Gemeinsam abwehrbereit - Die Bedeutung der Landes- und Bündnisverteidigung - Bundeswehr

Die Seite wird erstellt Alena Stoll
 
WEITER LESEN
Gemeinsam abwehrbereit - Die Bedeutung der Landes- und Bündnisverteidigung - Bundeswehr
MILITÄRGESCHICHTE

 Gemeinsam abwehrbereit
 Die Bedeutung der Landes- und Bündnisverteidigung

 Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der gestiegenen Bedrohung der
 nord- und mittelosteuropäischen Staaten durch Russland ist die Landes- und Bündnis­
 verteidigung wieder in den Fokus der Bundeswehr und der NATO gerückt. Bei der Frage,
 wie man sich diese vorstellen kann und was Nukleare Teilhabe heißt, lohnt ein Blick in
 die Zeit des Kalten Krieges.

 Von Heiner Möllers

                                                                                                                                      Bundeswehr/Marco Dorow

 Übung für den Ernstfall: Panzergrenadiere liegen im Rahmen der Gefechtsübung »Iron Wolf« der multinationalen Enhanced Forward Pre-
 sence Battlegroup in Pabrade, Litauen, am 19. Juni 2019 mit dem Maschinengewehr MG5 in Stellung.

                                                                   1
                     (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Gemeinsam abwehrbereit - Die Bedeutung der Landes- und Bündnisverteidigung - Bundeswehr
Militärgeschichte | Dossier

I
  m Kalten Krieg zweifelte niemand in                                gegenüber der NATO zu erfüllen. In die-                                           Deutsche und alliierte Korps
  der Bundesrepublik an der Bedeutung                                sem Zusammenhang gewinnen auch                                                      an der innerdeutschen
  der Landes- und Bündnisverteidigung                                Fragen der LV/BV an Bedeutung. Die ur-                                              Grenze (»Schichttorte«)
(LV/BV) für die Sicherheit des Bundes-                               sprünglichen Konzepte aus der Zeit des                                                                            DÄNEMARK
                                                                                                                                                                                                                        S.

gebiets. Bei einer militärischen Konfron-                            Kalten Krieges bieten hierfür einen ers-
tation zwischen NATO und Warschauer                                  ten Ansatzpunkt.
Pakt wären die Bundesrepublik und die                                                                                                                                                       Hamburg
DDR ohne Zweifel Hauptschauplatz                                     General Defense Plan
der Auseinandersetzung geworden. Die                                                                                                                NIE-
                                                                                                                                                    DER-
Bundeswehr war daher exzellent ausge-                                Die LV/BV folgte im Kalten Krieg den                                          LANDE
                                                                                                                                                                                                              BERLIN
                                                                                                                                                                                Hannover
stattet und schnell einsatzfähig.                                    Planungsvorgaben des General Defense                                                                                                   DDR
  Seit 1989/90 und dem Ende des Kalten                               Plan (GDP). Denn ein Angriff auf die                                                         BRD
Krieges wähnte sich Deutschland »von                                 Bundesrepublik hätte zur Antwort des                                                     Köln
Freunden umgeben«. In der Folge wurde                                ganzen Bündnisses geführt.                                                   B.
                                                                                                                                                              BONN

die Bundeswehr mehrfach reduziert und                                  Aus­gehend von einer Direktive des                                                                       Frankfurt
                                                                                                                                                  LUX.
umstrukturiert, ohne eventuelle Bedro-                               NATO-Ober­b efehlshabers Europa
                                                                                                                                                                                                                ČSSR
hungen zu beachten. Der Fokus lag bis                                (SACEUR) hatten die beiden Army
etwa 2015 ausschließlich auf Auslands­                               Groups zwischen Elbe und Alpen                                                FRANK-
einsätzen.                                                           (­NORTHAG und CENTAG) für jedes der                                           REICH
                                                                                                                                                                    Stuttgart
  Der russische Angriffskrieg gegen die                              eingesetzten (nationalen) Korps Vorga-                                                                                 München

