Die Zukunft der Langzeitpflege in der Schweiz - Kurzfassung - Martin Eling, Mauro Elvedi

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Die Zukunft der Langzeitpflege in der Schweiz - Kurzfassung - Martin Eling, Mauro Elvedi
Die Zukunft der Langzeitpflege in der
Schweiz - Kurzfassung
Martin Eling, Mauro Elvedi

I· VW HSG Schriftenreihe, Band 66 – Kurzfassung
1 AUSGANGSLAGE UND ZIEL DER STUDIE
Aufgrund des rapiden Anstiegs der Anzahl der über                                        Die Resultate sind eindeutig: Ohne Reformen ist die
80-Jährigen, der medizinisch-technologischen Ent-                                        Nachhaltigkeit der Pflegefinanzierung stark gefähr-
wicklungen sowie der steigenden Prävalenz von Mul-                                       det. Erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich des poten-
timorbidität werden die Ausgaben für die Langzeit-                                       ziellen Bedarfs, der Intensität und der Dauer der Lang-
pflege in den kommenden Jahrzehnten in der Schweiz                                       zeitpflege stellen dabei gewichtige Argumente für ei-
deutlich ansteigen, von heute rund 15,6 Mrd. CHF pro                                     nen Risikotransfer auf Ebene des Individuums und
Jahr auf geschätzte 31,3 Mrd. CHF im Jahr 2050. Dies                                     der Gesellschaft dar. Dennoch werden entsprechende
führt die bisherige Pflegefinanzierung trotz zahlrei-                                    Versicherungs- und Sparlösungen in der Schweiz – im
cher Anpassungen in den vergangenen Jahren (vgl.                                         Unterschied zu anderen Ländern – bis anhin kaum ge-
Abb. 1) an ihre Grenzen. Einerseits ist schon heute der                                  nutzt und wenig diskutiert. Aufgrund von fehlenden
Eigenanteil der Pflegebedürftigen an der Finanzie-                                       institutionellen Anreizen werden innovative Ansätze
rung mit über 30% im internationalen Vergleich unge-                                     der Pflegefinanzierung (wie bspw. Reverse Mortga-
wöhnlich hoch. Andererseits wird auch die Belastung                                      ges) nicht oder kaum genutzt.
der Kantone bei einer Weiterführung des Status quo                                       Wir empfehlen, das aktuelle Finanzierungssystem um
die Grenzen des Machbaren sehr schnell erreichen.                                        eine kapitalgedeckte Vorsorge zu ergänzen, wodurch
Vor diesem Hintergrund analysieren wir, wie die Pfle-                                    ein radikaler Umbau des Systems abgewendet werden
gefinanzierung in der Schweiz sozial gerecht, wirt-                                      Ggfs. könnte dies durch temporäre und zweckgebun-
schaftlich effizient und nachhaltig gestaltet werden                                     dene Steuern unterstützt werden- Zudem empfehlen
kann. Um diese Frage zu beantworten, bieten wir in                                       wir die Förderung einer besseren Pflegeorganisation
einem ersten Schritt einen Überblick über traditionelle                                  und die Offenheit für neue Wege in der Pflege, bspw.
und innovative Modelle der Pflegefinanzierung sowie                                      eine Diskussion um die Aufwertung der informellen
eine aktualisierte und verbesserte Projektion der Pfle-                                  Pflege, des Pflegeberufs und den Einsatz von Pflege-
gekosten für die Schweiz. Kern der Studie sind dann                                      robotern. Die Erschliessung neuer Finanzierungsquel-
eine systematische Diskussion alternativer Modelle                                       len und eine effiziente Organisation des Pflegesystems
zur Finanzierung der Pflegekosten sowie Überlegun-                                       müssen oberste Priorität haben. Nur dadurch können
gen zu einer effizienteren Pflegeorganisation. Auf die-                                  die Qualität und der Umfang der Langzeitpflege auch
ser Grundlage werden Schlussfolgerungen und Hand-                                        in den nächsten Jahrzehnten sichergestellt werden.
lungsempfehlungen für die Politik abgeleitet.

      Ablehnung einer zweiten Revision        Parlament verabschiedet Gesetz zur Neuordnung            Beschluss des Bundesrates, im Jahr 2018 eine Initiative
      des KVG (beinhaltete Anpassungen        der Finanzierung der Langzeitpflege; Ziele: Situa-       zur Förderung des Images der Ausbildung und
      der Langzeitpflegefinanzierung)         tion der Patienten verbessern & zusätzliche              Karriere im Langzeitpflegebereich zu fördern; Ziel:
                                              finanzielle Belastung der Krankenkassen vermeiden        Pflegefachkräftemangel entgegentreten
Inkrafttreten des
neuen Kranken-                                                      Ablehnung der Revision des KVG («Mana-             Einführung des Förderprogramms
versicherungsge-      Neues Gesetz über den Finanz- und Las-        ged Care») durch Referendum; Ziele: Koordi-        «Entlastungsangebote für betreuende Ange-
setzes: Stärkung      tenausgleich ändert das System der Kofi-      nination der Versorgung verbessern & Prä-          hörige»; Ziele: Bedürfnisse informell Pflegender
der Solidarität       nanzierung der Prämienverbilligungen          mien durch Einschränkung der Wahlmög-              identifizieren, um Unterstützungs- und Entlas-
(Einheitsprämien)     durch Bund und Kantone                        lichkeiten verringern                              tungsangebote zu entwickeln

  1996            2003            2005           2008            2010             2011          2014            2016            2017

   Budgetierung und Leistungs-                          Reform des nationalen            Bereitstellung jährlich aktualisierter Kennzahlen zu
   erfassung werden für die Lang-                       Finanzausgleichs ver-            allen Pflegeheimen durch das Bundesamt für Gesund-
   zeitpflegeanbieter verbindlich                       lagert die Finanzie-             heit mit dem Ziel der Erhöhung der Transparenz
   vorgeschrieben, um die Trans-                        rung der Spitex auf die
   parenz zu erhöhen                                    Kantone
                         Nationale Strategie für die Palliativmedizin mit dem     Umfassende Reform des Finanzierungssystems: Festlegung einer Pauscha-
                         Ziel, die Lebensqualität von unheilbar chronisch er-     le zulasten der Krankenversicherer, kantonale Restfinanzierung und Hilfs-
                         krankten Patienten zu verbessern; wird in allen Be-      losenentschädigung leichten Grades in der AHV; einheitliche Vergütung
                         reichen des Gesundheitssystems umgesetzt                 für ambulante und stationäre Pflege
Abbildung 1: Zeitlicher Ablauf der Reformen der Langzeitpflege in der Schweiz
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bonoli, Braun und Trein (2014, S. 23–24), Bundesrat (2014a, 2016b), Bundesamt für Gesundheit [BAG] (2019) sowie De Pietro et
al. (2015, S. 206–207)

