Gibt es die "resiliente Persönlichkeit"? - Nina Hiebel, Lisa Milena Rabe, Katja Maus und Franziska Geiser* - De Gruyter
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Spiritual Care 2021; 10(2): 117–127 Originalia Nina Hiebel, Lisa Milena Rabe, Katja Maus und Franziska Geiser* Gibt es die „resiliente Persönlichkeit“? Is there a “resilient personality”? https://doi.org/10.1515/spircare-2020-0125 Abstract: Vorab online veröffentlicht 06. 03. 2021 Background The term resilience is often used in everyday life as a per- Zusammenfassung: sonality trait that makes an individual resilient to the neg- Hintergrund ative effects of stressors. Even in scientific discourse there Der Begriff der Resilienz wird im Alltag häufig im Sinn is no clear distinction between resilience as a personal einer Persönlichkeitseigenschaft verwendet: Eine Per- trait, as a process, and as an outcome. son ist resilient und damit widerstandsfähig gegenüber Objective Belastungen. Und auch im wissenschaftlichen Diskurs Is there such a thing as a “resilient personality”? wird nicht eindeutig zwischen Resilienz als Eigenschaft, Method Prozess oder Outcome unterschieden. Based on current findings, possible associations between Fragestellung resilience and personality are presented. A distinction is Gibt es so etwas wie eine „resiliente Persönlichkeit“? made between 1) resilience as a synonym for a complex Methode personality construct, 2) a prediction of resilience by spe- Vor dem Hintergrund aktueller Befunde werden ver- cific personality traits, 3) an interaction of personality schiedene mögliche Zusammenhänge von Resilienz und traits and situation, and 4) a feedback effect of experi- Persönlichkeit vorgestellt. Dabei wird unterschieden ences with resilience on the personality. zwischen 1) Resilienz als Synonym für ein komplexes Per- Conclusion sönlichkeitskonstrukt, 2) einer Prädiktion von Resilienz Even though strengthening certain aspects of the person- durch spezifische Persönlichkeitseigenschaften, 3) einer ality can be favourable for individual resilience, the as- Interaktion von Persönlichkeitseigenschaften und Situa- sumption of a generally “resilient personality” is neither tion, und 4) einer Rückwirkung von Resilienzerfahrungen empirically supported nor helpful in the context of a tem- auf die Persönlichkeit. porally and situationally dynamic resilience concept. Schlussfolgerung Auch wenn es für die individuelle Resilienz förderlich sein Keywords: Resilience, personality, trait kann, bestimmte Aspekte der Persönlichkeit zu stärken, ist im Rahmen eines zeitlich und situativ dynamischen Resilienzkonzepts die Hypothese einer grundsätzlich „re- silienten Persönlichkeit“ weder empirisch begründet noch 1 Einführung sinnvoll. Jeder Mensch ist im Laufe seines Lebens mit Belastungen, Schlüsselwörter: Resilienz, Persönlichkeit, Eigenschaft Krisen oder allgemein Widrigkeiten konfrontiert, und jeder Mensch findet Wege, um diesen Lebensereignissen *Korrespondenzautorin: Prof. Dr. Franziska Geiser, Universitäts- oder -situationen zu begegnen und sie, so gut es geht, klinikum Bonn, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psycho- zu bewältigen. Allerdings kann das Ergebnis des Bewäl- therapie, Bonn, Germany, E-Mail: franziska.geiser@ukbonn.de tigungsprozesses sehr unterschiedlich sein, auch wenn Nina Hiebel und Milena Rabe teilen sich die Erstautorinnenschaft. sich die Belastungen ähneln. Während manche Menschen Nina Hiebel, Universitätsklinikum Bonn, Klinik für Psychosoma- tische Medizin und Psychotherapie, E-Mail: nina.hiebel@ukbonn.de unter dem Geschehen stark leiden, scheinen andere kaum Lisa Milena Rabe, Universitätsklinikum Bonn, Klinik für tangiert zu werden. Während die einen dauerhaft beein- Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, E-Mail: trächtigt bleiben, finden andere wieder zu ihrem inneren milena.rabe@ukbonn.de Gleichgewicht zurück. Diese unterschiedlichen Erfahrun- Katja Maus, Universitätsklinikum Bonn, Klinik für Palliativmedizin, gen sind primär subjektiv, können aber auch durch Dritte, E-Mail: katja.maus@ukbonn.de
