Die Zukunft der Langzeitpflege in der Schweiz - Kurzfassung - Martin Eling, Mauro Elvedi
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Die Zukunft der Langzeitpflege in der Schweiz - Kurzfassung Martin Eling, Mauro Elvedi I· VW HSG Schriftenreihe, Band 66 – Kurzfassung
1 AUSGANGSLAGE UND ZIEL DER STUDIE Aufgrund des rapiden Anstiegs der Anzahl der über Die Resultate sind eindeutig: Ohne Reformen ist die 80-Jährigen, der medizinisch-technologischen Ent- Nachhaltigkeit der Pflegefinanzierung stark gefähr- wicklungen sowie der steigenden Prävalenz von Mul- det. Erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich des poten- timorbidität werden die Ausgaben für die Langzeit- ziellen Bedarfs, der Intensität und der Dauer der Lang- pflege in den kommenden Jahrzehnten in der Schweiz zeitpflege stellen dabei gewichtige Argumente für ei- deutlich ansteigen, von heute rund 15,6 Mrd. CHF pro nen Risikotransfer auf Ebene des Individuums und Jahr auf geschätzte 31,3 Mrd. CHF im Jahr 2050. Dies der Gesellschaft dar. Dennoch werden entsprechende führt die bisherige Pflegefinanzierung trotz zahlrei- Versicherungs- und Sparlösungen in der Schweiz – im cher Anpassungen in den vergangenen Jahren (vgl. Unterschied zu anderen Ländern – bis anhin kaum ge- Abb. 1) an ihre Grenzen. Einerseits ist schon heute der nutzt und wenig diskutiert. Aufgrund von fehlenden Eigenanteil der Pflegebedürftigen an der Finanzie- institutionellen Anreizen werden innovative Ansätze rung mit über 30% im internationalen Vergleich unge- der Pflegefinanzierung (wie bspw. Reverse Mortga- wöhnlich hoch. Andererseits wird auch die Belastung ges) nicht oder kaum genutzt. der Kantone bei einer Weiterführung des Status quo Wir empfehlen, das aktuelle Finanzierungssystem um die Grenzen des Machbaren sehr schnell erreichen. eine kapitalgedeckte Vorsorge zu ergänzen, wodurch Vor diesem Hintergrund analysieren wir, wie die Pfle- ein radikaler Umbau des Systems abgewendet werden gefinanzierung in der Schweiz sozial gerecht, wirt- Ggfs. könnte dies durch temporäre und zweckgebun- schaftlich effizient und nachhaltig gestaltet werden dene Steuern unterstützt werden- Zudem empfehlen kann. Um diese Frage zu beantworten, bieten wir in wir die Förderung einer besseren Pflegeorganisation einem ersten Schritt einen Überblick über traditionelle und die Offenheit für neue Wege in der Pflege, bspw. und innovative Modelle der Pflegefinanzierung sowie eine Diskussion um die Aufwertung der informellen eine aktualisierte und verbesserte Projektion der Pfle- Pflege, des Pflegeberufs und den Einsatz von Pflege- gekosten für die Schweiz. Kern der Studie sind dann robotern. Die Erschliessung neuer Finanzierungsquel- eine systematische Diskussion alternativer Modelle len und eine effiziente Organisation des Pflegesystems zur Finanzierung der Pflegekosten sowie Überlegun- müssen oberste Priorität haben. Nur dadurch können gen zu einer effizienteren Pflegeorganisation. Auf die- die Qualität und der Umfang der Langzeitpflege auch ser Grundlage werden Schlussfolgerungen und Hand- in den nächsten Jahrzehnten sichergestellt werden. lungsempfehlungen für die Politik abgeleitet. Ablehnung einer zweiten Revision Parlament verabschiedet Gesetz zur Neuordnung Beschluss des Bundesrates, im Jahr 2018 eine Initiative des KVG (beinhaltete Anpassungen der Finanzierung der Langzeitpflege; Ziele: Situa- zur Förderung des Images der Ausbildung und der Langzeitpflegefinanzierung) tion der Patienten verbessern & zusätzliche Karriere im Langzeitpflegebereich zu fördern; Ziel: finanzielle Belastung der Krankenkassen vermeiden Pflegefachkräftemangel entgegentreten Inkrafttreten des neuen Kranken- Ablehnung der Revision des KVG («Mana- Einführung des Förderprogramms versicherungsge- Neues Gesetz über den Finanz- und Las- ged Care») durch Referendum; Ziele: Koordi- «Entlastungsangebote für betreuende Ange- setzes: Stärkung tenausgleich ändert das System der Kofi- nination der Versorgung verbessern & Prä- hörige»; Ziele: Bedürfnisse informell Pflegender der Solidarität nanzierung der Prämienverbilligungen mien durch Einschränkung der Wahlmög- identifizieren, um Unterstützungs- und Entlas- (Einheitsprämien) durch Bund und Kantone lichkeiten verringern tungsangebote zu entwickeln 1996 2003 2005 2008 2010 2011 2014 2016 2017 Budgetierung und Leistungs- Reform des nationalen Bereitstellung jährlich aktualisierter Kennzahlen zu erfassung werden für die Lang- Finanzausgleichs ver- allen Pflegeheimen durch das Bundesamt für Gesund- zeitpflegeanbieter verbindlich lagert die Finanzie- heit mit dem Ziel der Erhöhung der Transparenz vorgeschrieben, um die Trans- rung der Spitex auf die parenz zu erhöhen Kantone Nationale Strategie für die Palliativmedizin mit dem Umfassende Reform des Finanzierungssystems: Festlegung einer Pauscha- Ziel, die Lebensqualität von unheilbar chronisch er- le zulasten der Krankenversicherer, kantonale Restfinanzierung und Hilfs- krankten Patienten zu verbessern; wird in allen Be- losenentschädigung leichten Grades in der AHV; einheitliche Vergütung reichen des Gesundheitssystems umgesetzt für ambulante und stationäre Pflege Abbildung 1: Zeitlicher Ablauf der Reformen der Langzeitpflege in der Schweiz Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bonoli, Braun und Trein (2014, S. 23–24), Bundesrat (2014a, 2016b), Bundesamt für Gesundheit [BAG] (2019) sowie De Pietro et al. (2015, S. 206–207) 2
2 INSTITUTIONELLER RAHMEN DER LANGZEITPFLEGE IN DER SCHWEIZ Die Langzeitpflege umfasst die Erbringung verschie- sich die jeweiligen Organisationsmodelle stark, dener Dienstleistungen (Pflege, Haushaltshilfe und wodurch kantonalen Besonderheiten Rechnung getra- Körperpflege) für pflegebedürftige Personen durch gen wird. Gemäss den letzten Schätzungen des Bun- verschiedene Parteien (Ärzte, Spitex und Angehörige) desrates (2014b, S. 5) betreuen rund 330'000 Menschen in unterschiedlichen Umgebungen (zu Hause oder in im Alter von 15 bis 64 Jahren regelmässig Angehörige, Institutionen) (Laporte & McMahon, 2016, S. 44–45). während zwischen 220'000 und 260'000 Menschen ab 65 Jahren in den letzten zwölf Monaten informelle ORGANISATION Pflege benötigten (ebd., S. 18). Gemäss Rudin und Das Angebot der Langzeitpflege in der Schweiz ba- Strub (2014, S. 2) beträgt der monetäre Wert der 42 siert auf drei Säulen: der informellen Pflege, der stati- Mio. Arbeitsstunden, welche für informelle Pflege auf- onären Pflege in Alters- und Pflegeheimen sowie der gewendet wurden, rund 3,5 Mrd. CHF pro Jahr. Zum ambulanten Pflege durch die Spitex-Organisationen. Vergleich dazu leisteten die Spitex-Organisationen im Die Dienstleistungen der Spitex-Organisation wurden Jahr 2017 rund 16 Mio. Pflegestunden sowie 6 