Genesen, un d doch nicht gesund

 
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Genesen, un d doch nicht gesund
Genesen, un d doch nicht gesund
                                                     Sie standen mitten im Leben, als
                                                    ihnen das Coronavirus den Boden
                                                      unter den Füssen wegriss. Reto
                                                      Salzmann, Jannicke Wellinger
                                                        und Arthur Gilg erzählen, wie
                                                     Long Covid ihr Leben veränderte
                                                     und wie sie sich zurückkämpfen.

Er war stets fit,
doch nun plagen
Reto Salzmann seit
Monaten die Lang-
zeitfolgen einer
­Coronainfektion.

54 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE                                           SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 55
Genesen, un d doch nicht gesund
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                                                                                           SALZMANN, 51
                                                                                           Schlafstörungen,
                                                                                             Angstzustände,
                                                                                             Depressionen –
                                                                                             seit Anfang Jahr
                                                                                           leidet der Polizist
                                                                                              und fünffache
                                                                                            ­Vater aus Erlins-
                                                                                               bach SO an
                                                                                          den Langzeitfolgen
                                                                                          seiner Erkrankung.
                                                                                              «Der Druck auf
                                                                                          meiner Brust geht
                                                                                                nicht weg.»

                                                                                                                                                                                                                                                     JANNICKE
                                                                                                                                                                                                                                                   WELLINGER, 37
                                                                                                                                                                                                                                                  Zu den häufigsten
                                                                                                                                                                                                                                                    Covid-Langzeit­
                                                                                                                                                                                                                                                      folgen gehört
                                                                                                                                                                                                                                                    das chronische
                                                                                                                                                                                                                                                    Erschöpfungs­
                                                                                                                                                                                                                                                  syndrom. Darunter
                                                                                                                                                                                                                                                   litt die dreifache

             «Ich konnte nicht schlafen. In meinem                                                                                      «Ich liess die Wäsche drei Tage lang an der
                                                                                                                                                                                                                                                  Mutter aus Davos
                                                                                                                      fakt.                                                                                                                        GR wochenlang.

                 Kopf ratterten die Gedanken»                                                                                            Leine hängen, weil ich so erschöpft war»                                                                    «Ich hatte das

                                                                                                                       45                                                                                                                            Gefühl, ich sei
                                                                                                                                                                                                                                                   nicht gut genug.»
                                                                                                                     JAHRE ALT
                                                                                                                    im Schnitt sind
                                                                                                                 laut BAG Personen,
            T E X T S I LVA N A D E G O N D A F O T O S J O S E P H K H A K S H O U R I
                                                                                                                  die mit Long Covid
                                                                                                                 zu kämpfen haben.

