Georg Friedrich Händel - Die Musikserie von Peter Uehling

 
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Sonntag, 23. Januar 2022
                                                                    15.03 – 17.00 Uhr

                          Georg Friedrich Händel
                    Die Musikserie von Peter Uehling

                             Il Sassone und seine Rivalen
                          Händel in Rom und Florenz (04/26)

Musik-Wettbewerbe gibt es nicht erst in unserer Zeit. Im Barock organisierte man
solche Konkurrenzen zwar noch nicht wie heute, aber wer der Beste ist, wollte man
schon damals wissen – nicht nur in der Musik.
Willkommen zur vierten Folge unserer Musikserie über Georg Friedrich Händel, in der
der junge Händel ganz selbstbewusst als Herausforderer antritt. Die Wettbewerbe
dazu findet er in Italien.

                           Bach - Scarlatti – Händel
      Concerto Bayreuth
                           Orgelwerke
  1   LC 06404                                                                  4‘42
                           Händel: Fuge No. 2 G-Dur
      CB 16005
                           Viktor Lukas, Orgel

Sie hörten die Fuge G-Dur von Georg Friedrich Händel, gespielt von Viktor Lukas an
der historischen Orgel der Abteikirche in Amorbach.

Wer war besser: Händel oder der gleichaltrige Domenico Scarlatti? Der lebte gerade in
Venedig, war aber auf Besuch bei seinem Vater Alessandro in Rom. Und da kommt
Marchese Francesco Maria Ruspoli auf die Idee, den Sohn des wichtigsten italienischen
Opernkomponisten gegen den deutschen Neuankömmling antreten zu lassen.

Ausgefochten wurde die Konkurrenz auf Cembalo und Orgel. Und es war natürlich
nicht einer jener heutigen Wettbewerbe, wo gemessen wird, wer ein Stück von vor
hundert oder zweihundert Jahren schneller und mit möglichst wenig Fehlern spielen
kann. Scarlatti und Händel haben improvisiert. Daher zögere ich, spekulative
Tonbeispiele auszuwählen. Seine einzigartigen Sonaten komponierte Scarlatti erst
viele Jahre später. Und wirkliche Orgelmusik ist von beiden nicht erhalten. Händels
erster Biograf John Mainwaring gibt einen kleinen Bericht über den Ausgang der
Sache:
Georg Friedrich Händel – 04. Folge                  Seite 2 von 13

„Man hat sagen wollen, dass einige dem Scarlatti den Vorzug zuerkannt haben in dem,
was das Cembalo betrifft. Wie es aber zur Orgel kam, blieb nicht der geringste Zweifel
übrig, wer den Preis davontrüge. Scarlatti selbst musste bekennen, dass er von Händel
auf der Orgel übertroffen sei, und er gestund gar gern, dass er keinen Begriff von
seiner Stärke gehabt, ehe er ihn darauf gehöret. Ob nun gleich wahr ist, dass es niemals
zwei Personen zu solcher Vollkommenheit auf ihren erwählten Instrumenten gebracht
haben können, so ist doch merkwürdig, dass ihre Art zu spielen einen gänzlichen
Unterschied verursachte. Die eigentliche Vortrefflichkeit des Scarlatti schien in einer
gewissen Zierlichkeit zärtlicher Ausdrücke zu bestehen. Dahingegen besaß Händel
etwas Glänzendes und Funkelndes im Spielen, bei erstaunlicher Fertigkeit der Finger.
Was ihn aber von allen anderen, die dergleichen Gaben hatten, förmlich unterschied,
war die entsetzliche Vollstimmigkeit und nachdrückliche Stärke, die er dabei bewies.“

Soweit Händels Biograf John Mainwaring in der Übersetzung von Johann Mattheson,
Händels Freund zu Hamburger Jugendzeiten. Die Quelle ist vermutlich Händel selbst.
„Entsetzliche Vollstimmigkeit“ klingt kurios, als hätte Mattheson im Neid auf den
begabteren Freund absichtlich ein bisschen sonderbar übersetzt. Gemeint ist wohl
einfach eine enorme Dichte im Satz. Und vergessen wir nicht die Berichte, nach denen
Menschen vor vier- oder dreihundert Jahren vom Klang einer Orgel ohnmächtig
wurden: Da klingt das Wort „Entsetzen“ nicht mehr gar so unangemessen. Aber wenn
Sie sich noch an die Orgelfuge vom Anfang erinnern, dann war da von „entsetzlicher“
Vollstimmigkeit wenig zu hören.

Mag wohl sein, dass es sich Händel nicht nehmen ließ, den Konkurrenten mit einer Fuge
einzuschüchtern, aber die wird dann doch noch anders geklungen haben.
Die „eigentliche Vortrefflichkeit des Scarlatti“, die „Zierlichkeit zärtlicher Ausdrücke“
hat man eventuell im Ohr; falls nicht, erhält man durch die Sonate in h-Moll vielleicht
einen Eindruck vom Gemeinten. Wie gesagt, die ist erst nach 1719 entstanden, als
Domenico Scarlatti seine hochdotierte Stelle in Rom aufgab und nach Portugal ging.
Es spielt Skip Sempé.

