Erwerbstätigenpotenzial besser ausschöpfen - Helmut Rainer und Andreas Peichl - ifo Institut
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WIRTSCHAFTSPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF – ERWERBSTÄTIGENPOTENZIAL AUSSCHÖPFEN Helmut Rainer und Andreas Peichl Erwerbstätigenpotenzial besser ausschöpfen gen der Bevölkerungsalterung für das Wirtschafts- DIE AGENDA AUF EINEN BLICK wachstum entgegenzuwirken. Dazu gehören neben einer Förderung von privaten und öffentlichen Inves- titionen einschließlich Bildungsinvestitionen und der Die sozialen Sicherungssysteme müssen reformiert wer- Förderung der Zuwanderung von Fachkräften, die in den, damit sie im demografischen Wandel finanzierbar anderen Beiträgen aufgegriffen werden (Wößmann bleiben. Es gilt, das Erwerbspersonenpotenzial auf dem Ar- 2021; Poutvaara 2021), Maßnahmen zur Verbes- serung der Arbeitsangebotsanreize insbeson- beitsmarkt besser auszuschöpfen. Durch eine Verbesserung dere für Frauen sowie für Arbeitnehmer*innen im der Kindert agesbetreuung und den Umbau des Ehegatten- Niedrigeinkommenssegment. splittings sollte die Politik insbesondere die Frauen- und Müttererwerbstätigkeit fördern. Um Anreize für Arbeit- ANREIZE FÜR DIE ERHÖHUNG DER FRAUEN- UND nehmer*innen im Niedrigeinkommenssegment zu schaf- MÜTTERERWERBSTÄTIGKEIT SETZEN fen, müssen die bestehenden Hartz-IV-Hinzuverdienstrege- Schon vor der Coronakrise war es aufgrund der Alte- lungen ausgeweitet und die hohen Grenzbelastungen beim rung der Bevölkerung und des damit einhergehenden Hinzuverdienst reduziert werden. So könnte der zukünftige Fachkräftemangels und sinkenden Wachstumspoten- fiskalische Spielraum erhöht und für mehr Gleichberechti- zials von großer Bedeutung, vorhandene Produktivi- gung und Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt gesorgt werden. tätspotenziale zu steigern. Steigerungsmöglichkeiten lagen vor allem auch darin, Hemmnisse gegen die Aus- weitung der Frauen- und Müttererwerbstätigkeit ab- Durch den demografischen Wandel wird die Erwerbs- zubauen: Zwar lag Deutschlands Frauenerwerbsquote bevölkerung in Deutschland in den kommenden Jah- in Vor-Corona-Zeiten über dem EU-Durchschnitt, je- ren stetig sinken, während die doch arbeitete fast jede zweite Frau in Teilzeit und Zahl der Rentner*innen zunimmt. mit durchschnittlich 30,5 Stunden pro Woche ca. vier Die Alterung der Bevölkerung Stunden weniger als etwa Frauen in Schweden oder beeinträchtigt das Wirtschafts- Frankreich (vgl. Abb. 1). Speziell der Übergang zur El- wachstum auf unterschiedliche ternschaft spielte hierfür eine entscheidende Rolle, da Art und Weise. Zum einen geht in Deutschland Frauen ihren Erwerbsarbeitsumfang das Arbeitsangebot zurück, weil nach der Geburt eines Kindes im internationalen Ver- Prof. Helmut Rainer, Ph.D. es immer weniger Menschen im gleich überproportional stark einschränkten. leitet das ifo Zentrum für Arbeits- Erwerbsalter gibt. Zum anderen Das Pandemiejahr hatte einschneidende Aus- markt- und Bevölkerungsökono- verändert sich die Bereitschaft zu wirkungen auf die Frauenerwerbstätigkeit sowie die mik und ist Professor für Volks- Investitionen und Innovationen. geschlechtsspezifische Arbeitsteilung von Eltern. Im wirtschaftslehre, insbesondere Sozialpolitik und Arbeitsmärkte, Verschiedene Studien kommen Gegensatz zu den großen Wirtschaftskrisen der Ver- an der Ludwig-Maximilians-Uni- zu dem Ergebnis, dass auch die gangenheit, die typischerweise als »Mancessions« in versität München. Arbeitsproduktivität sinkt. Gleich- die Geschichte eingingen, wird die Covid-19-Rezes- zeitig ist die Aufrechterhaltung sion weithin als eine »Shecession« bezeichnet, da im des Wir tschaf tswachstums Gros der entwickelten Länder Frauen größere nega- schon deshalb von zentraler tive Auswirkungen auf ihre Beschäftigung erfuhren Bedeutung, weil eine schrump- als Männer (Alon et al. 2021). Generell spielten dabei fende Zahl von Erwerbstätigen zwei Faktoren eine herausragende Rolle: (i) Branchen Prof. Dr. Andreas Peichl eine wachsende Zahl von Rent- und Berufe, in denen Frauen überrepräsentiert sind, leitet das ifo Zentrum für Makro ner*innen versorgen muss, jeden- waren besonders stark von der Coronakrise betroffen; ökonomik und Befragungen falls soweit die Alterseinkommen (ii) der Bedarf an familialer Kinderbetreuung während und ist Professor für Volkswirt- schaftslehre, insbesondere auf den umlagefinanzierten sozi- der Schließung von Schulen und Kindertagesstät- Makroökonomie und Finanzwis- alen Sicherungssystemen beru- ten wurde primär von Müttern gedeckt. In Deutsch- senschaft, an der Ludwig-Maximi- hen und nicht durch Ersparnisse land dominierte der zweite Faktor: Der Einbruch der lians-Universität München. gedeckt sind. Die Politik hat ver- Corona-Pandemie führte zwar weder bei Männern schiedene Möglichkeiten, den Fol- noch bei Frauen zu einem signifikanten Rückgang 6 ifo Schnelldienst 7 / 2021 74. Jahrgang 14. Juli 2021
WIRTSCHAFTSPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF – ERWERBSTÄTIGENPOTENZIAL AUSSCHÖPFEN Abb. 1 Um dem entgegenzuwirken und um Hemmnisse Weibliche Erwerbsbeteiligung gegen die Ausweitung der Frauen- und Müttererwerbs Erwerbsquoteᵃ tätigkeit im Allgemeinen abzubauen, bestehen poli Schweden tische Interventionsmöglichkeiten in zwei zentra Niederlande len Handlungsfeldern: Kinderbetreuung und Ehe- Deutschland gattensplitting. Frankreich Italien EU 15 In die Quantität und insbesondere Qualität der 0 20 40 60 80 100 Kindertagesbetreuung und Ganztagsbetreuung Anteil in % von Schulkindern investieren Teilzeitbeschäftigungᵇ Niederlande Erwiesenermaßen fördern Investitionen in die Kin- Deutschland derbetreuungsinfrastruktur die Erwerbstätigkeit von Schweden Italien Müttern: Der Ausbau von Kindergartenplätzen für Drei- Frankreich bis Sechsjährige in Deutschland von 1996 an hat mehr EU 15 Mütter in Arbeit gebracht (Bauernschuster und Schlot- 0 20 40 60 80 ter 2015), und auch der Ausbau der Krippenplätze von Anteil in % 2005 an hat positive Effekte auf die Erwerbstätigkeit Wochenarbeitsstundenᶜ von Müttern entfaltet (Müller und Wrohlich 2020). Ne- Schweden ben der Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Frankreich Beruf hat der Krippenausbau auch zu einer Steigerung Italien Deutschland der Geburtenrate beigetragen (Bauernschuster et al. Niederlande 2016) und die Entwicklung von Kindern vor allem aus EU 15 benachteiligten Herkunftsverhältnissen unterstützt 0 10 20 30 40 (Felfe und Lalive 2018). Stunden ᵃ Prozentualer Anteil der Frauen im erwerbsfähigen Alter von 15–64 Jahren an der Trotz aller Verbesserungen in den letzten Jahren weiblichen Bevölkerung von 15–64 im Jahr 2016. weist die Kinderbetreuungsinfrastruktur hinsichtlich ᵇ Anteil der teilzeitbeschäftigten Frauen an allen weiblichen Beschäftigten im Alter von 15–64 Jahren im Jahr 2016. Quantität und insbesondere Qualität nach wie vor ᶜ Durchschnittlich von Frauen normalerweise geleistete Wochenarbeitsstunden in eklatante Schwächen auf. Bezogen auf die Quantität ist Haupttätigkeit im Jahr 2016. Quelle: Endl-Geyer und Meier (2019). © ifo Institut der Betreuungsbedarf von Eltern mit Kindern unter drei Jahren vor allem in Westdeutschland weit davon ent- fernt, gedeckt zu sein: Während sich 46,6% der Eltern der Erwerbsquote, jedoch