Erwerbstätigenpotenzial besser ausschöpfen - Helmut Rainer und Andreas Peichl - ifo Institut

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WIRTSCHAFTSPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF – ERWERBSTÄTIGENPOTENZIAL AUSSCHÖPFEN

                       Helmut Rainer und Andreas Peichl

                       Erwerbstätigenpotenzial besser
                       ausschöpfen

                                                                                     gen der Bevölkerungsalterung für das Wirtschafts-
DIE AGENDA AUF EINEN BLICK                                                           wachstum entgegenzuwirken. Dazu gehören neben
                                                                                     einer Förderung von privaten und öffentlichen Inves-
                                                                                     titionen einschließlich Bildungsinvestitionen und der
Die sozialen Sicherungssysteme müssen reformiert wer-                                Förderung der Zuwanderung von Fachkräften, die in
den, damit sie im demografischen Wandel finanzierbar                                 anderen Beiträgen aufgegriffen werden (Wößmann
bleiben. Es gilt, das Erwerbspersonenpotenzial auf dem Ar-                           2021; Poutvaara 2021), Maßnahmen zur Verbes-
                                                                                     serung der Arbeitsangebotsanreize insbeson-
beitsmarkt besser auszuschöpfen. Durch eine Verbesserung
                                                                                     dere für Frauen sowie für Arbeitnehmer*innen im
der Kinder­t agesbetreuung und den Umbau des Ehegatten-                              Niedrigeinkommenssegment.
splittings sollte die Politik insbesondere die Frauen- und
Mütter­erwerbstätigkeit fördern. Um Anreize für Arbeit-                              ANREIZE FÜR DIE ERHÖHUNG DER FRAUEN- UND
nehmer*innen im Niedrigeinkommenssegment zu schaf-                                   MÜTTERERWERBSTÄTIGKEIT SETZEN
fen, müssen die bestehenden Hartz-IV-Hinzuverdienstrege-
                                                                                     Schon vor der Coronakrise war es aufgrund der Alte-
lungen ausgeweitet und die hohen Grenzbelastungen beim
                                                                                     rung der Bevölkerung und des damit einhergehenden
Hinzuverdienst reduziert werden. So könnte der zukünftige                            Fachkräftemangels und sinkenden Wachstumspoten-
fiskalische Spielraum erhöht und für mehr Gleichberechti-                            zials von großer Bedeutung, vorhandene Produktivi-
gung und Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt gesorgt werden.                               tätspotenziale zu steigern. Steigerungsmöglichkeiten
                                                                                     lagen vor allem auch darin, Hemmnisse gegen die Aus-
                                                                                     weitung der Frauen- und Müttererwerbstätigkeit ab-
                          Durch den demografischen Wandel wird die Erwerbs-          zubauen: Zwar lag Deutschlands Frauenerwerbsquote
                          bevölkerung in Deutschland in den kommenden Jah-           in Vor-Corona-Zeiten über dem EU-Durchschnitt, je-
                                            ren stetig sinken, während die           doch arbeitete fast jede zweite Frau in Teilzeit und
                                            Zahl der Rentner*innen zunimmt.          mit durchschnittlich 30,5 Stunden pro Woche ca. vier
                                             Die Alterung der Bevölkerung            Stunden weniger als etwa Frauen in Schweden oder
                                               beeinträchtigt das Wirtschafts-       Frankreich (vgl. Abb. 1). Speziell der Übergang zur El-
                                               wachstum auf unterschiedliche         ternschaft spielte hierfür eine entscheidende Rolle, da
                                               Art und Weise. Zum einen geht         in Deutschland Frauen ihren Erwerbsarbeitsumfang
                                              das Arbeitsangebot zurück, weil        nach der Geburt eines Kindes im internationalen Ver-
  Prof. Helmut Rainer, Ph.D.                es immer weniger Menschen im             gleich überproportional stark einschränkten.
