Grundlagen und Methoden der Eltern-Säugling-Körper-psychotherapie - Thomas Harms
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Fachbeitrag Grundlagen und Methoden der Eltern-Säugling-Körper psychotherapie Thomas Harms Der Text vermittelt einen Überblick über Praxis, Methoden und aktuelle Dis- Schlüsselbegriffe kussionen innerhalb der Eltern-Säugling-Körperpsychotherapie. Der Artikel Eltern-Säugling-Klein- zeigt einerseits die Unterschiede der verschiedenen bindungs-, trauma-, kind-Psychotherapie, und pränatal-psychologischen Perspektiven innerhalb der körperpsycho- Babytherapie, Regula- therapeutischen Arbeit mit Eltern und Babys auf. Andererseits werden die tionsstörung, Bindungs- spezifischen Werkzeuge der Körperpsychotherapie in ihrer Anwendung in störung, Schreibaby, Frühprävention, Krisenintervention und Traumapsychotherapie vorgestellt. Körperpsychotherapie Principles and Methods of Parent-Infant-Body Psychotherapy Key words This article gives an overview of the practice, methodology and recent dis- parent-infant-psycho- cussions within the field of parent-infant-body psychotherapy. On the one therapy; baby therapy; hand, the article shows the differences between the attachment-, trauma-, attachment disorder, and prenatal-psychology oriented perspectives of body psychotherapy with colic baby, body babies and parents. On the other hand, the major body psychotherapeu- psychotherapy tic techniques used within the fields of early intervention, crisis-counseling and trauma psychotherapy will be described. Wissenschaftliche Strömungen in der Jahren klinisch wertvolle Beiträge aus dem Eltern-Baby-Körperpsychotherapie Feld der Körperpsychotherapie entwickelt und veröffentlicht. Grob lassen sich in der aktu- Körperpsychotherapeutische Arbeit mit Eltern, ellen Diskussion vier grundlegende Strömun- Säuglingen und Kleinkindern hat sich in den gen der Eltern-Säugling-Körperpsychotherapie vergangenen 25 Jahren zu einer innovativen differenzieren: und dynamischen Sparte innerhalb des grö- 1. Pränatal-psychologische Konzepte ßeren Feldes moderner Körperpsychotherapie 2. Neoreichianische bzw. bioenergetische entwickelt. Speziell in der krisenintervenie- Konzepte renden Arbeit mit Eltern und regulationsge- 3. Interaktionale und videogestützte Konzepte störten Babys mit Schrei-, Schlaf- und Fütte- 4. Tanz- und bewegungstherapeutische An- rungsproblematiken wurden in den letzten sätze körper – tanz – bewegung 4. Jg., S. 2–16 (2016) 2 DOI 10.2378 / ktb2016.art02d © Ernst Reinhardt Verlag
Eltern-Säugling-Körperpsychotherapie Die pränatalen Ansätze der Babytherapie ha- Säuglingen mithilfe von bekannten körperpsy- ben ihre Wurzeln in der pränatalen Psycholo- chotherapeutischen Methoden (wie z. B. Kör- gie sowie im amerikanischen Human Potential perwahrnehmung) ausgewertet. Obwohl kör- Movement (Terry 2014; Emerson 2012; Reng- perpsychotherapeutische Bezüge reichlich zu gli 2013). Der besondere Fokus dieser Ansätze finden sind, verortet Downing seinen Ansatz liegt auf der Rekonstruktion der prä- und peri der Eltern-Säugling-Psychotherapie mittlerweile natalen Ätiologie von Regulations- und Bin- im Feld der kognitiven Verhaltenstherapie. dungsproblematiken bei Eltern und Säugling. Ein weiterer interaktionaler Ansatz ist das Das regressive Wiedererleben, die Rekonstruk- Bonner Modell der Interaktionsanalyse (BMIA), tion und anschließende