Ukraine hat deutlich gemacht, dass eine                              ben gemacht und Grenzen bestimmt.
drastische Umkehr dieser Entwicklung                                 Diese mündeten dann in den GDP be-                                                     SCHWEIZ       L.                    ÖSTERREICH
notwendig ist. Von einer »Zeitenwende«                               ziehungsweise in Operationspläne der                                              0     50 100 150 200 km                              © ZMSBw
                                                                                                                                                                                                            09251-02
ist die Rede, die deutlich vor Augen                                 Korps, Divisionen und Brigaden. Insge-
führt, dass es ein Weiter so für die Bun-                            samt handelte es sich beim GDP um Pla-
deswehr nicht geben kann. Es geht da-                                nungsdokumente, die alle zwei bis drei
rum, die volle Einsatzbereitschaft wie-                              Jahre überprüft, aktualisiert und/oder
derherzustellen und die Zusagen                                      neu gefasst wurden.

                                                                     Entwicklung der Vorneverteidigung
                                                                S.                                                                     S.                                                                          S.
                              DÄNEMARK                                                             DÄNEMARK                                                                      DÄNEMARK

                                  Kiel                                                                 Kiel                                                                        Kiel
                                  Lübeck              Rostock                                          Lübeck                Rostock                                               Lübeck                Rostock

                          Hamburg                                                              Hamburg                                                      Hamburg
                           Bremen                                                               Bremen                                                         Bremen
 NIEDER-                                                DDR          NIEDER- Oldenburg                                         DDR          NIEDER- Oldenburg                                             DDR
               Oldenburg
 LANDE                                                    BERLIN     LANDE                                                       BERLIN     LANDE                                                           BERLIN
               BUNDES-                                                      BUNDES-                                                                  BUNDES-
                              Hannover                                                                Hannover                                                Hannover

                  Münster                         Magdeburg                           Münster                             Magdeburg                               Münster                             Magdeburg

           Düsseldorf    Kassel                                                Düsseldorf    Kassel                                                    Düsseldorf       Kassel
          Köln                               Erfurt                           Köln                                  Erfurt                                 Köln                                 Erfurt
                                                         Dresden                                                                Dresden                                                                     Dresden
              REPUBLIK                                                          REPUBLIK                                                                          REPUBLIK
      BONN                                                                BONN                                                                   BONN
 B.                                                                  B.                                                                     B.
                    Frankfurt/M.                                                        Frankfurt/M.                                                                 Frankfurt/M.
                                                           ČSSR                                                                   ČSSR                                                                        ČSSR
 L.                                                                  L.                                                                     L.
                                             Nürnberg       Pilsen                                          Nürnberg               Pilsen                                             Nürnberg                Pilsen
         Saarbrücken                                                        Saarbrücken                                                            Saarbrücken
                               DEUTSCHLANDRegensburg                                              DEUTSCHLAND                                                                     DEUTSCHLAND
                              Stuttgart                                                           Stuttgart Regensburg                                                          Stuttgart Regensburg
      Straßburg                                                           Straßburg                                                              Straßburg
    FRANK-                                                            FRANK-                                                                 FRANK-
     REICH                                        München              REICH                                   München                        REICH                                                   München

 Belfort                                   Rosenheim                 Belfort                                     Rosenheim                  Belfort                                           Rosenheim             Salz-
                                                             Salz-                                                                  Salz-
                                                             burg                        Zürich                                     burg                           Zürich                                           burg
               Basel Zürich                                                        Basel                                                                     Basel
               SCHWEIZ            LIE.                ÖSTERREICH                   SCHWEIZ             LIE.                  ÖSTERREICH                      SCHWEIZ                LIE.                 ÖSTERREICH
                                      Innsbruck                                                               Innsbruck                                                                 Innsbruck
                   Rhein-Ijssel-Linie 1957                                                  Alpha-Linie 1960                                                      Vorneverteidigung 1969
                        Warschauer Pakt                 NATO                                Neutrale Staaten                    Verzögerungszone                                  Verteidigungslinie        © ZMSBw
                                                                                                                                                                                                            09252-01

                                                                                                        2
                                  (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Gemeinsam abwehrbereit - Die Bedeutung der Landes- und Bündnisverteidigung - Bundeswehr
MILITÄRGESCHICHTE                                                                                        Militärgeschichte | 4/2019