leitet das ifo Zentrum für Arbeits-         Erwerbs­alter gibt. Zum anderen                Das Pandemiejahr hatte einschneidende Aus-
markt- und Bevölkerungsökono-               verändert sich die Bereitschaft zu       wirkungen auf die Frauenerwerbstätigkeit sowie die
mik und ist Professor für Volks-            Investitionen und Innovationen.          geschlechtsspezifische Arbeitsteilung von Eltern. Im
wirtschaftslehre, insbesondere
Sozialpolitik und Arbeitsmärkte,            Verschiedene Studien kommen              Gegensatz zu den großen Wirtschaftskrisen der Ver-
an der Ludwig-Maximilians-Uni-              zu dem Ergebnis, dass auch die           gangenheit, die typischerweise als »Mancessions« in
versität München.                           Arbeitsproduk­tivität sinkt. Gleich-     die Geschichte eingingen, wird die Covid-19-Rezes-
                                              zeitig ist die Aufrechterhaltung       sion weithin als eine »Shecession« bezeichnet, da im
                                               des Wir tschaf tswachstums            Gros der entwickelten Länder Frauen größere nega-
                                               schon deshalb von zentraler           tive Auswirkungen auf ihre Beschäftigung erfuhren
                                              Bedeutung, weil eine schrump-          als Männer (Alon et al. 2021). Generell spielten dabei
                                             fende Zahl von Erwerbstätigen           zwei Faktoren eine herausragende Rolle: (i) Branchen
  Prof. Dr. Andreas Peichl
                                            eine wachsende Zahl von Rent-            und Berufe, in denen Frauen überrepräsentiert sind,
leitet das ifo Zentrum für Makro­           ner*innen versorgen muss, jeden-         waren besonders stark von der Coronakrise betroffen;
ökonomik und Befragungen                    falls soweit die Alterseinkommen         (ii) der Bedarf an familialer Kinderbetreuung während
und ist Professor für Volkswirt-
schaftslehre, insbesondere                  auf den umlagefinanzierten sozi-         der Schließung von Schulen und Kindertagesstät-
Makroökonomie und Finanzwis-                alen Sicherungssystemen beru-            ten wurde primär von Müttern gedeckt. In Deutsch-
senschaft, an der Ludwig-Maximi-            hen und nicht durch Ersparnisse          land dominierte der zweite Faktor: Der Einbruch der
lians-Universität München.
                                            gedeckt sind. Die Politik hat ver-       Corona-Pandemie führte zwar weder bei Männern
                                            schiedene Möglichkeiten, den Fol-        noch bei Frauen zu einem signifikanten Rückgang

                   6   ifo Schnelldienst   7 / 2021   74. Jahrgang   14. Juli 2021
WIRTSCHAFTSPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF – ERWERBSTÄTIGENPOTENZIAL AUSSCHÖPFEN

Abb. 1                                                                                        Um dem entgegenzuwirken und um Hemmnisse
Weibliche Erwerbsbeteiligung                                                             gegen die Ausweitung der Frauen- und Müttererwerbs­
Erwerbsquoteᵃ                                                                            tätigkeit im Allgemeinen abzubauen, bestehen poli­
  Schweden
                                                                                         tische Interventionsmöglichkeiten in zwei zentra­
Niederlande                                                                              len Handlungsfeldern: Kinderbetreuung und Ehe-
Deutschland                                                                              gattensplitting.
 Frankreich
     Italien
      EU 15                                                                              In die Quantität und insbesondere Qualität der
                  0          20          40           60            80       100         Kindertagesbetreuung und Ganztagsbetreuung
                                                                         Anteil in %     von Schulkindern investieren
Teilzeitbeschäftigungᵇ

Niederlande                                                                              Erwiesenermaßen fördern Investitionen in die Kin-
Deutschland                                                                              derbetreuungsinfrastruktur die Erwerbstätigkeit von
  Schweden
     Italien                                                                             Müttern: Der Ausbau von Kindergartenplätzen für Drei-
 Frankreich                                                                              bis Sechsjährige in Deutschland von 1996 an hat mehr
      EU 15
                                                                                         Mütter in Arbeit gebracht (Bauernschuster und Schlot-
                  0               20           40              60            80          ter 2015), und auch der Ausbau der Krippenplätze von
                                                                         Anteil in %
                                                                                         2005 an hat positive Effekte auf die Erwerbstätigkeit
Wochenarbeitsstundenᶜ
                                                                                         von Müttern entfaltet (Müller und Wrohlich 2020). Ne-
  Schweden                                                                               ben der Förderung der Vereinbarkeit von Familie und
 Frankreich
                                                                                         Beruf hat der Krippenausbau auch zu einer Steigerung
     Italien
Deutschland                                                                              der Geburtenrate beigetragen (Bauernschuster et al.