Anfang des Jahres liegt Reto Salzmann              tientinnen und Patienten mit einer                                                   sen. «Ich konnte nicht schlafen, in mei-   machen. Mit Senioren arbeiten würde       vos. Die 37-Jährige ist Ernährungs­
drei Wochen lang im Bett. Corona. Das
Virus hat den 51-Jährigen mit voller
                                                   ­Coviderkrankung waren seit Ausbruch
                                                    der Pandemie hier – die Jüngste 22, die
                                                                                                                         6              nem Kopf ratterten die Gedanken.»
                                                                                                                                        Ängste überfallen den Mann mit den
                                                                                                                                                                                   mir gefallen.»
                                                                                                                                                                                        Zwischen 10 und 20 Prozent der
                                                                                                                                                                                                                             beraterin und Mutter von drei kleinen
                                                                                                                                                                                                                             Kindern.
Wucht erwischt. Er hat keine Kraft                  Älteste 97. Reto Salzmann verbringt
                                                                                                                     WOCHEN             breiten Schultern und dem sanftmüti-       Menschen, die sich mit Corona infiziert       Als sie Ende letzten Jahres an Covid
                                                                                                                  nach einer Covid­
mehr, schläft nur noch. Alle zwei Stun-             viereinhalb Monate auf der «Barmel-                           infektion hat jede    gen Blick. Einkaufen oder mit dem Bus      haben, entwickeln laut WHO länger         erkrankt, ist ihre jüngste Tochter
den schaut seine Frau ins Schlaf­zimmer             weid». Das Virus hat ihn bis heute nicht                      dritte Person laut    fahren erscheint ihm unvorstellbar.        anhaltende Symptome wie Erschöp-          ­anderthalb Jahre alt. «Ich hatte einen
rein, kontrolliert, ob er noch atmet.               losgelassen. «Ich bin erschöpft. Der                         einer Genfer Studie        «Häufig entwickeln Betroffene Sym-     fung, Atemprobleme und Muskel­             milden Verlauf, kein Fieber, keinen
«Ich wollte nicht ins Spital, das war               ­Geschmackssinn ist weg», sagt er, der                         noch Symptome.       ptome wie Angst, depressive Stimmun-       beschwerden. Dafür hat sich der Begriff    Husten. Nur eine schlimme Schnudder-
mein Wunsch», sagt er. «Denn wenn es                 Polizist, der vorher kerngesund war.                                               gen, Reizbarkeit, Schlafstörungen bis      «Long Covid» etabliert. Wie viele          nase», sagt sie. Langsam erholt sie sich,
hätte sein sollen, hätte ich zu Hause
sterben wollen.»
                                                        Nach der Erkrankung geht er wieder
                                                     arbeiten. 30 statt 100 Prozent. Doch die                      2000                 hin zu Traumafolgestörungen», sagt
                                                                                                                                        der Arzt und Psychiater Reiner Dahl-
                                                                                                                                                                                   ­Menschen betroffen sind, ist schwer zu
                                                                                                                                                                                    sagen. Denn das Spektrum ist riesig:
                                                                                                                                                                                                                              doch wochenlang ist sie extrem müde.
                                                                                                                                                                                                                              «Wenn ich die Wäsche machte, musste
   Der Vater von fünf Jungs sitzt in                 drei Stunden auf der Wache ermüden                            BETROFFENE           bender. In der Klinik lernt Reto Salz-      Es reicht von Menschen, die einige        ich sie drei Tage lang an der Leine hän-
einem Zimmer in der Klinik Barmel-                   ihn so sehr, dass er anschliessend den                          sind bei der       mann, wie er diese Ängste überwinden        ­Monate lang ihren Geruchssinn verlie-    gen lassen, weil ich keine Kraft hatte.»
                                                                                                                  Selbsthilfegruppe
weid oberhalb von Aarau AG. Hier wer-                restlichen Tag schläft. Er krampft sich                                            kann. Seine Arbeitsstelle hat er aber        ren, bis hin zu Bettlägerigen.           In einem Haushalt mit drei Kindern
                                                                                                                     Long Covid
den unter anderem Post-Covid-19-Er-                  drei Monate durch den Alltag, bis ihn                       ­Switzerland, die es   ­inzwischen verloren. «Ich suche nun                                                  fällt viel Arbeit an, die junge Mutter
krank­te mit einem psychosomatischen                 seine Ärztin in die Klinik schickt. Hier                      seit September        mit einem Coach eine neue Stelle und      Jannicke Wellinger arbeitet in Grau-       kann nicht mehr alles erledigen. «So
Schwerpunkt behandelt. Über 750 Pa-                  braucht er fünf Wochen, um loszulas-                             2020 gibt.         überlege mir, eine Weiterbildung zu       bünden in der Hochgebirgsklinik Da-        kannte ich mich gar nicht», sagt sie.

56 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE                                                                                                                                                                                                                   SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 57
Genesen, un d doch nicht gesund
«Bis ich wieder am
                                                                          Bettrand sitzen konnte, war
                                                                          es ein unglaublicher Murks»