                                                                                                                                                                          2
2 INSTITUTIONELLER RAHMEN DER LANGZEITPFLEGE IN DER SCHWEIZ
Die Langzeitpflege umfasst die Erbringung verschie-                                                       sich die jeweiligen Organisationsmodelle stark,
dener Dienstleistungen (Pflege, Haushaltshilfe und                                                        wodurch kantonalen Besonderheiten Rechnung getra-
Körperpflege) für pflegebedürftige Personen durch                                                         gen wird. Gemäss den letzten Schätzungen des Bun-
verschiedene Parteien (Ärzte, Spitex und Angehörige)                                                      desrates (2014b, S. 5) betreuen rund 330'000 Menschen
in unterschiedlichen Umgebungen (zu Hause oder in                                                         im Alter von 15 bis 64 Jahren regelmässig Angehörige,
Institutionen) (Laporte & McMahon, 2016, S. 44–45).                                                       während zwischen 220'000 und 260'000 Menschen ab
                                                                                                          65 Jahren in den letzten zwölf Monaten informelle
ORGANISATION
                                                                                                          Pflege benötigten (ebd., S. 18). Gemäss Rudin und
Das Angebot der Langzeitpflege in der Schweiz ba-                                                         Strub (2014, S. 2) beträgt der monetäre Wert der 42
siert auf drei Säulen: der informellen Pflege, der stati-                                                 Mio. Arbeitsstunden, welche für informelle Pflege auf-
onären Pflege in Alters- und Pflegeheimen sowie der                                                       gewendet wurden, rund 3,5 Mrd. CHF pro Jahr. Zum
ambulanten Pflege durch die Spitex-Organisationen.                                                        Vergleich dazu leisteten die Spitex-Organisationen im
Die Dienstleistungen der Spitex-Organisation wurden                                                       Jahr 2017 rund 16 Mio. Pflegestunden sowie 6 Mio.
im Jahr 2014 von 13,65% der über 65-Jährigen in An-                                                       hauswirtschaftliche und sozialbetreuerische Arbeits-
spruch genommen, während 5,71% der über 65-Jähri-                                                         stunden (BFS, 2018f). Die informelle Pflege hat einen
gen in Alters- und Pflegeheimen lebten (Dutoit, Pel-                                                      Einfluss auf die Arbeitsmarktbeteiligung und die Ge-
legrini, & Füglister-Dousse, 2016) (vgl. Abb. 2 & 3). In                                                  sundheit ihrer Erbringer, die gesamten Gesundheits-
den letzten Jahren ist der Anteil der ambulanten Pflege                                                   ausgaben sowie den generationsübergreifenden Zeit-
an der gesamten Langzeitpflege leicht gestiegen. Dies                                                     und Geldtransfer (Norton, 2016, S. 960).
entspricht dem strategischen Ziel des BAG, den Anteil
der stationären Versorgung durch vermehrte ambu-                                                          KOSTENENTWICKLUNG
lante Pflege zu reduzieren. Da die Ausgestaltung der                                                      Der Anteil der Langzeitpflegekosten an den gesamten
Langzeitpflege kantonal geregelt ist, unterscheiden                                                       Gesundheitsausgaben pro Kopf und Monat beträgt
                                                                                                          19,4% bzw. 156 CHF pro Einwohner (BFS, 2018b). Ins-
  50%
                                                                                                          gesamt ist der prozentuale Anteil der Langzeitpflege-
  40%
                                                                                                          kosten an den gesamten Gesundheitsausgaben im
  30%
                                                                                                          Zeitraum von 1995 bis 2016 von 18,2% auf 19,4% ge-
  20%                                                                                                     stiegen (BFS, 2018c) (vgl. Abb. 4). Seit dem Jahr 2012
  10%                                                                                                     ist dieser jedoch von einem Höchstwert von 20% stetig
   0%                                                                                                     gesunken. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Fi-
Ausnahme des Jahres 2006 in diesem Zeitraum konti-                                                                                                                                                                                                 Kosten werden vom Kanton übernommen, in wel-
nuierlich von 6,8 Mrd. CHF auf 15,6 Mrd. CHF ange-                                                                                                                                                                                                 chem die pflegebedürftige Person ihren Wohnsitz hat.
wachsen. Dies entspricht einer jährlichen Wachstums-                                                                                                                                                                                               Der Gesamt-Finanzierungsbedarf beträgt rund 15,6
rate von 4,1%. Die Gesamtausgaben für die Langzeit-                                                                                                                                                                                                Mrd. CHF pro Jahr (vgl. Abb. 5). Darin ist der mone-
pflege, gemessen in Prozent des BIP, stiegen von 1,7%                                                                                                                                                                                              täre Wert der informellen Pflege (3,5 Mrd. CHF) je-
im Jahr 1995 auf 2,4% im Jahr 2016 (BFS, 2018a &                                                                                                                                                                                                   doch nicht inkludiert. Die Kantone und Gemeinden
2018c). Als Hauptgründe für dieses Wachstum kön-                                                                                                                                                                                                   tragen 3,6 Mrd. CHF zur Finanzierung bei. Die private
nen die Alterung der Gesellschaft, die steigenden Er-                                                                                                                                                                                              Finanzierung beträgt rund 5,3 Mrd. CHF, wobei der
wartungen an die Lebensqualität im Alter, das abneh-                                                                                                                                                                                               Grossteil zur Finanzierung der Kosten der stationären
mende Angebot an informeller Pflege sowie die feh-                                                                                                                                                                                                 Langzeitpflege verwendet wird. Die verschiedenen
lenden Produktivitätssteigerungen in diesem arbeits-                                                                                                                                                                                               Sozialversicherungen kommen für weitere 3,8 Mrd.
intensiven Sektor genannt werden (OECD, 2017,                                                                                                                                                                                                      CHF auf. Der Anteil der alternativen Finanzierungs-
S. 214).                                                                                                                                                                                                                                           systeme, wie bspw. der freiwilligen Langzeitpflege-
                                                                                                                                                                                                                                                   versicherungen, an der gesamten Finanzierung ist ver-
FINANZIERUNG
                                                                                                                                                                                                                                                   nachlässigbar klein. Während die stationäre Langzeit-
Seit der Reform der Langzeitpflege im Jahr 2011 er-                                                                                                                                                                                                pflege stark durch Selbstzahlungen finanziert ist
folgt deren Finanzierung durch private Kostenbeteili-                                                                                                                                                                                              (35,9%), übernimmt die OKP die Mehrheit der Kosten
gungen (out-of-pocket-Zahlungen), öffentliche Mittel                                                                                                                                                                                               der ambulanten Langzeitpflege (57,5%). Im internatio-
von Kantonen und Gemeinden sowie Beiträgen der                                                                                                                                                                                                     nalen Vergleich fällt die Finanzierung durch out-of-
obligatorischen Krankenpflegeversicherung [OKP]                                                                                                                                                                                                    pocket Zahlungen in der Schweiz sehr hoch aus (vgl.
und den Sozialversicherungen. Die verbleibenden                                                                                                                                                                                                    Abb. 6 & 7).
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           171 Mio. CHF
                                                                                                                                                                                                              2,2 Mrd. CHF                                                                                                                  Gemeinden
                                                                                                                                    1,0 Mrd. CHF
                                                                                                                                                                                                                 Kantone                                        406 Mio. CHF
                                                                                                                                     Gemeinden
                                                                                                                                                                                                                                                                    Staat                                                                           235 Mio. CHF
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      Kantone
                                                                                                                                                                                                                                                      33 Mio. CHF
                                                                                                                                                                        3,2 Mrd. CHF                                                                 Privatversicher-
                                                                                                                                                                            Staat                                                                         ungen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    847 Mio. CHF
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        OKP
                                                            1,9 Mrd. CHF
                                                                OKP                                          60 Mio. CHF
                                                                                                             Andere priv.                                                                                                                                                                                                                                                                                                       143 Mio. CHF
                                                                                                             Finanzierung                                                                                                                                                                                                                 19 Mio. CHF
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    AHV
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Andere priv.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Finanzierung
                                                            2,4 Mrd. CHF                                                                                             13,2 Mrd. CHF                                                           15,6 Mrd. CHF                              2,4 Mrd. CHF
429 Mio. CHF                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               399 Mio. CHF
                                                              Sozialver-                                                                                               Stationäre                                                           Gesamtkosten der                             Ambulante
    AHV                                                                                                                                                                                                                                                                                 Langzeitpflege                                                                                                                                                          IV
                                                             sicherungen                                                                                             Langzeitpflege                                                          Langzeitpflege

        2 Mio. CHF                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          1,4 Mrd. CHF
                                                                                                             80 Mio. CHF                                                                                                                                                                                                                                                Sozialversicherungen
    Militärversicherung
                                                                                                                 IV
                                                      13 Mio. CHF
                                                    Unfallversicherung
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      537 Mio. CHF                                                                                                  19 Mio. CHF
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     Selbstzahlungen                                                                                            Ergänzungsleistungen
                                                                                                                                                                                                                                         4,7 Mrd. CHF                                                                          1 Mio. CHF                                                                                              AHV
                                                                               2,8 Mrd. CHF                                                                               1,6 Mrd. CHF                                                                                                                                      Kostenbeteiligung
                                                                                                                                                                                                                                        Selbstzahlungen
                                                                                Andere öff.                                                                              Ergänzungsleis-                                                                                                                                   Privatversicherung
                                                                               Finanzierung                                                                               tungen AHV                                                                                                                                                                                                                                            33 Mio. CHF
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          45 Mio. CHF
                                   1,0 Mrd. CHF                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Andere öff. Finanzierung
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Kostenbetei-
                                  Ergänzungsleis-                                                                                                                                                                                                                                                                                         ligung OKP
                                     tungen IV                                                              198 Mio. CHF                                                                            4,7 Mrd. CHF                                  77 Mio. CHF                                                                                                                      14 Mio. CHF
                                                                                                             Alters- und                                                                                                                                                               491 Mio. CHF
                                                                                                                                                                                                    Out-of-pocket                               Kostenbeteiligung                                                                                                             Ergänzungsleistungen IV
                                                                                                             Pflegehilfe                                                                                                                                                               Out-of-pocket
                                                                                                                                                                                                     Zahlungen                                        OKP
                                                                                                                                                                                                                                                                                        Zahlungen

                                                                                                                                                                                                                                                     100%
                                                                                                                                                                                                                                                      90%
Abbildung 5: Finanzierung der Langzeitpflege in der Schweiz
                                                                                                                                                                                                                                                      80%
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an BFS (2018d, 2018e)
                                                                                                                                                                                                                                                      70%
                                                                                                                                                                                                                                                      60%
  4.5%                                                                                                                                                                                                                                                50%
  4.0%                                                                                                                                                                                                                                                40%
  3.5%                                                                                                                                                                                                                                                30%
  3.0%
                                                                                                                                                                                                                                                      20%
  2.5%
                                                                                                                                                                                                                                                      10%
  2.0%
  1.5%                                                                                                                                                                                                                                                 0%
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                Ungarn
                                                                                                                                                                                                                                                                      Portugal

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Island
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Estland

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Dänemark

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                           Japan

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Schweden
                                                                                                                                                                                                                                                            Schweiz

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Frankreich

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Tschechien
                                                                                                                                                                                                                                                                                               Spanien

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Polen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             Österreich
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          Kanada

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Norwegen
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Finnland