Niederlande                                                                              2016) und die Entwicklung von Kindern vor allem aus
      EU 15
                                                                                         benachteiligten Herkunftsverhältnissen unterstützt
                  0               10           20              30            40          (Felfe und Lalive 2018).
                                                                           Stunden
ᵃ Prozentualer Anteil der Frauen im erwerbsfähigen Alter von 15–64 Jahren an der
                                                                                              Trotz aller Verbesserungen in den letzten Jahren
weiblichen Bevölkerung von 15–64 im Jahr 2016.                                           weist die Kinderbetreuungsinfrastruktur hinsichtlich
ᵇ Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen an allen weiblichen Beschäftigten im Alter
von 15–64 Jahren im Jahr 2016.                                                           Quantität und insbesondere Qualität nach wie vor
ᶜ Durchschnittlich von Frauen normalerweise geleistete Wochenarbeitsstunden in           eklatante Schwächen auf. Bezogen auf die Quantität ist
Haupttätigkeit im Jahr 2016.
Quelle: Endl-Geyer und Meier (2019).                                    © ifo Institut   der Betreuungsbedarf von Eltern mit Kindern unter drei
                                                                                         Jahren vor allem in Westdeutschland weit davon ent-
                                                                                         fernt, gedeckt zu sein: Während sich 46,6% der Eltern
der Erwerbsquote, jedoch gingen die geleisteten Ar-                                      2019 einen Betreuungsplatz für ihr Kind wünschten,
beitsstunden von Frauen aufgrund der erschwerten                                         lag die Betreuungsquote lediglich bei 30,3%, woraus
Vereinbarkeit von Familie und Beruf drastisch zurück                                     sich eine Lücke zwischen Betreuungsnachfrage und
(Alon et al. 2021; Immel et al. 2021).                                                   -angebot von 16,3 Prozentpunkten ergibt.1 Dazu schät-
     Alon et al. (2021) heben in ihrer Studie hervor,                                    zen viele Eltern vorhandene Betreuungsangebote hin-
dass sich ein wichtiger Unterschied zwischen den                                         sichtlich geografischer Passgenauigkeit und zeitlicher
»Mancessions« der Vergangenheit und der »Sheces-                                         Flexibilität als unzureichend ein (Jessen et al. 2020). Im
sion« der Gegenwart aus der unterschiedlichen Dy-                                        Zeitvergleich zeigt sich auch, dass die Dynamik im Auf-
namik des Arbeitsangebots von Frauen und Männern                                         bau einer bedarfsgerechten institutionellen Kinderta-
ergibt. Wenn Männer in einer Rezession ihre Beschäf-                                     gesbetreuung auf halber Strecke komplett zum Erliegen
tigung verlieren, haben sie aufgrund ihres unelasti-                                     gekommen ist: In Westdeutschland lag die Differenz
schen Arbeitsangebots bei einer konjunkturellen Er-                                      zwischen Betreuungsbedarf und Betreuungsquote seit
holung eine relative hohe Wahrscheinlichkeit, in die                                     2012 konstant zwischen 15 und 20 Prozentpunkten und
Vollzeitbeschäftigung zurückzukehren. Im Gegensatz                                       ist seit 2018 sogar wieder angestiegen (BMFSFJ 2019).