   Unterhalb der Brigadeebene, bei den        wesen und besaßen somit eine ausge-        Zugleich war die Auslösung des Alarm-
 Bataillonen und selbstständigen Kompa-       zeichnete Kaltstartfähigkeit.              falls immer mit dem Risiko verbunden,
 nien der Brigaden gab es keinen GDP,           Ob eine solche Landes- und Bündnis-      die Lage weiter zu eskalieren.
 sondern konkrete Operationsbefehle, die      verteidigung aus dem Stand notwendig         Die Bundeswehr hatte einen Friedens-
 für den ersten Kriegstag gegolten hätten.    geworden wäre, ist unklar.                 umfang von rund 495 000 Mann, der im
 Danach war alles dem sprichwörtlichen                                                   Krieg auf mehr als 1,2 Millionen hätten
 System der Aushilfen unterworfen.            Chance auf Alarmierung?                    aufwachsen sollen. Die für diesen Fall
   In diesem SACEUR GDP waren die                                                        eingeplanten Reservisten bewahrten
 verschiedenen Korps aus den Niederlan-       In den Zeiten des Kalten Krieges gingen    ihre persönliche Ausrüstung zumeist zu
 den, Belgien, den USA, Großbritannien        NATO und Bundeswehr von einer Vor-         Hause auf. Sie hatten einen Einberu-
 und der Bundesrepublik gestaffelt und        warnzeit – ungeachtet etwaiger blitz-      fungsbescheid mit Stichworten wie
 im Sinne der so grenznah wie mögli-          artiger Raketenangriffe – von etwa 48      »Brauner Fuchs« oder »Weißer Fisch«.
 chen Vorneverteidigung eingesetzt. In        Stunden aus, um die Truppen zu alar-       Wäre im Rundfunk ein solches Code-
 einfachen Grafiken wurde dies dann als       mieren und die Landstreitkräfte in die     wort ausgerufen worden, hätten die Re-
 »Schichttorte« bezeichnet.                   Einsatzräume ausrücken zu lassen. Eine     servisten – so die Annahme – sofort be-
   Die Präsenz dieser alliierten Korps an     vorausgehende politische Krise hätte       reitgestanden.
 der innerdeutschen Grenze war dabei          vielleicht mehr Zeit geben können, sich      Die Verdreifachung der Bundeswehr
 mehr als nur eine Verteidigung der Bun-      auf den Verteidigungsfall vorzubereiten.   im Verteidigungsfall sah die Auffüllung
 desrepublik. Sie war sichtbarer Ausdruck
 der Bündnisverteidigung.

 Wer verteidigt Deutschland – und
 damit den Westen?

 In der Bundesrepublik waren bis zum
 Ende der Blockkonfrontation Streit-
 kräfte aus zahlreichen Partnerstaaten
 der NATO in unterschiedlichem Um-
 fang stationiert, insgesamt wohl mehr
 als eine Million Soldaten mit mehr als
 8000 Kampfpanzern. Die Kontingente
 waren von unterschiedlicher Qualität
 und auch nicht immer in den Regionen
 stationiert, in denen ihr Gefechtsstreifen
 liegen sollte: Die niederländischen Trup-
 pen beispielsweise waren zum Groß­
 teil in ihrem Heimatland stationiert,
 sollten aber im Verteidigungsfall einen
 Gefechtsstreifen südlich von Hamburg
 verteidigen. Ihr Aufmarsch wäre, wie bei
 anderen Kontingenten auch, damit eine
 erste große Herausforderung geworden.
   Bei der Bundeswehr war dies in Teilen
 anders: Die für die Verzögerung einge-
 planten hochpräsenten Verbände (Per-
 sonal- und Materialausstattung über
 90 Pro­zent), meistens Brigaden, waren
 vielfach an der damaligen innerdeut-
 schen Grenze stationiert. So lagen zum
                                                                                                                               ZMSBw/Heinemann

 Beispiel die Panzerbrigade 2 in Braun-
 schweig, die Panzerbrigade 6 in Hofgeis-
 mar/Hessen und die Panzergrenadierbri-
 gade 35 um Hammelburg in der Rhön.
 Sie wären umgehend einsatzbereit ge-
                                                           Einberufungsbescheid mit Kennwort »Brauner Fuchs«, Mai 1980.