        Paradizo             Domenico Scarlatti
        LC 15302             Duende. Harpsichord Sonatas
    2                                                                                         5’04
        PA 9003              Sonata h-Moll K 87
        Track 110            Skip Sempé, Cembalo

Skip Sempé spielte eine der zierlich-zärtlichen Sonaten von Domenico Scarlatti. Hält
man eine frühe Cembalo-Komposition von Händel dagegen, lässt sich in der
Interpretation von Roberto Loreggian ein wenig vom Rausch erahnen, in den Händel
seine Hörerschaft spielen konnte.

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Georg Friedrich Händel – 04. Folge                  Seite 3 von 13

        Brilliant Classics   Georg Friedrich Händel
        LC 09421             Complete Harpsichord Music
    3                                                                                           4´33
        95235                Capriccio F-Dur
        Track 114            Roberto Loreggian

Händels Capriccio F-Dur, gespielt von Roberto Loreggian.

Der kleine Wettbewerb mit brüderlich geteiltem Sieg war der Auftakt einer
Freundschaft zwischen Händel und Scarlatti – oder vielleicht auch nur der Beginn einer
Respektsbeziehung: Domenico Scarlatti soll sich jedes Mal bekreuzigt haben, wenn er
den Namen Händel hörte. Nun standen in Rom nicht nur Musiker in Konkurrenz. Für
Marchese Ruspoli, der eines seiner tausend Zimmer im Palazzo Bonelli für das
musikalische Duell zur Verfügung gestellt hatte, war das nur eine von vielen
Gelegenheiten, sich als Förderer der Künste darzustellen. Und in dieser Disziplin
konkurrierten nun die reichen Familien, Kardinäle und Fürsten miteinander. Die
Protektion junger Künstler war dabei das spannendste und umstrittenste Spielfeld.
Aber auch um ältere Herrschaften ließ es sich streiten.

        Aparte               Arcangelo Corelli
        LC 83780             Complete Organ Music
    4                                                                                          3’19
        AP 190               Präludium & Fuge C-Dur
        Track 23             Simone Stella

Sie hörten den Beginn des Concerto grosso op. 6, Nr. 5 in B-Dur von Arcangelo Corelli.
Dieser bedeutende, sanft temperierte, dabei äußerst perfektionistische Mann wohnte
seit 1687 im Hause des Kardinals Benedetto Pamphilij und hatte unter anderem Musik
für Staatsereignisse zu organisieren wie den Besuch Ludwig XIV., für den ein Orchester
von 150 Mitwirkenden aufgefahren wurde. Als Pamphilij 1690 zum päpstlichen Legat
ernannt wurde und nach Bologna ging, wechselte Corelli den Haushalt und zog in den
Palazzo von Pietro Ottoboni. Ein Jahr zuvor, mit erst 22 Jahren, war Ottoboni als
Großneffe des damaligen Papstes Alexander VIII. zum Kardinal ernannt worden. Zwar
hatte er als Inhaber klangvoller Ämter wie Kardinaldiakon, Erzpriester oder
Generalsuperintendent einiges zu tun, aber das disziplinierte weder seinen Drang zur
Kunst noch den zu zahlreichen Mätressen – dem katholischen Geistlichen werden
mehrere uneheliche Kinder nachgesagt.

Mit Corelli an der Spitze seiner Kapelle beschäftigte er den bedeutendsten
Instrumentalkomponisten seiner Zeit, sodass ein zeitgenössischer Beobachter über
Ottoboni schreiben konnte:

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Georg Friedrich Händel – 04. Folge                  Seite 4 von 13

„Seine Eminenz unterhält die besten Musiker und Sänger Roms, unter anderem den
berühmten Arcangelo Corelli und den jungen Paolucci, von dem es heißt, er besitze die
beste Stimme Europas, sodass er jeden Mittwoch ein hervorragendes Konzert in
seinem Palast anbieten kann.“

Man sieht, seit den Tagen der Antike hatte in Rom das Bedürfnis nicht nachgelassen,
andere zu übertrumpfen. Die römischen Kardinäle und anderen Mäzene der Barockzeit
setzten ihren enormen Reichtum dazu ein sich gegenseitig zu überbieten. Wer hat den
größeren Palazzo, die größere und wertvollere Kunstsammlung, wer hat die besseren
Musiker und wer die prunkvolleren Aufführungen in seinen Räumen? Auf diesem
Jahrmarkt der Eitelkeiten hatten es Künstler gut. Ihre Arbeit war gefragt und
entsprechend entlohnt. Händel platzt als junger Mann auf in diese Szene, blendend
begabt, blendend in der Erscheinung, ein Meister ersten Ranges trotz seiner Jugend.
Gut möglich, dass die reichen Herren sich um ihn stritten – und genauso streiten sich
die Gelehrten, ob Händel wohl erst bei Ottoboni unterkam oder gleich vom Marchese
Francesco Maria Ruspoli aufgenommen wurde. Ruspoli war kein geistlicher Würden-
träger, dafür geradezu märchenhaft reich.