Mio. im Jahr 2014 von 13,65% der über 65-Jährigen in An- hauswirtschaftliche und sozialbetreuerische Arbeits- spruch genommen, während 5,71% der über 65-Jähri- stunden (BFS, 2018f). Die informelle Pflege hat einen gen in Alters- und Pflegeheimen lebten (Dutoit, Pel- Einfluss auf die Arbeitsmarktbeteiligung und die Ge- legrini, & Füglister-Dousse, 2016) (vgl. Abb. 2 & 3). In sundheit ihrer Erbringer, die gesamten Gesundheits- den letzten Jahren ist der Anteil der ambulanten Pflege ausgaben sowie den generationsübergreifenden Zeit- an der gesamten Langzeitpflege leicht gestiegen. Dies und Geldtransfer (Norton, 2016, S. 960). entspricht dem strategischen Ziel des BAG, den Anteil der stationären Versorgung durch vermehrte ambu- KOSTENENTWICKLUNG lante Pflege zu reduzieren. Da die Ausgestaltung der Der Anteil der Langzeitpflegekosten an den gesamten Langzeitpflege kantonal geregelt ist, unterscheiden Gesundheitsausgaben pro Kopf und Monat beträgt 19,4% bzw. 156 CHF pro Einwohner (BFS, 2018b). Ins- 50% gesamt ist der prozentuale Anteil der Langzeitpflege- 40% kosten an den gesamten Gesundheitsausgaben im 30% Zeitraum von 1995 bis 2016 von 18,2% auf 19,4% ge- 20% stiegen (BFS, 2018c) (vgl. Abb. 4). Seit dem Jahr 2012 10% ist dieser jedoch von einem Höchstwert von 20% stetig 0% gesunken. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Fi-
Ausnahme des Jahres 2006 in diesem Zeitraum konti- Kosten werden vom Kanton übernommen, in wel- nuierlich von 6,8 Mrd. CHF auf 15,6 Mrd. CHF ange- chem die pflegebedürftige Person ihren Wohnsitz hat. wachsen. Dies entspricht einer jährlichen Wachstums- Der Gesamt-Finanzierungsbedarf beträgt rund 15,6 rate von 4,1%. Die Gesamtausgaben für die Langzeit- Mrd. CHF pro Jahr (vgl. Abb. 5). Darin ist der mone- pflege, gemessen in Prozent des BIP, stiegen von 1,7% täre Wert der informellen Pflege (3,5 Mrd. CHF) je- im Jahr 1995 auf 2,4% im Jahr 2016 (BFS, 2018a & doch nicht inkludiert. Die Kantone und Gemeinden 2018c). Als Hauptgründe für dieses Wachstum kön- tragen 3,6 Mrd. CHF zur Finanzierung bei. Die private nen die Alterung der Gesellschaft, die steigenden Er- Finanzierung beträgt rund 5,3 Mrd. CHF, wobei der wartungen an die Lebensqualität im Alter, das abneh- Grossteil zur Finanzierung der Kosten der stationären mende Angebot an informeller Pflege sowie die feh- Langzeitpflege verwendet wird. Die verschiedenen lenden Produktivitätssteigerungen in diesem arbeits- Sozialversicherungen kommen für weitere 3,8 Mrd. intensiven Sektor genannt werden (OECD, 2017, CHF auf. Der Anteil der alternativen Finanzierungs- S. 214). systeme, wie bspw. der freiwilligen Langzeitpflege- versicherungen, an der gesamten Finanzierung ist ver- FINANZIERUNG nachlässigbar klein. Während die stationäre Langzeit- Seit der Reform der Langzeitpflege im Jahr 2011 er- pflege stark durch Selbstzahlungen finanziert ist folgt deren Finanzierung durch private Kostenbeteili- (35,9%), übernimmt die OKP die Mehrheit der Kosten gungen (out-of-pocket-Zahlungen), öffentliche Mittel der ambulanten Langzeitpflege (57,5%). Im internatio- von Kantonen und Gemeinden sowie Beiträgen der nalen Vergleich fällt die Finanzierung durch out-of- obligatorischen Krankenpflegeversicherung [OKP] pocket Zahlungen in der Schweiz sehr hoch aus (vgl. und den Sozialversicherungen. Die verbleibenden Abb. 6 & 7). 171 Mio. CHF 2,2 Mrd. CHF Gemeinden 1,0 Mrd. CHF Kantone 406 Mio. CHF Gemeinden Staat 235 Mio. CHF Kantone 33 Mio. CHF 3,2 Mrd. CHF Privatversicher- Staat ungen 847 Mio. CHF OKP 1,9 Mrd. CHF OKP 60 Mio. CHF Andere priv. 143 Mio. CHF Finanzierung 19 Mio. CHF AHV Andere priv. Finanzierung 2,4 Mrd. CHF 13,2 Mrd. CHF 15,6 Mrd. CHF 2,4 Mrd. CHF 429 Mio. CHF 399 Mio. CHF Sozialver- Stationäre Gesamtkosten der Ambulante AHV Langzeitpflege IV sicherungen Langzeitpflege Langzeitpflege 2 Mio. CHF 1,4 Mrd. CHF 80 Mio. CHF Sozialversicherungen Militärversicherung IV 13 Mio. CHF Unfallversicherung 537 Mio. CHF 19 Mio. CHF Selbstzahlungen Ergänzungsleistungen 4,7 Mrd. CHF 1 Mio. CHF AHV 2,8 Mrd. CHF 1,6 Mrd. CHF Kostenbeteiligung Selbstzahlungen Andere öff. Ergänzungsleis- Privatversicherung Finanzierung tungen AHV 33 Mio. CHF 45 Mio. CHF 1,0 Mrd. CHF Andere öff. Finanzierung Kostenbetei- Ergänzungsleis- ligung OKP tungen IV 198 Mio. CHF 4,7 Mrd. CHF 77 Mio. CHF 14 Mio. CHF Alters- und 491 Mio. CHF Out-of-pocket Kostenbeteiligung Ergänzungsleistungen IV Pflegehilfe Out-of-pocket Zahlungen OKP Zahlungen 100% 90% Abbildung 5: Finanzierung der Langzeitpflege in der Schweiz 80% Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an BFS (2018d, 2018e) 70% 60% 4.5% 50% 4.0% 40% 3.5% 30% 3.0% 20% 2.5% 10% 2.0% 1.5% 0% Ungarn Portugal Island Estland Dänemark Japan Schweden Schweiz Frankreich Tschechien Spanien Polen Österreich Kanada Norwegen Finnland Belgien Deutschland Slowenien Korea Australien Neuseeland Niederlande 1.0% 0.5% 0.0% OECD 30 Portugal Ungarn Schweden Dänemark Japan Schweiz Island Estland Frankreich Tschechien Spanien Norwegen Österreich Kanada Finnland Belgien Deutschland Slowenien Korea Niederlande Staatliche Einnahmen Sozialversicherungen Privatversicherungen Out-of-pocket Andere Abbildung 6: Ausgaben für die Langzeitpflege durch den Staat und die Abbildung 7: Internationaler Vergleich der Langzeitpflegefinanzierung obligatorischen Versicherungen (in % des BIP) nach Finanzierungsquellen Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an OECD (2018b) Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Colombo, Llena-Nozal, Mercier und Tjadens (2011, S. 231) 4
3 DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG IN DER SCHWEIZ Der demografische Wandel wird durch die drei Fakto- Während Gruenberg (1977) erwartet, dass sich die ren Fertilität, Mortalität und Migration determiniert Morbidität ausweitet, geht Manton (1982) von einem (Ulrich, 2016, S. 329). Die Gesamtfruchtbarkeitsrate dynamischen Gleichgewicht aus, da sich die Morbidi- der Schweiz sank von 2,31 im Jahr 1950 auf 1,55 im tät zwar erhöhe, ihre Intensität dagegen abnehme. Jahr 2015. Damit ist sie geringer als die Reprodukti- Fries (1980) hingegen vermutet eine Kompression der onsrate, welche nötig wäre, um das Bevölkerungsni- Morbidität. Empirische Studien, welche sich mit den veau konstant zu halten. Als Gründe für diese Ab- drei Hypothesen beschäftigten, kamen jedoch zu kei- nahme werden unter anderem der Pillenknick sowie nem eindeutigen Ergebnis. ein gesellschaftlicher Wertewandel genannt (Maier, 2014, S. 18). In den letzten Jahren blieb die Zahl der 20 Geburten je 1'000 Einwohner auf einem konstanten Ni- 18 veau (vgl. Abb. 8). 