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Belgien
                                                                                                                                                                                                                                                                                 Deutschland

                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Slowenien
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     Korea

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Australien

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   Neuseeland

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         Niederlande

  1.0%
  0.5%
  0.0%
                                                                                                                                  OECD 30

                                                                                                                                                                                                              Portugal
                                                                                                                                                                                                                         Ungarn
                                  Schweden
                                             Dänemark

                                                                             Japan
                                                                                     Schweiz

                                                                                                            Island

                                                                                                                                                                                                                                  Estland
                                                                                               Frankreich

                                                                                                                     Tschechien

                                                                                                                                                                                                    Spanien
                                                        Norwegen

                                                                                                                                            Österreich
                                                                                                                                                         Kanada
                       Finnland

                                                                   Belgien

                                                                                                                                                                  Deutschland
                                                                                                                                                                                Slowenien
                                                                                                                                                                                            Korea
         Niederlande

                                                                                                                                                                                                                                                                          Staatliche Einnahmen                                                     Sozialversicherungen                                                    Privatversicherungen

                                                                                                                                                                                                                                                                          Out-of-pocket                                                            Andere
Abbildung 6: Ausgaben für die Langzeitpflege durch den Staat und die                                                                                                                                                                               Abbildung 7: Internationaler Vergleich der Langzeitpflegefinanzierung
obligatorischen Versicherungen (in % des BIP)                                                                                                                                                                                                      nach Finanzierungsquellen
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an OECD (2018b)                                                                                                                                                                                            Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Colombo, Llena-Nozal, Mercier und Tjadens (2011,
                                                                                                                                                                                                                                                   S. 231)
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       4
3 DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG IN DER SCHWEIZ
Der demografische Wandel wird durch die drei Fakto-                                                    Während Gruenberg (1977) erwartet, dass sich die
ren Fertilität, Mortalität und Migration determiniert                                                  Morbidität ausweitet, geht Manton (1982) von einem
(Ulrich, 2016, S. 329). Die Gesamtfruchtbarkeitsrate                                                   dynamischen Gleichgewicht aus, da sich die Morbidi-
der Schweiz sank von 2,31 im Jahr 1950 auf 1,55 im                                                     tät zwar erhöhe, ihre Intensität dagegen abnehme.
Jahr 2015. Damit ist sie geringer als die Reprodukti-                                                  Fries (1980) hingegen vermutet eine Kompression der
onsrate, welche nötig wäre, um das Bevölkerungsni-                                                     Morbidität. Empirische Studien, welche sich mit den
veau konstant zu halten. Als Gründe für diese Ab-                                                      drei Hypothesen beschäftigten, kamen jedoch zu kei-
nahme werden unter anderem der Pillenknick sowie                                                       nem eindeutigen Ergebnis.
ein gesellschaftlicher Wertewandel genannt (Maier,
2014, S. 18). In den letzten Jahren blieb die Zahl der
                                                                                                         20
Geburten je 1'000 Einwohner auf einem konstanten Ni-
                                                                                                         18
veau (vgl. Abb. 8).
                                                                                                         16
Gleichzeitig stieg die Lebenserwartung seit 1950 um
                                                                                                         14
13,8 Jahre für Frauen und 14,6 Jahre für Männer an.
                                                                                                         12
Zusammen mit der geringeren Geburtenrate führte
dies zu einer sogenannten doppelten demografischen                                                       10

Alterung (Höpflinger, 2018, S. 1) und dazu, dass das                                                      8
                                                                                                              1950
                                                                                                                     1960
                                                                                                                            1970
                                                                                                                                   1980
                                                                                                                                          1990
                                                                                                                                                  2000
                                                                                                                                                          2010
                                                                                                                                                                  2020
                                                                                                                                                                          2030
                                                                                                                                                                                 2040
                                                                                                                                                                                         2050
                                                                                                                                                                                                2060
                                                                                                                                                                                                       2070
                                                                                                                                                                                                              2080
                                                                                                                                                                                                                     2090
Medianalter seit 1971 von 32,2 auf heute 42,5 Jahre an-
gestiegen ist. Die positive Nettomigration ist nur teil-                                               Abbildung 8: Zahl der Geburten je 1'000 Einwohner
                                                                                                       Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an United Nations (2017)
weise in der Lage, diese Effekte auszugleichen.
Zwei Hauptauswirkungen lassen sich aus der Analyse
der Entwicklung der Fertilität- und Mortalitätsrate so-                                                  70
wie der Migration ableiten: Die Schweizer Bevölke-                                                       60

rung altert und ist rückläufig. Diese Effekte sind aus                                                   50

den Altersstrukturen für die Jahre 1980, 2015 und 2050                                                   40

ersichtlich (vgl. Abb. 10). Der Altersquotient stieg                                                     30
                                                                                                         20
demnach von 15,8 im Jahr 1950 auf 29,0 im Jahr 2015
                                                                                                         10
(vgl. Abb. 9), was negative Auswirkungen auf den im
                                                                                                          0
Umlageverfahren finanzierten Anteil der Langzeit-
                                                                                                              1950
                                                                                                                     1960
                                                                                                                            1970
                                                                                                                                   1980
                                                                                                                                          1990
                                                                                                                                                 2000
                                                                                                                                                         2010
                                                                                                                                                                 2020
                                                                                                                                                                         2030
                                                                                                                                                                                2040
                                                                                                                                                                                       2050
                                                                                                                                                                                              2060
                                                                                                                                                                                                     2070
                                                                                                                                                                                                            2080
                                                                                                                                                                                                                   2090
                                                                                                                                                                                                                          2100
pflegefinanzierung hat.
Über den Zusammenhang zwischen der demografi-                                                                           Weltweit                        Europa                         Schweiz                     USA
                                                                                                       Abbildung 9: Entwicklung des Altersquotienten
schen Entwicklung und der Invalidität bzw. der Mor-                                                    Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an United Nations (2017)
bidität bestehen in der Literatur drei Hypothesen.
                                                             1980                                                    2015                                                                               2050
                 80-84
                 70-74
                 60-64
Altersgruppe

                 50-54
                          männlich

                                                                weiblich

                 40-44
                 30-34
                 20-24
                 10-14
                    0-4
                       400             200      0       200           400         400    200       0          200            400             400                200               0             200                400
                                     Bevölkerung (in Tausend)                           Bevölkerung (in Tausend)                                           Bevölkerung (in Tausend)
               Abbildung 10: Altersstruktur der Schweiz für die Jahre 1980, 2015 und 2050
               Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an United Nations (2017)

                                                                                                                                                                                                                                 5
4 PROJEKTION DER LANGZEITPFLEGEKOSTEN IN DER SCHWEIZ
Um die Entwicklung der Langzeitpflegekosten zu pro-                                              nicht-demografische Kostenfaktoren wie die Entwick-
jektieren, greifen wir auf die Methodik des Kohorten-                                            lung des Gesundheitszustands der Bevölkerung, die
ansatzes zurück. Dieser eignet sich, um die Auswir-                                              zahlreichen medizinisch-technologischen Innovatio-
kungen längerfristiger demografischer Entwicklun-                                                nen, verschiedene makroökonomische Variablen und
gen auf die Gesundheitsausgaben zu analysieren. Da                                               die relative Kostenentwicklung im Gesundheitswesen
die Entwicklung der Langzeitpflegekosten von ver-                                                Berücksichtigung bei der Projektion der Langzeitpfle-
schiedenen Faktoren abhängig ist (u.a. dem Baumol-                                               gekosten. Insgesamt lässt sich sagen, dass die leicht
Effekt, dem medizinisch-technischen Fortschritt, der                                             wachsende Bevölkerung in Verbindung mit dem stei-
Wirtschaftsentwicklung, der Einkommenselastizität                                                genden Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbe-
und der Entwicklung der Morbidität), wird die Me-                                                völkerung zu einer Erhöhung der Nachfrage nach
thodik der Szenarioanalyse verwendet. Es werden                                                  Langzeitpflegedienstleistungen und damit zu höheren
neun verschiedene Szenarien und ihre Auswirkungen                                                Kosten führen werden. Da Innovationen in der Medi-
auf die Langzeitpflegekosten analysiert. Dazu wird                                               zintechnik und bei den Behandlungsmethoden im
die von Przywara (2010) vorgeschlagene Methodik,                                                 Langzeitpflegesektor nur schwer zu realisieren sind,
mit welcher er die Entwicklung der Gesundheitsaus-                                               sind durch sie hervorgerufene positive Auswirkungen
gaben für alle Mitgliedsstaaten der Europäischen                                                 auf die Kostenentwicklung begrenzt.
Union prognostizierte, angewendet (vgl. Abb. 11).                                                Kürzlich hat die Europäische Kommission (2018)
Insgesamt verdoppeln sich die Langzeitpflegekosten                                               Prognosen über die gesamten Gesundheits- und Lang-
im Referenzszenario im Zeitraum von 2016 bis 2050                                                zeitpflegekosten für ihre 28 Mitgliedsstaaten vorge-
von 2,3% auf 4,8% des BIP bzw. von 15,6 auf 31,3 Mrd.                                            legt. Für Länder mit einer ähnlichen demografischen
CHF pro Jahr. Die Kosten pro Person steigen demnach                                              Struktur sind die Entwicklungen der Kosten mit jenen
von 1'900 auf 3'050 CHF pro Jahr (+60,8%). Geringere                                             der Schweiz vergleichbar.
Kosten als im Referenzszenario werden lediglich für                                              Die stark steigenden Langzeitpflegekosten führen
die Szenarien abnehmender und konstanter Mortalität                                              dazu, dass die zurzeit verwendeten Finanzierungs-
sowie für das Szenario, welches den Einkommensef-                                                quellen in Zukunft übermässig belastet werden könn-
fekt berücksichtigt, prognostiziert (vgl. Abb. 12).                                              ten. Deshalb werden im folgenden Kapitel alternative
Zusätzlich zu den Prognosen der Langzeitpflegekos-                                               Finanzierungsmöglichkeiten vorgeschlagen und hin-
ten konnte die Sensitivität derselben gegenüber meh-                                             sichtlich der Kriterien soziale Gerechtigkeit bei der
reren Kostentreibern analysiert werden. Der demogra-                                             Mittelbeschaffung, wirtschaftliche Auswirkungen so-
fische Wandel ist dabei nur ein Faktor, welcher die                                              wie Nachhaltigkeit bewertet und verglichen.
Langzeitpflegekosten beeinflusst. Zugleich erfordern