118 N. Hiebel & M. Rabe et al.: Gibt es die „resiliente Persönlichkeit“? z. B. in der professionellen Begleitung als Psychothera- Welche Persönlichkeitseigenschaften zeigen in der empiri- peut/-in oder Seelsorger/-in gemacht werden. Die Formen schen Forschung einen Zusammenhang mit einer „guten“ einer konstruktiven Anpassungsleistung, bei der entweder Bewältigung von Krisen? Und, umgekehrt, prägen nicht die negative Reaktion auf eine Krise gering ausfällt und/ auch Krisen- und Resilienzerfahrungen ihrerseits die Per- oder die psychische Gesundheit und Leistungsfähigkeit sönlichkeit mit? Dabei beziehen wir uns in der Beantwor- trotz widriger Umstände aufrechterhalten oder wieder- tung primär auf den psychologischen Diskurs. Wir begin- hergestellt wird, werden in der Psychologie und Psycho- nen mit einem kurzen definitorischen Abriss von Resilienz somatik oft als „Resilienz“ bezeichnet (Wald et al. 2006). und Persönlichkeit. Obwohl ein resilienter Krisenverlauf durchaus auch von der Art der Belastung und den Umweltbedingungen abhängt, werden resilienten Personen überdauernde Ei- genschaften im Umgang mit Krisen, Belastungen oder 2 D efinitorische Rahmung von chronischem Stress zugesprochen. Im allgemeinen Resilienz und Persönlichkeit Sprachgebrauch wird dies an der Verwendung stabiler Attribute zur Beschreibung einer resilienten Person deut- 2.1 Was ist Resilienz? lich. Resiliente Personen besitzen demnach „eine innere Stärke“, sind „immun gegen Stress“, werden als „Stehauf- Der Resilienzbegriff stammt ursprünglich aus der Mate- männchen“ oder als „ein Fels in der Brandung“ bezeichnet rialwissenschaft. Er bezeichnet dort die allgemeine Wider- (Levold 2006). Auch in der wissenschaftlichen Fachdis- standsfähigkeit, Elastizität und Spannkraft eines Objekts. kussion wird Resilienz häufig als eine Persönlichkeits- In der Psychologie wurde dies in bildlicher Übersetzung variable im Sinne einer „psychischen Widerstandsfähig- auf psychische Stressbelastungen übertragen und weiter- keit“ (Leppert et al. 2005: 366) definiert, welche relativ entwickelt („a concept of healthy, adaptive, or integrated stabil über die Zeit besteht (Block & Block 1980; Leppert positive functioning over the passage of time in the after- et al. 2005). Wie also stehen Resilienz und Persönlichkeit math of adversity” (Southwick et al. 2014: 1). In Kurzform zueinander im Verhältnis? wird Resilienz meist definiert als die Fähigkeit, psychische Bei der Klärung dieser Frage erweist es sich als er- Gesundheit trotz relevanter psychischer Belastungen auf- schwerend, dass Resilienz einerseits als eine vor einer Krise rechtzuerhalten oder wiederzugewinnen (Wald et al. bestehende Eigenschaft bezeichnet wird, die es (prospek- 2006). Dabei bezieht sich Resilienz nicht nur auf die reine tiv) wahrscheinlicher macht, dass diese bewältigt wird. Abwesenheit psychischer Störungen, sondern sie umfasst Dies ist das Prinzip der meisten bestehenden Resilienz- auch den Erwerb neuer Fähigkeiten und Kompetenzen skalen (z. B. Wagnild & Young 1993), welche Merkmale (Masten & Coatsworth 1998; Rutter 2006). messen, die eine zukünftige psychische Widerstandsfähig- Resilienz kann demnach in drei unterschiedlichen keit gegenüber Krisen vorhersagen sollen. Andererseits Erscheinungsformen beschrieben werden: als eine stabile wird Resilienz aber oft (retrospektiv) als ein Ergebnis einer Eigenschaft, als ein dynamischer Anpassungsprozess erfolgreichen Krisenbewältigung beschrieben, dass nach oder auch als das Ergebnis einer erfolgreichen Bewälti- der Krise gemessen wird. So sind in der berühmten Studie gung (Windle 2011). Diese definitorische Offenheit des von Werner und Smith (1982) jene Kinder resilient, welche Begriffs führt zu einer gewissen Unschärfe, bei der Inhalte im weiteren Lebensverlauf eine gute soziale Anpassung und Grenzen zu verschwimmen drohen (Herrmann et al. erreicht haben. Dieser Unterschied wird in der Forschung 2011; Southwick et al. 2014). Dies zeigt sich auch in der oft nicht deutlich genug markiert (Windle 2011). Im ersten engen Verwandtschaft des Resilienzkonzepts zu bereits Fall wären bestimmte Persönlichkeitseigenschaften Teil bestehenden Theorien und Konstrukten. Hinsichtlich von Resilienz als einer schon vor einer Krise bestehenden der Handlungs- und Ergebnisperspektive weist das Re- Eigenschaft, im zweiten Fall würden sie die erst nach der silienzkonzept beispielsweise eine besondere Nähe zu Krise messbare Resilienz vorhersagen. dem Konzept des „Copings“ aus der Stressforschung auf. Um uns einer Klärung unserer Eingangsfrage „Gibt es Coping beschreibt ebenfalls einen adaptiven Umgang eine resiliente Persönlichkeit?“ anzunähern, beantworten oder eine erfolgreiche Bewältigung von (als bedrohlich wir nacheinander die folgenden Fragen: Ist Resilienz also oder schädlich bewerteten) Situationen (z. B. Lazarus & ein Synonym für das Vorliegen einer bestimmten dis- Folkman 2015). Das Resilienzkonzept bezieht sich jedoch positionellen Persönlichkeit, die besonders krisen- oder im Vergleich zum Coping auf das Gesamtmaß aller Situa- stressresistent ist? Oder sind einzelne Persönlichkeits- tionsbedingungen und Prozesse, die eine positive An- eigenschaften unabhängige Prädiktoren für Resilienz?