                                                                 3
                     (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Gemeinsam abwehrbereit - Die Bedeutung der Landes- und Bündnisverteidigung - Bundeswehr
Militärgeschichte | Dossier
dpa/Süddeutsche Zeitung Photo

Übung für den Ernstfall: Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 der 5. Panzerdivision während des Manövers »Goldener Löwe« im Schwalm-Eder-
Kreis 1987.

zahlreicher personell nur teilweise be-                ­ llianz waren ständig einsatzbereit.
                                                       A                                             So hatte die Panzerbrigade 6 laut ih-
stehender, »gekaderter« und »Geräte-                   Gleiches galt für die Masse der Luft­an­    rem GDP 1987 den Auftrag, vor dem Vor-
einheiten« mit in Depots bereitgehalte-                griffs­kräfte und solche Verbände, die in   deren Rand der Verteidigung (VRV) der
nem Material vor. Zusätzlich hätte die                 die Nukleare Teilhabe der NATO einge-       2. Panzergrenadierdivision zwischen
Bundeswehr von zivilen Firmen Last-                    bunden waren.                               Göttingen und Eschwege »an der inner-
kraftwagen, Baugeräte und sonstiges                                                                deutschen Grenze [zur damaligen DDR]
notwendiges und hilfreiches Material                   Landesverteidigung konkret                  beginnend solange wie möglich, jedoch
bekommen sollen – dazu gab es entspre-                                                             mindestens 24 Stunden« den Gegner
chende Heranziehungsbescheide. Ob                      Die ersten Verbände des Heeres, die im      hinzuhalten und abzunutzen. Die Bri-
alles Gerät auch zur Verfügung gestan-                 Verteidigungsfall eingesetzt worden wä-     gade hätte neben ihren eigenen Trup-
den hätte, ist unklar. Tatsächlich hat die             ren, waren die Verzögerungsverbände.        pen (vier Kampftruppen- und ein Pan-
Bundeswehr nur einmal, 1988 in der                     Ihre Aufgabe war, mit hinhaltendem          zerartilleriebataillon) und den
Übung »Landesverteidigung 88«, in grö-                 Widerstand – Verteidigung, Gegenan-         Brigadeeinheiten (eine zusätzliche Pan-
ßerem Umfang die Mobilisierung von                     griff, Ausweichen etc. – den Gegner we-     zerpionierkompanie) einen zweiten
Reservisten und Gerät geübt.                           nigstens 24 Stunden aufzuhalten und         leichten Panzeraufklärungszug, einen
  Im Gegensatz zum Territorialheer und                 besser noch ebenfalls abzunutzen. Diese     Schwarm Panzerabwehrhubschrauber
den übrigen Heeressoldaten war die                     Verbände waren in der Regel kampf-          sowie einen Flugabwehrkampfverband
Luftverteidigung der NATO »24/7«, also                 starke Brigaden des Heeres, oftmals gar     mit einem guten Dutzend Flugabwehr-
rund um die Uhr, im Dienst. Die Luft­                  Panzerbrigaden, die mit der Einführung      kanonenpanzern Gepard erhalten. Mit
raumüberwachung, die Flugabwehr­ra­                    des Leopard 2 als besonders schlagkräf-     diesen Kräften hätte die Brigade das Ge-
ke­ten­truppe und die Jagdflieger der                  tig galten.                                 fecht aufnehmen sollen.

                                                                          4
                                (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
MILITÄRGESCHICHTE                                                                                          Militärgeschichte | 4/2019