Integration der trau- das von Sabine Trautmann-Voigt vertreten wird matischen Schwangerschafts- und Geburtser- (Trautmann-Voigt / Moll 2010). In dem Konzept fahrungen spielen hier eine zentrale Rolle. werden tanz- und bewegungstherapeutische Die neoreichianischen und bioenergeti- Zugänge mit tiefenpsychologischen, bindungs- schen Konzepte bewegen sich in der Tradi- theoretischen Sichtweisen in multimodaler tion der bioenergetischen Säuglingsforschun- Weise verwoben. Körpersprache und Bewe- gen Wilhelm Reichs sowie seiner Tochter, der gung werden besonders stark einbezogen, um Ärztin und Geburtshelferin Eva Reich (Reich dysfunktionale Interaktionsmuster der Eltern 1993; Reich / Weaver 2006). Wilhelm Reichs zu korrigieren. Neben Live-Situationen werden säuglingstherapeutischer Ansatz stützte sich auch hier videobasierte Zugänge genutzt, um weniger auf das Wiedererleben von traumati- speziell mit den Eltern psychotherapeutisch scher Primärerfahrungen als vielmehr darauf, zu arbeiten. An dieser Stelle sei auch auf die durch behutsame Interventionen die vegetati- tanztherapeutischen Arbeiten zur Mutter-Kind- ven und energetischen Grundlagen der gegen- Interaktion von Lier-Schehl (2008) verwiesen, wärtigen Kontakt- und Öffnungsbereitschaft die sich in ihren Studien mit den Bewegungs- von Eltern und Kind anzuregen (Reich 1987). mustern von psychisch erkrankten Müttern und In den vergangenen Jahren waren es vor allem ihren Säuglingen auseinandersetzt. Andere die – in dieser Denklinie stehenden – körper- Modelle aus diesem therapeutischen Umfeld psychotherapeutischen Modelle der Krisen- sind das Kestenberg Movement Pofile (Koch intervention (Harms 2008; Diederichs / Jung- 1999) oder das Body-Mind Centering, das von claussen 2009), deren fokaltherapeutische der amerikanischen Tanz- und Bewegungsthe- Ansätze heute in Schreibaby- und Krisen- rapeutin Bonny Bainbridge-Cohen speziell für sprechstunden in Deutschland und im euro- die Arbeit mit körperlich und geistig behinder- päischen Ausland größere Verbreitung gefun- ten Säuglingen und Kleinkindern entwickelt den haben. wurde (Bainbridge-Cohen 2014). Eine weitere Strömung der körperpsychothe- Die videogestützten Ansätze der Eltern- rapeutischen Arbeit mit Eltern und Babys findet Säugling-Psychotherapie haben als evidenz- ihren Ursprung in den modernen Säuglingsfor- basierte Konzepte innerhalb der klinischen schungen, wie sie von Stern und Lichtenberg Psychotherapieversorgung mittlerweile eine begründet wurden (Dornes 1993). Besonders größere Verbreitung gefunden (Lier-Schehl George Downing verknüpfte die Ergebnisse der et al. 2011). Demgegenüber zeigt sich, dass empirischen Säuglingsforschung mit den prak- die pränatalen und neoreichianischen Eltern- tischen Ansätzen der Körperpsychotherapie Säugling-Körperpsychotherapien überwiegend (Downing 2003). In seinem Ansatz der Video- im außerklinischen Feld der Krisenberatung Interventions-Therapie (VIT) werden videoge- und Traumapsychotherapie verbreitet sind. stützte Interaktionsanalysen von Eltern und 1 | 2016 3