Händel blieb mit reisebedingten Unterbrechungen zwei Jahre bei ihm. Jede Woche
komponierte er eine weltliche Kantate, die von den Bediensteten des Hauses ab-
geschrieben wurde. Die Rechnungen verzeichnen ein zusätzliches Bett für Händel und
einmal eine schier gewaltige Essensrechnung von 38,75 Scudi für Händel und seine
Gesellschaft – ein Orchestermusiker verdiente gerade mal 10 Scudi im Jahr!
Aber dafür bereitete ihm Händel auch Musik vom feinsten zu.
                            Georg Friedrich Händel
                            Le Cantate per il Marchese Ruspoli Vol. 3
        Glossa
                            Clori, Tirsi e Fileno
        LC 00690
    5                       Aria Son come quel nocchiero                                       3’06
        GCD 921525
                            Romina Basso, Alt
        Track 12
                            La Risonanza
                            Ltg. Fabio Bonizzoni

Eine kleine, feine Arie aus der Kantate „Clori, Tirsi e Fileno“, gesungen von Romina
Basso, begleitet vom Ensemble La Risonanza, gegründet und geleitet von Fabio
Bonizzoni.
Das einstündige, im Schäfermilieu angesiedelte Werk ist wieder eine kleine Opern-
Ersatzhandlung – Händel zur Übung, seinem opernsüchtigen Publikum zum Labsal. Das
Opernverbot wurde vom Papst 1703 verhängt, als die Stadt glimpflich aus einem
Erdbeben hervorgegangen war, sich besonders bußfertig geben und daher auf musik-
dramatischen Schnickschnack verzichten sollte.

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Georg Friedrich Händel – 04. Folge                  Seite 5 von 13

1708 durfte Händel eine Gedenkmusik an dieses Ereignis komponieren – eine Hymne
an die Jungfrau Maria, der gedankt wird, dass sie das Schlimmste verhindert hat. Nun,
das Opernverbot hat sie nicht verhindert, deswegen geht es in der ersten Arie auch
ziemlich opernhaft zu - immerhin schildert sie ein Erdbeben. Nach der Arie hören wir
noch das Accompagnato-Rezitativ, in dem Händel dunkle Wolken, Regenbögen und
Gestirne malt. Es singt Anne Sofie von Otter zur Begleitung von Musica Antiqua Köln
unter Reinhard Goebel.

                          Georg Friedrich Händel
                          Marian Cantatas & Arias
        Archiv Produktion
                          Aria Vacillò
        LC 00113
    6                     Recit. Torna immobile                                                  7’43
        439 866-2
                          Anne Sofie von Otter, Mezzosopran
        Tracks 6&7
                          Musica Antiqua Köln
                          Ltg. Reinhard Goebel

Zwei Stücke aus der Kantate „Donna, che in ciel“, gesungen von Anne Sofie von Otter,
begleitet von Musica Antiqua Köln unter Leitung von Reinhard Goebel.

Wer soll sich noch wundern, wie man in Rom auf Idee kam einen Protestanten mit einem
Marien-Hymnus zu beauftragen? Soll man sich noch wundern, warum einem 22-jährigen
Deutschen die Aufgabe gestellt wird, ein Gedenkstück zu einem zentralen Ereignis der
jüngsten Geschichte Roms zu komponieren? Gab es keine anderen Komponisten in
Rom? Doch, haufenweise. Allerdings wollte man jetzt Händel hören. Einen ganz großen
Streich plante Marchese Ruspoli zu Ostern 1708. Während Kardinal Ottoboni ein neues
Passionsoratorium des römischen Opern-Großmeisters Alessandro Scarlatti aufführen
wollte, beauftragte Ruspoli Händel mit der Komposition eines Osteroratoriums. „La
Resurrezione“ sollte eine Aufführung der Superlative werden: ein Orchester mit 50
Musikern wurde aufgeboten, darunter 23 Violinen und sechs Kontrabässe, dazu
Posaune, Trompeten, vier Oboen. An dessen Spitze saß Arcangelo Corelli. Mit ihm war
Händel zwar im Jahr zuvor bei den Proben zu seinem ersten Oratorium
aneinandergeraten, aber es ging ja bei diesen Aufführungen auch um große Namen.
Sage und schreibe 1500 Exemplare des Textbuches wurden gedruckt, das Fünffache der
üblichen Menge für vergleichbare Aufführungen.

Händel bezog sieben Wochen vor Ostern Quartier bei Ruspoli, wurde von ihm eine
sorgfältige Arbeit erwartet. Nicht zuletzt erwartete man Papst Clemens IX. zur
Uraufführung. Lange unterschätzt, betrachtet man das Werk heute als eines von
Händels reichsten. Zwar hat Händel auch hier seinen im ersten italienischen Jahr
angelegten Arien-Vorrat ausgeschlachtet, sodass es zahlreiche Übernahmen von
seinem ersten Oratorium „Il Trionfo del Tempo e del Disinganno“ gibt.

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Aber die enormen Klangmöglichkeiten bescheren Händel neue Gelegenheiten zu
Kontrasten, sodass in „La Resurrezione“ alles etwas farbiger ausfällt als in dem
früheren Stück. Betrachten und erleben wir einmal einen solchen Kontrast.