16 Gleichzeitig stieg die Lebenserwartung seit 1950 um 14 13,8 Jahre für Frauen und 14,6 Jahre für Männer an. 12 Zusammen mit der geringeren Geburtenrate führte dies zu einer sogenannten doppelten demografischen 10 Alterung (Höpflinger, 2018, S. 1) und dazu, dass das 8 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 2040 2050 2060 2070 2080 2090 Medianalter seit 1971 von 32,2 auf heute 42,5 Jahre an- gestiegen ist. Die positive Nettomigration ist nur teil- Abbildung 8: Zahl der Geburten je 1'000 Einwohner Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an United Nations (2017) weise in der Lage, diese Effekte auszugleichen. Zwei Hauptauswirkungen lassen sich aus der Analyse der Entwicklung der Fertilität- und Mortalitätsrate so- 70 wie der Migration ableiten: Die Schweizer Bevölke- 60 rung altert und ist rückläufig. Diese Effekte sind aus 50 den Altersstrukturen für die Jahre 1980, 2015 und 2050 40 ersichtlich (vgl. Abb. 10). Der Altersquotient stieg 30 20 demnach von 15,8 im Jahr 1950 auf 29,0 im Jahr 2015 10 (vgl. Abb. 9), was negative Auswirkungen auf den im 0 Umlageverfahren finanzierten Anteil der Langzeit- 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030 2040 2050 2060 2070 2080 2090 2100 pflegefinanzierung hat. Über den Zusammenhang zwischen der demografi- Weltweit Europa Schweiz USA Abbildung 9: Entwicklung des Altersquotienten schen Entwicklung und der Invalidität bzw. der Mor- Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an United Nations (2017) bidität bestehen in der Literatur drei Hypothesen. 1980 2015 2050 80-84 70-74 60-64 Altersgruppe 50-54 männlich weiblich 40-44 30-34 20-24 10-14 0-4 400 200 0 200 400 400 200 0 200 400 400 200 0 200 400 Bevölkerung (in Tausend) Bevölkerung (in Tausend) Bevölkerung (in Tausend) Abbildung 10: Altersstruktur der Schweiz für die Jahre 1980, 2015 und 2050 Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an United Nations (2017) 5
4 PROJEKTION DER LANGZEITPFLEGEKOSTEN IN DER SCHWEIZ Um die Entwicklung der Langzeitpflegekosten zu pro- nicht-demografische Kostenfaktoren wie die Entwick- jektieren, greifen wir auf die Methodik des Kohorten- lung des Gesundheitszustands der Bevölkerung, die ansatzes zurück. Dieser eignet sich, um die Auswir- zahlreichen medizinisch-technologischen Innovatio- kungen längerfristiger demografischer Entwicklun- nen, verschiedene makroökonomische Variablen und gen auf die Gesundheitsausgaben zu analysieren. Da die relative Kostenentwicklung im Gesundheitswesen die Entwicklung der Langzeitpflegekosten von ver- Berücksichtigung bei der Projektion der Langzeitpfle- schiedenen Faktoren abhängig ist (u.a. dem Baumol- gekosten. Insgesamt lässt sich sagen, dass die leicht Effekt, dem medizinisch-technischen Fortschritt, der wachsende Bevölkerung in Verbindung mit dem stei- Wirtschaftsentwicklung, der Einkommenselastizität genden Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbe- und der Entwicklung der Morbidität), wird die Me- völkerung zu einer Erhöhung der Nachfrage nach thodik der Szenarioanalyse verwendet. Es werden Langzeitpflegedienstleistungen und damit zu höheren neun verschiedene Szenarien und ihre Auswirkungen Kosten führen werden. Da Innovationen in der Medi- auf die Langzeitpflegekosten analysiert. Dazu wird zintechnik und bei den Behandlungsmethoden im die von Przywara (2010) vorgeschlagene Methodik, Langzeitpflegesektor nur schwer zu realisieren sind, mit welcher er die Entwicklung der Gesundheitsaus- sind durch sie hervorgerufene positive Auswirkungen gaben für alle Mitgliedsstaaten der Europäischen auf die Kostenentwicklung begrenzt. Union prognostizierte, angewendet (vgl. Abb. 11). Kürzlich hat die Europäische Kommission (2018) Insgesamt verdoppeln sich die Langzeitpflegekosten Prognosen über die gesamten Gesundheits- und Lang- im Referenzszenario im Zeitraum von 2016 bis 2050 zeitpflegekosten für ihre 28 Mitgliedsstaaten vorge- von 2,3% auf 4,8% des BIP bzw. von 15,6 auf 31,3 Mrd. legt. Für Länder mit einer ähnlichen demografischen CHF pro Jahr. Die Kosten pro Person steigen demnach Struktur sind die Entwicklungen der Kosten mit jenen von 1'900 auf 3'050 CHF pro Jahr (+60,8%). Geringere der Schweiz vergleichbar. Kosten als im Referenzszenario werden lediglich für Die stark steigenden Langzeitpflegekosten führen die Szenarien abnehmender und konstanter Mortalität dazu, dass die zurzeit verwendeten Finanzierungs- sowie für das Szenario, welches den Einkommensef- quellen in Zukunft übermässig belastet werden könn- fekt berücksichtigt, prognostiziert (vgl. Abb. 12). ten. Deshalb werden im folgenden Kapitel alternative Zusätzlich zu den Prognosen der Langzeitpflegekos- Finanzierungsmöglichkeiten vorgeschlagen und hin- ten konnte die Sensitivität derselben gegenüber meh- sichtlich der Kriterien soziale Gerechtigkeit bei der reren Kostentreibern analysiert werden. Der demogra- Mittelbeschaffung, wirtschaftliche Auswirkungen so- fische Wandel ist dabei nur ein Faktor, welcher die wie Nachhaltigkeit bewertet und verglichen. Langzeitpflegekosten beeinflusst. Zugleich erfordern Daten- Eidgenössisches 6.0% Bundesamt für Statistik quellen: Finanzdepartement 5.5% 5.0% Gesund- 4.5% Gesamte Input- Bevölke- heitsausga- Stückkos- 4.0% Langzeit- rungsent- * ben nach * tenentwick- = daten: pflegekos- 3.5% wicklung Alter und lung ten Geschlecht 3.0% 2.5% Szenarien Szenarien Szenarien der Ein- Szenarien 2.0% Alternative zum Ge- zu den zur Demo- kommens- 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 Szenarien: sundheits- Stückkos- grafie zustand entwick- lung ten Referenzszenario Konstante Gesundheit Abbildung 11: Schematische Darstellung der Projektionsmethodik Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Przywara (2010, S. 37) Gesundes Altern Einkommenseffekt Starkes Wachstum Arbeitsintensität Technologie Abbildung 12: Entwicklung der gesamten Langzeitpflegekosten in Pro- zent des BIP in den verschiedenen Szenarien Quelle: Eigene Darstellung 6