gingen die geleisteten Ar- 2019 einen Betreuungsplatz für ihr Kind wünschten, beitsstunden von Frauen aufgrund der erschwerten lag die Betreuungsquote lediglich bei 30,3%, woraus Vereinbarkeit von Familie und Beruf drastisch zurück sich eine Lücke zwischen Betreuungsnachfrage und (Alon et al. 2021; Immel et al. 2021). -angebot von 16,3 Prozentpunkten ergibt.1 Dazu schät- Alon et al. (2021) heben in ihrer Studie hervor, zen viele Eltern vorhandene Betreuungsangebote hin- dass sich ein wichtiger Unterschied zwischen den sichtlich geografischer Passgenauigkeit und zeitlicher »Mancessions« der Vergangenheit und der »Sheces- Flexibilität als unzureichend ein (Jessen et al. 2020). Im sion« der Gegenwart aus der unterschiedlichen Dy- Zeitvergleich zeigt sich auch, dass die Dynamik im Auf- namik des Arbeitsangebots von Frauen und Männern bau einer bedarfsgerechten institutionellen Kinderta- ergibt. Wenn Männer in einer Rezession ihre Beschäf- gesbetreuung auf halber Strecke komplett zum Erliegen tigung verlieren, haben sie aufgrund ihres unelasti- gekommen ist: In Westdeutschland lag die Differenz schen Arbeitsangebots bei einer konjunkturellen Er- zwischen Betreuungsbedarf und Betreuungsquote seit holung eine relative hohe Wahrscheinlichkeit, in die 2012 konstant zwischen 15 und 20 Prozentpunkten und Vollzeitbeschäftigung zurückzukehren. Im Gegensatz ist seit 2018 sogar wieder angestiegen (BMFSFJ 2019). dazu ist es aufgrund ihres elastischeren Arbeitsan- Als die zentralen Qualitätsprobleme der institu gebots eher wahrscheinlich, dass Frauen bei einem tionellen Kindertagesbetreuung lassen sich ein gravie- rezessionsbedingten Verlust ihrer Beschäftigung oder render Personalmangel an Kitas und eine bundesweit einer Reduktion ihres Arbeitszeitumfangs danach dem sehr unterschiedliche Qualifikation des Kita-Perso- Erwerbsleben länger fernbleiben oder in einem ver- nals benennen. Bundesweit stand 2019 für 74% der ringerten Arbeitszeitregime verharren. Gesamtwirt- Kinder in amtlich erfassten Kita-Gruppen nicht genü- schaftlich bedeutet das, dass in einer Shecession, in gend Fachpersonal zur Verfügung, wobei dies in West- der sich die Reduktion der Beschäftigung auf Frauen deutschland 69% und in Ostdeutschland 93% der be- konzentriert, der Rückgang des gesamten Arbeitsan- treuten Kinder betraf (Bock-Famulla et al. 2020). Dazu gebots persistent anhalten und sich auch während waren bundesweit 54% aller erfassten Kita-Gruppen einer konjunkturellen Erholung weiterhin auf Frauen zu groß. Problematisch ist das vor dem Hintergrund, konzentrieren kann. 1 In Ostdeutschland lag 2019 die Differenz zwischen Betreuungsbe- darf (61,5%) und Betreuungsquote (52,1%) bei 9.4 Prozentpunkten. ifo Schnelldienst 7 / 2021 74. Jahrgang 14. Juli 2021 7
WIRTSCHAFTSPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF – ERWERBSTÄTIGENPOTENZIAL AUSSCHÖPFEN dass Eltern dem Faktor Gruppengröße eine große Be- einheit vor und ist bei gegebenem Arbeitsangebot des deutung bei der Entscheidung über die Nutzung einer Erstverdieners aufgrund der Steuerprogression mit re- Kindertagesbetreuung beimessen (Jessen et al. 2020). lativ hohen Grenzeinkommenssteuersätzen des Zweit- Beim Blick auf die Qualifikation des Kita-Personals verdieners verbunden. Wechselt zum Beispiel eine ist ein deutliches Ost-West-Gefälle erkennbar: In Ost- Frau, die einen durchschnittlichen Bruttostundenlohn deutschland ist der Anteil des als Erzieher*innen aus- verdient und mit einem vollzeitbeschäftigen Mann gebildeten Personals mit 82% um 16 Prozentpunkte verheiratet ist, von einer Nichterwerbstätigkeit in höher als in Westdeutschland, wo deutlich