Daten-                                                  Eidgenössisches                       6.0%
                   Bundesamt für Statistik
quellen:                                              Finanzdepartement                       5.5%
                                                                                              5.0%
                                       Gesund-                                                4.5%
                                                                                Gesamte
Input-            Bevölke-            heitsausga-           Stückkos-                         4.0%
                                                                               Langzeit-
                  rungsent-       *    ben nach        *   tenentwick-     =
daten:                                                                         pflegekos-     3.5%
                  wicklung             Alter und               lung
                                                                                   ten
                                      Geschlecht                                              3.0%
                                                                                              2.5%
                                                Szenarien
                  Szenarien       Szenarien      der Ein-      Szenarien                      2.0%
Alternative                       zum Ge-                       zu den
                 zur Demo-                      kommens-                                             2015       2020     2025   2030   2035    2040    2045    2050
Szenarien:                       sundheits-                    Stückkos-
                    grafie         zustand
                                                 entwick-
                                                   lung           ten
                                                                                                          Referenzszenario                    Konstante Gesundheit
Abbildung 11: Schematische Darstellung der Projektionsmethodik
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Przywara (2010, S. 37)
                                                                                                          Gesundes Altern                     Einkommenseffekt
                                                                                                          Starkes Wachstum                    Arbeitsintensität
                                                                                                          Technologie
                                                                                            Abbildung 12: Entwicklung der gesamten Langzeitpflegekosten in Pro-
                                                                                            zent des BIP in den verschiedenen Szenarien
                                                                                            Quelle: Eigene Darstellung

                                                                                                                                                                      6
5 ALTERNATIVE VERSICHERUNGS- UND FINANZIERUNGSMODELLE
Obwohl erst im Jahr 2011 umfassend reformiert, ist die                                                            Die Einführung einer steuerlich geförderten, kapital-
Nachhaltigkeit der Langzeitpflege-Finanzierung auf-                                                               gedeckten Zusatzversicherung orientiert sich am Mo-
grund der steigenden Kosten gefährdet. Die notwen-                                                                dell der Pflege-Bahr in Deutschland. Diese staatlich
digen Massnahmen zur Sicherstellung der Nachhal-                                                                  geförderte,     private    Langzeitpflegeversicherung
tigkeit unterscheiden sich dabei erheblich von jenen                                                              wurde im Jahr 2013 eingeführt, um den sich aus dem
des gesamten Gesundheitssystems. So ist beispiels-                                                                im Jahr 1995 initiierten Langzeitpflegeversicherungs-
weise eine Erhöhung der finanziellen Tragfähigkeit                                                                programm ergebenden Nachhaltigkeitsproblemen zu
des Langzeitpflegesystems durch eine stärkere private                                                             begegnen (Bund der Versicherten, 2018, S. 2; Nadash
Finanzierung und die Senkung der Stückkosten durch                                                                & Cuellar, 2017, S. 558–589). Der Anteil der privaten
Produktivitätssteigerungen nur begrenzt möglich                                                                   Langzeitpflegeversicherungen ist und war für die Fi-
(Mosca, van der Wees, Mot, Wammes, & Jeurissen,                                                                   nanzierung der Langzeitpflege in der Schweiz bisher
2017, S. 196). Ein weiterer Unterschied ist die hohe Be-                                                          vernachlässigbar klein. Während einige Wissenschaft-
deutung der informellen Pflege und die damit verbun-                                                              ler und Politiker argumentieren, dass eine private
denen Opportunitätskosten.                                                                                        Langzeitpflegeversicherung dazu beitragen würde,
Bei der Ausarbeitung der alternativen Finanzierungs-                                                              zusätzliche finanzielle Ressourcen zu erschliessen und
modelle sollten die übergeordneten Ziele des Wohl-                                                                dadurch die finanzielle Belastung des öffentlichen
fahrtstaates berücksichtigt werden. Dazu gehören un-                                                              Sektors zu verringern, halten andere sie für eine kos-
ter anderem die Absicherung gegen Risiken (wie                                                                    tenintensivere und ineffiziente Art der Finanzierung
Krankheit oder Verlust des Arbeitsplatzes), Umvertei-                                                             (Laporte & McMahon, 2016, S. 60). Die Förderung
lungen sowie die Glättung des Einkommensniveaus                                                                   würde in Form eines staatlichen Zuschusses erfolgen,
und die Unterstützung derjenigen, welche nicht auf                                                                wodurch möglicherweise Mitnahmeeffekte hervorge-
familiäre Hilfe zurückgreifen können (Degen, 2013).                                                               rufen werden, deren Umfang sich ex ante nicht voll-
                                                                                                                  ständig bestimmen lässt. Zudem müsste geklärt wer-
Während die vom Bundesrat (2016a, S. 59–75) aufge-                                                                den, ob die Einführung einer steuerbegünstigen kapi-
zeigten Optionen zur Deckung der zusätzlichen Lang-                                                               talgedeckten Zusatzversicherung nach dem Vorbild
zeitpflegekosten in der Langfassung dieser Studie aus-                                                            der Pflege-Bahr einen rein komplementären oder (teil-
führlich diskutiert werden, beschränkt sich die Kurz-                                                             weise) substitutiven Charakter aufweisen soll (Roth-
fassung auf eine schematische Darstellung in Abb. 13.                                                             gang & Jacobs, 2013, S. 21). Während ersteres die Vor-
                                                                                                                  teile der kapitalgedeckten Finanzierung und der Ver-
                                Finanzierungsvarianten für die Zusatzbelastung
                                                                                                                  sicherung kombinieren würde, begünstigt letzteres
                                                                                                                  höhere Einkommensgruppen und untergräbt die sozi-
                 Steuererhöhungen                                           Pflegeversicherung
                                                                                                                  ale Gerechtigkeit des bestehenden Systems.
                                                                             B) Abdeckung der

   Status quo
                  Mehrbeteiligung
                                    Übernahme der
                                     Langzeitpflege
                                                        A) Abdeckung der
                                                             Betreu-
                                                                                 Kosten der
                                                                              obligatorischen
                                                                                                 C) Kombination
                                                                                                 der Modelle A)
                                                                                                                  Die Variante der vererbbaren, privaten Sparkonten
                      Bund
                                                                                                                  basiert auf einem in Singapur eingeführten System
                                    durch den Bund         ungskosten         Krankenpflege-         und B)
                                                                                versicherung

Abbildung 13: Vom Bundesrat vorgeschlagene Finanzierungsmodelle                                                   (vgl. bspw. Peh, Ng, & Low, 2015). Dabei würde das
Quelle: Bundesrat (2016a, S. 61)
                                                                                                                  Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen für die fi-
Nebst einer Finanzierung aus Steuermitteln wird eine                                                              nanzielle Vorsorge für eine allfällige Pflegebedürftig-
umlagefinanzierte Pflegeversicherung vom Bundesrat                                                                keit im Alter gestärkt, ohne dass die staatliche Finan-
diskutiert. Wir diskutieren in den nächsten Abschnit-                                                             zierung und Verantwortung vollkommen aufgehoben
ten folgende alternative Finanzierungsmodelle: eine                                                               wären. Dieses Finanzierungssystem verpflichtet jede
steuerlich geförderte, kapitalgedeckte Zusatzversiche-                                                            Person ab einem bestimmten Alter, festgeschriebene
rung, vererbbare, private Sparkonten bzw. eine Risi-                                                              Beiträge auf ein privates Sparkonto einzuzahlen. Es
koversicherung, eine steuerliche Finanzierung (Erhö-                                                              findet dabei keine Umverteilung statt und im Todes-
hung der AHV-Beiträge, Einkommenssteuer, zweck-                                                                   fall ist das verbliebene Kapital vererbbar. Die Prämien
gebundene Erhöhung der MWST) sowie die Erhöhung                                                                   werden so berechnet, dass der akkumulierte Betrag
der OKP-Beiträge zum Aufbau eines staatlichen Vor-                                                                ausreicht, um die durchschnittlichen Pflegekosten (ca.
sorgefonds.                                                                                                       135'000 CHF pro Jahr (Cosandey & Kienast, 2016,
                                                                                                                  S. 133)) in einem Alters- und Pflegeheim für die durch-