„La Resurrezione“ spielt in der Nacht vor der Auferstehung Christi. Ein Engel
verkündet Christi Sieg über den Tod. Dann tritt Luzifer auf, der den Gottessohn hat
sterben sehen und missversteht diesen Triumphgesang als Hymne auf sich selbst. Vom
Engel belehrt schwört er Rache. Danach richtet Händel unseren Blick aus dem Bereich
höherer Mächte auf die Erde: Maria Magdalena sitzt trauernd an Christi Grab und
beschreibt die finstere Nacht in einem Accompagnato mit zwei Flöten und Arpeggien
der Gambe – eine Farbkombination, die Bach später auch in der Matthäuspassion
verwenden wird. Danach singt sie eine Arie, in der sie um Schlaf bittet, wobei Händel
die Nacht mit einem langen tiefen Ton symbolisiert, vermutlich dem längsten
Orgelpunkt vor Wagners „Rheingold“-Vorspiel.

                             Georg Friedrich Händel
                             La Resurrezione
                             Aria O voi, dell’Erebo
        Archiv Produktion
                             Recit. Notte funesta
        LC 00113
    7                        Aria Ferma l’ali                                                   9’34
        447 767-2
                             Laurent Naouri, Bass
        Tracks 109, 110, 111
                             Jennifer Smith, Sopran
                             Les Musiciens de Louvre
                             Ltg. Marc Minkowski

Sie hörten drei Stücke aus Händels „La Resurrezione“: die Arie „O voi, dell’Erebo“ des
Luzifer und Rezitativ „Notte funesta“ sowie Arie „Ferma l’ali“ der Maddalena. Es
sangen Laurent Naouri als Luzifer und Jennifer Smith als Maddalena. Die Aufnahme
von Marc Minkowski mit Les Musiciens de Louvre gibt einen guten Eindruck von der
Wucht der Uraufführungsbesetzung, genauso wie vom Klangzauber, den Händel mit
diesem gewaltigen Apparat anzurichten wusste.

Die intensiven Affekte, die man von Händel erwarten konnte, drängen zur Szene, und
tatsächlich wurde „La Resurrezione“ in Marchese Ruspolis Palazzo mit illustrierten
und illuminierten Prospekten aufgeführt. Dennoch hatte der Papst nach der Urauf-
führung Grund zur Rüge: die Mitwirkung der Sopranistin Margherita Durastante als
Maddalena widersprach den allerhöchsten Erlassen. Frauen waren in Oratorien als
Mitwirkende nicht erwünscht. Ruspoli wusste das natürlich, hatte es aber drauf
ankommen lassen. Vielleicht hatte Händel, der mit Margherita Durastante schon viele
Kantaten-Aufführungen bestritten hatte, auf ihre Mitwirkung bestanden. Später wird
er sie nach London holen, um sie dort in seinen Opern auftreten zu lassen.

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Ich sprach vorhin von den großen Kontrasten, die Händel schafft. Sie sind ja nicht
selbstverständlich in einem geistlichen Sujet, auch wenn es Engel und Luzifer,
trauernde und hoffende Menschen aufbietet, wie es das Libretto von Carlo Sigismondo
Capece tut. Händel komponiert Extreme, er fährt Affekte bis zum Anschlag aus. Wir
hören nun noch einen Abschnitt aus dem zweiten Teil, in dem Luzifer den Engel daran
hindern will die Osterbotschaft unter die Menschen zu bringen - ein Aktions-Duett von
nicht einmal 30 Sekunden Dauer, in dem die Figuren schlagend charakterisiert werden:
Luzifer als eifrigen, ja eifernden Verfolger, den Engel als ruhig-bestimmten Boten.

Dann hören wir Magdalena und Cleophas in einem kurzen Rezitativ zum Grab eilen, an
dem Magdalena eine Arie vom Opfertod Christi singt: chromatische Läufe erklingen als
vertrautes Symbol des Leidens, aber sie erklingen in den Flöten, als löste sich dieses
Leiden bereits buchstäblich in Luft auf. Luzifer hört das, gibt sich geschlagen und
kündigt seinen Rückzug in den Abgrund an – unüberhörbar am extrem tiefen Ton des
Sängers. Damit ist die Bahn frei: Cleophas singt eine trompetenglänzende Triumpharie.
Es singen wieder Laurent Naouri als Luzifer, Annick Massis als Engel, Jennifer Smith
als Maddalena und Linda Maguire als Cleofe.

                          Georg Friedrich Händel
                          La Resurrezione
                          Aria Impedirlo io saprò - Recit. Amica, troppo tardo
                          Aria Per me già di morire - Recit. Ahi abborrito nome
        Archiv Produktion
                          Aria Vedo il ciel
        LC 00113
    8                     Laurent Naouri, Bass                                                         10’48
        447 767-2
                          Annick Massis, Sopran
        Tracks 210 - 214
                          Jennifer Smith, Sopran
                          Linda Maguire, Mezzosopran
                          Les Musiciens de Louvre
                          Ltg. Marc Minkowski

Ein Abschnitt aus dem 2. Teil von „La Resurrezione“, dem großen Auftrag des Jahres 1708.