dazu ist es aufgrund ihres elastischeren Arbeitsan-                                           Als die zentralen Qualitätsprobleme der institu­
gebots eher wahrscheinlich, dass Frauen bei einem                                        tionellen Kindertagesbetreuung lassen sich ein gravie-
rezessionsbedingten Verlust ihrer Beschäftigung oder                                     render Personalmangel an Kitas und eine bundesweit
einer Reduktion ihres Arbeitszeitumfangs danach dem                                      sehr unterschiedliche Qualifikation des Kita-Perso-
Erwerbsleben länger fernbleiben oder in einem ver-                                       nals benennen. Bundesweit stand 2019 für 74% der
ringerten Arbeitszeitregime verharren. Gesamtwirt-                                       Kinder in amtlich erfassten Kita-Gruppen nicht genü-
schaftlich bedeutet das, dass in einer Shecession, in                                    gend Fachpersonal zur Verfügung, wobei dies in West-
der sich die Reduktion der Beschäftigung auf Frauen                                      deutschland 69% und in Ostdeutschland 93% der be-
konzentriert, der Rückgang des gesamten Arbeitsan-                                       treuten Kinder betraf (Bock-Famulla et al. 2020). Dazu
gebots persistent anhalten und sich auch während                                         waren bundesweit 54% aller erfassten Kita-Gruppen
einer konjunkturellen Erholung weiterhin auf Frauen                                      zu groß. Problematisch ist das vor dem Hintergrund,
konzentrieren kann.                                                                      1
                                                                                           In Ostdeutschland lag 2019 die Differenz zwischen Betreuungsbe-
                                                                                         darf (61,5%) und Betreuungsquote (52,1%) bei 9.4 Prozentpunkten.

                                                                                                           ifo Schnelldienst   7 / 2021   74. Jahrgang   14. Juli 2021   7
WIRTSCHAFTSPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF – ERWERBSTÄTIGENPOTENZIAL AUSSCHÖPFEN

    dass Eltern dem Faktor Gruppengröße eine große Be-            einheit vor und ist bei gegebenem Arbeitsangebot des
    deutung bei der Entscheidung über die Nutzung einer           Erstverdieners aufgrund der Steuerprogression mit re-
    Kindertagesbetreuung beimessen (Jessen et al. 2020).          lativ hohen Grenzeinkommenssteuersätzen des Zweit-
    Beim Blick auf die Qualifikation des Kita-Personals           verdieners verbunden. Wechselt zum Beispiel eine
    ist ein deutliches Ost-West-Gefälle erkennbar: In Ost-        Frau, die einen durchschnittlichen Bruttostundenlohn
    deutschland ist der Anteil des als Erzieher*innen aus-        verdient und mit einem vollzeitbeschäftigen Mann
    gebildeten Personals mit 82% um 16 Prozentpunkte              verheiratet ist, von einer Nichterwerbstätigkeit in
    höher als in Westdeutschland, wo deutlich mehr Kita-          eine Teilzeitbeschäftigung mit 25 Arbeitsstunden pro
    Personal auf Assistenzniveau arbeitet.                        Woche, so beträgt ihr Grenzsteuersatz in Deutschland
         Erforderlich ist daher eine dreigliedrige politische     etwa 50%, wohingegen ihr neu erzieltes Einkommen
    Strategie, die aus einem Bündnis von Bund, Länder             in Ländern wie Schweden oder den USA mit einem
    und Kommunen umgesetzt werden sollte. Erstens muss            Grenzsteuersatz von unter 30% deutlich geringer be-
    der Ausbau der institutionellen Kindertagesbetreuung          lastet wäre (Bick und Fuchs-Schündeln 2018). Damit
    konsequent vorangetrieben werden, so dass der von             begünstigt das Ehegattensplitting die Spezialisierung
    Eltern geäußerte Betreuungsbedarf gedeckt wird. Die           in der Ehe im Sinne der Erwerbstätigkeit des einen
    Betreuungsangebote müssen sich räumlich passgenau             Partners und der häuslichen Sorgearbeit durch den
    und zeitlich flexibel an den Bedürfnissen von Eltern und      anderen Partner und wirkt politischen Zielen wie
    ihrer Kinder ausrichten. Zweitens bedarf es einer poli­       der Gleichberechtigung der Geschlechter und der
    tischen Offensive zur Gewinnung von pädagogischen             Ver­einbarkeit von Familie und Beruf entgegen (Wis-
    Fachkräften an Kitas. Der Abbau der Personalmisere            senschaftlicher Beirat beim BMF 2018). Das Zusam-
    an Kitas wird nicht ohne ökonomische Anreize wie eine         menspiel der Einkommensbesteuerung mit den Re-
    deutlich bessere Bezahlung von pädagogischen Fach-            gelungen zur geringfügigen Beschäftigung und zur
    kräften funktionieren. Drittens bedarf es bundesein-          beitragsfreien Mitversicherung von Ehepartnern in
    heitlicher Qualifikationsstandards für pädagogische           der gesetzlichen Krankenversicherung verstärkt die
    Fachkräfte, die flankiert von attraktiveren Ausbildungs-      Auswirkungen des Ehegattensplittings auf die Arbeits-
    rahmenbedingungen eingeführt werden sollten.                  teilung zwischen verheirateten Frauen und Männern.
