davon ausgehen, dass spielsweise zur Erfindung des beidäugig koordinier- unseren Vorfahren auf dem Weg zur Menschwerdung 65 ten Sehens (vor über 220 Mio. Jahren), der Lungen- gar kein anderes Startkapital zur Verfügung stand atmung (vor ca. 380 Mio. Jahren), des zentralen Ner- als das Kapital, das unseren nächsten Verwandten, vensystems (vor 590 Mio. Jahren), des Blutkreislaufs den Schimpansen, ebenfalls zur Verfügung stand. 25 (vor gut 600 Mio. Jahren), der Immunabwehr (vor ca. Die spannende Frage ist dann, wie dieses prähuma- 2 Mrd. Jahren), der Sexualität (vor 2,1 Mrd. Jahren), ne Startkapital im Verlauf der Hominisation* eine 70 des genetischen Codes (vor nahezu 4 Mrd. Jahren) – Ausrichtung annehmen konnte, die uns Menschen also letztlich bis zum Anfang des Lebens. All diese schließlich zu den eindrucksvollen Leistungen […] Dinge, die für unsere Existenz konstitutiv sind, besit- befähigte, die uns von unseren Verwandten so deut- 30 zen wir, weil sie in Urzeiten – längst vor dem Men- lich unterscheiden. Mensch und Welt. Die evolutionäre Perspektive der Philosophie (2012) schen – erfunden wurden und durch die Stammesge- schichte an jeden Einzelnen von uns weitergegeben worden sind. Ja, Ältestes ist uns inhärent. Unser Sein 1 Stellen Sie Beispiele dafür zusammen, wie un- A erstreckt sich bis in Urzeiten. […] ser evolutionäres Erbe unsere Existenz prägt. 35 Manche empfinden den Hinweis auf solche Kontinu- > M1/M2 itäten als bedrückend: Mit einer Auszeichnung, mit 2 Untersuchen Sie, wie Allman und Welsch die der Sonderstellung des Menschen sei es nun leider evolutionäre Prägung des Menschen bewerten. vorbei. Ich schlage eine andere Lesart vor – eine, > M1/M2 welche die positiven Aspekte dieses Kontinuitätsbe- 3 Diskutieren Sie mögliche Antworten auf die 40 fundes hervorhebt. Frage Welschs (Z. 64f.). > M2
14 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN Mängelwesen Mensch M1 Arnold Gehlen: Die organische Unspezialisiertheit des Menschen Arnold Gehlen (1904-1976) lehr- geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den te Philosophie und Soziologie u. meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen, a. an den Universitäten in Leipzig er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel und Wien. Er ist einer der Haupt- vertreter der modernen philoso- an echten Instinkten und er unterliegt während der phischen Anthropologie. ganzen Säuglings- und Kinderzeit einer ganz un- 5 Dieses Buch setzt sich [einer vergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit sehr verbreiteten] […] An- anderen Worten: innerhalb natürlicher, urwüchsi- sicht entgegen. Das ist die […] ger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten „naturalistische“ und sich der gewandtesten Fluchttiere und der gefährlichsten 5 „biologisch“ nennende Auffassung des Menschen vom Raubtiere schon längst ausgerottet sein. 10 Tiere aus […]. Sieht man den Menschen von außen Die Tendenz der Naturentwicklung geht nämlich da- an, seinen Körperbau […], so drängt sich allerdings hin, organisch hochspezialisierte Formen in ihre je eine bestimmte Theorie auf […], die Theorie von der ganz bestimmten Umwelten einzupassen, also die geradlinigen Abstammung des Menschen von den unübersehbar mannigfaltigen in der Natur zustan- 10 Anthropoiden. Diese Theorie behauptet gerade des- de kommenden „Milieus“ als Lebensräume für dar- 15 wegen biologisch zu denken, weil sie vom Leiblichen, in eingepasste Lebewesen auszunutzen. Die flachen vom Körperbau, von den Entwicklungsgesetzen or- Ränder tropischer Gewässer wie die ozeanische Tief- ganischen Lebens aus denkt. Eben deswegen kommt see, die kahlen Abhänge nördlicher Alpengebirge sie an die „Innenseite“ des Menschen nicht heran […]. wie das Unterholz lichter Mischwälder sind ebenso 15 Wenn es um den Menschen geht, darf also eine bio- spezifische Umwelten für