                                                                                                                                                                       7
schnittliche Aufenthaltsdauer (ca. zwei Jahre (Wid-       erweisen, da die Sicherung der laufenden AHV-Leis-
mer, Kohler, & Ruch, 2016, S. 33)) in denselben zu de-    tungen klar Vorrang hat. Zudem sollte der Anstieg al-
cken. Es ist zu beachten, dass ein System mit vererb-     leinig von den Arbeitnehmern getragen werden, um
baren, privaten Sparkonten möglichst frühzeitig ein-      die Wettbewerbsfähigkeit des Schweizerischen Ar-
geführt werden sollte, da es Zeit benötigt, bis der ma-   beitsmarktes zu erhalten. Im Gegensatz zu den Optio-
ximale Entlastungseffekt erreicht werden kann. Da         nen mit Verwendung des Kapitaldeckungsverfahrens
das akkumulierte Kapital vererbbar ist, kann es zur       könnte diese Variante bereits wenige Monate nach ih-
Vergütung von Familienmitgliedern, welche infor-          rer Einführung das volle Potential entfalten. Aufgrund
melle Pflegeleistungen erbracht haben, verwendet          der demografischen Entwicklung müsste der Beitrags-
werden. Im Vergleich zu einem umlagefinanzierten          satz jedoch stetig steigen, um die steigenden Langzeit-
System bietet das Kapitaldeckungsverfahren mehrere        pflegekosten decken zu können. Die Erhöhung der
Vorteile hinsichtlich der demografischen Entwick-         AHV-Beiträge könnte politisch schwierig zu realisie-
lung. Der Nachteil einer solchen Variante ist es, dass    ren sein, wie die abgelehnte Reform «Altersvorsorge
sie keine Solidarität zwischen reichen und armen und      2020» erst kürzlich gezeigt hat.
gesunden und kranken Personen bietet.                     Eine weitere Option ist die Finanzierung durch eine
Dieser Sparlösung stellen wir die Einführung einer ob-    zweckgebundene Einkommenssteuer, welche auf Ba-
ligatorischen Risikoversicherung gegenüber. Bei ei-       sis der bereits bestehenden Einkommenssteuer erho-
ner reinen Risikoversicherung würden die erforderli-      ben wird. Es ist denkbar, dass die selbe Progression
chen Prämien deutlich niedriger ausfallen als bei einer   angewendet wird oder dass für den zweckgebunde-
Sparlösung. Ein möglicher Nachteil wäre jedoch, dass      nen Anteil eine eigene Progression eingeführt wird.
allfällige informelle Pflege durch Vererbung des zum      Während lohngebundene Beiträge einerseits die aus
Todeszeitpunkt verbliebenen Kapitals nicht vergütet       sozialer Sicht wünschbare Progression beinhalten, ist
werden könnte. Dieses Problem könnte dadurch ge-          diese Option andererseits mit den Nachteilen einer
löst werden, dass im Pflegefall eine Wahlmöglichkeit      sinkenden Einkommensbasis aufgrund der Bevölke-
zwischen vergüteter informeller und formeller Pflege      rungsalterung und mit makroökonomischen Beden-
geschaffen würde. Damit die Anreize informelle            ken (bspw. abnehmender Konsum, negativer Einfluss
Pflege zu erbringen aufrechterhalten bzw. gestärkt        auf Standortbedingungen, administrativer Aufwand)
werden, schlagen wir vor, dass durch Nachweis der         verbunden, welche deren Implementierung verhin-
Erbringung von informeller Pflege ex post eine Prä-       dern könnten (Kutzin, Yip, & Cashin, 2016, S. 270).
mienreduktion geltend gemacht werden kann. Im Ge-         Dennoch stellt die Erhöhung Einkommenssteuer eine
gensatz zu einer Sparlösung bestehen dadurch zwei         Alternative zur Deckung der zusätzlichen Langzeit-
Anreize, informelle Pflege zu erbringen. Einerseits       pflegekosten dar, da das Potential der Umverteilungs-
senkt dies die eigenen Beiträge und andererseits kann     wirkung progressiver Steuersätze und die damit ver-
im Todesfall der Eltern ein grösseres Vermögen ver-       bundene Erhöhung der Solidarität der Finanzierung
erbt werden.                                              nicht unterschätzt werden sollten. Ob die Mehrkosten
Der Anteil der steuerlichen Finanzierung an den           jedoch durch eine Umverteilung finanziert werden
Langzeitpflegekosten in der Schweiz ist im Vergleich      soll, stellt eine politische Frage dar.
zu anderen westeuropäischen und skandinavischen           Die Variante einer zweckgebundenen MWST-Erhö-
Ländern gering. Im Gegensatz zu den out-of-pocket         hung unterscheidet sich von der zweckgebundenen
Zahlungen bietet eine Finanzierung durch Steuererhö-      Erhöhung der Einkommenssteuer unter anderem
hungen die mit der Diversifikation der Risiken der In-    dadurch, dass nicht nur Erwerbstätige, sondern die
dividuen verbundenen Vorteile, wodurch ein besserer       gesamte Bevölkerung für die Finanzierung aufkommt.
finanzieller Schutz gewährleistet werden kann (Save-      Die Schweiz weist die niedrigsten MWST-Sätze der
doff, 2004, S. 2). Zudem unterliegt die steuerliche Fi-   Welt auf (PWC, 2019). Es ist jedoch zu berücksichti-
nanzierung weder der adversen Selektion noch Moral        gen, dass die niedrigen MWST-Sätze unter anderem
Hazard.                                                   als Standortvorteil dienen (economiesuisse, 2011, S. 4)
Eine Erhöhung der AHV-Beiträge wurde bislang              und dass rund ein Drittel der gesamten MWST-Ein-
nicht als Finanzierungsalternative vorgeschlagen. Die     nahmen von Unternehmen als nicht anrechenbare und
Erhöhung der Beitragssätze könnte sich als schwierig      nicht rückforderbare Vorsteuern auf die erworbenen