   Die innerdeutsche Grenze ragte in die-    genheit geworden, was für die anschlie-        Der GDP ging davon aus, dass die
 ser Region pfeilförmig an den VRV he-       ßende Verteidigung am VRV ebenso             Feindkräfte schnell einen Übergang
 ran und war teilweise weniger als 5 Kilo-   zutraf.                                      über die 20 bis 30 Kilometer weiter west-
 meter von ihm entfernt. Damit war die          Nach der Verzögerung sollten die ver-     lich fließenden Werra und Weser errei-
 Verzögerung in diesem grundsätzlich         bliebenen Teile dieser Brigade als Re-       chen wollten. Dazu besaß die 3. Armee
 verteidigungsgünstigen, welligen und        serve des III. Korps eingesetzt werden;      der NVA mit ihren drei Divisionen (in
 bewaldeten Gelände schwierig.               mit Ausnahme ihres Panzerartillerie­         der NATO entsprach dies einem Korps)
                                             bataillons (»Artillerie bildet keine         756 Kampfpanzer T-55, 496 gepanzerte
 »Verzögerungsgefecht«                       ­Reserven!«). Für den Einsatz von Luft-      Transportfahrzeuge BTR 60/70 so-
                                              streitkräften im Close Air Support (Luft-   wie 282 Schützenpanzer BMP-1, 411 Ar-
 Um auf den Ernstfall vorbereitet zu sein,    nahunterstützung gegen Ziele am Bo-         tilleriegeschütze und 54 Mehrfachrake-
 hatte die Brigade schon zu Friedenszei-      den) hielt der GDP der Panzerbrigade 6      tenwerfer. Dem standen in der
 ten regelmäßig mit Geländeerkundun-          lapidar fest: »Die Zuweisung […] erfolgt    2. Panzergrenadierdivision insgesamt
 gen Stellungen zu identifizieren, aus        abhängig von den verfügbaren Mitteln        199 Kampfpanzer Leopard 1 und 2,
 denen heraus der Feind mit drei ge-                                                      108 Schützenpanzer Marder, 54 Panzer-
 mischten Panzerbataillonen bekämpft                                                      haubitzen 155 mm sowie 36 Feldhaubit-
 werden konnte. Ein weiteres Bataillon                                                    zen 155 (gezogen durch LKw) und
 wurde als Brigadereserve bereitgehal-          »Im Gefechtsstreifen                      203 mm (auf Selbstfahrlafette) und
 ten. Ebenso kannte die Artillerie der                                                    16 Mehrfachraketenwerfer gegenüber.
 Brigade ihre Feuerstellungsräume, um         der 2. Panzergrenadier­                     Die numerische Überlegenheit des An-
 über die ganze Breite des Gefechtsstrei-     division wird der Angriff                   greifers war mehr als offensichtlich und
 fens (immerhin 50 Kilometer!) »Unmit-                                                    wurde durch weitere Armeetruppen,
 telbare Feuerunterstützung« geben zu         von 5 Regimentern aus                       denen die Bundeswehr nichts Vergleich-
 können.                                       3 Motschützendivisio-                      bares entgegensetzen konnte, erdrü-
   Damit diese Verzögerung überhaupt                                                      ckender. Noch schlimmer wäre es ge-
 möglich werden konnte, waren weitere         nen in erster taktischer                    worden, wenn die mobilisierbare
 Vorbereitungen notwendig: Die in den            Staffel erwartet mit                     weitere Armee der NVA aus Mobilma-
 Verteidigungskreiskommandos vorhan-                                                      chungstruppenteilen und Unteroffizier-
 denen und regional zuständigen Wall-           Schwerpunkt südlich                       schulen als 2. Taktische Staffel auf dem
 meistertrupps hätten die vorbereiteten        Göttingen im Zuge der                      Gefechtsfeld angekommen wäre.
 Sperren, also bereits im Frieden präpa-                                                    Die Bundeswehr war zwar davon
 rierte Straßen- und Brückensprengun-             Enge Friedland.«                        überzeugt, dass sie moderne Kampfpan-
 gen, jetzt »geladen« und der Kampf-                GDP Panzerbrigade 6, 1987             zer besaß. Das traf insbesondere für den
 truppe übergeben. Diese hätte sie zur                                                    Leopard 2 mit seinen technischen Fä-
 passenden Zeit ausgelöst. Die Pionier-                                                   higkeiten zu. Dennoch gilt fraglos, dass
 kompanie der Brigade hatte weitere feld-                                                 die Masse der Kampfpanzer des War-
 mäßige Sperren anzulegen, um den                                                         schauer Paktes die höhere Qualität
 Feind auf wenige gut zu verteidigende       gemäß den […] gesetzten Prioritäten.         westlicher Gefechtsfahrzeuge ausgegli-
 Korridore zu kanalisieren. Dazu wären       Die Panzerbrigade 6 liegt nicht im           chen hätte.
 Wurfminensperren gekommen, die la-          Schwerpunkt.« (Panzerbrigade 6, Befehl         Der Durchbruch der Truppen des War-
 gebezogen schnell und effizient motori-     für die Verzögerung, GDP 1/87.) Damit        schauer Paktes durch den VRV war
 sierte Verbände blockieren konnten.         war wenig Hilfe aus der Luft zu erwar-       wahrscheinlich. Deswegen besaßen da-
 Wichtig wäre aber ebenso die Freihal-       ten.                                         mals in der NATO taktische Atomwaf-
 tung von Gewässerübergängen gewe-                                                        fen, zum Beispiel der Divisionsartillerie,
 sen, über die die eigenen Kräfte im Zuge    Der Feind                                    eine besondere Bedeutung. Sie hätten
 der Verzögerung hätten ausweichen                                                        einen solchen Durchbruch beenden
 müssen. Nicht umsonst hatte die Bun-        Alle Planungen zur Landesverteidigung        können, zugleich aber im Rahmen der
 deswehr damals vielfältig spezialisierte    richteten sich an den konventionellen        NATO-Strategie der »Flexiblen Ant-
 Pionierkräfte. Weiterhin war die Versor-    Streitkräften des Warschauer Paktes aus,     wort« fraglos eine Eskalation bedeutet.
 gung der Brigade mit Munition, Treib-       die den Kräften der NATO erheblich           (siehe Beitrag Abschreckung) Mögli-
 stoff und weiteren Versorgungsgütern        überlegen waren – wenigstens auf dem         cherweise, dazu schweigen sich die
 aus vorgeschobenen Depots bereits im        Papier und in der damaligen Ȇbungs-         Quellen aus, obwohl Zeitzeugen solche
 Frieden geplant.                            gliederung ROT«. Dies spiegelt sich im       Gedanken erwähnen, hätte die NATO
   Insgesamt wäre also schon das Verzö-      GDP der Panzerbrigade 6 aus dem Jahr         mit einem demonstrativen Atomwaf-
 gerungsgefecht eine komplexe Angele-        1987 wider.                                  feneinsatz, zum Beispiel einem soge-