spezialisierte, nur darin le- 20 logische Betrachtung nicht bloß auf das Somatische, bensfähige Tiere, wie die Haut der Warmblüter für Körperliche gehen. Worin besteht dann die anthropo- die Parasiten, und so in unzähligen, je besonderen biologische Fragestellung? Sie besteht allein in der Fällen. Der Mensch dagegen hat, morphologisch Frage nach den Existenzbedingungen des Menschen. gesehen, so gut wie keine Spezialisierungen. Er be- 20 Man sehe sich dieses sonderbare und unvergleichli- steht aus einer Reihe von Unspezialisiertheiten, die 25 che Wesen an, dem alle tierischen Lebensbedingun- unter entwicklungsbiologischem Gesichtspunkt als gen fehlen, und frage sich: vor welchen Aufgaben Primitivismen erscheinen: sein Gebiss z. B. hat eine steht ein solches Wesen, wenn es sein Leben erhal- primitive Lückenlosigkeit und eine Unbestimmtheit ten, sein Dasein fristen, wenn es seine bare Existenz der Struktur, die es weder zu einem Pflanzenfresser- 25 durchhalten will? […] noch zu einem Fleischfressergebiss, d. h. Raubtierge- 30 Morphologisch ist […] der Mensch im Gegensatz zu biss machen. Gegenüber den Großaffen, die hochspe- allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel zialisierte Baumtiere mit überentwickelten Armen für bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Hangelkletterei sind, die Kletterfuß, Haarkleid und Unangepasstheiten, Unspezialisiertheiten, als Primiti- gewaltigen Eckzahn haben, ist der Mensch als Natur- 30 vismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: wesen gesehen hoffnungslos unangepasst. Er ist von 35 also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und einer einzigartigen […] biologischen Mittellosigkeit. damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen na- Der Mensch (1940) türliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 15 M2 Unzufriedenheit Bill Watterson: Calvin und Hobbes M3 Arnold Gehlen: Die Weltoffenheit des Menschen Die Resultate der neueren Biologie geben uns die sich hat, der Mensch sei „nicht festgestellt“ oder „sich Möglichkeit, die exponierte und riskierte Konstituti- selbst noch Aufgabe“. […] Es muss die bloße Exis- 30 on des Menschen in einen weiteren Zusammenhang tenzfähigkeit eines solchen Wesens fraglich sein, und zu stellen. Die „Umwelt“ der meisten Tiere, und gera- die bare Lebensfristung ein Problem, das zu lösen der 5 de der höheren Säuger ist das nicht auswechselbare Mensch allein auf sich selbst gestellt ist, und wozu er Milieu, an das der spezialisierte Organbau des Tie- die Möglichkeiten aus sich selbst herauszuholen hat res angepasst ist, innerhalb dessen wieder die eben- Das wäre also das handelnde Wesen. Der Mensch (1940) 35 so artspezifischen angeborenen Instinktbewegungen arbeiten. Spezialisierter Organbau und Umwelt sind 10 also Begriffe die sich gegenseitig voraussetzen. Wenn nun der Mensch Welt hat, […] so bedeutet auch dies zunächst eine negative Tatsache. Der Mensch ist weltoffen heißt: er entbehrt der tierischen Einpassung 1 Erläutern Sie Gehlens Kritik an einer aus- A in ein Ausschnitt-Milieu. […] Die physische Unspezi- schließlich naturalistischen Betrachtung des 15 alisiertheit des Menschen, seine organische Mittello- Menschen. > M1 sigkeit sowie der erstaunliche Mangel an echten Ins- 2 Untersuchen Sie Gehlens Bestimmung der Un- spezialisiertheit des Menschen. > M1 tinkten bilden also unter sich einen Zusammenhang, 3 Überlegen Sie, wie Calvin Hobbes davon über- zu dem die „Weltoffenheit“ (M. Scheler) oder, was zeugen könnte, dass er trotz der vom Tiger dasselbe ist, die Umweltenthebung den Gegenbegriff aufgezählten Mängel mit seinen menschlichen 20 bilden. Umgekehrt entsprechen beim Tier die Organ- Fähigkeiten zufrieden sein kann. > M2 spezialisierung, das Instinktrepertoire und die Um- 4 Erklären Sie den Zusammenhang von Spezia- weltfesselung einander. Es ist das anthropologisch lisierung und Umweltgebundenheit einerseits entscheidend wichtig. Wir haben damit einen Struk- und Unspezialisiertheit und Weltoffenheit an- turbegriff des Menschen […]. Wir haben jetzt […] den dererseits. Was würde Gehlen auf die Fest- stellung des Tigers im Comic M2 antworten? 