Es gibt leider keine Berichte über den Erfolg des Abends. Ein Zeitgenosse berichtet relativ
knapp über die Aufführung eines „sehr guten Oratoriums“ und weiter: „Im großen Saal des
Palazzo Bonelli hatte man für das Publikum ein gut ausgestattetes Theater eingerichtet.
Viele Mitglieder des Adelsstandes und einige Kardinäle waren anwesend.“
Nun, das war zu erwarten – uns würde natürlich noch mehr interessieren, ob etwa ein
Alessandro Scarlatti dabei war. Händels Konzertmeister Arcangelo Corelli spielte auch in
der Aufführung von Scarlattis Passionsoratorium ein paar Tage zuvor. Kaum vorstellbar,
dass die beiden Herren, Corelli knapp über 50, Scarlatti knapp unter 50, nicht über das
Werk des jungen Deutschen gesprochen haben. Aber was? Waren sie beeindruckt oder
eher abgestoßen von der elementaren Wucht dieser Musik?

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Georg Friedrich Händel – 04. Folge                 Seite 8 von 13

Hielten sie derlei für Jugendsünden oder ahnten sie, dass sich der Zeitgeist drehte?
Ahnten sie, dass der Ausgleich der Affekte, im Leben wie in der Kunst, nur noch
theoretisch für erstrebenswert gehalten wurde? Dass man tatsächlich aber jedes Gefühl
in möglichst voller Stärke auskosten wollte und in der Kunst, vor allem in der Musik, den
Ort sah, an dem das gefahrlos möglich war? Händel fand ungeheure und bis dahin
ungeahnte Schattierungen im Zusammenhang von Klang und Harmonie, zugleich war
seine Musik in ihren Dispositionen von einer Entschiedenheit, die als Grobheit verstanden
werden konnte. Und das war sicherlich ein Trend der Zeit: Man denke an Antonio Vivaldi,
dessen musikalische Themen eine Prägnanz und Frische aufweisen, die in den Concerti
grossi von Corelli nicht zu finden sind. Der rhythmische Drive, den Vivaldi lostreten kann,
geschieht allerdings auf Kosten einer sauberen satztechnischen Ausarbeitung: da geht es
oft ein wenig schlampig und lückenhaft zu, und vor arg simplen Lösungen schreckt auch
Händel nicht zurück. Derlei wird man nun wiederum bei Corelli oder Alessandro Scarlatti
nicht finden. Auf diesem Niveau geht es nicht um besser oder schlechter. Ob Corelli,
Scarlatti, Vivaldi oder Händel – wir haben es mit Komponisten alleroberster Kategorie zu
tun. Wenn sie in der öffentlichen Meinung ins Hintertreffen geraten, hat das wenig mit
einer abstrakten Qualität zu tun, sondern mit dem, was eine Zeit für Qualität hält. Und
wenn sie entscheidet, es sei wichtig, dass sich Musik einprägt, dann wird sie Händel oder
Vivaldi den Vertretern der Generation davor vorziehen.

In der Karwoche desselben Jahres (1708) hatte Marchese Ruspoli sich klar für die Zukunft
entschieden, Kardinal Ottoboni hielt dagegen mit Scarlattis „Oratorio per la Passione di
Nostro Signor Gesù Cristo“ die Fahne der Tradition hoch. Dass bei Scarlatti allegorische
Figuren wie „die Schuld“, „die Buße“ oder „die Gnade“ miteinander Arien sangen, machte
sein Oratorium nicht moderner. Hören wir nun hinein in ein Duett von „Buße“ und „Gnade“,
das vor allem nach Buße klingt. Kein schlechtes Stück, verglichen mit Händel aber springt
es den Hörer nicht an, klingt es ein bisschen farblos und in seinen stereotypen Seufzer-
figuren altmodisch.

                             Alessandro Scarlatti
        Capriccio
                             La Colpa, il Pentimento, la Grazia
        LC 08748
                             Piangero
    9   10411                                                                                   5’08
                             Petra Geitner, Kai Wessel
        Track 8
                             La Stagione
        (Ausschnitt)
                             Ltg. Michael Schneider

Das war ein Duett aus Alessandro Scarlattis Oratorio per la passione di nostro signore
Gesù Cristo, das kurz vor Händels „Resurrezione“ und damit in direkter Konkurrenz
aufgeführt wurde. Es sangen Petra Geitner und Kai Wessel, die Begleitung von La
Stagione leitete Michael Schneider.

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Georg Friedrich Händel – 04. Folge                  Seite 9 von 13

Rom war zwar ein gieriger Abnehmer von Händels Musik, aber nicht der einzige. Nach
der Aufführung von „La Resurrezione“ reiste Händel nach Neapel. In der Kutsche mit
dabei ist ein Kardinal, der uns noch nicht begegnet ist: Vincenzo Grimani ist nicht nur
Kardinal in Venedig, sondern auch frisch ernannter Vizekönig von Neapel von Gnaden
des Hauses Habsburg – rund um Händels Italien-Aufenthalt tobt der Spanische
Erbfolgekrieg, und das Königreich Neapel war 1707 von Österreich besetzt worden.
Was Händel mehr interessierte: Grimani schrieb in seiner Freizeit Libretti – und Händel
wollte endlich mal wieder eine richtige Oper schreiben. Nicht unwahrscheinlich, dass
sich die beiden Reisenden einig wurden, demnächst zusammenzuarbeiten – wir
kommen darauf zurück.