N. Hiebel & M. Rabe et al.: Gibt es die „resiliente Persönlichkeit“? 119 passung begünstigen und ist damit umfassender als das Welterleben (z. B. Selbstkonzept, Repräsentation sozialer Konzept des Copings, welches sich in erster Linie auf intra- Beziehungen). Dabei werden diese Merkmale als relativ psychische kognitive und handlungsorientierte Reaktions- beständig in ihrer Struktur über Zeit und Situation hinweg muster bezieht (für eine umfassendere Diskussion: siehe betrachtet, im Gegensatz zu momentanen affektiven Zu- Stangl 2017). ständen wie akuter Angst oder Ärger. Dennoch wird eine Ein kurzer Exkurs in die Theologie: Die Vielschichtig- gewisse Wandlungsfähigkeit der Persönlichkeitsmerkmale keit des Resilienzbegriffes lässt sich nicht nur in der nicht komplett ausgeschlossen. Im Sinne eines reziproken Psychologie wiederfinden. Er wird vielmehr, neben Natur- Determinismus können sich personelle, umweltbezogene und Sozialwissenschaften, auch in der Philosophie und und behaviorale Aspekte wechselseitig beeinflussen und Theologie kontrovers diskutiert, wie die Beiträge in diesem verändern (Bandura 1983). Je nach theoretischer Perspek- Themenheft belegen. Von der Diversität des Phänomens tivierung, z. B. aus einer entwicklungspsychologischen Resilienz zeugen dabei zum Beispiel die Inhalte des ersten oder allgemeinen Betrachtung, wird die Veränderlich- Bandes der Reihe „Religion und Gesundheit“ (Richter & keit oder Stabilität der Persönlichkeitsmerkmale stärker Korsch 2017): Kritik äußernd an einem primär neoliberal fokussiert. Gemeinsam ist allen Persönlichkeitsmodellen, verwendeten aktivistischen Verständnis von Resilienz dass sie ein Verständnis für das Repertoire überdauernder als Selbstoptimierungstool stellen sich die Inhalte in menschlicher Verhaltensweisen schaffen sollen. „Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Ganz neu ist dieser Gedanke nicht. Auch in der Antike Theologie und Philosophie“ (Richter & Korsch 2017) dar. versuchte man mit der Vier-Säfte-Lehre bereits, mensch- Resilienz sei, so die Herausgeberin, an sich schon ambi- liches Verhalten in Persönlichkeitstypen zu ordnen valent und negativ, Ohnmacht und Angst gehören unauf- (Fisseni 2003). Zwei moderne Auffassungen von Persön- löslich zu ihr und müssen für ein ausgewogenes Resilienz- lichkeit sind das Fünf-Faktoren-Modell (Big Five, Raad verständnis mit bedacht werden. Neben Faktoren, die im 1998) und das Temperament-Charakter-Modell (Cloninger Mensch selbst verortet werden können, auf die die Person et al. 1993). Das Big Five-Modell suchte in der natürlichen in der Krise selbst, aktiv zugreifen kann, sollten auch Sprache (Wörterbüchern) und in bestehenden Persönlich- solche in den Fokus gestellt werden, die einen passiveren keitsfragebögen nach Beschreibungen von Merkmalen. Charakter tragen: Los- und Zulassen oder die empathische Diese wurden in Aussagen umformuliert und daraus sta- Resonanz in anderen (Richter 2017). tistisch, anhand von Daten aus großen Probandenstich- In diesem Artikel beziehen wir uns primär kritisch auf proben, übergeordnete Faktoren errechnet, welche mög- die Perspektive von Resilienz als stabile Eigenschaft einer lichst alle Merkmale abdecken und sich möglichst wenig Person, die eine Bewältigung der Krise vorhersagt, und überschneiden sollten. Es ergaben sich als international fragen, ob Resilienz im engeren Sinne als Persönlichkeits- Geltung beanspruchende Big Five die basalen Eigenschaf- eigenschaft gelten kann. Hierfür schauen wir zunächst auf ten Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, den Begriff der Persönlichkeit. Neurotizismus und Offenheit für Erfahrungen. Cloninger und Kollegen (1993) kritisierten im Rückgriff auf John (1990), dass dieses Modell psychopathologisch relevante 2.2 Was ist Persönlichkeit? Aspekte wie Autonomie/Abhängigkeit ebenso vernachläs- sige wie traditionelle moralische Werte sowie alle Aspekte Auch der Persönlichkeitsbegriff, obwohl in der Praxis von Reife und Selbstaktualisierung. Im Gegensatz zur rein häufig verwendet, ist in der Literatur nicht übereinstim- verhaltensbezogenen Grundlage der Big Five betonte er mend definiert. Gordon Allport beschrieb Persönlichkeit die Bedeutung psychobiologischer Grundlagen. In seinem als „the dynamic organization within the individual of Modell unterscheidet er vier Temperamentdimensionen, those psychophysical systems that determine his unique welche als vorwiegend genetische Prädisposition be- adjustments to his environment” (Allport 1937: 48). Dazu schrieben werden. Diese sind unterschiedlichen basalen zählen laut Schneewind (2020) physische Merkmale (z. B. Aktivitätsniveaus von dopaminergen, serotoninergen und Geschlecht, Gesundheitszustand), kognitive Fähigkeiten noradrenergen neuronalen Transmittersystemen mit ent- und Wahrnehmungsstile (z. B. Intelligenz), generelle sprechenden Unterschieden im Lernverhalten zugeordnet: Motiv- und Interessensdispositionen (z. B. Selbstwirk- Neugierverhalten (mit der Polarität impulsiv, hitzig vs. samkeitsüberzeugung), generelle Temperaments- und rigide, schwerfällig), Schadensvermeidung (mit der Pola- Charaktereigenschaften (z. B. die „Big Five“, s. u.), cha- rität ängstlich, pessimistisch vs. aufgeschlossen, optimis- rakteristische Anpassungsweisen (z. B. Konfliktbewälti- tisch), Belohnungsabhängigkeit (mit der Polarität warm, gung, Bindungsformen) und das individuelle Selbst- und bestätigungssuchend vs. kalt, unnahbar), Beharrungs-