                                                                                                               8
Waren und Dienstleistungen gezahlt werden (Baum-            Generationen in Form von höheren Steuern oder
gartner, 2007, S. 61). Im Gegensatz zu einem Modell         Schulden gemildert werden (Colombo et al., 2011,
das auf Einkommenssteuerbeiträgen basiert, ist diese        S. 280). Diese Variante ähnelt der Option der vererb-
Variante regressiv. Eine Erhöhung der Verbrauchs-           baren, privaten Sparkonten, ist jedoch als öffentlicher
steuer würde die älteren Generationen stärker belas-        Fonds organisiert und könnte möglicherweise auf der
ten, da der Konsum mit zunehmendem Alter steigt,            Grundlage der bestehenden OKP realisiert werden.
wobei die Neigung zum Sparen jedoch vergleichs-             Im Anschluss an die Analyse der alternativen Finan-
weise weniger stark reduziert wird als bei einer            zierungsmodelle stellt sich die Frage, wie das Gesamt-
zweckgebundenen Erhöhung der Einkommenssteuer               finanzierungssystem angepasst werden könnte, um
(Gravelle & Taylor, 1989, S. 227). Die bereits jetzt ein-   seine Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Die Bewertung
geschränkten Anreize, für eine potentielle Pflegebe-        der alternativen Finanzierungsmodelle wird anhand
dürftigkeit im Alter vorzusorgen, würden daher zu-          von drei Faktoren vorgenommen: soziale Gerechtig-
mindest nicht weiter verringert. Einerseits bietet eine     keit bei der Beschaffung der Mittel, induzierte wirt-
Zweckbindung den Vorteil, dass die Finanzierung ge-         schaftliche Effekte und Nachhaltigkeit der Finanzie-
sichert ist, andererseits führt sie jedoch zu einer Ein-    rung. Der in der Langfassung der Studie ausführlich
schränkung der Flexibilität der öffentlichen Entschei-      diskutierte Vergleich zeigt, dass keine Variante den
dungsfindung bei der Verwendung der Steuereinnah-           anderen grundsätzlich überlegen ist. Jeder Vorschlag
men (Savedoff, 2004, S. 6). Da prognostiziert wurde,        hat seine Stärken und Schwächen in Bezug auf die ver-
dass die zusätzlichen MWST-Einnahmen aufgrund               wendeten Kriterien. Da keines der alternativen Finan-
des Rückgangs der Erwerbsbevölkerung weniger                zierungskonzepte in der Lage wäre, die Herausforde-
stark ansteigen werden als die Langzeitpflegekosten,        rungen der Langzeitpflegefinanzierung selbständig
würde sich ihr Anteil an der Finanzierung mit der Zeit      zu bewältigen, wird vorgeschlagen, dass der Status
reduzieren. Die erforderliche Verfassungsänderung           quo durch verschiedene Finanzierungsquellen er-
würde die Implementierung zeitaufwändig machen              gänzt wird. Dadurch könnten die Stärken der jeweili-
und eine schnelle Anpassung an sich verändernde Ge-         gen Optionen gebündelt und die Schwächen ausgegli-
gebenheiten erschweren. Das Hauptproblem bei der            chen werden.
Finanzierung der zusätzlichen Langzeitpflegekosten
durch eine zweckgebundene MWST-Erhöhung stellt              Tabelle 2 bietet einen Überblick über traditionelle und
jedoch die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips dar.       innovative Modelle der Pflegefinanzierung. Panel A
Dieses besagt, dass die höhere Ebene (d.h. der Bund)        zeigt alternative Versicherungsmodelle, die sich durch
keine Aufgaben übernehmen sollte, welche die tiefe-         den Zeitpunkt des Abschlusses und der Prämienzah-
ren Ebenen (d.h. die Kantone) gleichermassen gut er-        lung sowie die Deckung unterscheiden. Eine der
füllen können (Waldmann, 2015, S. 3).                       jüngsten in der Literatur diskutierten Innovationen ist
                                                            die variable Lebensversicherung mit garantierten le-
Eine weitere Finanzierungsmöglichkeit stellt die Erhö-      benslangen Austrittsleistungen, die neben dem Schutz
hung der Prämien der OKP zum Aufbau eines staat-            vor Einkommensausfällen auch eine Zusatzversiche-
lichen Vorsorgefonds dar. Die Beiträge der OKP sind         rung für die Langzeitpflege einschliesst. Panel B zeigt
als Pro-Kopf-Prämien ausgestaltet und daher weder           alternative Finanzierungsmethoden, welche über die
einkommens- noch risikoabhängig. Die Reform der             Idee des Risikopoolings durch Versicherungen hin-
Langzeitpflege im Jahr 2011 sah vor, dass die OPK           ausgehen. Die Option der Kapitalfreisetzung nutzt das
durch die Finanzierung der Langzeitpflege nicht zu-         im Wohneigentum gebundene Eigenkapital zur Fi-
sätzlich belastet werden darf (Eidgenössisches Depar-       nanzierung der Langzeitpflegekosten. Aufgrund der
tement des Innern, 2018, S. 1). Entscheidend ist dabei      derzeitigen institutionellen Situation in der Schweiz
jedoch nicht die absolute Entwicklung der Finanzie-         (engmaschiges Netz von Sozialversicherungen, bspw.
rung der OKP, sondern ihr relativer Anteil. Ungeach-        Ergänzungsleistungen) bestehen jedoch nur geringe
tet dessen wird eine Erhöhung der Beiträge vorge-           Anreize für den Abschluss einer solchen Umkehrhy-
schlagen. Diese sollen in einem staatlichen Vorsorge-       pothek sowie der Versicherungs- und Finanzierungs-
fonds angespart werden. Dadurch würde das Risiko            modelle insgesamt.
der Übertragung von Verpflichtungen auf künftige

                                                                                                                 9
Tabelle 2: Alternative Versicherungs- und Finanzierungsmodelle
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Eling und Ghavibazoo (2019, S. 313f.)
 Panel A: Versicherungsmodelle
 Kategorie                                   Definition
 Annuitäten      Life care annuity           Kombination einer aufgeschobenen/sofortigen Annuität mit Langzeitpflegedeckung; be-
                                             zahlt eine Rente zusammen mit einer erhöhten Leistung im Pflegefall; die Höhe der Annu-
                                             ität kann nach dem Ausmass der Pflegebedürftigkeit festgelegt werden. Die Annuität kann
                                             auch gezahlt werden, wenn der Versicherte bereits pflegebedürftig ist.
                  Enhanced annuity           Zielgruppe sind Menschen, die in ein Pflegeheim eintreten oder sich schon in einem sol-
                                             chen befinden. Basierend auf höheren Sterbewahrscheinlichkeiten und Zahlung einer Ein-
                                             malprämie bietet diese Deckung eine Verbesserung der Annuität.
                  Enhanced pension           Ein spezifisches Modell der Lebensversicherungs-annuität, das zum Zeitpunkt der Pensi-
                                             onierung abgeschlossen wird. Bei Pflegebedürftigkeit bietet es eine erhöhte Annuitäts-
                                             zahlung; die Prämien werden in jenem Zeitraum, in dem keine Pflegebedürftigkeit be-
                                             steht, durch reduzierte Annuitätszahlungen vereinnahmt
                  Variable life care annuity Kombination der Langzeitpflegeversicherung und einer variablen Annuität mit garantier-
                  with guaranteed lifetime ten, lebenslangen Austrittsleistungen. Die garantierte Einkommenskomponente schützt
                  withdrawal benefits        den Versicherten vor Abwärtsrisiken und die Langzeitpflegekomponente schützt ihn vor
                                             allfälligen Langzeitpflegekosten.
 Lebensversiche- Accelerated life            Lebenslange Todesfallversicherung («Whole Life Insurance») mit monatlichen Leistun-
 rung             insurance                  gen zur Deckung der Langzeitpflegekosten bis zum Tod.
                  Life insurance with LTC Deckt die tatsächlichen Kosten der Langzeitpflegeleistungen bis zu einem Höchstbetrag.
                  rider                      Wird für Menschen, welche bald das Rentenalter erreichen angeboten und kann entweder
                                             als reduzierter Leistungsbetrag aus dem Barwert des Lebensversicherungsteils der Police
                                             oder als Zusatzleistung mit Einmalprämie ausgestaltet sein.
                  Lifestage LTC product      Risikolebensversicherung bis zum Erreichen eines bestimmten Rentenalters und an-
                                             schliessende Umwandlung in eine Langzeitpflegeversicherung bei gleichbleibender Prä-
                                             mie und Deckungssumme.
 Invaliditätsver- Combined disability        Invaliditätsversicherung, die den Versicherten gegen die durch Invalidität verursachte
 sicherung        coverage                   Einkommenslücke absichert. Die Police kann die Möglichkeit enthalten, die Invaliditäts-
                                             versicherung nach der Pensionierung in eine Langzeitpflegeversicherung umzuwandeln,
                                             ohne dass ein medizinisches Gutachten erforderlich ist.
 Krankenversi-    Whole life health          Kombination einer dauerhaften Krankenversicherung mit einer Langzeitpflegeversiche-
 cherung          insurance                  rung. Sowohl die Deckung des Einkommens durch Berufsunfähigkeit im angestammten
                                             oder einem ähnlichen Beruf vor der Pensionierung, als auch allfällige Langzeitpflegeleis-
                                             tungen aufgrund von Pflegebedürftigkeit, sind abgedeckt.
 Kombination      Longlife insurance         Deckt Kosten chronischer Krankheiten (d.h. alle Kosten, die im Zusammenhang mit der
 von Annuitäten                              stationären Krankenpflege oder einer medizinisch notwendigen ambulanten Pflege ver-
 und Kranken-                                bunden sind) während der Pensionierung auf Basis spezifischer Taggelder je nach Art der
 versicherung                                Leistungen.
 Panel B: Finanzierungsmodelle
 Kategorie                                   Definition
 Langzeitpflege- Personal care savings       Anleihe, die im Fall von Pflegebedürftigkeit oder Tod liquidiert wird. Ein kleiner Teil des
 Bonds            bonds                      Wertes wird zur Finanzierung periodischer Geldpreise verwendet.
 Langzeitpflege- Consortium                  Konsortium von Langzeitpflegeanbietern, welches Wertpapiere emittiert, die in Pflege-
 Put-Optionen                                dienstleistungen umgewandelt werden können.
 Kapitalfreiset-  Reverse mortgage           Immobilieneigentümer erhalten Deckung der Langzeitpflegekosten durch Aufnahme ei-
 zung                                        nes Darlehens (Pauschal- oder Rentenzahlung) bei lebenslangem Wohnrecht. Die ge-
                                             schuldeten Zahlungen für das Darlehen werden nach dem Tod des Versicherten oder bei
                                             Verkauf der Immobilie geleistet.
                  Home reversion plan        Veräusserung (teilweise/vollständig) des Eigenkapitals gegen einen Pauschalbetrag. Der
                                             Hausbesitzer hat das Recht, in seinem Haus/seiner Wohnung zu bleiben, solange er lebt
                                             und nicht auszieht.