Thomas Harms Kernpunkte der körperpsycho über den Körper des Babys streicht. Für den therapeutischen Arbeit mit Eltern Körperpsychotherapeuten bilden diese kör- perlichen Manifestationen wichtige Hinweise und Babys darauf, wie es um die Öffnungs-, Erlebens- Im Folgenden möchte ich einige zentrale Säu- und Beziehungsqualität der Mutter im Kontakt len der körperpsychotherapeutischen Arbeit mit ihrem Kind bestellt ist (Geuter 2015). mit Eltern und Säuglingen vorstellen und dis- Die wichtigste These der Körperpsychothe- kutieren. Diese Diskussion ist wichtig, um ver- rapie mit Eltern und Säuglingen lautet somit, ständlich zu machen, warum – trotz vielfältiger dass frühe Regulationsprozesse, Bindungs- praktischer Einsatzbereiche der Körperpsy- verhalten sowie die unterschiedlichen Quali- chotherapie – die akademische Rezeption kör- täten der elterlichen Feinfühligkeit in einem perpsychotherapeutischer Eltern-Baby-Arbeit körperlichen Prozess verwurzelt sind. Bin- im Feld der verhaltenstherapeutisch und tie- dungs- und Regulationsstörungen haben einen fenpsychologisch geprägten Eltern-Säugling- Körper. Psychotherapie bisher weitgehend ausgeblie- Körperpsychotherapie verwertet diese kör- ben ist (Windhaus 2007). Ein Beispiel sei hier perliche Dimension in mehrfacher Weise: Zum das aktuelle Standardwerk „Frühe Kindheit einen wirkt sie durch ihre Interventionen direkt (0–3 Jahre)“ von Cierpka, der trotz der von ihm auf die körperlichen Voraussetzungen der Re- propagierten Methodenvielfalt die körperba- gulationsfähigkeit von Eltern und Kind ein. So sierten Zugänge der Eltern-Säugling-Psycho- weisen heute neurobiologische Forschungen therapie vollständig ignoriert (Cierpka 2012). darauf hin, dass ein dominanter körperlicher Stress- und Spannungszustand einschränkend Punkt 1: Der Körper als Referenzpunkt der auf die Beziehungs- und Resonanzfähigkeit Eltern-Säugling-Psychotherapie wirkt (Bauer 2006; Porges 2010; Rizzolatti Der Körper ist in der Eltern-Säugling-Körper- 2008). Insofern ist es sinnvoll, dass Körperpsy- psychotherapie der zentrale Referenzpunkt in chotherapie im Sinne eines Bottom-Up-Mo- der Behandlung und Beobachtung von Eltern dells auf die basalen Regulationen des Orga- und Kind. Die zentrale These lautet dabei, dass nismus einwirkt. Das Ziel von Berührungen, gelingende (ebenso wie nicht-gelingende) Be- Ateminterventionen und Imaginationen ist da- ziehungsmomente sich in spezifischen Kör- bei, dass die psychovegetative Reaktionslage perfunktionen und -qualitäten widerspiegeln. der Eltern und ihrer Kinder verändert wird. Wenn eine verhaltensunsichere Mutter in einer In der Eltern-Säugling-Körperpsychothera- therapeutischen Sequenz erstmals einen fein- pie ist der Körper der Ort des Erlebens. Anders fühligen Zugang zu ihrem Säugling entwickelt, als primär verhaltensbeobachtende Zugänge, so verortet die Körperpsychotherapie die sich die sich auf die objektiven Ausdruckspro- vollziehende Passung in der Mutter-Kind-Be- zesse und deren Veränderungen konzentrie- ziehung im Körperlichen. In der Eltern-Baby- ren, wird in der körperpsychotherapeutischen Körperpsychotherapie ist die seufzende At- Arbeit mit den Eltern das subjektiv-verkör- mung der Mutter bedeutsam. Sie ist Hinweis perte Erleben der frühen Beziehung zum Kind dafür, dass sich ihr Körper im Zuge der verbes- erkundet. Hier interessiert also, wo die Mutter serten affektiv-motorischen Abstimmung mit ihren Stress und ihre Hilflosigkeit im Kontakt ihrem Baby entspannt. Die gelösten Gesichts- mit dem schreienden Kind körperlich erlebt. züge der Mutter sind ebenso relevant wie der Durch achtsame Körperwahrnehmung und schwingende Klang ihrer Stimme und auch die -beobachtung werden die Eltern darin unter- weichen, ultrazarten Berührungen, mit der sie stützt, spezifische Orte des Körpererlebens 4 1 | 2016