mehr Kita- eine Teilzeitbeschäftigung mit 25 Arbeitsstunden pro Personal auf Assistenzniveau arbeitet. Woche, so beträgt ihr Grenzsteuersatz in Deutschland Erforderlich ist daher eine dreigliedrige politische etwa 50%, wohingegen ihr neu erzieltes Einkommen Strategie, die aus einem Bündnis von Bund, Länder in Ländern wie Schweden oder den USA mit einem und Kommunen umgesetzt werden sollte. Erstens muss Grenzsteuersatz von unter 30% deutlich geringer be- der Ausbau der institutionellen Kindertagesbetreuung lastet wäre (Bick und Fuchs-Schündeln 2018). Damit konsequent vorangetrieben werden, so dass der von begünstigt das Ehegattensplitting die Spezialisierung Eltern geäußerte Betreuungsbedarf gedeckt wird. Die in der Ehe im Sinne der Erwerbstätigkeit des einen Betreuungsangebote müssen sich räumlich passgenau Partners und der häuslichen Sorgearbeit durch den und zeitlich flexibel an den Bedürfnissen von Eltern und anderen Partner und wirkt politischen Zielen wie ihrer Kinder ausrichten. Zweitens bedarf es einer poli der Gleichberechtigung der Geschlechter und der tischen Offensive zur Gewinnung von pädagogischen Vereinbarkeit von Familie und Beruf entgegen (Wis- Fachkräften an Kitas. Der Abbau der Personalmisere senschaftlicher Beirat beim BMF 2018). Das Zusam- an Kitas wird nicht ohne ökonomische Anreize wie eine menspiel der Einkommensbesteuerung mit den Re- deutlich bessere Bezahlung von pädagogischen Fach- gelungen zur geringfügigen Beschäftigung und zur kräften funktionieren. Drittens bedarf es bundesein- beitragsfreien Mitversicherung von Ehepartnern in heitlicher Qualifikationsstandards für pädagogische der gesetzlichen Krankenversicherung verstärkt die Fachkräfte, die flankiert von attraktiveren Ausbildungs- Auswirkungen des Ehegattensplittings auf die Arbeits- rahmenbedingungen eingeführt werden sollten. teilung zwischen verheirateten Frauen und Männern. Expert*innen weisen schon lange auf die Not- Eine große Verringerung der Abgabenbelastung wendigkeit hin, einen bedarfsgerechten Ausbau von des Einkommens von Ehefrauen ließe sich erreichen, Ganztagsschulen voranzutreiben, die Eltern eine indem man vom Ehegattensplitting zu einem System Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen, der individuellen Besteuerung wie in vielen OECD-Län- die Gleichberechtigung von Frauen und Männern dern übergeht. Anhand eines quantitativ makroöko fördern, zur Fachkräftesicherung beitragen und Kin- nomischen Modells ermitteln Bick und Fuchs-Schün- dern Entwicklungs- und Bildungschancen auch im au- deln (2017), dass in Deutschland bei einem Übergang ßerschulischen Bereich bieten (BMFSFJ 2012). Es ist von dem derzeitigen System gemeinsamer Besteue- daher aus ökonomischer Perspektive begrüßenswert, rung auf ein System getrennter Besteuerung verhei- dass Grundschulkinder nach jüngstem Beschluss des ratete Frauen ihre Arbeitsstunden um 25% ausweiten Bundeskabinetts ab August 2026 einen rechtlichen An- würden. spruch darauf haben werden, ganztägig gefördert und Aus verfassungsrechtlichen Gründen lässt sich betreut zu werden. Aufgrund des sich abzeichneten das Ehegattensplitting allerdings nicht einfach durch Lehrkräftemangels im Primarbereich besteht jedoch eine Individualbesteuerung ersetzen. Eine zulässige die Gefahr, einen nicht umsetzbaren Rechtsanspruch Alternative, um die negativen Erwerbsanreize für geschaffen zu haben. Schon vor dessen Beschluss hat verheiratete Zweitverdiener*innen zu verringern, die Kultusministerkonferenz den Bedarf an zusätzli- wäre, das Ehegattensplitting zu einem gedeckelten chen Lehrkräften, der in den kommenden Jahren in Reals plitting umzubauen (Wissenschaftlicher Bei- der Primarstufe anfällt, um 42% unterschätzt (Klemm rat beim BMF 2018). Dadurch würde man de facto und Zorn 2019). Erforderlich sind daher kurz- und eine Ind ividualbesteuerung mit Unterhaltsabzug mittelfristige Strategien, die den sich abzeichnenden implementieren. Je näher dabei der Unterhaltsab- Lehrkräftemangel im Primarbereich abfedern. Dazu zugsbetrag dem Grundfreibetrag für Erwachsene zählen Maßnahmen und Anreize zur Steigerung des angepasst wird, desto größer fallen die positiven Beschäftigungsumfangs von aktiven Lehrkräften und Beschäftigungseffekte aus (Bonin et al. 2013). Des- Interventionen zur Gewinnung, Qualifikation und Inte- halb empfiehlt sich bei einer Einführung eines ge- gration von Seiteneinsteigern (Klemm und Zorn 2018). deckelten Realsplittings eine gleichzeitige Erhöhung des Grundfreibeitrags. Einkommensteuerrechtliche Anreize zur Weitere positive Erwerbsanreize für verheiratete Spezialisierung auf Erwerbs- und Sorgearbeit in Zweitverdiener*innen ließen sich erzielen, wenn der der Ehe abbauen Umbau des Ehegattensplittings zu einem gedeckelten Realsplitting von der Abschaffung von Mini-/Midijobs Das in Deutschland für Verheiratete angewendete und einer Reform der Abgabepflichten von Ehepart- Ehegattensplitting sieht die Familie als Besteuerungs- nern im Bereich der sozialen Sicherungssysteme be- 8 ifo Schnelldienst 7 / 2021 74. Jahrgang 14. Juli 2021
WIRTSCHAFTSPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF – ERWERBSTÄTIGENPOTENZIAL AUSSCHÖPFEN gleitet würde (Wissenschaftlicher Beirat beim BMF buster gegenüber dem demografischen Wandel zu 2018; Blömer et al. 2021). machen. Die hitzigen und kontroversen Diskussionen über mögliche Rentenreformen zeigen, dass andere BESCHÄFTIGUNGSHINDERNISSE IM TRANSFER- Wege leichter umsetzbar sein könnten. Hier gilt es, SYSTEM ABBAUEN: DIE TEILZEITFALLE insbesondere das Erwerbstätigenpotenzial auf dem Arbeitsmarkt besser auszuschöpfen und so Effizienz- Negative Arbeitsanreize nicht nur für Frauen bzw. gewinne zu heben. Dies befreit die Politik zwar nicht Zweitverdiener*innen, sondern auch für Männer von dringend notwendigen Rentenreformen (siehe entstehen durch die hohen Grenzbelastungen beim Wissenschaftlicher Beirat beim BMF 2020; Wissen- Hinzuverdienst (Bruckmeier et al. 2018). Aus diesem schaftlicher Beirat beim BMWi 2021; Ragnitz, Rösel Grund hat das ifo Institut im Februar 2019 einen ei- und Thum 2021), eröffnet aber weitere Spielräume. genen Reformvorschlag vorgelegt, der sich darauf Aus arbeitsmarktökonomischer und finanzwis- konzentr iert, die Beschäftigungsanreize des Grund senschaftlicher Sicht gibt es hierfür vier konkrete sicherungssystems zu verbessern (Blömer et al. Ansatzpunkte: 2019a). Ziel des Vorschlags ist es, Fehlanreize abzu- bauen, die Empfänger von Grundsicherung derzeit 1. Kinderbetreuung verbessern, daran hindern, höhere eigene Einkommen zu erzie- 2. Fehlanreize durch Ehegattensplitting beseitigen, len, und die Abhängigkeit von Transfers zu überwin- 3. Teilzeitfalle beseitigen und den oder wenigstens zu reduzieren. Damit die Be- 4. die Potenziale der Zuwanderung ausnutzen. troffenen der Niedrigeinkommensfalle entkommen können, muss Arbeit sich lohnen. Aus unserer Sicht Simulationsrechnungen und Untersuchungen aus an- liegt genau hier das Hauptproblem: Die bestehen- deren Ländern zeigen, dass es sich hier – bei richtiger den Hartz-IV-Hinzuverdienstregelungen bevorzugen Ausgestaltung – um sich mehr als selbstfinanzierende Kleinstjobs bis 100 Euro, während es darüber hinaus Reformen handelt, die den zukünftigen fiskalischen selten lohnenswert ist, die Arbeitszeit