         Expert*innen weisen schon lange auf die Not-                  Eine große Verringerung der Abgabenbelastung
    wendigkeit hin, einen bedarfsgerechten Ausbau von             des Einkommens von Ehefrauen ließe sich erreichen,
    Ganztagsschulen voranzutreiben, die Eltern eine               indem man vom Ehegattensplitting zu einem System
    Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen,              der individuellen Besteuerung wie in vielen OECD-Län-
    die Gleichberechtigung von Frauen und Männern                 dern übergeht. Anhand eines quantitativ makroöko­
    fördern, zur Fachkräftesicherung beitragen und Kin-           nomischen Modells ermitteln Bick und Fuchs-Schün-
    dern Entwicklungs- und Bildungschancen auch im au-            deln (2017), dass in Deutschland bei einem Übergang
    ßerschulischen Bereich bieten (BMFSFJ 2012). Es ist           von dem derzeitigen System gemeinsamer Besteue-
    daher aus ökonomischer Perspektive begrüßenswert,             rung auf ein System getrennter Besteuerung verhei-
    dass Grundschulkinder nach jüngstem Beschluss des             ratete Frauen ihre Arbeitsstunden um 25% ausweiten
    Bundeskabinetts ab August 2026 einen rechtlichen An-          würden.
    spruch darauf haben werden, ganztägig gefördert und                Aus verfassungsrechtlichen Gründen lässt sich
    betreut zu werden. Aufgrund des sich abzeichneten             das Ehegattensplitting allerdings nicht einfach durch
    Lehrkräftemangels im Primarbereich besteht jedoch             eine Individualbesteuerung ersetzen. Eine zulässige
    die Gefahr, einen nicht umsetzbaren Rechtsanspruch            Alternative, um die negativen Erwerbsanreize für
    geschaffen zu haben. Schon vor dessen Beschluss hat           verheiratete Zweitverdiener*innen zu verringern,
    die Kultusministerkonferenz den Bedarf an zusätzli-           wäre, das Ehegattensplitting zu einem gedeckelten
    chen Lehrkräften, der in den kommenden Jahren in              Real­s plitting umzubauen (Wissenschaftlicher Bei-
    der Primarstufe anfällt, um 42% unterschätzt (Klemm           rat beim BMF 2018). Dadurch würde man de facto
    und Zorn 2019). Erforderlich sind daher kurz- und             eine In­d ividualbesteuerung mit Unterhaltsabzug
    mittelfristige Strategien, die den sich abzeichnenden         impl­ementieren. Je näher dabei der Unterhaltsab-
    Lehrkräftemangel im Primarbereich abfedern. Dazu              zugsbetrag dem Grundfreibetrag für Erwachsene
    zählen Maßnahmen und Anreize zur Steigerung des               angepasst wird, desto größer fallen die positiven
    Beschäftigungsumfangs von aktiven Lehrkräften und             Beschäftigungs­effekte aus (Bonin et al. 2013). Des-
    Interventionen zur Gewinnung, Qualifikation und Inte-         halb empfiehlt sich bei einer Einführung eines ge-
    gration von Seiteneinsteigern (Klemm und Zorn 2018).          deckelten Realsplittings eine gleichzeitige Erhöhung
                                                                  des Grundfreibeitrags.