120 N. Hiebel & M. Rabe et al.: Gibt es die „resiliente Persönlichkeit“? vermögen (mit der Polarität ausdauernd, ambitioniert vs. Im Folgenden werden wir vier mögliche Zusammen- leicht entmutigt, unter den eigenen Möglichkeiten blei- hänge zwischen Persönlichkeit und Resilienz beleuchten: bend). Ergänzt werden diese durch drei Charakterdimen- 1) Resilienz wird selbst definiert als eine komplexe dis- sionen, bei welchen eine geringere genetische Determinie- positionelle Persönlichkeitseigenschaft, 2) spezifische rung, höhere Umweltabhängigkeit und stärkere Reifung Persönlichkeitseigenschaften tragen als einzelne Fak- mit dem Alter angenommen werden: Selbstbestimmung toren (unter anderen) zur Resilienz einer Person in einer (der Wille sich an äußere Veränderungen anzupassen im Krise bei, 3) Persönlichkeitseigenschaften interagieren Gegensatz zu Fremdbestimmung), Kooperativität (Hilfs- mit situativen Gegebenheiten im Resilienzprozess, und 4) bereitschaft, Bereitschaft zur Zusammenarbeit im Ge- Resilienzerfahrungen prägen die Persönlichkeit im biogra- gensatz zu Selbstzentriertheit) und Selbsttranszendenz fischen Verlauf mit. (Akzeptanz bzw. Identifikation, Vorstellung Teil eines größeren Universums zu sein; Selbstvergessenheit, spi- rituelle Akzeptanz, transpersonale Identifikation). Beide Persönlichkeitsmodelle gingen mit der Entwicklung ent- 3 Mögliche Zusammenhänge von sprechender Fragebögen einher: dem NEO-Fünf-Faktoren- Resilienz und Persönlichkeit Inventar (NEO-FFI, Borkenau & Ostendorf 1993) und dem Temperament-Charakter-Inventar (TCI, Cloninger et al. 3.1 R esilienz als eine dispositionelle 1993). Teststatistische Analysen zeigen erwartungsgemäß erhebliche Überlappungen der beiden diagnostischen Persönlichkeitseigenschaft Systeme (Fruyt et al. 2000). Eines der ersten dispositionellen Persönlichkeitsmerk- Andere Konzepte von Persönlichkeit sind eher mit be- male, die mit einer erhöhten Widerstandsfähigkeit gegen- stimmten psychotherapeutischen Schulen verbunden. So über gesundheitlichen Einbußen unter Stress verknüpft wird in psychodynamischen Theorien die Persönlichkeit wurden, ist das Konzept der „Hardiness“ (Kobosa 1979). stark von der Organisation von „Selbst“ und „Ich“ als In- Dabei konstituiert Hardiness über die drei Komponenten stanzen der Interaktion nach innen und außen bestimmt. a) Kontrolle über das eigene Leben, b) Engagement/Selbst- Im System der Operationalisierten Psychodynamischen verpflichtung im Sinne der Überzeugung der Sinnhaftig- Diagnostik OPD-2 (Arbeitskreis OPD 2014) werden vier keit und Bedeutung des eigenen Lebens und Handelns, Strukturdimensionen beschrieben: Wahrnehmung, Steue- und c) der Bereitschaft, Veränderungen als Herausfor- rung, Kommunikation und Bindung. Diese können sich derung zu begreifen, eine vor allem kognitiv hergestellte jeweils auf das Objekt oder das Selbst beziehen. Je nach psychische Robustheit oder Aufgeschlossenheit gegen- Ausprägung wird ein hoher oder geringer integrierter über alternativen Lösungen. Eine solide empirische Un- Strukturgrad unterschieden. Weitere Beispiele für Per- termauerung des Hardiness-Konzepts blieb bisher jedoch sönlichkeitsmodelle stellen kognitiv orientierte Theorien aus (Funk 1992). dar. In diesen wird angenommen, dass die Persönlichkeit Ein weiteres der Resilienz verwandtes umfassendes stark geprägt wird von der habituellen Art, wie Bedingun- Konstrukt ist das psychoanalytische Konzept der „Ich- gen und Zusammenhänge kognitiv repräsentiert werden. Stärke“. Ich-Stärke ist ein sehr differenziertes Konzept, Hierzu zählen Begriffe wie Selbstkonzept, Selbstwirksam- welches grob umschrieben werden kann als eine überdau- keitsüberzeugung, Kontrollüberzeugung, Attributionsstil ernde Eigenschaft einer in sich stabilen Persönlichkeit, die oder Erfolgs-/Misserfolgsorientierung (Fisseni 2003). ihre Ziele angemessen verfolgen und durchsetzen kann, Zusammenfassend betrachtet, erlaubt das Konzept und die die Realität angemessen wahrnehmen und ihre Ab- der Persönlichkeit, ein Individuum in seiner Gesamtheit sichten auch angesichts von Widerständen erreichen kann zu betrachten. Die dargestellte Persönlichkeitsstruktur (Rauh 2006; Korn 2012). Hieran angelehnt ist das Konzept kann sich dabei je nach theoretischem Hintergrund un- der „Ego-resiliency“. Ego-resiliency beschreibt die stabile terscheiden. Einig sind sich die Theorien darin, dass die Eigenschaft, eigene Affekte und Impulse flexibel den jewei- genannten Eigenschaften handlungsleitend sind und eine ligen situativen Bedingungen anzupassen (Block & Block erfolgreiche Anpassung an sich verändernde Umstände 1980). Ein Mensch mit hoher Ego-resiliency kann somit je gewährleisten sollen. nach Anforderung spontaner oder kontrollierter reagieren In diesem Sinne ist es naheliegend, beide Konzepte – und damit das Maß an Anstrengung und Schwingungs- Resilienz und Persönlichkeit – miteinander vereinbaren fähigkeit angepasst modifizieren, ohne anhaltend in der zu wollen. „Unterkontrolle“ mit Impulsivität und Unzuverlässigkeit