6 ÜBERLEGUNGEN ZU EINER KOSTENEFFIZIENTEREN PFLEGEORGANISATION
Die Finanzierungsseite sollte nicht losgelöst von der                              Zunächst werden die Auswirkungen einer Verlage-
Mittelverwendung diskutiert werden. Nachfolgend                                    rung von der stationären zur ambulanten Pflege an-
werden verschiedene Überlegungen zu einer ressour-                                 gesprochen. Eine Herausforderung der ambulanten
ceneffizienten Pflegeorganisation diskutiert.
                                                                                                                                     10
Langzeitpflege sind die vorherrschenden segmentier-       Pflegeheimen sowie ca. 19'000 in Spitex-Organisatio-
ten Versorgungsstrukturen und die damit einherge-         nen erforderlich sein (Merçay, Merçay, Burla, & Wid-
henden regionalen Unterschiede. Diesbezüglich ist je-     mer, 2016, S. 10)) entgegenzuwirken, sollte der Einsatz
doch festzuhalten, dass diese beiden Arten der Pflege-    von Pflegerobotern sowie die Anwerbung ausländi-
erbringung nicht als substitutiv, sondern als komple-     scher Arbeitskräfte geprüft werden. Letzteres steht je-
mentär zu betrachten sind. Gemäss einer Studie von        doch im Widerspruch zur Eidgenössischen Volksiniti-
Wächter und Künzi (2011, S. 26) fallen die Kosten der     ative «Gegen Masseneinwanderung» (Bundeskanzlei,
ambulanten Pflege bei einem Pflegebedarf von 60 bis       2019) und den von der Schweiz im Jahr 2010 unter-
120 Minuten höher aus als bei einer stationären Ver-      zeichneten Kodex der WHO (2010) über die internati-
sorgung (inkl. Hotellerie). Die ambulante Pflege kann     onale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften. Eine
die stationäre Pflege demzufolge nicht vollständig er-    Imageaufwertung des Pflegeberufes stellt eine weitere
setzen und um die kosteneffizienteste Lösung zu fin-      mögliche Gegenmassnahme zum Pflegenotstand dar
den, sollte der jeweilige Einzelfall betrachtet werden.   (Lamura, Chiatti, Barbabella, & di Rosa, 2013, S. 16).
Zudem sollte im Hinblick auf eine effizientere Pflege-    Dabei sollte jedoch berücksichtigt werden, dass die
organisation der ökonomische Einfluss einer Erhö-         Schweiz im europäischen Vergleich am zweitmeisten
hung der informellen Langzeitpflege untersucht            Pflegefachpersonen pro 1'000 Einwohner aufweist
werden. Die Beurteilung der Effekte einer Zunahme         (17,0) (OECD, 2018a, S. 181). Roboterassistierte Pflege
der informellen Pflege erweist sich jedoch als kom-       könnte die Pflegekräfte entlasten und somit den Pfle-
plex. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass         gepersonalmangel etwas mildern, indem diese ver-
allfällige Einsparungen in der formellen Langzeit-        schiedene zeitintensive und rationalisierbare Tätigkei-
pflege durch einen Rückgang der Steuereinnahmen           ten übernehmen (Krings & Weinberger, 2007, S. 195).
und der Leistungsfähigkeit ausgeglichen werden, da        Diese Aufgaben umfassen die Unterstützung bei Pfle-
die informell pflegenden Personen aus dem Erwerbs-        geaufgaben, die Überwachung des Gesundheitszu-
leben ausscheiden oder ihre Beschäftigung verringern      standes eines Patienten und/oder dessen soziale Be-
(Barbieri & Ghibelli, 2018, S. 2). Gemäss der Schweize-   treuung und Begleitung (Sharkey & Sharkey, 2012).
rischen Arbeitskräfteerhebung haben 15% der Erwerb-       Obwohl die Technologie der Pflegerobotik noch nicht
stätigen ihre Berufstätigkeit eingeschränkt oder gar      ausgereift ist und die technologischen Möglichkeiten
aufgegeben, um eine/n Angehörige/n zu pflegen (Bun-       noch lange nicht ausgeschöpft sind, könnte ihr Einsatz
desrat, 2014b, S. 19). Wenn man die institutionellen      vielversprechend       sein   (Gerling,     Hebesberger,
Rahmenbedingungen dahingehend verändern würde,            Dondrup, Körtner, & Hanheide, 2016). Zusätzlich zur
dass die informelle Pflege gestärkt und die Unterstüt-    physischen Unterstützung bieten Roboter psychische
zung für die betreuenden Personen erhöht würden,          Entlastung. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Poten-
könnte dies die Gerechtigkeit erhöhen. Ihr derzeitiger    tiale der Robotik in der Pflege gross sind, wobei jedoch
Einfluss auf die Qualität der Pflege, den Arbeitsmarkt    zwischen dem unterstützender und dem substitutiven
sowie die Finanzierung der Langzeitpflege ist jedoch      Einsatz von Pflegerobotern unterschieden werden
weitgehend unklar, was weitere Forschungsarbeiten         sollte. Weiter bestehen Unklarheiten in Bezug auf
erforderlich macht. Zudem führen demografische Ver-       mögliche Effizienzsteigerungen und den daraus resul-
änderungen dazu, dass sich die Anzahl der pflegebe-       tierenden Kosteneinsparungen. Dies kann darauf zu-
dürftigen Personen erhöht, während die Verfügbar-         rückgeführt werden, dass ein umfassender Einsatz,
keit der informellen Pflegekräfte abnimmt. Derzeit er-    mit Ausnahme von Pilotprojekten, bis jetzt noch nicht
hält die informelle Pflege eine sehr geringe Anerken-     realisiert worden ist.
nung, ist für die pflegenden Personen mit vielen Nach-    Der bezahlte Pflegeurlaub könnte sich als Alternative
teilen verbunden und somit ungerecht ausgestaltet.        zur institutionellen Pflege erweisen, da Eltern oftmals
Eine finanzielle Entlastung der pflegenden Personen       lieber daheim und von ihren eigenen Kindern bzw. Be-
oder auch die Gewährung eines Pflegeurlaubs (siehe        kannten gepflegt werden möchten. Für die Pflege von
unten), könnten zu einer adäquateren Wertschätzung        Eltern, Ehepartnern oder Geschwistern, sind die Er-
führen.                                                   werbstätigen auf die Kulanz ihrer Arbeitgeber ange-
Um dem Mangel an Pflegefachkräften (bis 2030 wer-         wiesen. Der Bundesrat bzw. das BAG (2017) haben die
den ca. 28'000 zusätzliche Pflegekräfte in Alters- und    Problematik erkannt und wollen die Situation für be-
                                                          treuende und pflegende Angehörige verbessern, da-