    Einkommensteuerrechtliche Anreize zur                              Weitere positive Erwerbsanreize für verheiratete
    Spezialisierung auf Erwerbs- und Sorgearbeit in               Zweitverdiener*innen ließen sich erzielen, wenn der
    der Ehe abbauen                                               Umbau des Ehegattensplittings zu einem gedeckelten
                                                                  Realsplitting von der Abschaffung von Mini-/Midijobs
    Das in Deutschland für Verheiratete angewendete               und einer Reform der Abgabepflichten von Ehepart-
    Ehegattensplitting sieht die Familie als Besteuerungs-        nern im Bereich der sozialen Sicherungssysteme be-

8   ifo Schnelldienst   7 / 2021   74. Jahrgang   14. Juli 2021
WIRTSCHAFTSPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF – ERWERBSTÄTIGENPOTENZIAL AUSSCHÖPFEN

gleitet würde (Wissenschaftlicher Beirat beim BMF         buster gegenüber dem demografischen Wandel zu
2018; Blömer et al. 2021).                                machen. Die hitzigen und kontroversen Diskussionen
                                                          über mögliche Rentenreformen zeigen, dass andere
BESCHÄFTIGUNGSHINDERNISSE IM TRANSFER-                    Wege leichter umsetzbar sein könnten. Hier gilt es,
SYSTEM ABBAUEN: DIE TEILZEITFALLE                         insbesondere das Erwerbstätigenpotenzial auf dem
                                                          Arbeitsmarkt besser auszuschöpfen und so Effizienz-
Negative Arbeitsanreize nicht nur für Frauen bzw.         gewinne zu heben. Dies befreit die Politik zwar nicht
Zweitverdiener*innen, sondern auch für Männer             von dringend notwendigen Rentenreformen (siehe
entstehen durch die hohen Grenzbelastungen beim           Wissenschaftlicher Beirat beim BMF 2020; Wissen-
Hinzuverdienst (Bruckmeier et al. 2018). Aus diesem       schaftlicher Beirat beim BMWi 2021; Ragnitz, Rösel
Grund hat das ifo Institut im Februar 2019 einen ei-      und Thum 2021), eröffnet aber weitere Spielräume.
genen Reformvorschlag vorgelegt, der sich darauf              Aus arbeitsmarktökonomischer und finanzwis-
konzent­r iert, die Beschäftigungsanreize des Grund­      senschaftlicher Sicht gibt es hierfür vier konkrete
sicherungssystems zu verbessern (Blömer et al.            Ansatzpunkte:
2019a). Ziel des Vorschlags ist es, Fehlanreize abzu-
bauen, die Empfänger von Grundsicherung derzeit           1.    Kinderbetreuung verbessern,
daran hindern, höhere eigene Einkommen zu erzie-          2.    Fehlanreize durch Ehegattensplitting beseitigen,
len, und die Abhängigkeit von Transfers zu überwin-       3.    Teilzeitfalle beseitigen und
den oder wenigstens zu reduzieren. Damit die Be-          4.    die Potenziale der Zuwanderung ausnutzen.
troffenen der Niedrigeinkommensfalle entkommen
können, muss Arbeit sich lohnen. Aus unserer Sicht        Simulationsrechnungen und Untersuchungen aus an-
liegt genau hier das Hauptproblem: Die bestehen-          deren Ländern zeigen, dass es sich hier – bei richtiger
den Hartz-IV-Hinzuverdienstregelungen bevorzugen          Ausgestaltung – um sich mehr als selbstfinanzierende
Kleinstjobs bis 100 Euro, während es darüber hinaus       Reformen handelt, die den zukünftigen fiskalischen
selten lohnenswert ist, die Arbeitszeit auszuweiten       Spielraum erhöhen und gleichzeitig für mehr Gleichbe-
(Peichl et al. 2017; Bruckmeier et al. 2018a). Ein sol-   rechtigung und Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt sorgen.
ches System ist schädlich, denn es bestraft Leistung      Gegen solche Reformen kann doch im 21. Jahrhundert
dort, wo sie sich besonders lohnt: wenn man durch         nichts mehr sprechen?!