25 Entwurf eines organisch mangelhaften, deswegen > M3/M2 weltoffenen, d. h. in keinem bestimmten Ausschnitt- 5 Interpretieren Sie die Bestimmungen, der Milieu natürlich lebensfähigen Wesens, und verste- Mensch sei „nicht festgestellt“ oder „sich selbst hen jetzt auch, was es mit den Bestimmungen auf noch Aufgabe“. > M3
16 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN Der Mensch – ein Kulturwesen > MET H O D E NKO M P E TE N Z : Eine philosophische Textanalyse und -interpretation verfassen 1 Wie man den Gedankengang bzw. die Argumentationsstruktur eines philosophischen Textes analysiert und darstellt, wurde bereits erläutert (s. philo Einführungsphase, S. 28f., 44f., 136f.). Philosophische Texte sind jedoch nicht nur Gegenstand der Analyse; sie enthalten oft Aussagen, die nicht unmittelbar verständlich sind und daher der Interpretation bedürfen. Beim Verfassen einer philosophischen Textanalyse und -interpretation empfiehlt es sich, in folgenden Schritten vorzugehen: • Stellen Sie die dem Text zugrunde liegende philosophische Frage bzw. das Anliegen sowie die zentrale These dar. • Analysieren Sie den gedanklichen Aufbau bzw. die Argumentationsstruktur des Textes und stellen Sie diese mit Hilfe sog. performativer Verben dar. • Interpretieren Sie wesentliche und nicht unmittelbar verständliche Aussagen des Textes, indem Sie erläutern, wie diese zu verstehen sind. • Belegen Sie Ihre Aussagen und Interpretationen durch Zitate. M1 „Ein Bild vom Menschen“ – Analyse und Interpretation eines Textes von Arnold Gehlen Aufgabenstellung: Analysieren Sie den folgenden Text und interpretieren Sie die wesentlichen Aussagen. Wir sehen […], wo wir auch hinblicken, den Menschen über die Erde verbreitet und trotz seiner physischen Mittellosigkeit sich zunehmend die Natur unterwerfen. Es ist dabei keine „Umwelt“, kein Inbegriff natürlicher und urwüchsiger Bedingungen angebbar, der erfüllt sein muss, damit „der Mensch“ leben kann, sondern wir sehen ihn überall, 5 unter Pol und Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe „sich halten“. Und zwar lebt er als „Kulturwesen“, d. h. von den Resul- taten seiner voraussehenden, geplanten und gemeinsamen Tätigkeit, die ihm erlaubt, aus sehr beliebigen Konstellationen von Naturbedingungen durch deren voraussehende und tätige Veränderungen sich Techniken und Mittel seiner Existenz zurechtzumachen. 10 Man kann daher die „Kultursphäre“ jeweils den Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger Bedingungen nennen, innerhalb deren der Mensch allein lebt und leben kann. Irgend- welche Techniken der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung, irgendwelche Waffen, Organisationsformen gemeinsamer Tätigkeit und Schutzmaßnahmen vor Feinden, vor der Witterung usw. gehören daher zu den Beständen auch der primitivsten Kultur, und 15 „Naturmenschen“, d. h. kulturlose gibt es überhaupt nicht. […] Der Mensch ist also organisch „Mängelwesen“ (Herder), er wäre in jeder natürlichen Umwelt lebensunfähig, und so muss er sich eine zweite Natur, eine künstliche bearbei- tete und passend gemachte Ersatzwelt, die seiner versagenden organischen Ausstattung entgegenkommt, erst schaffen, und er tut dies überall, wo wir ihn sehen. Er lebt sozu- 20 sagen in einer künstlich entgifteten, handlich gemachten und von ihm ins Lebensdien- liche veränderten Natur, die eben die Kultursphäre ist. Man kann auch sagen, dass er biologisch zur Naturbeherrschung gezwungen ist. Ein Bild vom Menschen (1942)