                                                                 5
                     (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Militärgeschichte | Dossier

nannten Airburst über der menschenlee-                    Fragen blieben – zum Glück – im Kalten                     Logistik als Waffe
ren Ostsee, ein Signal setzen und den                     Krieg unbeantwortet, denn es kam nicht
Gegner zur Einstellung der Kampfhand-                     zu einem großen Kriegsszenario zwi-                        Zuletzt ein paar Anmerkungen zur
lungen bewegen wollen.                                    schen den Machtblöcken.                                    Komplexität der Landesverteidigung im
                                                            Nach dem Fall der Berliner Mauer und                     Kalten Krieg: Für die Armee der 500 000
Friktionen                                                der deutschen Wiedervereinigung hat-                       aktiven Soldaten und das Heer der
                                                          ten sich solche Fragen dann scheinbar                      Wehrpflichtigen gab es bis in die späten
Die angesprochene konventionelle Un-                      rückstandslos aufgelöst. Deutschland                       1980er Jahre hinein Sonderzüge. Diese
terlegenheit der NATO, die im Kampf-                      war »umzingelt von Freuden«, wie Bun-                      fuhren die Wehrpflichtigen an den Wo-
gebiet lebende Bevölkerung, Prob-                         desverteidigungsminister Volker Rühe                       chenenden im regulären Fahrplan der
leme beim Aufmarsch und die hohe                          es in den 1990er Jahren formulierte.                       Deutschen Bundesbahn zehn Minuten
Abhängigkeit der Bundeswehr von                           Dass sich die Zeiten heutzutage grundle-                   vor dem eigentlichen Intercity aus den
ihren Reservisten für ein Funktionie-                     gend geändert haben und militärische                       Stationierungsräumen in die Heimat.
ren im Krieg wären die augenfälligsten                    Macht wieder zu einem Mittel der Poli-                     Für den Bahntransport von Kettenfahr-
Schwachpunkte in einem heißen Krieg                       tik in Europa geworden ist, kann jeder                     zeugen der Bundeswehr hielten die
gewesen.                                                  täglich im Fernsehen sehen. Der lateini-                   Bun­  desbahn und zahlreiche kleinere
  Die größte Unbekannte lag aber im                       sche Grundsatz »Si vis pacem, para bel-                    Privat­bahnen tausende Flachwagen vor.
Wesen des Krieges: Würde die im GDP                       lum« ist damit keine Modewendung                           Die Panzertruppe übte damals auch das
umfassend geplante Verteidigung funk-                     mehr, sondern offensichtlich das Gebot                     Verlassen solcher Flachwagen außerhalb
tionieren – nicht nur bei den deutschen,                  der Stunde. Die Verteidigung der NATO                      der Verladestellen nach dem Motto:
sondern auch bei den alliierten Trup-                     kann man planen. Historische Anleihen                      Turm auf 3 Uhr, Hochachsdrehung um
pen? Wie würde der Gegner handeln,                        sind, bei aller Zurückhaltung hinsicht-                    90 Grad und dann langsam herunter-
wenn der schnelle Erfolg versagt bliebe?                  lich der Vergleichbarkeit, reichlich vor-                  fahren. Zahlreiche Schulen und Kaser-
Der Warschauer Pakt besaß riesige Vor-                    handen, das technische Gerät im Prinzip                    nen waren als Hilfskrankenhäuser iden-
räte an Atom- und Chemiewaffen und                        auch. Die dazu notwendige Verteidi-                        tifiziert und wären im Verteidigungsfall
hatte das Gefecht unter den Bedingun-                     gungsbereitschaft eines Volkes wird der-                   als solche genutzt worden.
gen ihres Einsatzes immer wieder geübt.                   zeit beispielhaft durch die Bevölkerung                      Für Bundes-, Landes- und sonstige Re-
Wäre ein solches Szenario möglich? Und                    der Ukraine demonstriert. Militärisch                      gierungen gab es Ausweichsitze, teil-
würde die NATO im Krisenfall zu den                       gesehen aber bleibt ein Prinzip beste-                     weise unter Schulen oder an entlegenen
Atomwaffen greifen? Welche Reaktion                       hen: Gleichgültig was vorbereit wird,                      Orten. (siehe Beitrag Zivile Verteidi-
wäre wiederum darauf gefolgt? Diese                       »am zweiten Tag wird geführt!«                             gung) Die Militäraufklärung Ost der Na-