eigene Anstrengung der Abhängigkeit von Transfers
entkommen will. Obwohl gerade die Hartz-Reformen          REFERENZEN
das Ziel hatten, die Anreize zur Arbeitsaufnahme zu       Alon, T., S. Coskun, M. Doepke, D. Koll und M. Tertilt (2021), »From
verbessern, ist das Problem hoher impliziter Grenz-       Mancession to Shecession: Women’s Employment in Regular and Pande-
                                                          mic Recessions«, National Bureau of Economic Research, Working Paper
steuerbelastung von niedrigen Einkommen nach wie          28632.
vor nicht befriedigend gelöst.                            Bauernschuster, S., T. Hener und H. Rainer (2016), »Children of a (Policy)
     Bei einer Reform der Transferentzugsraten sind       Revolution: The Introduction of Universal Childcare and its Effect on
                                                          Fertility«, Journal of the European Economic Association 14(4), 975–1005.
verschiedene Varianten denkbar. Da eine Besserstel-
                                                          Bauernschuster, S. und M. Schlotter (2015), »Public Child Care and Mo-
lung aller Haushalte im Vergleich zum Status quo nur      thers’ Labor Supply – Evidence from Two Quasi-Experiments«, Journal of
mit erheblichen fiskalischen Mehrkosten möglich ist       Public Economics 123, 1–16.

(siehe z.B. Blömer und Peichl 2018), der ifo-Vorschlag    Bick, A. und N. Fuchs-Schündeln (2017), »Quantifying the Disincentive
                                                          Effects of Joint Taxation on Married Women’s Labor Supply«, American
jedoch aufkommensneutral ausgelegt ist, wird es Ge-       Economic Review Paper & Proceedings 107(5), 100–104.
winner und Verlierer einer solchen Reform geben. In       Bick, A. und N. Fuchs-Schündeln (2018), »Taxation and Labor Supply of
unserem Vorschlag werden Bedarfsgemeinschaften            Married Couples across Countries: A Macroeconomic Analysis«, Review of
                                                          Economic Studies 85(3), 1543–1576.
mit Kindern tendenziell bessergestellt als Bedarfsge-
                                                          Blömer, M., P. Brandt und A. Peichl (2021), Modul 3: Reformvorschläge,
meinschaften ohne Kinder. Letztere können einfacher       Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
ihr Arbeitsangebot ausweiten und so durch Mehrarbeit      Blömer, M., C. Fuest und A. Peichl (2019a), »Raus aus der Niedrigeinkom-
die Einkommensverluste kompensieren, die sich im          mensfalle(!) Der ifo-Vorschlag zur Reform des Grundsicherungssystems«,
                                                          ifo Schnelldienst 72(4), 34–43.
statischen Fall ohne Verhaltensanpassung ergeben
                                                          Blömer, M., C. Fuest und A. Peichl (2019b), »Die Hartz-IV-Reformde-
würden. Unsere Analysen (Blömer et al. 2019a; 2019b;      batte«, ifo Schnelldienst 72(6), 21–25.
2019c) zeigen positive Beschäftigungseffekte von bis      Blömer, M., C. Fuest und A. Peichl (2019c), »Was sind die wichtigsten
zu 300 000 Vollzeitäquivalenten (je nach konkreter        Ansatzpunkte für eine Reform von Hartz IV?«, Wirtschaftsdienst 99(4),
                                                          243–247.
Ausgestaltung), ohne das Staatsbudget zu belasten.
                                                          Blömer, M. und A. Peichl (2018), Ein »Garantieeinkommen für Alle«,
Im Gegenteil, es entstehen sogar Mehreinnahmen            ifo Forschungsberichte 97, ifo Institut, München.
aufgrund der Effizienzgewinne, die an anderer Stelle      Blömer, M. und A. Peichl (2019), Anreize für Erwerbstätige zum Austritt
eingesetzt werden können.                                 aus dem Arbeitslosengeld-II-System und ihre Wechselwirkungen mit dem
                                                          Steuer- und Sozialversicherungssystem, Studie im Auftrag der Fried-
                                                          rich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, ifo Forschungsberichte 98, ifo In-
FAZIT                                                     stitut, München.