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 17 Analyse und Interpretation: Im vorliegenden Textausschnitt aus dem Aufsatz „Ein Bild vom Menschen“ (1942) befasst sich Fragestellung Arnold Gehlen mit der Frage, wie sich der Mensch trotz seiner physischen Mittellosigkeit über und zentrale These die Erde verbreiten und sich zunehmend die Natur unterwerfen konnte. Seine These lautet, dass ihm dies als Kultur schaffendes Wesen möglich war. 5 Gehlen geht von der „physischen Mittellosigkeit des Menschen“ (Z. 2) aus. Damit greift er seine Darstellung Bestimmung des Menschen als eines organisch unspezialisierten Wesens auf. Diese besagt, des gedanklichen dass der Mensch im Unterschied zum Tier nicht über organische Spezialisierungen verfügt, Aufbaus durch die er an eine bestimmte Umwelt angepasst ist. Ihm fehlt z. B. ein Haarkleid, das ihn vor Kälte schützt, er besitzt keine natürlichen Angriffsorgane usw. Der Mensch lässt sich da- 10 her auch – mit einem Begriff von Herder, den Gehlen hier aufgreift – als organisches „Män- gelwesen“ (Z. 16) bezeichnen. Aufgrund seiner mangelhaften organischen Ausstattung ist Interpretation er jedem Tier in seiner spezifischen Umwelt unterlegen, so dass er – unter ausschließlich wesentlicher Textstellen natürlichen Bedingungen – schon längst ausgestorben sein müsste. Tatsächlich hat sich der Mensch aber über die ganze Erde verbreitetet und ist in vielfältigen Umwelten lebensfä- 15 hig: „wir sehen ihn überall, unter Pol und Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe ‚sich halten‘“ (Z. 4-6). Daher stellt sich die Frage, wodurch Beleg von ihm dies möglich ist. Zur Erklärung führt Gehlen die Fähigkeit des Menschen an, „urwüch- Aussagen und Interpretationen sige Bedingungen“ so zu „veränder[n]“ und sich „zurechtzumachen“, dass er darin „leben durch Zitate kann“ (Z. 10-11). Diese Veränderung der natürlichen Lebensbedingungen geschieht durch 20 „voraussehende, geplante und gemeinsame Tätigkeit“ (Z. 7). Zur Veranschaulichung dieser Tä- tigkeit verweist Gehlen auf „Techniken der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung“, „Schutz- maßnahmen vor Feinden, vor der Witterung usw.“ (Z. 12-14). Der letzte Hinweis lässt sich so verstehen, dass der Mensch, der in Ermangelung eines Haarkleides nur in gemäßigten Klima- zonen überleben könnte, gelernt hat, Kleidung herzustellen und schützende Wohnstätten zu 25 errichten, so dass er es auch in Regionen mit lebensfeindlicher Kälte aushalten kann. Das Fehlen natürlicher Angriffsorgane gleicht er durch Herstellung von Waffen zum Kampf gegen Feinde aus usw. Den „Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger Bedingungen“ (Z. 10f.), die „ins Lebensdienliche veränderte Natur“ (Z. 20f.) bezeichnet Gehlen als „Kultursphäre“ (Z. 10, 21). Die Kultur stellt 30 mithin „eine künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt“, die „zweite Natur“ (Z. 17) des Menschen dar. Die Konsequenz dieser Theorie ist, dass es „Naturmenschen, d. h. kulturlose“ Menschen (Z. 15) überhaupt nicht geben kann. Seine organische Unspezialisiertheit zwingt den Menschen, seine natürliche Umwelt zu bearbeiten, d. h. er muss Kultur schaffen, damit er überleben kann. M2 „Mensch und Institutionen“ – Analyse und Interpretation eines Textes von Arnold Gehlen ANWENDUNG Aufgabenstellung: Analysieren Sie den folgenden Text (S. 18, M1) und interpretieren Sie die wesentlichen Aussagen. 1 Vollziehen Sie nach, wie die Textanalyse und -interpretation angelegt ist. > M1 A 2 Verfassen Sie eine Analyse und Interpretation nach dem Muster in M1. > M2