N. Hiebel & M. Rabe et al.: Gibt es die „resiliente Persönlichkeit“? 121 einerseits oder der „Überkontrolle“ mit Zwanghaftigkeit für das Auftreten von psychischen Erkrankungen, aber und Rigidität andererseits zu verharren (Block & Kremen auch von körperlicher Krankheit und einer verringerten 1996). Eine Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen kann Lebensqualität (Hengartner et al. 2018). Bezogen auf die somit nur auf Basis einer gewissen Ich-Stärke gegeben sein. Bewältigung von Trauma- und Krisenerfahrungen war Auch wenn diese Konstrukte eine hohe konzeptionelle ein resilienter Krisenausgang negativ mit Neurotizismus Nähe zu Resilienz als „Eigenschaft vor der Krise“ aufwei- und positiv mit den Dimensionen Extraversion, Offenheit sen, hat sich in der Forschungsliteratur die Betrachtung für Neues, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit asso- von Resilienz als eigenständige Persönlichkeitseigen- ziiert (Oshio et al. 2018). In einer weiteren Studie fanden schaft weder theoretisch noch empirisch durchgesetzt. Waaktaar & Torgersen (2010), dass das Big Five-Modell Hieran zeigt sich das bereits angesprochene Grundpro- für einen erfolgreichen Anpassungsprozess eine bessere blem, dass Resilienz in den Definitionen stets (auch) eine statistische Vorhersagekraft besaß als gängige Resilienz- dynamische Interaktion mit Aspekten der Krise enthält, skalen. Studien fanden zudem einen Zusammenhang die über ein reines Persönlichkeitsmodell nicht abgebil- einer niedrigen Ausprägung der Eigenschaft Schadens- det werden kann. Ein Lernprozess in oder aus der Krise, vermeidung (siehe Kap. 2.2) mit einer späteren Resilienz der zur Persönlichkeitsentwicklung beiträgt, lässt sich in in der Krise (Gil & Caspi 2006), sowie, umgekehrt, einen Persönlichkeitsmodelle, welche per definitionem über- Zusammenhang des Auftretens einer Posttraumatischen dauernde Eigenschaften umfassen, theoretisch schwer als Belastungsstörung mit einem hohen Wert in der Tem- eigene Persönlichkeitseigenschaft integrieren. Ebenfalls peramentsdimension Schadensvermeidung und einer bleibt unklar, wie man eine resiliente Persönlichkeit vor desorganisierten Charakterkonstellation, bestehend aus einer Krise bestimmen kann. Resilienz wird stattdessen einer niedrigen Selbstbestimmung und Kooperativität in der Regel rückblickend mit einer erfolgreichen Bewäl- sowie einer hohen Selbsttranszendenz (North et al. 2012). tigung assoziiert und bestimmt (vgl. Kap. 4). Die bereits Aus dem Bereich von Kognition und Motivation finden angesprochene theologische Perspektive auf Resilienz sich empirische Belege für einen positiven Zusammenhang bestätigt diese Sichtweise: Als „Krisenphänomen par ex- mit Resilienz für Selbstwertgefühl und Selbstkontrolle, cellence“ (Richter 2017: 12) stehen Resilienz und Krise in internale Kontrollüberzeugung, Ziel- und Erfolgsorientie- einem unauflöslichen Wechselverhältnis. Die Wahrneh- rung und problemfokussierte wie auch emotionsorientierte mung von Resilienz sei, so diese Blickrichtung, abhängig Bewältigungsstrategien (Werner & Smith 1982, Stewart & vom Erleben eines schweren disruptiven Ereignisses. Erst Yuen 2011). Auch ein insgesamt positives Selbstbild, selbst wenn ein Mensch eine Krise durchlebt, so der Hinweis aus mit Tendenz zur positiven Verzerrung der Wahrnehmung, der Theologie, lassen sich Aussagen darüber treffen, wie trägt in Studien zur Resilienz bei (Bonanno 2004). Als wei- resilient (oder nicht) er mit ihr umgeht. terer protektiver Faktor wird die Erfahrung der Sinnhaftig- Eine Möglichkeit, mit diesem Dilemma umzugehen, keit und Struktur in der eigenen Entwicklung aufgeführt besteht darin, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften zu (Korn 2012). Im Erwachsenenalter wird in Bezug auf Sinn- identifizieren, die zwar nicht selbst als Resilienz gelten, erleben schon seit den 50er Jahren das Kohärenzgefühl aber (im Zusammenspiel mit anderen Faktoren) die indivi- (Antonovsky 1993) als relativ stabiler Persönlichkeitsfak- duelle Anpassungsfähigkeit erhöhen und somit zu einem tor beschrieben, der zur Resilienz beiträgt. Hierunter wird als resilient definierten Ergebnis der Krisenbewältigung eine allgemeine kognitiv-motivationale Grundhaltung ver- beitragen. standen, die auf den Komponenten a) Verstehbarkeit, b) Handhabbarkeit und c) Sinnhaftigkeit basiert. Personen mit einem hohen Kohärenzgefühl reagieren demnach 3.2 S pezifische Persönlichkeitsmerkmale, flexibel in Krisensituationen. Dabei ist laut Antonovsky die zu Resilienz beitragen (1993) das Kohärenzgefühl nicht mit Coping (vgl. Kap. 2.1) gleichzusetzen, sondern nimmt eine steuernde, überge- Bei der Frage, welche Eigenschaften Resilienz vorhersa- ordnete Position ein. Aus der positiven Psychologie gibt gen können, wird Resilienz überwiegend als Abwesenheit es neuere Befunde eines positiven Zusammenhangs von psychischer Symptome nach Belastung oder als psycho- Resilienz mit Optimismus, Hoffnung, Kreativität, Beschei- soziale Integration und Funktionsfähigkeit trotz widriger denheit und Bereitschaft zur Vergebung (für eine Übersicht Umweltbedingungen definiert (Herrmann et al. 2011). siehe Richardson 2002; Bolton et al. 2016). In empirischen In Meta-Analysen empirischer Studien erwies sich Studien wurden auch Zusammenhänge mit Spiritualität von den oben genannten Big Five-Faktoren (vgl. Kap. 2.2) gefunden (Stewart & Yuen 2011). Allerdings wird die Frage, insbesondere Neurotizismus als genereller Risikofaktor ob Konzepte wie Hoffnung und insbesondere Spiritualität