Eltern-Säugling-Körperpsychotherapie mit konkreten stressauslösenden Situationen der Bewegungen bei Eltern und Säugling. Nun zu verbinden. Eltern-Baby-Körperpsychothe- mag eingewandt werden, dass auch heutige rapie ist somit nicht nur an dem objektiven verhaltensbeobachtende Verfahren psychove- und vermessbaren Körper interessiert. Viel- getative Dimensionen in die Analyse mit ein- mehr ist es der subjektive Körper – der Körper, beziehen (Derksen / Lohmann 2009). Ebenso den wir erleben – der im Zentrum der Aufmerk- greifen relationale Ansätze der Psychoana- samkeit steht. Da, wo verhaltenstherapeuti- lyse auf Körperinformationen zurück, indem sche Zugänge im Rahmen einer videoanaly- die TherapeutInnen ihre Gegenübertragungs- tischen Arbeit auf die Fehlschritte innerhalb reaktionen auswerten (Israel 2007). Was ist der Eltern-Kind-Interaktion verweisen, fragt also anders in der körperpsychotherapeuti- der Körperpsychotherapeut: Was spüren / er- schen Arbeit mit Eltern und Babys? leben Sie jetzt in Ihrem Körper? Ziel ist dabei, Der entscheidende Unterschied ist, dass dass elterliches Beziehungsverhalten verkör- Körperinformationen (Körperbeobachtungen pert zugänglich wird. Anders formuliert: Eltern und Körperwahrnehmungen) ein zentrales sollen spüren, wie es sich anfühlt, wenn sie Leitsystem des therapeutischen Handelns das Köpfchen des Babys nicht richtig abstüt- sind. Wenn eine Mutter im Zusammensein mit zen, eben dass es sich nicht „richtig“ anfühlt ihrem unruhiger werdenden Säugling plötz- (Fogel 2013). lich die Luft anhält, so ist dies ein wichtiger In den neoreichianischen Strömungen der Hinweis darauf, dass sich die Bindungs- und Eltern-Säugling-Körperpsychotherapie wird Kontaktbereitschaft der Mutter verändert. Für nach dem Bedeutungsgehalt von körperlich- alle Richtungen der Eltern-Säugling-Körper- muskulären Verspannungen gesucht. Schon psychotherapie ist die diagnostische Auswer- Wilhelm Reich, einer der wichtigsten Pioniere tung der Atemverflachung ein Ausgangspunkt, heutiger Körperpsychotherapie, formulierte in um das jeweilige Affekt- und Körpererleben den 1930er Jahren, dass die Muskel- und Ge- sowie Bewegungsmuster genauer zu ergrün- webeverkrampfung die körperliche Entspre- den. Was geschieht in dem Moment, in dem chung der innerpsychischen Abwehrprozesse die Mutter die Luft anhält und sich Spannung darstellt. Sie enthält somit den Sinn und Be- in ihr aufbaut? Welche Gedanken begleiten deutung ihrer Entstehung (Reich 1997, 2010). diesen Anspannungsprozess ihrer Atmung? Insofern geht es in der Eltern-Säugling-Kör- Nimmt die Mutter überhaupt die Kontraktion perpsychotherapie immer um das Verstehen ihrer Atemmuskulatur wahr? Körperpsycho- der tieferen Funktion eines körperlichen Ab- therapeutische Interventionen beziehen sich wehrprozesses. Im Zentrum steht weniger direkt auf die Atmung der Betroffenen, um die Frage nach den Ursachen als vielmehr den stressbedingten Rückzug wieder zu ver- die nach der emotionalen Funktion einer be- ändern. Im Fall der belasteten Mutter könnte stehenden Muskel- und Gewebekontraktion. dies bedeuten, dass wir die Mutter auffordern, Welche emotionale Bewegung wird durch die ihren Atem in ihren Bauchraum zu lenken und Spannung im Zwerchfell des Säuglings verhin- die dortigen Körperveränderungen zu