                                                     Das Luftverteidigungssystem der NATO

                                                          AWACS

                                                                                                                                            Obere FlaRak-Zone

                                                             CRC

                                                                                                                  Untere FlaRak-Zone

                                           CRC
                                           SOC

   CRC = Control and Reporting Centre =                                            CRC
         Radar-Flugmelde- und
         Leitzentrale
   SOC = Sector Operations Centre =
         Sektor-Einsatzzentrale
                                     LV-Gefechts-         Flug-     Fla-Raketen           Fla-Raketen                                                 Tieffliegermelde-
                  Jagdflugzeuge         stände            plätze       Patriot                Nike          Fla-Raketen Hawk                           und -leitdienst

 Quelle: Weißbuch 1985, Zur Lage und Entwicklung der Bundeswehr. Im Auftrag der Bundesregierung, herausgegeben vom Bundesminister der Verteidigung.
                                                                                                                                                                   © ZMSBw
                                                                                                                                                                   09255-03

                                                                                    6
                          (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
MILITÄRGESCHICHTE

 Das neue Vorfeld: Einsatzkarte über die Stationierung der Enhanced Forward Presence Battle Groups (EFP).

 tionalen Volksarmee und die Stasi der         ben kann. Eine nahtlose Verteidigungs-
 DDR wussten allerdings recht genau, wo        linie wie die der früheren Schichttorte,         Oberstleutnant Dr. Heiner Möllers
 sich diese befanden. Und sie wussten          bei der ein Angreifer sofort auf eine            ist wissenschaftlicher Mitarbeiter
 auch, wo die Sonderwaffenlager (Special       Allianz verbündeter Staaten trifft, wird         der Abteilung Bildung am Zentrum
 Ammunition Sites, SAS) in der Bundes-         sich indes an der Ostgrenze der NATO             für Militärgeschichte und Sozial­
 republik Deutschland waren.                   aus drei Gründen nur schwerlich auf-             wissenschaften. Im Schwerpunkt
                                               bauen lassen: Es fehlt jetzt die Zeit, die       forscht er zur Geschichte der Bundes-
 Und heute?                                    Ausrüstung und das Personal, um eine             wehr und den Verteidigungsplanungen
                                               derartige tragfähige oder gar lückenlose         im Kalten Krieg.
 All das gibt es heute nicht mehr. Dafür       Verteidigung aufbauen zu können. Er-
 hat die Bundesrepublik Deutschland            satzweise wäre die Stationierung wei-
 heute ein Vorfeld in Ostmitteleuropa.         terer Kräfte an der Ostflanke der NATO        Literaturtipps
 In diesen Staaten, unter anderem Polen        ein deutliches politisches und militäri-      Gerd Bolik, NATO-Planungen für die Vertei­
 und den baltischen Staaten, stellt man        sches Signal, das ein Funktionieren der       digung der Bundesrepublik Deutschland im
 sich nun zu Recht die Frage nach den          Abschreckung ermöglichen könnte. Für          Kalten Krieg, Berlin 2021.
 verfügbaren Mitteln und dem Willen            den Zusammenhalt der NATO wäre es             Siegfried Lautsch, Kriegsschauplatz Deutsch­
 der Partner zur Landesverteidigung, die       zudem unverzichtbar.                          land. Erfahrungen und Erkenntnisse eines
 nur im Bündnis Aussicht auf Erfolg ha-                                                      NVA-Offiziers, Potsdam 2013.