In Neapel wünschte man sich von Händel Hochzeitsmusik. Der Auftrag kam von Aurora
Sanseverino, einer Angehörigen eines der sogenannten Sieben großen Häuser des
Königreichs Neapel, die damit ihre Nichte Beatrice und deren zukünftigen Gatten
Tolomeo Gallio, Herzog von Alvito, erfreuen wollte. Der Stoff war antik: „Aci, Galatea e
Polifemo“ heißt das Werk, das zwar nur eine Serenata war, aber einer Oper kaum
nachsteht. Interessant an dem Auftrag ist, dass Händel eine Vertonung dieses Stoffes
bereits kannte: Giovanni Bononcini hatte 1702 einen „Polifemo“ geschrieben, und zwar
für den Berliner Hof. Vielleicht war Händel nicht bei einer Aufführung, aber die Musik
muss er gekannt haben.
Kehren wir indes zurück zur Geschichte von der schönen Galatea, ihrem Geliebten Aci
und dem Riesen Polyphem, der Galatea ebenfalls begehrt. Die Szene ist Arkadien. Diese
Landschaft hat Händel musikalisch schon oft beschworen. Nicht zuletzt hatte er für die
Accademia dell’Arcadia, einem Zusammenschluss römischer Künstler und Intellektu-
eller, genug Kantaten geschrieben, die deren Vorstellungen von Natürlichkeit und
Einfachheit illustrieren sollten. Das Auftrittsduett der Liebenden entwirft ein weiteres
Mal ein solches Idyll. Die höhere Stimme gehört dabei Aci, die tiefere Galatea – eine
ungewohnte wie kühne Verteilung, schlüssig darin, dass Aci ein Hirtenknabe ist,
Galatea eine Frau.
                             Georg Friedrich Händel
                             Aci, Galatea e Polifemo
         Glossa
                             Duetto Sorge il di
         LC 00690
    10                       Roberta Invernizzi, Aci                                            3´10
         GCD 921515
                             Blandine Staskiewicz, Galatea
         Track 101
                             La Risonanza
                             Ltg. Fabio Bonizzoni

Sie hörten das Eingangsduett aus „Aci, Galatea e Polifemo“. Die Einspielung stammt
aus der siebenteiligen Sammlung italienischer Kantaten, die Fabio Bonizzoni mit
seinem Ensemble La Risonanza und Roberta Invernizzi aufnahm, die den Aci sang, die
Galatea sang Blandine Staskiewicz.

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Georg Friedrich Händel – 04. Folge                 Seite 10 von 13

Zum Vergleich nun das Duett, mit dem das Liebespaar in Bononcinis „Polifemo“ die
Bühne betritt. Roberta Invernizzi singt hier die Galatea, Bruno de Sá den Aci, es spielt
das Ensemble 1700 unter Dorothee Oberlinger.

                             Giovanni Bononcini
         deutsche            Polifemo
         harmonia mundi      Duetto È cara la pena
    11   LC 00761            Bruno da Sá, Aci                                                   5´31
         19439743802         Roberta Invernizzi, Galatea
         Track 112           Ensemble 1700
                             Ltg. Dorothee Oberlinger

In dieser kärgeren begleiteten Arie aus Bononcinis „Polifemo“ stehen die beiden
Liebenden klarer im Vordergrund als dialogisches Paar, während sie sich bei Händel in
die Orchesterpolyphonie mischen, als wären sie ein Teil der idyllischen Naturszenerie.
Diese gleichsam körperlich-sinnlichere Sichtweise Händels auf die Figuren kommt in
Polifemos Solo-Arie noch stärker zur Geltung: bei den extremen Lagen, die Händel dem
Sänger abverlangt und die sich zu zweieinhalb Oktaven addieren, kann der Sänger nur
ein Riese sein. In der Aufnahme von Fabio Bonizzoni singt Lisandro Abadie.

                             Georg Friedrich Händel
         Glossa              Aci, Galatea e Polifemo
         LC 00690            Aria Fra l’ombre e gli orrori
    12                                                                                          4´48
         GCD 921515          Lisandro Abadie, Polifemo
         Track 201           La Risonanza
                             Ltg. Fabio Bonizzoni

So präsentiert sich der Riese in Händels „Aci, Galatea e Polifemo“. Bei Bononcini
dagegen ist Polifemo eher eine groteske Gestalt. Als Galatea ihm zum Schein Treue
gelobt, damit er ihren Geliebten Aci nicht ermordet, gerät der in komische Ekstase und
zählt ihr seinen ganzen Viehbestand auf, den er ihr als standesgemäße Morgengabe zu
überreichen gedenkt.