122 N. Hiebel & M. Rabe et al.: Gibt es die „resiliente Persönlichkeit“? aufgrund ihrer auch überdauernden Aspekte dem Bereich tigt, und dass intelligente Personen aufgrund ihrer diffe- der personalen Eigenschaften zugeordnet werden können, renzierten Umweltwahrnehmung sensibler für Stress sein sehr kontrovers diskutiert (z. B. Saroglou & Munoz-Garcia können (Luthar 1991). 2008). Ein empirischer Zusammenhang von einer breit Jede Persönlichkeitseigenschaft kann also zeitgleich definierten Religiosität mit Persönlichkeitseigenschaften, eine konstruktive, funktionale wie auch eine dysfunk- z. B. mit Verträglichkeit (aus den Big Five) und mit pro- tionale Komponente haben. Die inhärente Widersprüch- sozialen Tendenzen (z. B. Altruismus, Bereitschaft zum lichkeit dieser Annahme lässt sich mit dem von Zoellner Verzeihen aus der Positiven Psychologie) wurde berichtet und Maercker (2006) ursprünglich für die Befunde zu (Ashton & Lee 2020). Die sehr umfangreiche Diskussion „Posttraumatischem Wachstum“ entwickeltem Janus- zu Spiritualität im Zusammenhang mit psychologischen kopfmodell integrieren. Das Modell geht davon aus, dass und medizinischen Konzepten wiederzugeben, die ins- manche Menschen einen konstruktiven Umgang mit einem besondere im Bereich Spiritual Care geführt wird, würde Trauma und damit eine eher positive psychologische An- aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen, wir verweisen passung erreichen. Andere hingegen täuschen sich selbst, hierzu z. B. auf Klein et al. (2011). sodass die Anpassungsleistung eher den Charakter eines Zusammenfassend gibt es eine große Zahl an relativ illusionären Wunschdenkens oder eine Form der Selbst- überdauernden Persönlichkeitseigenschaften, welche beruhigung aufweist. So könnte der Vorsatz eines Krebs- entweder im Sinne eines Risikofaktors (wie Neurotizis- patienten, der immer Radsport betrieben hat, sich wieder mus) oder eines protektiven Faktors (wie Kontrollüber- optimistisch hohe Trainingsziele zu setzen, sowohl eine ef- zeugung oder Kohärenzgefühl) einen Vorhersagewert für fektive Selbstmotivation als auch eine Nichtanerkennung eine resiliente Krisenbewältigung haben. Bisher ist es realer Einschränkungen sein, welche eine adäquate An- aber nicht gelungen, diese zu einem konsistenten System passung verhindert. Beide Aspekte können sich im Verlauf zusammenzufassen. Zudem stellt sich das Problem, dass verschieben, sodass eine Eigenschaft unter bestimmten die Krisenbewältigung ein dynamischer Prozess ist. Die Umständen zu einem konstruktiven Umgang beitragen rezipierten positiven Zusammenhänge zwischen Resilienz kann, in anderen nicht. Die Annahme, dass bestimmte und einzelnen Persönlichkeitseigenschaften sollten jedoch Eigenschaften eine resiliente Persönlichkeit prägen, lässt nicht personen- und situationsübergreifend generalisiert sich also schwer mit einem dynamischen Resilienzmodell werden. Aus einer differenziellen Perspektive ist kein vereinbaren. Hinzu kommt, dass auch Persönlichkeits- psychologischer Mechanismus immer und jederzeit funk- eigenschaften im Sinne eines wechselseitigen Determinis- tional (Mancini 2015). Inwiefern sich Persönlichkeitseigen- mus zwischen Verhalten, Persönlichkeit und Umwelt eine schaften positiv auf einen resilienten Verlauf auswirken, gewisse Variabilität aufweisen können (Bandura 1983). hängt auch vom Zeitpunkt und der jeweiligen Situation Jede Krisenerfahrung prägt den Umgang mit der nächsten ab. Dementsprechend können spezifische Faktoren, die Krise und bewirkt eine Rückkopplungsschleife zwischen sich in einer Situation als günstig erwiesen haben, in einer Krisenerfahrung, Persönlichkeit und Resilienz. anderen den Adaptionsprozess erschweren. 3.4 R esilienzerfahrungen prägen die 3.3 R esilienz als dynamisches Konzept: Persönlichkeit Interaktion von Persönlichkeitseigen- schaften mit situativen Merkmalen Die erfolgreiche Konfrontation mit Widrigkeiten kann die Widerstandsfähigkeit für spätere Krisen erhöhen: Verschiedene Befunde sprechen für eine je nach spezifi- Ein Effekt, der häufig „steeling-effect“ genannt wird und scher Situation und Person differenzierte Betrachtung der mit dem Challenge-Modell von Resilienz assoziiert wird Persönlichkeitseigenschaften und situativen Merkmale. (Zimmerman & Arunkumar 1994; Rutter 2006). Dem Chal- So wurde beispielsweise gezeigt, dass ein unkritisch po- lenge-Modell zufolge gibt es einen kurvilinearen Zusam- sitives Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl bei aggres- menhang zwischen Risikofaktoren/Stressoren und einer siven Jugendlichen eher die soziale Anpassung behindert positiven Anpassung, d. h. dass Krisen herausfordernd (Masten & Coatsworth 1998). Eine hohe Intelligenz, meist genug sein müssen, um eine Anpassung zu stimulieren, assoziiert mit guter Funktionsfähigkeit, kann auch positiv ohne dabei überfordernd zu sein. Ist dies gegeben, so mit Depression assoziiert sein. Als Erklärung wurde an- kann eine Person aus dem Prozess der Risikobewältigung gegeben, dass Intelligenz eine „internalisierende“, also über reziproke Rückkopplungsschleifen lernen. So festigt nur nach innen gerichtete Problemverarbeitung begüns- sich langfristig z. B. die Überzeugung, selbst etwas be-