                                                                                        Vor einem Jahr erkrankte der zwei-
                                                                                     fache Vater an Corona. Eine Woche
                                                                                     lang lag er flach. Als er danach am
                                                                                     Montagmorgen wieder zur Arbeit
                                                                                     wollte, stand er in der Früh auf und
                                                                                     krachte mit voller Wucht auf den Bo-
                                                                                     den. «Ich konnte meine Beine nicht
                                                                                     mehr bewegen», sagt er. Die Ehefrau
                                                                                     und die Tochter helfen ihm auf, brin-
                                                                                     gen ihn zum Arzt. Eine Nervenwasser-
                                                                                     untersuchung zeigt, dass er durch
                                                                                     die Coviderkrankung ein Guillain-­
                                                                                     Barré-Syndrom entwickelt hat. «Hier-
 ARTHUR GILG, 55                                                                     bei kommt es zu einer durch das Virus
      Schweizweit                                                                    verursachten fehlgeleiteten Immun-
 gibt es mindestens                                                                  antwort, die sich gegen Nervenbe-
  neun Menschen,
                                                                                     standteile im eigenen Körper richtet»,
     die nach einer
   ­Coronainfektion                                                                  erklärt die Ärztin Susanne Friedl.
     gelähmt sind.                                                                      Das Syndrom weitet sich in Gilgs
    Einer davon ist                                                                  Körper aus, die Atmung setzt aus – er
  der Familienvater                                                                  muss für zehn Tage ins künstliche
     aus Mollis GL.                                                                  Koma versetzt werden. Über einen Mo-
  «Ich konnte nicht
                                                                                     nat verbringt er auf der Intensivstation,
 mal mehr ein Glas
    Wasser ­heben.»                                                                  bevor er sich ganz langsam an die Reha
  Inzwischen kann                                                                    herantasten kann. «An diese Zeit kann
  er wieder gehen.                                                                   ich mich nur noch schlecht erinnern.»
                                                                                        Wie Reto Salzmann und Jannicke
                                                                                     Wellinger hat auch er keine Vorerkran-
                                                                                     kung und gilt nicht als Risikopatient.
                                                                                     Er ist fit, geht gerne wandern.
                                                                                        Im Spital beginnt Arthur Gilg mit
Weil ihr Ehemann viel unterwegs ist,       nicht, warum ich so erschöpft war»,       der Physiotherapie. «Bis ich wieder am
springt die Schwiegermama ein. «Auf        sagt sie. In der Hochgebirgsklinik Da-    Bettrand sitzen konnte, war es ein un-
einmal hatte ich das Gefühl, ich sei       vos arbeitet sie jetzt mit Long-Covid-    glaublicher Murks» erinnert er sich.
nicht gut genug», sagt Jannicke Wel-       Betroffenen zusammen. «Ich glaube,        «Jede kleine Bewegung mit den Zehen
linger. «Erst dank der Diagnose meines     ich kann mich gut in die Patienten ein-   war ein Riesenschritt für mich.» Über
Hausarztes wusste ich, dass es nicht       fühlen, weil ich das Gleiche durch­       Ostern darf er das erste Mal wieder
meine Schuld war.» Mit dem Sommer          gemacht habe.»                            nach Hause. «Obwohl ich im Rollstuhl
kommt auch ihre Energie langsam wie-                                                 sass, war das ein Highlight.» Er lernt
der zurück.«Ich fing an, kleine Spazier-   Arthur Gilg betritt mit schnellen         wieder zu gehen und fühlt sich inzwi-
gänge zu machen. Ganz allein an der        Schritten das Zürcher Balgrist. Im Zen-   schen fast wie früher. «Nur ein Krib-
frischen Luft zu sein, tat mir gut, auch   trum für Paraplegie der Universitäts­     beln in den Beinen ist geblieben.»
wenn es nur 20 Minuten waren.» In-         klinik verbrachte der 55-jährige Glar-       Heute arbeitet er wieder – nur 75 Pro-
zwischen fährt sie mit dem Velo und        ner sieben Monate. Als er eingeliefert    zent. «Ich bin immer noch oft müde,
den Kindern im Anhänger wieder den         wurde, war er komplett auf fremde         aber auf gutem Weg», sagt der Finanz-
Berg hinauf. «Wenn man einen Arm           Hilfe angewiesen. Er ist einer von neun   chef einer Schmuckfirma. «Und ich bin
bricht, sieht das jeder. Aber Long Co-     Menschen in der Schweiz, die wegen        guten Mutes, dass ich wieder ganz der
vid ist unsichtbar. Oft verstand ich       der Virusinfektion gelähmt waren.         Alte werde.»

58 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE
Genesen, un d doch nicht gesund Genesen, un d doch nicht gesund
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