beob- dert? Welcher Affekt wird durch die Verbissen- achten. Indem sie sich bewusst auf ihre At- heit und die anhaltende Anspannung der Kau- mung konzentriert, verändert sich das innere muskulatur ausgedrückt? Erleben. Die Mutter spürt plötzlich wieder Bo- In der Diagnostik der Eltern-Säugling-Kör- den unter den Füßen und erlebt sich sicherer perpsychotherapie lesen wir den Körperaus- im Umgang mit dem Kind. druck, beobachten wir den Atem, den Muskel- Insbesondere in den Ansätzen der Körper- tonus sowie die Rhythmik und Koordination psychotherapie mit Eltern und Säuglingen, die 1 | 2016 5
Thomas Harms pränatal orientierten Eltern-Baby-Körperpsycho therapien spielen emotionale Ausdruckspro- zesse eine große Rolle. Ich fokussiere in mei- nem Ansatz der Emotionellen Ersten Hilfe auf eine bindungsbasierte Begleitung der Eltern (Harms 2008). Dabei wird darauf geachtet, dass die Eltern durch achtsame Körperbeob- achtung und Halt spendende Körperberührun- gen in einem präsenten und emotional ver- fügbaren Modus verbleiben, während sie das Schreien ihres Kindes begleiten. In den pränatalen Körperpsychotherapien wird das Schreien des Säuglings als Teil einer komplexen szenischen Wiederholung von prä- Abb. 1: Stärkung der kindlichen Kontaktbereit- und perinatalen Traumatisierungen verstan- schaft durch bindungsbasierte Körperberührung den. Das Babyschreien wird dabei als Aspekt einer umfassenden Rekapitulation und verkör- perten Erinnerung früher Entwicklungstrau- sich auf bindungstheoretische und pränatal- matisierungen verstanden. Terry (2014) unter- psychologische Grundlagen beziehen, spielt scheidet in diesem Zusammenhang zwischen die direkte Körperberührung eine wichtige „Erinnerungs- und Bedürfnisschreien“ des Rolle. So wird einer verunsicherten Mutter Säuglings. Er argumentiert in seinem Ansatz, eine Hand in den Rücken gelegt, um ihr im Zu- dass – anders als das Schreien, das durch sammensein mit ihrem Baby das Gefühl von Bedürfnisdefizite begründet ist – das Erinne- (Rück-)Halt und Sicherheit zu vermitteln. Für rungsschreien eine Anerkennung und Spiege- Mütter, die sich in der Begleitung ihrer exzes- lung im therapeutischen Beziehungsfeld be- siv schreienden Babys nur mehr im Kreis dre- nötigt, um zu einer Auflösung und Befriedung hen und ihre Gedanken nicht mehr zur Ruhe zu finden. bringen können, ist es entlastend, wenn der Die spezifische kathartische und traumalö- Kopf für eine Weile vom Therapeuten gehalten sende Dimension des Schreiens wird in den wird. Wichtig ist zudem, dass eine Vielzahl der derzeit diskutierten anerkannten Verfahren körperpsychotherapeutischen Ansätze auch der Eltern-Säugling-Psychotherapie im Allge- das Baby in die Körperberührungen mit einbe- meinen nicht gesehen (Windhaus 2007). Viel- zieht. So werden hier minimal stimulierende mehr wird hier primär der Signalcharakter des Ganzkörperstreichungen und -berührungen Babyschreiens hervorgehoben. Eltern wer- eingesetzt, um den Körper des Kindes zu ent- den kognitiv geschult, die Körper- und Ver- spannen oder regressive Prozesse zu induzie- haltenssprache frühzeitiger zu erkennen und ren (Deyringer 2008; Diederichs / Jungclaus- zu beantworten (Barth 2008). Indem Eltern sen 2009; Meyer 2015). und Säugling sich besser aufeinander abstim- men, erübrigt sich ein großer Teil der inter- Punkt 2: Therapeutische Unterstützung aktionell bedingten Schreiproblematiken der des Babyschreiens Säuglinge. Grundsätzlich steht dies nicht im Die Körperpsychotherapie mit Eltern und Babys Widerspruch zu den körperpsychotherapeuti- fokussiert auf die emotionalen Ausdruckspro- schen Sichtweisen der Eltern-Baby-Therapie. zesse. Speziell in den neoreichianischen und Diese weisen dem Schreiprozess des Babys 6 1 | 2016