5 ALTERNATIVE VERSICHERUNGS- UND FINANZIERUNGSMODELLE Obwohl erst im Jahr 2011 umfassend reformiert, ist die Die Einführung einer steuerlich geförderten, kapital- Nachhaltigkeit der Langzeitpflege-Finanzierung auf- gedeckten Zusatzversicherung orientiert sich am Mo- grund der steigenden Kosten gefährdet. Die notwen- dell der Pflege-Bahr in Deutschland. Diese staatlich digen Massnahmen zur Sicherstellung der Nachhal- geförderte, private Langzeitpflegeversicherung tigkeit unterscheiden sich dabei erheblich von jenen wurde im Jahr 2013 eingeführt, um den sich aus dem des gesamten Gesundheitssystems. So ist beispiels- im Jahr 1995 initiierten Langzeitpflegeversicherungs- weise eine Erhöhung der finanziellen Tragfähigkeit programm ergebenden Nachhaltigkeitsproblemen zu des Langzeitpflegesystems durch eine stärkere private begegnen (Bund der Versicherten, 2018, S. 2; Nadash Finanzierung und die Senkung der Stückkosten durch & Cuellar, 2017, S. 558–589). Der Anteil der privaten Produktivitätssteigerungen nur begrenzt möglich Langzeitpflegeversicherungen ist und war für die Fi- (Mosca, van der Wees, Mot, Wammes, & Jeurissen, nanzierung der Langzeitpflege in der Schweiz bisher 2017, S. 196). Ein weiterer Unterschied ist die hohe Be- vernachlässigbar klein. Während einige Wissenschaft- deutung der informellen Pflege und die damit verbun- ler und Politiker argumentieren, dass eine private denen Opportunitätskosten. Langzeitpflegeversicherung dazu beitragen würde, Bei der Ausarbeitung der alternativen Finanzierungs- zusätzliche finanzielle Ressourcen zu erschliessen und modelle sollten die übergeordneten Ziele des Wohl- dadurch die finanzielle Belastung des öffentlichen fahrtstaates berücksichtigt werden. Dazu gehören un- Sektors zu verringern, halten andere sie für eine kos- ter anderem die Absicherung gegen Risiken (wie tenintensivere und ineffiziente Art der Finanzierung Krankheit oder Verlust des Arbeitsplatzes), Umvertei- (Laporte & McMahon, 2016, S. 60). Die Förderung lungen sowie die Glättung des Einkommensniveaus würde in Form eines staatlichen Zuschusses erfolgen, und die Unterstützung derjenigen, welche nicht auf wodurch möglicherweise Mitnahmeeffekte hervorge- familiäre Hilfe zurückgreifen können (Degen, 2013). rufen werden, deren Umfang sich ex ante nicht voll- ständig bestimmen lässt. Zudem müsste geklärt wer- Während die vom Bundesrat (2016a, S. 59–75) aufge- den, ob die Einführung einer steuerbegünstigen kapi- zeigten Optionen zur Deckung der zusätzlichen Lang- talgedeckten Zusatzversicherung nach dem Vorbild zeitpflegekosten in der Langfassung dieser Studie aus- der Pflege-Bahr einen rein komplementären oder (teil- führlich diskutiert werden, beschränkt sich die Kurz- weise) substitutiven Charakter aufweisen soll (Roth- fassung auf eine schematische Darstellung in Abb. 13. gang & Jacobs, 2013, S. 21). Während ersteres die Vor- teile der kapitalgedeckten Finanzierung und der Ver- Finanzierungsvarianten für die Zusatzbelastung sicherung kombinieren würde, begünstigt letzteres höhere Einkommensgruppen und untergräbt die sozi- Steuererhöhungen Pflegeversicherung ale Gerechtigkeit des bestehenden Systems. B) Abdeckung der Status quo Mehrbeteiligung Übernahme der Langzeitpflege A) Abdeckung der Betreu- Kosten der obligatorischen C) Kombination der Modelle A) Die Variante der vererbbaren, privaten Sparkonten Bund basiert auf einem in Singapur eingeführten System durch den Bund ungskosten Krankenpflege- und B) versicherung Abbildung 13: Vom Bundesrat vorgeschlagene Finanzierungsmodelle (vgl. bspw. Peh, Ng, & Low, 2015). Dabei würde das Quelle: Bundesrat (2016a, S. 61) Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen für die fi- Nebst einer Finanzierung aus Steuermitteln wird eine nanzielle Vorsorge für eine allfällige Pflegebedürftig- umlagefinanzierte Pflegeversicherung vom Bundesrat keit im Alter gestärkt, ohne dass die staatliche Finan- diskutiert. Wir diskutieren in den nächsten Abschnit- zierung und Verantwortung vollkommen aufgehoben ten folgende alternative Finanzierungsmodelle: eine wären. Dieses Finanzierungssystem verpflichtet jede steuerlich geförderte, kapitalgedeckte Zusatzversiche- Person ab einem bestimmten Alter, festgeschriebene rung, vererbbare, private Sparkonten bzw. eine Risi- Beiträge auf ein privates Sparkonto einzuzahlen. Es koversicherung, eine steuerliche Finanzierung (Erhö- findet dabei keine Umverteilung statt und im Todes- hung der AHV-Beiträge, Einkommenssteuer, zweck- fall ist das verbliebene Kapital vererbbar. Die Prämien gebundene Erhöhung der MWST) sowie die Erhöhung werden so berechnet, dass der akkumulierte Betrag der OKP-Beiträge zum Aufbau eines staatlichen Vor- ausreicht, um die durchschnittlichen Pflegekosten (ca. sorgefonds. 135'000 CHF pro Jahr (Cosandey & Kienast, 2016, S. 133)) in einem Alters- und Pflegeheim für die durch- 7
schnittliche Aufenthaltsdauer (ca. zwei Jahre (Wid- erweisen, da die Sicherung der laufenden AHV-Leis- mer, Kohler, & Ruch, 2016, S. 33)) in denselben zu de- tungen klar Vorrang hat. Zudem sollte der Anstieg al- cken. Es ist zu beachten, dass ein System mit vererb- leinig von den Arbeitnehmern getragen werden, um baren, privaten Sparkonten möglichst frühzeitig ein- die Wettbewerbsfähigkeit des Schweizerischen Ar- geführt werden sollte, da es Zeit benötigt, bis der ma- beitsmarktes zu erhalten. Im Gegensatz zu den Optio- ximale Entlastungseffekt erreicht werden kann. Da nen mit Verwendung des Kapitaldeckungsverfahrens das akkumulierte Kapital vererbbar ist, kann es zur könnte diese Variante bereits wenige Monate nach ih- Vergütung von Familienmitgliedern, welche infor- rer Einführung das volle Potential entfalten. Aufgrund melle Pflegeleistungen erbracht haben, verwendet der demografischen Entwicklung müsste der Beitrags- werden. Im Vergleich zu einem umlagefinanzierten satz jedoch stetig steigen, um die steigenden Langzeit- System bietet das Kapitaldeckungsverfahren mehrere pflegekosten decken zu können. Die Erhöhung der Vorteile hinsichtlich der demografischen Entwick- AHV-Beiträge könnte politisch schwierig zu realisie- lung. Der Nachteil einer solchen Variante ist es, dass ren sein, wie die abgelehnte Reform «Altersvorsorge sie keine Solidarität zwischen reichen und armen und 2020» erst kürzlich gezeigt hat. gesunden und kranken Personen bietet. Eine weitere Option ist die Finanzierung durch eine Dieser Sparlösung stellen wir die Einführung einer ob- zweckgebundene Einkommenssteuer, welche auf Ba- ligatorischen Risikoversicherung gegenüber. Bei ei- sis der bereits bestehenden Einkommenssteuer erho- ner reinen Risikoversicherung würden die erforderli- ben wird. Es ist denkbar, dass die selbe Progression chen Prämien deutlich niedriger ausfallen als bei einer angewendet wird oder dass für den zweckgebunde- Sparlösung. Ein möglicher Nachteil wäre jedoch, dass nen Anteil eine eigene Progression eingeführt wird. allfällige informelle Pflege durch Vererbung des zum Während lohngebundene Beiträge einerseits die aus Todeszeitpunkt verbliebenen Kapitals nicht vergütet sozialer Sicht wünschbare Progression beinhalten, ist werden könnte. Dieses Problem könnte dadurch ge- diese Option andererseits mit den Nachteilen einer löst werden, dass im Pflegefall eine Wahlmöglichkeit sinkenden Einkommensbasis aufgrund der Bevölke- zwischen vergüteter informeller und formeller Pflege rungsalterung und mit makroökonomischen Beden- geschaffen würde. Damit die Anreize informelle ken (bspw. abnehmender Konsum, negativer Einfluss Pflege zu erbringen aufrechterhalten bzw. gestärkt auf Standortbedingungen, administrativer Aufwand) werden, schlagen wir