                                                                    7
                      (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Militärgeschichte | Dossier

Die nukleare Teilhabe der Bundeswehr

Politik                                                                 Verfahren
Über die politischen Folgen und tatsächlichen Auswirkungen ei-          Im Verteidigungsfall hätten militärische Befehlshaber ab der Stel-
nes Nuklearwaffeneinsatzes für das Einsatzgebiet war man sich           lung eines kommandierenden Generals eines Korps den Einsatz
in der NATO frühzeitig im Klaren. Deswegen initiierten die USA          von Nuklearwaffen in ihrem Gefechtsstreifen fordern können. Die
Anfang der 1960er Jahre innerhalb der NATO ein Gremium, das             Genehmigung für diesen Einsatz lag beim Präsidenten der USA,
über die Nuklearwaffenpolitik beraten sollte. Ab 1966/67 entstand       der dieses Recht jedoch auf verschiedene amerikanische NATO-
die Nukleare Planungsgruppe (NPG). Ihr gehörten als ständige            Kommandeure in Europa delegiert hatte – auch um ein solches
Mitglieder die USA, Großbritannien sowie Italien und die Bundes-        Verfahren zu beschleunigen.
republik Deutschland an. Nichtständige, rotierende Mitglieder wa-
ren unter anderem die Niederlande, Belgien und die Türkei. In der       Technik
NPG entstanden 1969 die Provisional Political Guidelines, die den       In der NATO besaßen seit dem Ausscheiden Frankreichs 1966 aus
Einsatz von Nuklearwaffen durch die NATO einem politischen Re-          dem integrierten militärischen Kommando der NATO allein die
gelwerk unterwarfen. Der Einsatz sollte nur nach Beratungen und         USA und Großbritannien Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen.
Konsultationen möglich sein, wenn die Nuklearmacht USA unter            Die USA halten in Europa taktische Nuklearwaffen bereit und in
Beteiligung der Staaten, von deren Territorium aus und auf dessen       ­Special Ammunition Sites unter Verschluss. Mehrere NATO-Staa-
Territorium solche Waffen eingesetzt werden würden, zu einem             ten, unter anderem die Bundesrepublik Deutschland, verfügen
Einvernehmen gekommen wären. Die NPG besteht bis heute und               über die notwendigen Trägermittel. Die Bundeswehr besitzt bis
soll als hochrangiges Gremium Gewähr dafür geben, dass ein Nu-           heute Jagdbomber und sie besaß bis 1991/92 Flugabwehrraketen
klearwaffeneinsatz der NATO nie von einem Mitgliedstaat alleine          vom Typ Nike Hercules, ballistische Raketen vom Typ Pershing Ia,
beschlossen und realisiert werden kann.                                  taktische Raketen vom Typ Lance sowie Haubitzen der Kaliber 155
                                                                         und 203 mm, die alle für den Einsatz von Nuklearmunition geeig-
                                                                         net waren.

                                                                                                                                       Bundeswehr/Stefan Petersen

Nuklearfähig: das Kampfflugzeug vom Typ Panavia 200 Tornado Interdiction Strike.

                                                                    8
                   (c) 2022 Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Sie können auch lesen