18 DAS SELBSTVERSTÄNDNIS DES MENSCHEN Braucht der Mensch Institutionen? M1 Arnold Gehlen: Institutionen als Formen der Kultur [Im] Fischer-Lexikon „Anthropologie“ [steht]: „Die Verbände, denen man angehört, regeln uns nicht nur Instinkte bestimmen beim Menschen nicht, wie beim in unserem Verhalten ein, sie greifen bis in unsere 40 Tier, einzelne Verhaltensabläufe. Stattdessen nimmt Wertgefühle und Willensentschlüsse durch, und diese jede Kultur aus der Vielheit der möglichen mensch- verlaufen dann ohne Bremsung und Zweifel wie von 5 lichen Verhaltensweisen bestimmte Varianten heraus selbst, d. h. selbstverständlich, ohne dass eine andere und erhebt sie zu gesellschaftlich sanktionierten Ver- Möglichkeit vorstellbar wäre, also schließlich mit der haltensmustern […].“ Überzeugungskraft des Natürlichen. Vom Inneren der 45 Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen die Insti- Einzelperson her gesehen bedeutet das […] eine le- tutionen einmal als die Formen der Bewältigung le- benswichtige Entlastung. Mensch und Institutionen (1960) 10 benswichtiger Aufgaben oder Umstände, so wie die Fortpflanzung oder die Verteidigung oder die Ernäh- M2 Theodor W. Adorno / Arnold Gehlen: rung ein geregeltes und dauerndes Zusammenwirken Freiheit und Institution erfordern; sie erscheinen von der anderen Seite als 1965 kam es im Westdeutschen Rundfunk zu einem Streitge- die stabilisierenden Gewalten: Sie sind die Formen, spräch zwischen Arnold Gehlen und Theodor W. Adorno (1903- 1969), einem Hauptvertreter der Kritischen Theorie, über die 15 die ein seiner Natur nach riskiertes und unstabiles, Rolle von Institutionen. affektüberlastetes Wesen findet, um sich gegenseitig und um sich selbst zu ertragen, etwas worauf man Adorno: Wir sind uns darüber einig, dass die Men- in sich und den anderen zählen und sich verlassen schen heute [...] von den Institutionen und das heißt kann. hier in erster Linie von der ins Ungeheuerliche zu- 20 Der Einzelne erlebt […] eine Institution wie das Eigen- sammengeballten Wirtschaft und in zweiter von den tum oder die Ehe als ein überpersönliches vorgefun- Verwaltungen in einem umfassenden Sinn, die aber 5 denes Muster, dem er sich einordnet; oder in anderen mit der Wirtschaft teils fusioniert und teils ihr nach- Fällen tritt er in eine Institution seines Berufes, eine gebildet sind, dass die Menschen also davon abhän- Behörde, eine Fabrik ein in dem Bewusstsein, dass sie gig sind. [...] Sie sind dazu geneigt, diese Institutionen 25 als dieselbe seit langem bestand und bestehen wird, als eine Notwendigkeit aufgrund der Mangelsituati- im Wechsel der Menschen, die in sie ein- oder wieder on des Menschen [...] zu bejahen. […] Demgegenüber 10 austreten. […] würde ich sagen: Auf der einen Seite ist genau diese Die Formen, in denen die Menschen miteinander le- Macht der Institutionen über die Menschen das, was ben oder arbeiten, in denen sich die Herrschaft aus- man in der alten Sprache der Philosophie als hetero- 30 gestaltet oder der Kontakt mit dem Übersinnlichen nom bezeichnete. [...] Sie stehen den Menschen als – sie alle gerinnen zu […] Institutionen, die schließ- eine fremde und bedrohliche Macht entgegen. [...] 15 lich den Individuen gegenüber etwas wie eine Selbst- Sie sind [...] geneigt, [...] diese Art Fatalität als et- macht gewinnen, so dass man das Verhalten des was Schicksalhaftes und letztlich auf die Natur des Einzelnen in der Regel ziemlich sicher voraussagen Menschen Zurückweisendes zu akzeptieren. [...] Dem 35 kann, wenn man seine Stellung in dem System der würde zunächst einmal entgegenzustellen sein die Gesellschaft kennt, wenn man weiß, von welchen In- Analyse, die kritische Analyse dieser Institutionen 20 stitutionen er eingefasst ist. Die Forderungen des Be- und dann schließlich die Frage, [...] ob [...] diese In- rufs oder der Familie, des Staates oder irgendwelcher stitutionen zu verändern wären und solche an ihre