                                                          BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen Senioren und
                                                          Jugend (2012), Zeit für Familie: Familienzeitpolitik als Chance einer nach-
Eine zentrale Aufgabe der neuen Bundesregierung           haltigen Familienpolitik, Achter Familienbericht, BMFSFJ, Berlin.
wird es sein, das System der sozialen Sicherung ro-

                                                                              ifo Schnelldienst   7 / 2021   74. Jahrgang   14. Juli 2021   9
WIRTSCHAFTSPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF – ERWERBSTÄTIGENPOTENZIAL AUSSCHÖPFEN

     BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen Senioren und        Klemm, K. und D. Zorn (2019), Steigende Schülerzahlen im Primarbereich:
     Jugend (2020), Kindertagesbetreuung Kompakt: Ausbaustand und Bedarf          Lehrkräftemangel deutlich stärker als von der KMK erwartet, Bertelsmann
     2019, BMFSFJ, Berlin.                                                        Stiftung, Gütersloh.
     Bock, F. K., A. Münchow, J. Frings, F. Kempf und J. Schütz (2020), Län-      Müller, K.-U. und K. Wrohlich (2020), »Does Subsidized Care for Toddler
     derreport Frühkindliche Bildungssystem 2019, Bertelsmann Stiftung,           Increase Maternal Labor Supply? Evidence from a Large-Scale Expansion
     Gütersloh.                                                                   of Early Childcare«, Labour Economics 62, Artikel 101776.
     Bonin, H., A. Fichtl, K. Spieß, H. Stichnoth und K. Wrohlich (2013), »Leh-   Peichl, A., F. Buhlmann, M. Löffler, M. Blömer und H. Stichnoth (2017),
     ren für die Familienpolitik –Zentrale Resultate der Gesamtevaluation         Grenzbelastungen im Steuer-, Abgaben- und Transfersystem Fehlanreize,
     familienbezogener Leistungen«, ifo Schnelldienst 66(18), 22–30.              Reformoptionen und ihre Wirkungen auf inklusives Wachstum, Bertels-
                                                                                  mann Stiftung, Gütersloh.
     Bruckmeier, K., J. Mühlhan und A. Peichl (2018), »Mehr Arbeitsanreize für
     einkommensschwache Familien schaffen«, ifo Schnelldienst 71(3), 25–28.       Poutvaara, P. (2021), »Zuwanderung von Fachkräften fördern« ifo Schnell-
                                                                                  dienst 74(7), 11–14.
     Endl-Geyer, V. und V. Meier (2019), Anreize für die Erhöhung der Frauener-
     werbstätigkeit, ifo-Studie im Auftrag der IHK für München und Oberbay-       Ragnitz, J., F. Rösel und M. Thum (2021), »Soziale Sicherungssysteme
     ern, Impulse für die Wirtschaftspolitik, IHK für München und Oberbay-        nachhaltig finanzieren«, ifo Schnelldienst 74(7), 24–27.
     ern, München.
                                                                                  Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2018), Zur Reform der Besteuerung
     Felfe, C. und R. Lalive (2018), »Does Early Child Care Affect Children’s     von Ehegatten, Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesmi-
     Development«, Journal of Public Economics 159, 33–53.                        nisterium der Finanzen, Berlin.
     Immel, L., F. Neumeier und A. Peichl (2021), »The Unequal Consequences       Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2020), Der schwierige Weg zu nach-
     of the Covid-19 Pandemic: Evidence from a Large Representative Ger-          haltigen Rentenreformen, Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats
     man Population Survey«, CESifo Working Paper No. 9038.                       beim Bundesministerium der Finanzen, Berlin.
     Jessen, J., C. K. Spieß, S. Waights und A. Judy (2020), »Gründe für unter-   Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi (2021), Vorschläge für eine Reform
     schiedliche Kita-Nutzung von Kindern unter drei Jahren sind vielfältig«,     der gesetzlichen Rentenversicherung, Gutachten des Wissenschaftlichen
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10   ifo Schnelldienst   7 / 2021   74. Jahrgang   14. Juli 2021
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