                             Giovanni Bononcini
         deutsche
                             Polifemo
         harmonia mundi
                             Aria Dieci Vacche, otto vitelli
    13   LC 00761                                                                                1´14
                             Joao Fernandes, Polifemo
         19439743802
                             Ensemble 1700
         Track 120
                             Ltg. Dorothee Oberlinger

Joao Fernandes sang den Polifemo in der Version von Giovanni Bononcini in der
Aufnahme von Dorothee Oberlinger.

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Georg Friedrich Händel – 04. Folge                  Seite 11 von 13

Sollte man den stilistischen Unterschied zwischen Bononcini und Händel resümieren,
so müsste man zum einen von den größeren Flächen bei Händel sprechen, der
größeren Kontinuität an der klanglichen Oberfläche zum anderen, während Bononcini
eher kurze Motive aufreiht. Damit einher geht bei Händel eine zuweilen stärkere
klangliche Verschmelzung von Stimme und Instrumenten, während Bononcini noch
wesentlich stärker zwischen Stimme und Begleitung trennt und den Sänger einen Text
vermitteln lässt. Indem Sänger und Sängerinnen bei Händel buchstäblich zu Klang-
Körpern werden, werden die gleichsam haptischen Momente ihres Singens mindestens
so wichtig wie der Inhalt. Das mag auch ein wenig damit zusammenhängen, dass
Händel das Italienische wesentlich vorsichtiger handhabt als die Muttersprachler, die
gerne auch mal ein paar Worte umstellen, wenn es ihnen ins musikalische Betonungs-
schema passt. Aber mit solchen Verallgemeinerungen muss man vorsichtig sein.
Möglich, dass es im nächsten Werk schon wieder anders kommt – wir werden das gleich
beim krönenden Finale von Händels italienischer Zeit sehen.

Händel reist noch vor der Aufführung von „Aci, Galatea e Polifemo“ wieder von Neapel
nach Rom. Sein Werk hat großen Erfolg. Eigentlich anlässlich einer Hochzeit kom-
poniert, hatte man in der Familie eine solche Freude daran, dass man es 1711 und 1713
wieder aufführen lässt. Was aber macht Händel eigentlich jetzt? Wir wissen es nicht.
Für ein ganzes Jahr, vom Herbst 1708 bis zum Herbst 1709 fehlen sämtliche
Dokumente. Es ist keine datierte Komposition erhalten, ein Brief sowieso nicht und in
den Haushaltsbüchern des Marchese Ruspoli, in dessen Palazzo er so lange gewohnt
hat, sind keine Ausgaben für Händel verzeichnet. Johann Mattheson, der ehemalige
Freund aus der Hamburger Zeit, behauptete Jahrzehnte später, Händel hätte die Ur-
aufführung seiner zweiteiligen 1706 in der Hansestadt entstanden Oper „Florindo“ und
„Dafne“ in der Oper am Gänsemarkt geleitet. Die Forschung glaubt da eher an eine
Gedächtnisschwäche bei Mattheson; die Reise wäre zu umständlich gewesen.
Man darf zusätzlich einfühlend annehmen, dass Händel, um die Erfahrung von einer
Oper in Florenz, zwei Oratorien und 70 Kantaten reicher, keine große Lust hatte,
seinen Jugendsünden zu begegnen. Was außerdem gegen seine Anwesenheit in
Hamburg spricht: die Stücke sind verloren gegangen. Wäre Händel in Hamburg
gewesen, hätte er die Partituren womöglich aufbewahrt, um sie gelegentlich zu
plündern. So aber ist ihr Verlust im Theaterbetrieb nachvollziehbar.

Man könnte nachvollziehen, wenn sich Händel nach den explosiv kreativen Jahren 1707
und 1708 eine Auszeit gegönnt hätte. Nur wäre unklar, wie er sie sich hätte leisten
können. Bis jetzt war er in den Palazzi seiner Gönner und Auftraggeber unter-
gekommen und brauchte kein Geld. Was auch immer wir uns ausdenken – es wird
Spekulation bleiben. Was wir wissen: am 26. Dezember 1709 wird seine Oper
„Agrippina“ in Venedig uraufgeführt.

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Georg Friedrich Händel – 04. Folge                 Seite 12 von 13

Der Auftraggeber war jener Kardinal Vincenzo Grimani, mit dem Händel im Jahr zuvor
in der Kutsche nach Neapel gefahren ist. Der Familie Grimani gehörten in Venedig drei
Opernhäuser, und der Hobbydichter Grimani wollte schon immer ein Libretto aus
seiner Feder vertont sehen. Der Stoff um die Kaiserkrönung Neros, seine Mutter und
die Mätresse Poppea war schon von Monteverdi zu einem zynisch-komischen Meister-
werk gestaltet worden. Bei Händel bauen die Kaisergattin Agrippina und Poppea
gegeneinander einen komplizierten Intrigenstadl, hart am Rande der Nacherzähl-
barkeit. Die beiden Frauen schubsen dabei die Männer vor sich her, wie sie wollen,
selbst Kaiser Claudio wird da zu einer komischen Figur, die eigentlich nur ihr
Vergnügen bei Poppea sucht und wider Willen ständig Politik machen muss. Eine derart
verwickelte Handlung bedingt sehr lange Rezitative, während die Arien relativ knapp
ausfallen. Händels Arbeit war damit keine leichte, ungeachtet des Umstands, dass nur
fünf der 40 Arien neu komponiert, der Rest aus seinen italienischen Partituren der
letzten Jahre übernommen wurde – und aus Werken seiner Hamburger Kollegen
Reinhard Keiser und Johann Mattheson. Letzterer musste das feststellen, als die Oper
in Hamburg gespielt wurde. Und er war verstimmt.