Eltern-Säugling-Körperpsychotherapie jedoch eine zusätzliche affektregulative und energieökonomische Funktion zu. Diese Sicht- und Vorgehensweisen der Kör- perpsychotherapie sind historisch in der tie- fenpsychologischen Tradition der Körperpsy- chotherapie verwurzelt, wie sie besonders von Wilhelm Reich vertreten wurde. Reich hatte in seinen charakteranalytischen und vegetot- herapeutischen Therapiekonzepten an den ur- sprünglichen Positionen Freuds festgehalten. Letzterer hatte in den Anfängen der Entwick- lung der Psychoanalyse der Entladung von zu- rückgehaltenen, „eingeklemmten“ Affekten eine reinigende und heilende Wirkung beige- messen. Wenn somit in der therapeutischen Arbeit die Eltern eingeladen werden, bisher von ihnen genutzte kompensatorische Stimu- lationen aufzugeben, öffnet sich schnell ein Raum, in dem bisher zurückgedrängte Impulse des Säuglings an die Oberfläche drängen und Abb. 2: Bindungssicherheit als Basis lösenden nach Ausdruck verlangen (Geuter 2015). Babyschreiens Die Intensität dieser Schreibegleitungen Foto: Astrid Eckert ist tatsächlich enorm. Das länger andauernde Babyschreien durchdringt schnell die psychi- schen Abwehrsysteme der Anwesenden. Dies hierbei nicht um eine These, die am „grünen führt dazu, dass sowohl betroffene Eltern als Tisch“ entwickelt wurde, sondern vielmehr auch die professionellen Berater und Thera- um praktisch-klinische Beobachtungen in der peuten einem erhöhten Affektdruck ausge- konkreten Arbeit mit Säuglingen. Insbeson- setzt sind (Fraiberg 2011). Dies mag erklären, dere die Arbeiten von William Emerson (2012) warum gerade Körperpsychotherapien, die und Karlton Terry (2014) haben durch ihre ex- der emotionalen Ausdruckssprache des Men- akte Beschreibung einer prä- und perinata- schen in ihren Behandlungen einen großen len Babykörpersprache viel dazu beigetragen, Raum einräumen, ungewollt auf Zurückwei- die prägenden und oftmals traumatisieren- sung oder ambivalente Reaktionen stoßen. den Einflüsse in Schwangerschaft und Geburt nicht nur bewusster, sondern auch therapeu- Punkt 3: Einbezug der prä- und perinatalen tisch nutzbarer zu machen. Dimensionen menschlicher Entwicklung Die These einer prä- und perinatalen Mitver- Ein weiteres Paradigma, das alle heutigen El- ursachung von Regulationsstörungen im Säug- tern-Säugling-Körperpsychotherapien teilen, lings- und Kleinkindalter konnte bisher nur teil- ist die besondere Betonung von prä- und pe- weise empirisch untermauert werden. Während rinatalen Traumatisierungen und Beziehungs- der wissenschaftliche Nachweis der toxischen abbrüchen als ätiologischem Faktor von Wirkung von chronischem Pränatalstress mitt- behandlungswürdigen Regulations- und Bin- lerweile vorliegt (Evertz et al. 2014; van den dungsstörungen bei Kindern im Altersspek- Bergh 2005), gilt dies noch nicht für die nega- trum von 0 bis 3 Jahren. Dabei handelt es sich tive Wirkung von perinatalen Belastungen. 1 | 2016 7