N. Hiebel & M. Rabe et al.: Gibt es die „resiliente Persönlichkeit“? 123 wirken zu können oder dem Leben an sich oder anderen 4 Z usammenfassung und Menschen trotz allem vertrauen zu dürfen. Diese überdau- ernden, aber durch Erfahrungen modifizierbaren Überzeu- Diskussion gungen werden wiederum der Persönlichkeit zugerechnet. Resilienz wird meist beschrieben als die Fähigkeit einer Sie entfalten für spätere Krisen eine protektive Wirkung, Person, Krisen zu bewältigen. Die zunächst naheliegende indem sie die Motivation stärken, sich einer schwierigen Annahme, dass bei Menschen, welche sich solchermaßen Situation aktiv zu stellen und diese zu bewältigen (Fin- als resilient erwiesen haben, eine spezifische Konstella- gerle 1999). Herausfordernde Situationen und Krisen, tion von Persönlichkeitseigenschaften vorliegt, erweist welche für die Person in der jeweiligen Situation bewältig- sich bei näherer Betrachtung als problematisch. Resilienz bar sind, führen also zu Lernerfahrungen, die wiederum bezieht sich stets auf eine Belastung durch einen Stressor die Persönlichkeit mitprägen und die Resilienz stärken. oder eine Krise und schließt eine Anpassungs- oder Bewäl- Hier zeigt sich erneut eine enge konzeptuelle Verknüpfung tigungsreaktion des Individuums mit ein. Demnach hat zu stresstheoretischen Konzepten (vgl. Kap. 2.1), wie z. B. Resilienz stets eine zeitliche und eine interaktive Dimen- dem transaktionalen Stressmodell (Lazarus & Folkmann sion, was nicht nur die theoretische Definition, sondern 2015). Auch hier wird ein Lernprozess integriert, der ein auch die empirische Erfassung erschwert. Resilienz kann Individuum dazu befähigt, zukünftig mit belastenden Si- zudem auch im Verlauf einer Biografie je nach situativen tuationen umzugehen. Über Rückmeldungen zum Erfolg Gegebenheiten und auch bereits erlebten Krisenerfahrun- oder Misserfolg lernt die Person im weiteren Verlauf, gen variabel sein (Staudinger & Greve 2015). Stressbewältigungsstrategien selektiv nach ihrer Nützlich- Aufgrund der Komplexität des Resilienzprozesses keit einzusetzen. herrscht bis heute in der Forschung keine Einigkeit Aus entwicklungspsychologischer Perspektive zeigt darüber, ob Resilienz im engeren Sinne eine Persönlich- sich zudem, dass bestimmte Persönlichkeitseigenschaften keitseigenschaft, ein Prozess oder ein Ergebnis ist (South- wie emotionale Stabilität, Verträglichkeit und Gewissen- wick et al. 2014). Empirisch wird Resilienz dennoch re- haftigkeit zwischen Jugend- und höherem Erwachsenen- gelhaft post facto an dem Ergebnis einer erfolgreichen alter mit dem Alter zunehmen. Empirisch wurden diese Krisenbewältigung gemessen. Aufgrund dieser Tatsache Persönlichkeitsveränderungen mit einer erhöhten alters- wird argumentiert, dass es wenig Sinn macht, einer bedingten Resilienz in Verbindung gebracht (Staudinger Person vor einer Krise eine resiliente Persönlichkeit zu- & Greve 2015). Hieran anknüpfend sind auch Befunde zur zuschreiben (Mancini & Bonanno 2009). Masten (1994) sogenannten „earned security“ zu nennen. Diese findet weist auf die Diskrepanz zwischen dem alltäglichen sich bei Menschen, die aufgrund traumatischer Kindheits- Sprachgebrauch hin, in dem Resilienz häufig mit einer erlebnisse zunächst keine sichere Bindungserfahrung Eigenschaft gleichgesetzt wird, und der wissenschaft- machen, sich aber dennoch einen sicheren Bindungstyp lichen Diskussion, in der Resilienz überwiegend nicht „erarbeitet“ haben (Leuzinger-Bohleber 2009). Darüber als Merkmal, sondern als Muster von verschiedenen An- hinaus wird Resilienz im höheren Alter ein weiterer Aspekt passungsvorgängen im Angesicht von Widrigkeiten ver- zugeschrieben, nämlich der des Verlustmanagements standen wird. Dieser Widerspruch findet sich allerdings (Leppert et al. 2005; Staudinger & Greve 2015). Anpassung auch innerhalb der empirischen Forschung, wenn mittels persönlicher Werte und Präferenzen, Veränderungen be- Selbsterhebungsinstrumenten in Form von Fragebögen stimmter Sichtweisen sind Beispiele dafür, wie man trotz Aspekte einer Person erfasst werden, die standardisiert Verlusten im Erwachsenenalter seine Lebenszufriedenheit das individuelle Ausmaß an Resilienz erfassen sollen. So erhalten kann (Brandtstädter 2006). Dementsprechend ist erfasst die Resilienzskala (z. B. Wagnild & Young 1993) aus entwicklungspsychologischer Perspektive Resilienz Resilienz als Persönlichkeitsmerkmal über die Faktoren kein unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal, sondern „persönliche Kompetenz“ (Selbstvertrauen, Unabhän- eine über die Zeit wandelbare und von Lernerfahrungen gigkeit, Beherrschung, etc.; Beispiel-Item: „I usually und sozialen Bedingungen abhängige Fähigkeit, Krisen zu manage one way or another“ [„Normalweise schaffe ich bewältigen. Im Einklang mit dem Challenge-Modell wird alles irgendwie“]) und „Akzeptanz des Selbst und des sie durch die wiederholte Konfrontation mit Widrigkeiten Lebens“ (Anpassungsfähigkeit, Toleranz, flexible Sicht gestärkt, welche für das Individuum eine mittlere Heraus- auf sich und die Welt etc.; Beispiel-Item: „I am friends with forderung darstellen. myself” [„Ich mag mich“]). Zwar gibt es Einigkeit darüber, dass personale Faktoren im interaktiven Resilienzprozess eine Rolle spielen, als Ressourcen, Schutz- oder Risiko-
124 N. Hiebel & M. Rabe et al.: Gibt es die „resiliente Persönlichkeit“? faktoren oder als intrapersonale Mechanismen. Personale positiv auswirken können. Aus dieser Perspektive können Ressourcen schließen Persönlichkeitsfaktoren im engeren Faktoren, unabhängig davon, ob es sich um internale Fak- Sinn mit ein, gehen aber über diese hinaus und umfassen toren wie Persönlichkeitseigenschaften handelt, oder um auch z. B. soziale Unterstützung, physische Gesundheit externale Faktoren wie die Form der Einbindung in ein oder Bildung. Insofern wäre es reduktionistisch, als per- soziales System, nicht grundsätzlich als immer förderlich sonale Faktoren nur Persönlichkeitsmerkmale zu betrach- für Resilienz bezeichnet werden. Vielmehr scheinen adap- ten und nicht eine Persönlichkeit in Interaktion mit ihrem tive Prozesse über Personen, Situationen sowie über die sozialen Umfeld, ihren früheren Krisenerfahrungen und Zeit hinweg zu variieren. Eindeutige lineare