DER MENSCH ALS NATUR- UND KULTURWESEN 19 Stelle zu setzen, die für die Menschen vielleicht [...] Subjekte. Ich will ja gar nichts anderes, als dass die weniger entlastend sind als die Institutionen heute, Welt so eingerichtet wird, dass die Menschen nicht 25 aber auch dafür nicht diese entsetzlich drückende ihre überflüssigen Anhängsel sind, sondern [...] dass Last sind, die jeden Einzelnen unter sich zu begraben die Dinge um der Menschen willen da sind und nicht 70 droht und die schließlich so etwas wie die Bildung ei- die Menschen um der Dinge willen, die sie noch dazu nes freien Subjekts überhaupt nicht mehr zulässt. [...] selbst gemacht haben. Und dass die Institutionen Ich meine [...] die Frage, ob die Institutionen wirk- schließlich auf die Menschen selbst zurückweisen, 30 lich eine Notwendigkeit der Menschennatur sind oder das ist für mich jedenfalls ein sehr geringer Trost. [...] ob sie die Frucht einer geschichtlichen Entwicklung Ich meine, die Not, die die Menschen zu diesen Ent- 75 sind, deren Gründe durchsichtig sind und die sich lastungen treibt, ist gerade die Belastung, die von unter Umständen auch verändern lässt [...]. den Institutionen, also von der ihnen fremden und Gehlen: Herr Adorno, ich gebe Ihnen vollkommen zu, über sie übermächtigen Einrichtung der Welt ihnen 35 diese fundamentalen anthropologischen Einrichtun- angetan wird. [...] Und das scheint mir geradezu ein gen wie Familie, Recht, Ehe, Eigentum usw., Wirt- Urphänomen der Anthropologie heute zu sein, dass 80 schaft, Zusammenwirtschaften bieten ein ungeheuer die Menschen sich flüchten zu genau der Macht, die mannigfaches Bild in der Geschichte, und ich kann ihnen das Unheil [...] antut. auch nicht absehen, dass sich diese Substanzen selbst Gehlen: Ich möchte [...] einen Gegenvorwurf anbrin- 40 einmal auflösen. Sie werden sich weiter transformie- gen. Obzwar ich das Gefühl habe, dass wir uns in tie- ren. […] [Aber wir müssen] endlich den Streitpunkt fen Prämissen einig sind, habe ich den Eindruck, dass 85 finden. Er liegt vielleicht darin, dass ich geneigt bin, es gefährlich ist und dass Sie die Neigung haben, den wie Aristoteles [...] dem Gesichtspunkt der Sicherheit Menschen mit dem bisschen unzufrieden zu machen, eine große Rolle einzuräumen. Ich glaube, dass die was ihm aus dem ganzen katastrophalen Zustand 45 Institutionen Bändigungen der Verfallsbereitschaft noch in den Händen geblieben ist. des Menschen sind. Ich glaube auch, dass die Ins- Adorno: Ja, dann möchte ich darauf wirklich den 90 titutionen den Menschen vor sich selbst schützen. Satz von Grabbe zitieren: „Denn nichts als nur Ver- Gewiss auch Freiheit beschränken. Aber man sieht ja zweiflung kann uns retten.“ Freiheit und Institution (1965) immer wieder, dass es Revolutionäre gibt. [...] Nicht 50 wahr, wir sind beide ungefähr gleich alt und wir ha- ben nun alle erlebt: vier Regierungsformen, drei Re- volutionen und zwei Weltkriege. […] In der Zeit ist 1 Stellen Sie dar, was Institutionen nach Arnold A doch ungeheuer viel an Institutionen zerrieben und abgebaut worden. Der Erfolg ist eine allgemeine in- Gehlen für den Menschen leisten. > M1 55 nere Unsicherheit […]. Da bin ich doch dafür, dass 2 Untersuchen Sie, worin Adorno und Gehlen ge- gensätzlicher Auffassungen sind und worin sie man das, was an Institutionen da ist, nun auch [...] sich im Laufe des Gesprächs annähern. > M2 konserviert. Und da kann ja dann wirklich jeder se- 3 Erörtern Sie an einzelnen Beispielen, ob und hen, an seiner Stelle, dass er da mal etwas verbessert, inwiefern Institutionen das Leben des Indivi- aber damit kann man nicht anfangen. [...] Erst muss duums stabilisieren und entlasten oder seine 60 man hineingehen, muss ziemlich viel schlucken. [...] Freiheit einschränken. > M1/M2 Adorno: […] Ich mache eigentlich [...] die Beobach- tung, dass die Menschen sich viel zu genau in den ihnen vorgezeichneten Bahnen bewegen, dass sie viel Medienhinweis: zu wenig Widerstand überhaupt noch aufbringen. Freiheit und Institution – Arnold Gehlen und Theo- 65 [...] Die Menschen sind heute wesentlich Anhängsel dor W. Adorno im Gespräch (YouTube-Video) der Maschinerie und nicht die ihrer selbstmächtigen
Sie können auch lesen