                                                                                                               11
mit diese aufgrund ihres Engagements nicht überfor-      gleichgesetzt, welche durch die Verzögerung von
dert werden oder in finanzielle Engpässe geraten. Vor-   Heimeintritten auf Kantons- und Gemeindeebenen
geschlagen werden kurzzeitige Freistellungen, um die     eintritt. Je KISS-Mitglied mit einem um 12 Monate ver-
Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erhöhen, so-      zögerten Heimeintritt beträgt die Kosteneinsparung
wie längere Betreuungsurlaube. Während bei ersteren      180'744 CHF. Davon entfallen 63'140 CHF auf die Ge-
der Lohn während der Dauer der Freistellung weiter-      meinden, 67'705 CHF auf die Kantone und 49'899 CHF
hin vom Arbeitgeber bezahlt werden soll, ist vorgese-    auf den Bund. Baaske und Lancaster (2014, S. 14) ge-
hen, dass bei letzteren die informell pflegende Person   hen davon aus, dass pro 100 Mitglieder zwei ohne Un-
durch die AHV vergütet wird. Bereits heute sieht das     terstützung der ins Alters- bzw. Pflegeheim müssten.
Bundesgesetz über die AHV Betreuungsgutschriften         In der Kosten-Nutzen-Analyse von Künzi et al. (2016,
vor, wenn eine Person mit mindestens mittlerer Hilflo-   S. 15) beträgt dieser Wert 12,5%. Zeitkonten sind eine
sigkeit betreut wird. Diese sollten nach Wunsch des      vielversprechende Ergänzung der institutionellen
BAG künftig jedoch auch jenen Personen gewährt           Pflege. Ihre Relevanz ist jedoch eher begrenzt. Dies ist
werden, welche Verwandte mit leichter Hilflosigkeit      einerseits der Tatsache zuzuschreiben, dass Zeitkon-
betreuen. Arora und Wolf (2017, S. 56) kamen zum         ten noch nicht in der ganzen Schweiz etabliert sind
Schluss, dass die Einführung eines bezahlten Pflegeur-   und andererseits, dass, vergleichbar zur informellen
laubs in Kalifornien die Wahrscheinlichkeit, dass Per-   Pflege von Angehörigen, Personen nicht gezwungen
sonen über 65 Jahren in einem Alters- oder Pflegeheim    werden können, in ihrer Freizeit Pflegeleistungen zu
wohnen, um 0,5–0,7 Prozentpunkte reduziert hat.          erbringen.
Diese Reduktion impliziert einen relativen Rückgang      Ambulant betreute Wohngemeinschaften (betreutes
des Anteils der älteren Menschen, die in Alters- und     Wohnen) stellen eine weitere Option dar, die Pflege-
Pflegeheimen wohnhaft sind, um rund 9–13 Prozent.        organisation effizienter und kostengünstiger zu ge-
Es sind noch keine Studien verfügbar, welche die Op-     stalten. Dabei wird der Fokus auf die Betreuung in ei-
portunitätskosten eines bezahlten Pflegeurlaubs be-      ner möglichst alltagsnahen, häuslichen Struktur ge-
rechnen.                                                 legt. Ambulant betreute Wohngemeinschaften bilden
Eine weitere Möglichkeit, die Folgen des demografi-      eine Stufe zwischen der ambulanten Betreuung zu
schen Wandels auf die Langzeitpflege zu mildern und      Hause und der stationären Unterkunft in Alters- und
die Pflegeorganisation kosteneffizienter zu gestalten,   Pflegeheimen (Wolf-Ostermann et al., 2014, S. 583). Sie
stellen sogenannte Zeitkonten dar. Für jede Stunde       werden auch als intermediäre Strukturen bezeichnet.
Unterstützung bei alltäglichen Aktivitäten von pflege-   Die durch den kulturellen und gesellschaftlichen
bedürftigen Personen erhält die betreuende Person        Wandel hervorgerufene Forderung nach mehr Selbst-
eine Stunde auf ihrem Zeitkonto gutgeschrieben.          bestimmung im Alter könnte die Attraktivität dieser
Sollte diese später einmal selbst auf Hilfe angewiesen   Wohn- und Versorgungsform in Zukunft steigern
sein, kann sie ihr Zeitguthaben gegen Leistungen ein-    (ebd., S. 586–587). Bereits seit vielen Jahren werden in
lösen oder an andere Mitglieder des Programmes wei-      der Schweiz betreute Wohnungen angeboten. Zum
tergeben. Zeitkonten leisten einen Beitrag zur Be-       Ausmass des Angebots gib es jedoch erst seit dem Jahr
kämpfung von drei grundlegenden Problemen älterer        2016 genauere Angaben. In ihrer Studie kamen Wer-
Menschen: Vereinsamung, geringes Einkommen bzw.          ner et al. (2016, S. 16) zum Schluss, dass schweizweit
Altersarmut sowie fehlende Lebensperspektiven            843 Strukturen mit Alterswohnungen vorhanden sind,
(Baaske & Lancaster, 2014, S. 9). Der Verein KISS        wobei die Anzahl der Alterswohnungen 15'880 be-
Schweiz fördert diese Form der Langzeitpflege aktiv.     trägt. Die tatsächliche Zahl der Alterswohnungen
Er setzt sich dafür ein, die Eigenverantwortung sowie    dürfte jedoch deutlich höher liegen, da bei mehr als
die Solidarität in Bezug auf die Langzeitpflege in der   300 Einrichtungen die Anzahl der Wohnungen nicht
Schweiz zu fördern. Indem sich Menschen aller Gene-      gemeldet wurde ist.
rationen gegenseitig unterstützten, können pflegebe-     Eine Ausweitung der Wehrpflicht auf die Frauen und
dürftige Personen möglichst lange und zu tiefen Kos-     die Umwandlung zu einem allgemeinen Bürger-
ten in ihrer vertrauten Umgebung leben. Künzi, Oesch     dienst könnte dazu beitragen, dass junge Männer und
und Jäggi (2016) haben eine Kosten-Nutzen-Analyse        Frauen einen Beitrag zur kosteneffizienteren Ausge-
der Zeitvorsorge KISS durchgeführt. Der Nutzen           staltung der Langzeitpflege leisten. Es würden Tätig-
wurde dabei mit der zu erwartenden Kostenersparnis       keiten übernommenen, welche keine spezifischen
bzw. -dämpfung im Pflege- und Betreuungsbereich
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fachlichen Qualifikationen erfordern. Dabei dürfen        den auf dem Arbeitsmarkt und führt er zu einer Ver-
die Auswirkungen auf die Schweizerische Volkswirt-        drängung von Arbeitskräften (ebd.)? Die erste Frage
schaft nicht unterschätzt werden. Langenegger (2018)      ist im Gegenteil zum derzeitigen System der Wehr-
hat darauf hingewiesen, dass ein allgemeiner Bürger-      pflicht weniger relevant, da für alle Personen diesel-
dienst die soziale Kohäsion positiv beeinflussen und      ben Bedingungen gelten würden. Es würde sich dies-
möglicherweise die Kosten der Alterspflege senken         bezüglich die Frage stellen, ob diese Massnahme Aus-
könnte, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt aber        wirkungen auf die internationale Wettbewerbsfähig-
unklar sind. Sie erwähnt jedoch, dass es in Branchen,     keit der Schweiz hätte. Als mögliche Lösung nennt
in welchen ein Unterangebot an Fachkräften besteht,       Langenegger (2018) die klare Trennung zwischen ei-
wünschenswert wäre, wenn bestimmte Tätigkeiten            nem formellen und informellen Sektor. Qualifizierte
von Bürgerdienstleistenden übernommen würden. Da          Tätigkeiten sollten dabei von Fachkräften übernom-
im Gesundheitssektor ein Nachfrageüberschuss bzw.         men werden, während Bürgerdienstleistende jene
ein Unterangebot an Arbeitskräften vorherrscht und        Aufgaben übernehmen, welche dem Umfang der in-
gewisse Aufgaben (bspw. Einkaufen) keine spezifi-         formellen Pflege zu Hause entsprechen.
schen Qualifikationen erfordern, würden Einsätze von      In der Langfassung der Studie werden die Überlegun-
Bürgerdienstleistenden keine negativen Auswirkun-         gen hinsichtlich einer kosteneffizienteren Langzeit-
gen auf die Arbeitsmarktsituation dieser Branche ha-      pflegeorganisation hinsichtlich verschiedener Krite-
ben. Im Hinblick auf die Arbeitsmarktneutralität stel-    rien bewertet. Analog zum vorhergehenden Kapitel
len sich bezüglich einer allgemeinen Bürgerpflicht        haben alle Ideen ihre Vor- und Nachteile. Eine Ergän-
zwei grundsätzliche Fragen: Entsteht durch die allge-     zung der bestehenden institutionellen Strukturen er-
meine Bürgerpflicht ein Nachteil für die Dienstleisten-   scheint aber sinnvoll.

7 SCHLUSSFOLGERUNGEN UND AUSBLICK
Ziel dieser Studie war es, alternative Finanzierungs-     Kapitaldeckungsverfahren zu beobachten. Das Finan-
konzepte für die Langzeitpflege in der Schweiz zu ent-    zierungssystem der Langzeitpflege in der Schweiz gilt
wickeln. Dazu wurden in einem ersten Schritt der Sta-     zwar als stabil, die Nachhaltigkeit könnte jedoch auf-
tus quo der Organisation, Kosten und Finanzierung         grund des Einflusses und der Veränderungen demo-
der Langzeitpflege analysiert. Anschliessend wurden       grafischer als auch nicht-demografischer Kostentrei-
die demografische Entwicklung sowie weitere nicht-        ber mittel- bis langfristig gefährdet sein.
demografische Faktoren beschrieben und es wurden          Der Vergleich und die Bewertung der verschiedenen
die Langzeitpflegekosten prognostiziert. Darauf auf-      alternativen Finanzierungsmodelle zeigt, dass jeder
bauend wurden alternative Finanzierungkonzepte zur        Vorschlag seine Stärken und Schwächen in Bezug auf
Deckung dieser Kosten diskutiert und Überlegungen         die Kriterien soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche
zu einer kosteneffizienteren Gestaltung der Langzeit-     Auswirkungen sowie Nachhaltigkeit der Finanzie-
pflegeorganisation vorgestellt.                           rung aufweist. Keines der vorgeschlagenen Konzepte
Die Projektion ergab, dass die Langzeitpflegekosten       ist in der Lage, die Herausforderungen der Langzeit-
unter Anwendung des Referenzszenarios bis im Jahr         pflegefinanzierung alleine zu bewältigen. Wir emp-
2050, gemessen in Prozent des BIP, um ca. 2,4 Prozent-    fehlen daher anstatt einer radikalen Reform den Status
punkte auf 4,8% steigen bzw. sich von 15,6 auf 31,3       quo schrittweise durch die Einführung zusätzlicher Fi-
Mrd. CHF pro Jahr verdoppeln. Die Kosten pro Person       nanzierungsquellen zu ergänzen. Auf diese Weise
steigen von 1'900 auf 3'050 CHF pro Jahr (+60,8%). Das    könnten die Stärken der jeweiligen Finanzierungs-
Finanzierungssystem der Langzeitpflege ist ver-           quellen genutzt und ihre Schwächen gegenseitig kom-
gleichsweise gut diversifiziert, obwohl es keine grös-    pensiert werden. So könnte beispielsweise ein kapital-
seren Reformen wie in anderen Ländern gegeben hat.        basiertes System, welches Zeit benötigt um sein ge-
Allerdings besteht erhebliches Optimierungspoten-         samtes Potential zu entfalten, durch temporäre und
tial, da die Nachhaltigkeit des Finanzierungssystems      zweckgebundene Steuern unterstützt werden. Die
gefährdet ist. International ist generell ein Trend weg   Ausgestaltung des Systems wird jedoch stark von po-
von der solidarischen, gesamtgesellschaftlichen Fi-       litischen Ansichten und sozialen Werten geprägt wer-
nanzierung zu privaten Finanzierungslösungen bzw.         den. Daher war das primäre Ziel dieser Studie nicht
out-of-pocket Zahlungen sowie vom Umlage- zum             die Entwicklung eines umfassenden Systems für die

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