vor, dass durch Nachweis der verbunden, welche deren Implementierung verhin- Erbringung von informeller Pflege ex post eine Prä- dern könnten (Kutzin, Yip, & Cashin, 2016, S. 270). mienreduktion geltend gemacht werden kann. Im Ge- Dennoch stellt die Erhöhung Einkommenssteuer eine gensatz zu einer Sparlösung bestehen dadurch zwei Alternative zur Deckung der zusätzlichen Langzeit- Anreize, informelle Pflege zu erbringen. Einerseits pflegekosten dar, da das Potential der Umverteilungs- senkt dies die eigenen Beiträge und andererseits kann wirkung progressiver Steuersätze und die damit ver- im Todesfall der Eltern ein grösseres Vermögen ver- bundene Erhöhung der Solidarität der Finanzierung erbt werden. nicht unterschätzt werden sollten. Ob die Mehrkosten Der Anteil der steuerlichen Finanzierung an den jedoch durch eine Umverteilung finanziert werden Langzeitpflegekosten in der Schweiz ist im Vergleich soll, stellt eine politische Frage dar. zu anderen westeuropäischen und skandinavischen Die Variante einer zweckgebundenen MWST-Erhö- Ländern gering. Im Gegensatz zu den out-of-pocket hung unterscheidet sich von der zweckgebundenen Zahlungen bietet eine Finanzierung durch Steuererhö- Erhöhung der Einkommenssteuer unter anderem hungen die mit der Diversifikation der Risiken der In- dadurch, dass nicht nur Erwerbstätige, sondern die dividuen verbundenen Vorteile, wodurch ein besserer gesamte Bevölkerung für die Finanzierung aufkommt. finanzieller Schutz gewährleistet werden kann (Save- Die Schweiz weist die niedrigsten MWST-Sätze der doff, 2004, S. 2). Zudem unterliegt die steuerliche Fi- Welt auf (PWC, 2019). Es ist jedoch zu berücksichti- nanzierung weder der adversen Selektion noch Moral gen, dass die niedrigen MWST-Sätze unter anderem Hazard. als Standortvorteil dienen (economiesuisse, 2011, S. 4) Eine Erhöhung der AHV-Beiträge wurde bislang und dass rund ein Drittel der gesamten MWST-Ein- nicht als Finanzierungsalternative vorgeschlagen. Die nahmen von Unternehmen als nicht anrechenbare und Erhöhung der Beitragssätze könnte sich als schwierig nicht rückforderbare Vorsteuern auf die erworbenen 8
Waren und Dienstleistungen gezahlt werden (Baum- Generationen in Form von höheren Steuern oder gartner, 2007, S. 61). Im Gegensatz zu einem Modell Schulden gemildert werden (Colombo et al., 2011, das auf Einkommenssteuerbeiträgen basiert, ist diese S. 280). Diese Variante ähnelt der Option der vererb- Variante regressiv. Eine Erhöhung der Verbrauchs- baren, privaten Sparkonten, ist jedoch als öffentlicher steuer würde die älteren Generationen stärker belas- Fonds organisiert und könnte möglicherweise auf der ten, da der Konsum mit zunehmendem Alter steigt, Grundlage der bestehenden OKP realisiert werden. wobei die Neigung zum Sparen jedoch vergleichs- Im Anschluss an die Analyse der alternativen Finan- weise weniger stark reduziert wird als bei einer zierungsmodelle stellt sich die Frage, wie das Gesamt- zweckgebundenen Erhöhung der Einkommenssteuer finanzierungssystem angepasst werden könnte, um (Gravelle & Taylor, 1989, S. 227). Die bereits jetzt ein- seine Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Die Bewertung geschränkten Anreize, für eine potentielle Pflegebe- der alternativen Finanzierungsmodelle wird anhand dürftigkeit im Alter vorzusorgen, würden daher zu- von drei Faktoren vorgenommen: soziale Gerechtig- mindest nicht weiter verringert. Einerseits bietet eine keit bei der Beschaffung der Mittel, induzierte wirt- Zweckbindung den Vorteil, dass die Finanzierung ge- schaftliche Effekte und Nachhaltigkeit der Finanzie- sichert ist, andererseits führt sie jedoch zu einer Ein- rung. Der in der Langfassung der Studie ausführlich schränkung der Flexibilität der öffentlichen Entschei- diskutierte Vergleich zeigt, dass keine Variante den dungsfindung bei der Verwendung der Steuereinnah- anderen grundsätzlich überlegen ist. Jeder Vorschlag men (Savedoff, 2004, S. 6). Da prognostiziert wurde, hat seine Stärken und Schwächen in Bezug auf die ver- dass die zusätzlichen MWST-Einnahmen aufgrund wendeten Kriterien. Da keines der alternativen Finan- des Rückgangs der Erwerbsbevölkerung weniger zierungskonzepte in der Lage wäre, die Herausforde- stark ansteigen werden als die Langzeitpflegekosten, rungen der Langzeitpflegefinanzierung selbständig würde sich ihr Anteil an der Finanzierung mit der Zeit zu bewältigen, wird vorgeschlagen, dass der Status reduzieren. Die erforderliche Verfassungsänderung quo durch verschiedene Finanzierungsquellen er- würde die Implementierung zeitaufwändig machen gänzt wird. Dadurch könnten die Stärken der jeweili- und eine schnelle Anpassung an sich verändernde Ge- gen Optionen gebündelt und die Schwächen ausgegli- gebenheiten erschweren. Das Hauptproblem bei der chen werden. Finanzierung der zusätzlichen Langzeitpflegekosten durch eine zweckgebundene MWST-Erhöhung stellt Tabelle 2 bietet einen Überblick über traditionelle und jedoch die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips dar. innovative Modelle der Pflegefinanzierung. Panel A Dieses besagt, dass die höhere Ebene (d.h. der Bund) zeigt alternative Versicherungsmodelle, die sich durch keine Aufgaben übernehmen sollte, welche die tiefe- den Zeitpunkt des Abschlusses und der Prämienzah- ren Ebenen (d.h. die Kantone) gleichermassen gut er- lung sowie die Deckung unterscheiden. Eine der füllen können (Waldmann, 2015, S. 3). jüngsten in der Literatur diskutierten Innovationen ist die variable Lebensversicherung mit garantierten le- Eine weitere Finanzierungsmöglichkeit stellt die Erhö- benslangen Austrittsleistungen, die neben dem Schutz hung der Prämien der OKP zum Aufbau eines staat- vor Einkommensausfällen auch eine Zusatzversiche- lichen Vorsorgefonds dar. Die Beiträge der OKP sind rung für die Langzeitpflege einschliesst. Panel B zeigt als Pro-Kopf-Prämien ausgestaltet und daher weder alternative Finanzierungsmethoden, welche über die einkommens- noch risikoabhängig. Die Reform der Idee des Risikopoolings durch Versicherungen hin- Langzeitpflege im Jahr 2011 sah vor, dass die OPK ausgehen. Die Option der Kapitalfreisetzung nutzt das durch die Finanzierung der Langzeitpflege nicht zu- im Wohneigentum gebundene Eigenkapital zur Fi- sätzlich belastet werden darf (Eidgenössisches Depar- nanzierung der Langzeitpflegekosten. Aufgrund der tement des Innern, 2018, S. 1). Entscheidend ist dabei derzeitigen institutionellen Situation in der Schweiz jedoch nicht die absolute Entwicklung der Finanzie- (engmaschiges Netz von Sozialversicherungen, bspw. rung der OKP, sondern ihr relativer Anteil. Ungeach- Ergänzungsleistungen) bestehen jedoch nur geringe tet dessen wird eine Erhöhung der Beiträge vorge- Anreize für den Abschluss einer solchen Umkehrhy- schlagen. Diese sollen in einem staatlichen Vorsorge- pothek sowie der Versicherungs- und Finanzierungs- fonds angespart werden. Dadurch würde das Risiko modelle insgesamt. der Übertragung von Verpflichtungen auf künftige 9