Zusammen- der spezifischen Belastungssituation zu sehen (Staudinger hänge, die alle Prozesse berücksichtigen, zeigen sich kaum & Greve 2015). (Fooken 2009). Resiliente Verläufe sind folglich nur lon- Wir halten es deshalb für wissenschaftlich nicht ziel- gitudinal zu erfassen. Resilienz stellt kein monolithisches führend, eine „typische“ Persönlichkeitskonstellation als Konstrukt dar, das einmal erreicht und für immer bestehen resilient zu bezeichnen. Die vorgestellten dispositionellen bleibt (Zimmerman & Arunkumar 1994), sondern ist durch Persönlichkeitsmodelle der Ich-Stärke, Ego-resiliency seine dynamische Interaktion zwischen internalen und ex- und Hardiness wie auch die spezifischen Persönlichkeits- ternalen Faktoren charakterisiert (Southwick et al. 2014). merkmale und -konstellationen gehen zwar über die Auf- Von einer pauschalen Generalisierung einer resilienten zählung von Einzeldimensionen hinaus und beinhalten Persönlichkeit sollte aus dieser Perspektive Abstand ge- einen interaktiven und situativ flexiblen Aspekt der Emo- nommen werden (siehe dazu auch Leys et al. 2018). tionsregulation und Problembewältigung. Sie könnten demnach als günstige personale Bedingung für Resilienz betrachtet werden, zumal eine Nähe zu bekannten Schutz- und Risikofaktoren für psychische Erkrankungen wie 5 Ausblick Selbstbestimmung oder Neurotizismus besteht. Bisher Obwohl die Multidimensionalität des Resilienzkonzepts in konnte aber kein schlüssiges Persönlichkeitskonstrukt der Psychologie, Theologie oder Philosophie betont wird, von Resilienz erstellt werden, welches gegenüber einzel- bleibt es vermehrt bei einer eher einseitigen Betrachtung nen Schutz- oder Risikofaktoren eine bessere Vorhersa- des Konzepts innerhalb der eigenen Disziplin. Eine stär- gekraft für die Bewältigung von Krisen hat. Hinzu kommt kere interdisziplinäre Vernetzung könnte die zukünftige bei einer Definition von Resilienz, welche bestimmte Entwicklung eines dynamischeren und hermeneutische- Persönlichkeitsmerkmale einschließt, das Problem eines ren Konzepts unterstützen. Diesen interdisziplinären methodischen Zirkelschlusses: Es ist zu erwarten, dass Diskurs unterstützen wir aktuell im Rahmen des von der Menschen, die vor einer Krise mit Problemen in einer Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts bestimmten, als resilient bezeichneten Art und Weise DFG-FOR 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität. umgehen – z. B. eher positive Affektivität kombiniert mit Aushalten und Gestalten von Ohnmacht, Angst und Optimismus und Selbstwirksamkeit – dies auch nach der Sorge“. Unser umfassenderes Ziel ist es, einen Ansatz zu Krise tun. Wenn diese Eigenschaften also auch das Ergeb- finden, der die definitorische Unschärfe des Resilienzkon- nis eines resilienten Anpassungsprozesses darstellen, an zepts überwindet. Dabei erachten wir es als wenig sinn- dem die Validität des Modells gemessen wird (z. B. De- voll, den Begriff Resilienz durch ein Synonym oder anderes pression, gekennzeichnet durch gedrückte Stimmung, In- Konzept zu ersetzen, bevor die genannten konzeptionellen teressenverlust und verminderten Antrieb), so erfolgt sehr und methodischen Schwierigkeiten behoben werden (vgl. wahrscheinlich eine empirische Bestätigung des Modells insbesondere Kap. 2.1 und 4). Viel zu groß ist die Gefahr, (Staudinger & Greve 2015). dass die bestehende definitorische Unschärfe lediglich Zwar ist es wahrscheinlich, dass bestimmte Persön- auf einen neuen Begriff übertragen wird. Wir glauben, lichkeitseigenschaften den dynamischen Resilienzprozess dass Resilienz ein erlernbares Konzept ist, dass sowohl günstig beeinflussen können. Von einem gefundenen situativ wie auch lebensperspektivisch über Prozesse ver- statistisch-korrelativen Zusammenhang von Persönlich- mittelt wird. Eine Reduktion auf einzelne Persönlichkeits- keitsmerkmalen und Resilienz darf aber nicht vorschnell eigenschaften ist demnach zu einfach (vgl. Kap. 4; Leys et auf eine bestimmte Art der Kausalbeziehung in Form einer al. 2018). Je nach Kontext können verschiedene personale resilienten Persönlichkeit geschlossen werden. Wahr- oder auch umweltbezogene Faktoren gleichzeitig und/ scheinlicher ist, dass im Verlauf des Krisengeschehens oder nacheinander aktiv sein. Auch wenn die theoretische transaktionale Prozesse zwischen externalen und inter- Konzeption und empirische Operationalisierung eines nalen Variablen ablaufen, die sich in ihrer Kombination
N. Hiebel & M. Rabe et al.: Gibt es die „resiliente Persönlichkeit“? 125 multidimensionalen Konstrukts eine Herausforderung Bolton K, Praetorius R, Smith-Osborne A (2016) Resilience protective darstellen mag, glauben wir, dass es ein fruchtbarer und factors in an older adult population: a qualitative interpretive notwendiger Schritt für die zukünftige Forschung ist. meta-synthesis. Social Work Research 40:171–182. Bonanno G (2004) Loss, trauma, and human resilience: have we underestimated the human capacity to thrive after extremely Author contributions: NH und MR share first authorship. aversive events? The American Psychologist 59:20–28. FG, NH and MR wrote the manuscript, NH and MR revised Borkenau P, Ostendorf F (1993) NEO-Fünf-Faktoren-Inventar (NEO-FFI) the manuscript. KM provided important intellectual nach Costa und McCrae. Göttingen: Hogrefe. content for a critical revision of the manuscript. All authors Brandtstädter J (2006) Action perspectives on human development. 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