auszuweiten Spielraum erhöhen und gleichzeitig für mehr Gleichbe- (Peichl et al. 2017; Bruckmeier et al. 2018a). Ein sol- rechtigung und Teilhabe auf dem Arbeitsmarkt sorgen. ches System ist schädlich, denn es bestraft Leistung Gegen solche Reformen kann doch im 21. Jahrhundert dort, wo sie sich besonders lohnt: wenn man durch nichts mehr sprechen?! eigene Anstrengung der Abhängigkeit von Transfers entkommen will. Obwohl gerade die Hartz-Reformen REFERENZEN das Ziel hatten, die Anreize zur Arbeitsaufnahme zu Alon, T., S. Coskun, M. Doepke, D. Koll und M. Tertilt (2021), »From verbessern, ist das Problem hoher impliziter Grenz- Mancession to Shecession: Women’s Employment in Regular and Pande- mic Recessions«, National Bureau of Economic Research, Working Paper steuerbelastung von niedrigen Einkommen nach wie 28632. vor nicht befriedigend gelöst. Bauernschuster, S., T. Hener und H. Rainer (2016), »Children of a (Policy) Bei einer Reform der Transferentzugsraten sind Revolution: The Introduction of Universal Childcare and its Effect on Fertility«, Journal of the European Economic Association 14(4), 975–1005. verschiedene Varianten denkbar. Da eine Besserstel- Bauernschuster, S. und M. Schlotter (2015), »Public Child Care and Mo- lung aller Haushalte im Vergleich zum Status quo nur thers’ Labor Supply – Evidence from Two Quasi-Experiments«, Journal of mit erheblichen fiskalischen Mehrkosten möglich ist Public Economics 123, 1–16. (siehe z.B. Blömer und Peichl 2018), der ifo-Vorschlag Bick, A. und N. Fuchs-Schündeln (2017), »Quantifying the Disincentive Effects of Joint Taxation on Married Women’s Labor Supply«, American jedoch aufkommensneutral ausgelegt ist, wird es Ge- Economic Review Paper & Proceedings 107(5), 100–104. winner und Verlierer einer solchen Reform geben. In Bick, A. und N. Fuchs-Schündeln (2018), »Taxation and Labor Supply of unserem Vorschlag werden Bedarfsgemeinschaften Married Couples across Countries: A Macroeconomic Analysis«, Review of Economic Studies 85(3), 1543–1576. mit Kindern tendenziell bessergestellt als Bedarfsge- Blömer, M., P. Brandt und A. Peichl (2021), Modul 3: Reformvorschläge, meinschaften ohne Kinder. Letztere können einfacher Bertelsmann Stiftung, Gütersloh ihr Arbeitsangebot ausweiten und so durch Mehrarbeit Blömer, M., C. Fuest und A. Peichl (2019a), »Raus aus der Niedrigeinkom- die Einkommensverluste kompensieren, die sich im mensfalle(!) Der ifo-Vorschlag zur Reform des Grundsicherungssystems«, ifo Schnelldienst 72(4), 34–43. statischen Fall ohne Verhaltensanpassung ergeben Blömer, M., C. Fuest und A. Peichl (2019b), »Die Hartz-IV-Reformde- würden. Unsere Analysen (Blömer et al. 2019a; 2019b; batte«, ifo Schnelldienst 72(6), 21–25. 2019c) zeigen positive Beschäftigungseffekte von bis Blömer, M., C. Fuest und A. Peichl (2019c), »Was sind die wichtigsten zu 300 000 Vollzeitäquivalenten (je nach konkreter Ansatzpunkte für eine Reform von Hartz IV?«, Wirtschaftsdienst 99(4), 243–247. Ausgestaltung), ohne das Staatsbudget zu belasten. Blömer, M. und A. Peichl (2018), Ein »Garantieeinkommen für Alle«, Im Gegenteil, es entstehen sogar Mehreinnahmen ifo Forschungsberichte 97, ifo Institut, München. aufgrund der Effizienzgewinne, die an anderer Stelle Blömer, M. und A. Peichl (2019), Anreize für Erwerbstätige zum Austritt eingesetzt werden können. aus dem Arbeitslosengeld-II-System und ihre Wechselwirkungen mit dem Steuer- und Sozialversicherungssystem, Studie im Auftrag der Fried- rich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, ifo Forschungsberichte 98, ifo In- FAZIT stitut, München. BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen Senioren und Jugend (2012), Zeit für Familie: Familienzeitpolitik als Chance einer nach- Eine zentrale Aufgabe der neuen Bundesregierung haltigen Familienpolitik, Achter Familienbericht, BMFSFJ, Berlin. wird es sein, das System der sozialen Sicherung ro- ifo Schnelldienst 7 / 2021 74. Jahrgang 14. Juli 2021 9
WIRTSCHAFTSPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF – ERWERBSTÄTIGENPOTENZIAL AUSSCHÖPFEN BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen Senioren und Klemm, K. und D. Zorn (2019), Steigende Schülerzahlen im Primarbereich: Jugend (2020), Kindertagesbetreuung Kompakt: Ausbaustand und Bedarf Lehrkräftemangel deutlich stärker als von der KMK erwartet, Bertelsmann 2019, BMFSFJ, Berlin. Stiftung, Gütersloh. Bock, F. K., A. Münchow, J. Frings, F. Kempf und J. Schütz (2020), Län- Müller, K.-U. und K. Wrohlich (2020), »Does Subsidized Care for Toddler derreport Frühkindliche Bildungssystem 2019, Bertelsmann Stiftung, Increase Maternal Labor Supply? Evidence from a Large-Scale Expansion Gütersloh. of Early Childcare«, Labour Economics 62, Artikel 101776. Bonin, H., A. Fichtl, K. Spieß, H. Stichnoth und K. Wrohlich (2013), »Leh- Peichl, A., F. Buhlmann, M. Löffler, M. Blömer und H. Stichnoth (2017), ren für die Familienpolitik –Zentrale Resultate der Gesamtevaluation Grenzbelastungen im Steuer-, Abgaben- und Transfersystem Fehlanreize, familienbezogener Leistungen«, ifo Schnelldienst 66(18), 22–30. Reformoptionen und ihre Wirkungen auf inklusives Wachstum, Bertels- mann Stiftung, Gütersloh. Bruckmeier, K., J. Mühlhan und A. Peichl (2018), »Mehr Arbeitsanreize für einkommensschwache Familien schaffen«, ifo Schnelldienst 71(3), 25–28. Poutvaara, P. (2021), »Zuwanderung von Fachkräften fördern« ifo Schnell- dienst 74(7), 11–14. Endl-Geyer, V. und V. Meier (2019), Anreize für die Erhöhung der Frauener- werbstätigkeit, ifo-Studie im Auftrag der IHK für München und Oberbay- Ragnitz, J., F. Rösel und M. Thum (2021), »Soziale Sicherungssysteme ern, Impulse für die Wirtschaftspolitik, IHK für München und Oberbay- nachhaltig finanzieren«, ifo Schnelldienst 74(7), 24–27. ern, München. Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2018), Zur Reform der Besteuerung Felfe, C. und R. Lalive (2018), »Does Early Child Care Affect Children’s von Ehegatten, Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesmi- Development«, Journal of Public Economics 159, 33–53. nisterium der Finanzen, Berlin. Immel, L., F. Neumeier und A. Peichl (2021), »The Unequal Consequences Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (2020), Der schwierige Weg zu nach- of the Covid-19 Pandemic: Evidence from a Large Representative Ger- haltigen Rentenreformen, Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats man Population Survey«, CESifo Working Paper No. 9038. beim Bundesministerium der Finanzen, Berlin. Jessen, J., C. K. Spieß, S. Waights und A. Judy (2020), »Gründe für unter- Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi (2021), Vorschläge für eine Reform schiedliche Kita-Nutzung von Kindern unter drei Jahren sind vielfältig«, der gesetzlichen Rentenversicherung, Gutachten des Wissenschaftlichen DIW Wochenbericht (14), 267–275. Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), Berlin. Klemm, K. und D. Zorn (2018), Lehrkräfte dringend gesucht: Bedarf und Wößmann, L. (2021), »Bildung für Wirtschaftswachstum und Chancen- Angebot für die Primarstufe, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh. gleichheit«, ifo Schnelldienst 74(7), 15–17. 10 ifo Schnelldienst 7 / 2021 74. Jahrgang 14. Juli 2021
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