Tabelle 2: Alternative Versicherungs- und Finanzierungsmodelle Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Eling und Ghavibazoo (2019, S. 313f.) Panel A: Versicherungsmodelle Kategorie Definition Annuitäten Life care annuity Kombination einer aufgeschobenen/sofortigen Annuität mit Langzeitpflegedeckung; be- zahlt eine Rente zusammen mit einer erhöhten Leistung im Pflegefall; die Höhe der Annu- ität kann nach dem Ausmass der Pflegebedürftigkeit festgelegt werden. Die Annuität kann auch gezahlt werden, wenn der Versicherte bereits pflegebedürftig ist. Enhanced annuity Zielgruppe sind Menschen, die in ein Pflegeheim eintreten oder sich schon in einem sol- chen befinden. Basierend auf höheren Sterbewahrscheinlichkeiten und Zahlung einer Ein- malprämie bietet diese Deckung eine Verbesserung der Annuität. Enhanced pension Ein spezifisches Modell der Lebensversicherungs-annuität, das zum Zeitpunkt der Pensi- onierung abgeschlossen wird. Bei Pflegebedürftigkeit bietet es eine erhöhte Annuitäts- zahlung; die Prämien werden in jenem Zeitraum, in dem keine Pflegebedürftigkeit be- steht, durch reduzierte Annuitätszahlungen vereinnahmt Variable life care annuity Kombination der Langzeitpflegeversicherung und einer variablen Annuität mit garantier- with guaranteed lifetime ten, lebenslangen Austrittsleistungen. Die garantierte Einkommenskomponente schützt withdrawal benefits den Versicherten vor Abwärtsrisiken und die Langzeitpflegekomponente schützt ihn vor allfälligen Langzeitpflegekosten. Lebensversiche- Accelerated life Lebenslange Todesfallversicherung («Whole Life Insurance») mit monatlichen Leistun- rung insurance gen zur Deckung der Langzeitpflegekosten bis zum Tod. Life insurance with LTC Deckt die tatsächlichen Kosten der Langzeitpflegeleistungen bis zu einem Höchstbetrag. rider Wird für Menschen, welche bald das Rentenalter erreichen angeboten und kann entweder als reduzierter Leistungsbetrag aus dem Barwert des Lebensversicherungsteils der Police oder als Zusatzleistung mit Einmalprämie ausgestaltet sein. Lifestage LTC product Risikolebensversicherung bis zum Erreichen eines bestimmten Rentenalters und an- schliessende Umwandlung in eine Langzeitpflegeversicherung bei gleichbleibender Prä- mie und Deckungssumme. Invaliditätsver- Combined disability Invaliditätsversicherung, die den Versicherten gegen die durch Invalidität verursachte sicherung coverage Einkommenslücke absichert. Die Police kann die Möglichkeit enthalten, die Invaliditäts- versicherung nach der Pensionierung in eine Langzeitpflegeversicherung umzuwandeln, ohne dass ein medizinisches Gutachten erforderlich ist. Krankenversi- Whole life health Kombination einer dauerhaften Krankenversicherung mit einer Langzeitpflegeversiche- cherung insurance rung. Sowohl die Deckung des Einkommens durch Berufsunfähigkeit im angestammten oder einem ähnlichen Beruf vor der Pensionierung, als auch allfällige Langzeitpflegeleis- tungen aufgrund von Pflegebedürftigkeit, sind abgedeckt. Kombination Longlife insurance Deckt Kosten chronischer Krankheiten (d.h. alle Kosten, die im Zusammenhang mit der von Annuitäten stationären Krankenpflege oder einer medizinisch notwendigen ambulanten Pflege ver- und Kranken- bunden sind) während der Pensionierung auf Basis spezifischer Taggelder je nach Art der versicherung Leistungen. Panel B: Finanzierungsmodelle Kategorie Definition Langzeitpflege- Personal care savings Anleihe, die im Fall von Pflegebedürftigkeit oder Tod liquidiert wird. Ein kleiner Teil des Bonds bonds Wertes wird zur Finanzierung periodischer Geldpreise verwendet. Langzeitpflege- Consortium Konsortium von Langzeitpflegeanbietern, welches Wertpapiere emittiert, die in Pflege- Put-Optionen dienstleistungen umgewandelt werden können. Kapitalfreiset- Reverse mortgage Immobilieneigentümer erhalten Deckung der Langzeitpflegekosten durch Aufnahme ei- zung nes Darlehens (Pauschal- oder Rentenzahlung) bei lebenslangem Wohnrecht. Die ge- schuldeten Zahlungen für das Darlehen werden nach dem Tod des Versicherten oder bei Verkauf der Immobilie geleistet. Home reversion plan Veräusserung (teilweise/vollständig) des Eigenkapitals gegen einen Pauschalbetrag. Der Hausbesitzer hat das Recht, in seinem Haus/seiner Wohnung zu bleiben, solange er lebt und nicht auszieht. 6 ÜBERLEGUNGEN ZU EINER KOSTENEFFIZIENTEREN PFLEGEORGANISATION Die Finanzierungsseite sollte nicht losgelöst von der Zunächst werden die Auswirkungen einer Verlage- Mittelverwendung diskutiert werden. Nachfolgend rung von der stationären zur ambulanten Pflege an- werden verschiedene Überlegungen zu einer ressour- gesprochen. Eine Herausforderung der ambulanten ceneffizienten Pflegeorganisation diskutiert. 10
Langzeitpflege sind die vorherrschenden segmentier- Pflegeheimen sowie ca. 19'000 in Spitex-Organisatio- ten Versorgungsstrukturen und die damit einherge- nen erforderlich sein (Merçay, Merçay, Burla, & Wid- henden regionalen Unterschiede. Diesbezüglich ist je- mer, 2016, S. 10)) entgegenzuwirken, sollte der Einsatz doch festzuhalten, dass diese beiden Arten der Pflege- von Pflegerobotern sowie die Anwerbung ausländi- erbringung nicht als substitutiv, sondern als komple- scher Arbeitskräfte geprüft werden. Letzteres steht je- mentär zu betrachten sind. Gemäss einer Studie von doch im Widerspruch zur Eidgenössischen Volksiniti- Wächter und Künzi (2011, S. 26) fallen die Kosten der ative «Gegen Masseneinwanderung» (Bundeskanzlei, ambulanten Pflege bei einem Pflegebedarf von 60 bis 2019) und den von der Schweiz im Jahr 2010 unter- 120 Minuten höher aus als bei einer stationären Ver- zeichneten Kodex der WHO (2010) über die internati- sorgung (inkl. Hotellerie). Die ambulante Pflege kann onale Anwerbung von Gesundheitsfachkräften. Eine die stationäre Pflege demzufolge nicht vollständig er- Imageaufwertung des Pflegeberufes stellt eine weitere setzen und um die kosteneffizienteste Lösung zu fin- mögliche Gegenmassnahme zum Pflegenotstand dar den, sollte der jeweilige Einzelfall betrachtet werden. (Lamura, Chiatti, Barbabella, & di Rosa, 2013, S. 16). Zudem sollte im Hinblick auf eine effizientere Pflege- Dabei sollte jedoch berücksichtigt werden, dass die organisation der ökonomische Einfluss einer Erhö- Schweiz im europäischen Vergleich am zweitmeisten hung der informellen Langzeitpflege untersucht Pflegefachpersonen pro 1'000 Einwohner aufweist werden. Die Beurteilung der Effekte einer Zunahme (17,0) (OECD, 2018a, S. 181). Roboterassistierte Pflege der informellen Pflege erweist sich jedoch als kom- könnte die Pflegekräfte entlasten und somit den Pfle- plex. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass gepersonalmangel etwas mildern, indem diese ver- allfällige Einsparungen in der formellen Langzeit- schiedene zeitintensive und rationalisierbare Tätigkei- pflege durch einen Rückgang der Steuereinnahmen ten übernehmen (Krings & Weinberger, 2007, S. 195). und der Leistungsfähigkeit ausgeglichen werden, da Diese Aufgaben umfassen die Unterstützung bei Pfle- die informell pflegenden Personen aus dem Erwerbs- geaufgaben, die Überwachung des Gesundheitszu- leben ausscheiden oder ihre Beschäftigung verringern standes eines Patienten und/oder dessen soziale Be- (Barbieri & Ghibelli, 2018, S. 2). Gemäss der Schweize- treuung und Begleitung (Sharkey & Sharkey, 2012). rischen Arbeitskräfteerhebung haben 15% der Erwerb- Obwohl die Technologie der Pflegerobotik noch nicht stätigen ihre Berufstätigkeit eingeschränkt oder gar ausgereift ist und die technologischen Möglichkeiten aufgegeben, um eine/n Angehörige/n zu pflegen (Bun- noch lange nicht ausgeschöpft sind, könnte ihr Einsatz desrat, 2014b, S. 19). Wenn man die institutionellen vielversprechend sein (Gerling, Hebesberger, Rahmenbedingungen dahingehend verändern würde, Dondrup, Körtner, & Hanheide, 2016). Zusätzlich zur dass die informelle Pflege gestärkt und die Unterstüt- physischen Unterstützung bieten Roboter psychische zung für die betreuenden Personen erhöht würden, Entlastung. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Poten- könnte dies die Gerechtigkeit erhöhen. Ihr derzeitiger tiale der Robotik in der Pflege gross sind, wobei jedoch Einfluss auf die Qualität der Pflege, den Arbeitsmarkt zwischen dem unterstützender und dem substitutiven sowie die Finanzierung der Langzeitpflege ist jedoch Einsatz von Pflegerobotern unterschieden werden weitgehend unklar, was weitere Forschungsarbeiten sollte. Weiter bestehen Unklarheiten in Bezug auf erforderlich macht. Zudem führen demografische Ver- mögliche Effizienzsteigerungen und den daraus resul- änderungen dazu, dass sich die Anzahl der pflegebe- tierenden Kosteneinsparungen. Dies kann darauf zu- dürftigen Personen erhöht, während die Verfügbar- rückgeführt werden, dass ein umfassender Einsatz, keit der informellen Pflegekräfte abnimmt. Derzeit er- mit Ausnahme von Pilotprojekten, bis jetzt noch nicht hält die informelle Pflege eine sehr geringe Anerken- realisiert worden ist. nung, ist für die pflegenden Personen mit vielen Nach- Der bezahlte Pflegeurlaub könnte sich als Alternative teilen verbunden und somit ungerecht ausgestaltet. zur institutionellen Pflege erweisen, da Eltern oftmals Eine finanzielle Entlastung der pflegenden Personen lieber daheim und von ihren eigenen Kindern bzw. Be- oder auch die Gewährung eines Pflegeurlaubs (siehe kannten gepflegt werden möchten. Für die Pflege von unten), könnten zu einer adäquateren Wertschätzung Eltern, Ehepartnern oder Geschwistern, sind die Er- führen. werbstätigen auf die Kulanz ihrer Arbeitgeber ange- Um dem Mangel an Pflegefachkräften (bis 2030 wer- wiesen. Der Bundesrat bzw. das BAG (2017) haben die den ca. 28'000 zusätzliche Pflegekräfte in Alters- und Problematik erkannt und wollen die Situation für be- treuende und pflegende Angehörige verbessern, da- 11
mit diese aufgrund ihres Engagements nicht überfor- gleichgesetzt, welche durch die Verzögerung von dert werden oder in finanzielle Engpässe geraten. Vor- Heimeintritten auf Kantons- und Gemeindeebenen geschlagen werden kurzzeitige Freistellungen, um die eintritt. Je KISS-Mitglied mit einem um 12 Monate ver- Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erhöhen, so- zögerten Heimeintritt beträgt die Kosteneinsparung wie längere Betreuungsurlaube. Während bei ersteren 180'744 CHF. Davon entfallen 63'140 CHF auf die Ge- der Lohn während der Dauer der Freistellung weiter- meinden, 67'705 CHF auf die Kantone und 49'899 CHF hin vom Arbeitgeber bezahlt werden soll, ist vorgese- auf den Bund. Baaske und Lancaster (2014, S. 14) ge- hen, dass bei letzteren die informell pflegende Person hen davon aus, dass pro 100 Mitglieder zwei ohne Un- durch die AHV vergütet wird. Bereits heute sieht das terstützung der ins Alters- bzw. Pflegeheim müssten. Bundesgesetz über die AHV Betreuungsgutschriften In der Kosten-Nutzen-Analyse von Künzi et al. (2016, vor, wenn eine Person mit mindestens mittlerer Hilflo- S. 15) beträgt dieser Wert 12,5%. Zeitkonten sind eine sigkeit betreut wird. Diese sollten nach Wunsch des vielversprechende Ergänzung der institutionellen BAG künftig jedoch auch jenen Personen gewährt Pflege. Ihre Relevanz ist jedoch eher begrenzt. Dies ist werden, welche Verwandte mit leichter Hilflosigkeit einerseits der Tatsache zuzuschreiben, dass Zeitkon- betreuen. Arora und Wolf (2017, S. 56) kamen zum ten noch nicht in der ganzen Schweiz etabliert sind Schluss, dass die Einführung eines bezahlten Pflegeur- und andererseits, dass, vergleichbar zur informellen laubs in Kalifornien die Wahrscheinlichkeit, dass Per- Pflege von Angehörigen, Personen nicht gezwungen sonen über 65 Jahren in einem Alters- oder Pflegeheim werden können, in ihrer Freizeit Pflegeleistungen zu wohnen, um 0,5–0,7 Prozentpunkte reduziert hat. erbringen. Diese Reduktion impliziert einen relativen Rückgang Ambulant betreute Wohngemeinschaften (betreutes des Anteils der älteren Menschen, die in Alters- und Wohnen) stellen eine weitere Option dar, die Pflege- Pflegeheimen wohnhaft sind, um rund 9–13 Prozent. organisation effizienter und kostengünstiger zu ge- Es sind noch keine Studien verfügbar, welche die Op- stalten. Dabei wird der Fokus auf die Betreuung in ei- portunitätskosten eines bezahlten Pflegeurlaubs be- ner möglichst alltagsnahen, häuslichen Struktur ge- rechnen. legt. Ambulant betreute Wohngemeinschaften bilden Eine weitere Möglichkeit, die Folgen des demografi- eine Stufe zwischen der ambulanten Betreuung zu schen Wandels auf die Langzeitpflege zu mildern und Hause und der stationären Unterkunft in Alters- und die Pflegeorganisation kosteneffizienter zu gestalten, Pflegeheimen (Wolf-Ostermann et al., 2014, S. 583). Sie stellen sogenannte Zeitkonten dar. Für jede Stunde werden auch als intermediäre Strukturen bezeichnet. Unterstützung bei alltäglichen Aktivitäten von pflege- Die durch den kulturellen und gesellschaftlichen bedürftigen Personen erhält die betreuende Person Wandel hervorgerufene Forderung nach mehr Selbst- eine Stunde auf ihrem Zeitkonto gutgeschrieben. bestimmung im Alter könnte die Attraktivität dieser Sollte diese später einmal selbst auf Hilfe angewiesen Wohn- und Versorgungsform in Zukunft steigern sein, kann sie ihr Zeitguthaben gegen Leistungen