„Agrippina“ wurde dieweil ein enormer Erfolg in Venedig; Händels von ihm selbst
unterrichteter Biograf Mainwaring erzählt: „So oft eine kleine Pause vorfiel, schrien
die Zuschauer: `Viva il caro Sassone! ’ – `Es lebe der liebe Sachse! ’ nebst anderen
Ausdrückungen ihres Beifalls, die so ausschweifend waren, dass ich ihrer nicht
gedenken mag. Jedermann war, durch Größe und Hoheit des Stils, gleichsam vom
Donner gerührt: denn man hatte nimmer vorher alle Kräfte der Harmonie und Melodie,
in ihrer Anordnung, so nahe und so gewaltig miteinander verbunden gehöret.“
Händel war offensichtlich stolz auf seine Arbeit.

Wir hören zum Abschluss in eine Szene des Liebespaares Poppea und Ottone, dem
einzigen aufrichtigen Charakter des Stücks, hinein. Poppea ist durcheinander, weil
Ottone als Verräter bezeichnet wurde. Sie wartet in einem Garten auf ihn und stellt
sich schlafend, als sie ihn kommen hört. Scheinbar im Traum murmelt sie „Ottone,
traditore“ – also „Verräter“ – und lauscht auf seine Reaktion. Als sie so tut, als erwache
sie, stellt er sich schlafend und belauscht sie. Danach konfrontiert sie ihn mit den
gemachten Vorwürfen, er beteuert seine Unschuld, und mit ihren jeweiligen kurzen
Abtrittsarien bleibt die Situation ungeklärt. Die ganze Szene ist meisterlich strukturiert
und zeigt sowohl Verstellung als auch das, was in der „Agrippina“ selten ist, echte
Gefühle. Sie hören die von René Jacobs dirigierte Aufnahme mit Sunhae Im als Poppea
und Bejun Mehta als Ottone, es spielt die Akademie für Alte Musik Berlin.

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Georg Friedrich Händel – 04. Folge                      Seite 13 von 13

                             Georg Friedrich Händel
                             Agrippina - Dramma per musica in 3 Akten, HWV 6
                             Aria Bella pur nel mio diletto
                             Cavatina Vaghe fonti
         harmonia mundi
                             Recit Ma qui che veggo
         LC 07045
    14                       Aria Ti vo’giusta e non pietosa                                        14´58
         HMC 902088.90
                             Recit Da quali ordite trame
         Tracks 218-222
                             Sunhae Im, Poppea
                             Bejun Mehta, Ottone
                             Akademie für Alte Musik Berlin
                             Ltg. René Jacobs

Sunhae Im und Bejun Mehta sangen eine Szene zwischen Poppea und Ottone aus dem
zweiten Akt der „Agrippina“, die Akademie für Alte Musik dirigierte René Jacobs.

Nach der Uraufführung der „Agrippina“ verließ Händel Italien Richtung Deutschland.
Er hatte es im Land der Musik geschafft, sich gegen die stärkste Konkurrenz in Europa
zu behaupten – aber hier leben wollte er offensichtlich nicht. So wenig er sich bei seiner
Reise nach Italien über seine Pläne erklärt hat, so wenig tut er es jetzt bei seiner
Rückreise. Man spekuliert, dass sich Händel in Italien am Ende doch fremd gefühlt hätte
als Deutscher und Protestant – aber immerhin war hier das Wetter besser als in
England, wo er sich, ebenfalls fremd und von anderer Konfession, dauerhaft nieder-
lassen wird. Möglicherweise behagte ihm am italienischen Musikleben nicht, dass er als
Künstler doch abhängig blieb von Fürsten- oder Kardinalsgunst – und vielleicht war das
auch gerade die Lehre jenes einen Jahres in Italien, von dem wir nichts wissen.

In der nächsten Folge treffen wir Händel in Deutschland wieder. Diese und die älteren
Folgen über Händel können Sie auf rbbkultur.de nachlesen und nachhören. Ich freue
mich, wenn Sie auch nächste Woche wieder einschalten, und wünsche Ihnen mit dem
Schlusschor der „Agrippina“ noch einen schönen Sonntagabend.

                             Georg Friedrich Händel
         harmonia mundi
                             Agrippina - Dramma per musica in 3 Akten, HWV 6
         LC 07045
    15                       Lieto il Tebro increspi d'onda (Coro)                                   1´34
         HMC 902088.90
                             Akademie für Alte Musik Berlin
         Track 66
                             Ltg. René Jacobs

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