ein- (ebd., S. 586–587). Bereits seit vielen Jahren werden in lösen oder an andere Mitglieder des Programmes wei- der Schweiz betreute Wohnungen angeboten. Zum tergeben. Zeitkonten leisten einen Beitrag zur Be- Ausmass des Angebots gib es jedoch erst seit dem Jahr kämpfung von drei grundlegenden Problemen älterer 2016 genauere Angaben. In ihrer Studie kamen Wer- Menschen: Vereinsamung, geringes Einkommen bzw. ner et al. (2016, S. 16) zum Schluss, dass schweizweit Altersarmut sowie fehlende Lebensperspektiven 843 Strukturen mit Alterswohnungen vorhanden sind, (Baaske & Lancaster, 2014, S. 9). Der Verein KISS wobei die Anzahl der Alterswohnungen 15'880 be- Schweiz fördert diese Form der Langzeitpflege aktiv. trägt. Die tatsächliche Zahl der Alterswohnungen Er setzt sich dafür ein, die Eigenverantwortung sowie dürfte jedoch deutlich höher liegen, da bei mehr als die Solidarität in Bezug auf die Langzeitpflege in der 300 Einrichtungen die Anzahl der Wohnungen nicht Schweiz zu fördern. Indem sich Menschen aller Gene- gemeldet wurde ist. rationen gegenseitig unterstützten, können pflegebe- Eine Ausweitung der Wehrpflicht auf die Frauen und dürftige Personen möglichst lange und zu tiefen Kos- die Umwandlung zu einem allgemeinen Bürger- ten in ihrer vertrauten Umgebung leben. Künzi, Oesch dienst könnte dazu beitragen, dass junge Männer und und Jäggi (2016) haben eine Kosten-Nutzen-Analyse Frauen einen Beitrag zur kosteneffizienteren Ausge- der Zeitvorsorge KISS durchgeführt. Der Nutzen staltung der Langzeitpflege leisten. Es würden Tätig- wurde dabei mit der zu erwartenden Kostenersparnis keiten übernommenen, welche keine spezifischen bzw. -dämpfung im Pflege- und Betreuungsbereich 12
fachlichen Qualifikationen erfordern. Dabei dürfen den auf dem Arbeitsmarkt und führt er zu einer Ver- die Auswirkungen auf die Schweizerische Volkswirt- drängung von Arbeitskräften (ebd.)? Die erste Frage schaft nicht unterschätzt werden. Langenegger (2018) ist im Gegenteil zum derzeitigen System der Wehr- hat darauf hingewiesen, dass ein allgemeiner Bürger- pflicht weniger relevant, da für alle Personen diesel- dienst die soziale Kohäsion positiv beeinflussen und ben Bedingungen gelten würden. Es würde sich dies- möglicherweise die Kosten der Alterspflege senken bezüglich die Frage stellen, ob diese Massnahme Aus- könnte, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt aber wirkungen auf die internationale Wettbewerbsfähig- unklar sind. Sie erwähnt jedoch, dass es in Branchen, keit der Schweiz hätte. Als mögliche Lösung nennt in welchen ein Unterangebot an Fachkräften besteht, Langenegger (2018) die klare Trennung zwischen ei- wünschenswert wäre, wenn bestimmte Tätigkeiten nem formellen und informellen Sektor. Qualifizierte von Bürgerdienstleistenden übernommen würden. Da Tätigkeiten sollten dabei von Fachkräften übernom- im Gesundheitssektor ein Nachfrageüberschuss bzw. men werden, während Bürgerdienstleistende jene ein Unterangebot an Arbeitskräften vorherrscht und Aufgaben übernehmen, welche dem Umfang der in- gewisse Aufgaben (bspw. Einkaufen) keine spezifi- formellen Pflege zu Hause entsprechen. schen Qualifikationen erfordern, würden Einsätze von In der Langfassung der Studie werden die Überlegun- Bürgerdienstleistenden keine negativen Auswirkun- gen hinsichtlich einer kosteneffizienteren Langzeit- gen auf die Arbeitsmarktsituation dieser Branche ha- pflegeorganisation hinsichtlich verschiedener Krite- ben. Im Hinblick auf die Arbeitsmarktneutralität stel- rien bewertet. Analog zum vorhergehenden Kapitel len sich bezüglich einer allgemeinen Bürgerpflicht haben alle Ideen ihre Vor- und Nachteile. Eine Ergän- zwei grundsätzliche Fragen: Entsteht durch die allge- zung der bestehenden institutionellen Strukturen er- meine Bürgerpflicht ein Nachteil für die Dienstleisten- scheint aber sinnvoll. 7 SCHLUSSFOLGERUNGEN UND AUSBLICK Ziel dieser Studie war es, alternative Finanzierungs- Kapitaldeckungsverfahren zu beobachten. Das Finan- konzepte für die Langzeitpflege in der Schweiz zu ent- zierungssystem der Langzeitpflege in der Schweiz gilt wickeln. Dazu wurden in einem ersten Schritt der Sta- zwar als stabil, die Nachhaltigkeit könnte jedoch auf- tus quo der Organisation, Kosten und Finanzierung grund des Einflusses und der Veränderungen demo- der Langzeitpflege analysiert. Anschliessend wurden grafischer als auch nicht-demografischer Kostentrei- die demografische Entwicklung sowie weitere nicht- ber mittel- bis langfristig gefährdet sein. demografische Faktoren beschrieben und es wurden Der Vergleich und die Bewertung der verschiedenen die Langzeitpflegekosten prognostiziert. Darauf auf- alternativen Finanzierungsmodelle zeigt, dass jeder bauend wurden alternative Finanzierungkonzepte zur Vorschlag seine Stärken und Schwächen in Bezug auf Deckung dieser Kosten diskutiert und Überlegungen die Kriterien soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche zu einer kosteneffizienteren Gestaltung der Langzeit- Auswirkungen sowie Nachhaltigkeit der Finanzie- pflegeorganisation vorgestellt. rung aufweist. Keines der vorgeschlagenen Konzepte Die Projektion ergab, dass die Langzeitpflegekosten ist in der Lage, die Herausforderungen der Langzeit- unter Anwendung des Referenzszenarios bis im Jahr pflegefinanzierung alleine zu bewältigen. Wir emp- 2050, gemessen in Prozent des BIP, um ca. 2,4 Prozent- fehlen daher anstatt einer radikalen Reform den Status punkte auf 4,8% steigen bzw. sich von 15,6 auf 31,3 quo schrittweise durch die Einführung zusätzlicher Fi- Mrd. CHF pro Jahr verdoppeln. Die Kosten pro Person nanzierungsquellen zu ergänzen. Auf diese Weise steigen von 1'900 auf 3'050 CHF pro Jahr (+60,8%). Das könnten die Stärken der jeweiligen Finanzierungs- Finanzierungssystem der Langzeitpflege ist ver- quellen genutzt und ihre Schwächen gegenseitig kom- gleichsweise gut diversifiziert, obwohl es keine grös- pensiert werden. So könnte beispielsweise ein kapital- seren Reformen wie in anderen Ländern gegeben hat. basiertes System, welches Zeit benötigt um sein ge- Allerdings besteht erhebliches Optimierungspoten- samtes Potential zu entfalten, durch temporäre und tial, da die Nachhaltigkeit des Finanzierungssystems zweckgebundene Steuern unterstützt werden. Die gefährdet ist. International ist generell ein Trend weg Ausgestaltung des Systems wird jedoch stark von po- von der solidarischen, gesamtgesellschaftlichen Fi- litischen Ansichten und sozialen Werten geprägt wer- nanzierung zu privaten Finanzierungslösungen bzw. den. Daher war das primäre Ziel dieser Studie nicht out-of-pocket Zahlungen sowie vom Umlage- zum die Entwicklung eines umfassenden Systems für die 13
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