Thomas Harms Wenngleich sich in der körperpsychotherapeu- innerungen in Form von Bewegungsmustern, tischen Praxis mit Säuglingen die traumatisie- Vokalisierungen und Positionierungen in Er- rende Wirkung von überwältigenden Geburten scheinung, die dem Behandelnden wichtige in aller Klarheit offenbart, ist es wesentlich Hinweise darauf geben, was in dem jeweili- schwieriger, diese therapeutische Erfahrungs- gen Geburtsprozess geschehen ist. Speziell in dimension auch empirisch exakt zu erfassen. den neoreichianischen und pränatal-psycho- logischen Konzepten der Eltern-Säugling-Kör- Punkt 4: Körperpsychotherapeutische Arbeit perpsychotherapie ist das Baby oftmals mehr mit dem Baby als nur Interaktionspartner und Auslöser el- Ein letzter Punkt, der im Widerspruch zu den terlichen Verhaltens. Vielmehr ist der Säug- aktuellen Sichtweisen von psychoanalytischen ling selbst Zielort von körperpsychotherapeu- und verhaltenstherapeutischen Eltern-Baby- tischen Interventionen, die darauf abzielen, Psychotherapien steht, ist die Rolle des Säug- die Regulations- und Kontaktfähigkeit des Kin- lings. In den meisten Verfahren, welche die des zu verbessern (Harms 2000, 2013). Verhaltensbeobachtung als wichtigstes Agens Sobald die Ko-Regulationsfähigkeit der El- des Therapieprozesses nutzen, ist der Säugling tern hinreichend entwickelt ist, beginnen Säug- vornehmlich als Interaktionspartner der Eltern linge, im Kontakt mit den Eltern und Therapeu- im Fokus. Die therapeutischen Interventionen tInnen ihre Schwangerschafts- und Geburts - richten sich jedoch nur an die Eltern. Diese wer- geschichte zu „erzählen“. Dabei fokussieren den über Videofeedback-Techniken und kogni- insbesondere Baby-Körperpsychotherapeuten tiv-verbale Therapiestrukturen dazu angeleitet, mit pränatal-psychologischem Hintergrund auf ihre dysfunktionalen Beziehungsmuster zu ver- die spezifischen Körperzeichen und Ausdrucks- ändern. prozesse des Säuglings, die in den Sitzungen In der Körperpsychotherapie ist es inso- einen Hinweis auf Zeitpunkt, Form und Inhalt fern anders, als dass neben dem vorhande- der jeweiligen Belastungen in den einzelnen nen Eltern-Fokus auch körperorientierte In- Schwangerschafts- und Geburtsphasen geben. terventionen im direkten Austausch mit dem So wiederholen die Säuglinge in den therapeu- Säugling vorgenommen werden. Das können tischen Geburtserfahrungen spontan jene Kör- auf der einen Seite gezielte Berührungen und perhaltungen, die in ihrem Geburtsweg mit Massagen sein, die verspannte Muskel- und besonders hohem Stresserleben verbunden Gewebebereiche des Säuglings lockern. Aber waren. Sie vermitteln körpersprachlich, wo es darüber hinaus wird der Säugling in den präna- ihnen „zu viel“ war und in welcher Not sie kon- tal psychologischen Körperpsychotherapien kret steckten, aber auch, welche Unterstützung auch eingeladen, die spezifischen Erfahrungs- sie benötigt hätten, um den Geburtsprozess hintergründe körpersprachlich mitzuteilen. So aus eigener Kraft zum guten Abschluss zu brin- kann das Baby z. B. mit seinen Bewegungen gen (Hildebrandt 2015; Renggli 2013). und Körperpositionierungen „zeigen“, wie In der babyzentrierten Prozessarbeit bleibt der Geburtsprozess subjektiv von ihm erlebt der Therapeut in einem ständigen Dialog mit wurde (Emerson 2012; Schindler 2011; Terry dem Säugling. Er „spiegelt“ die Körpersprache 2014). Eine Hand des Therapeuten unterstützt des Babys und übersetzt sie in eine Sprache, dabei die Fußsohlen des Kindes, wo dessen die es den Eltern erlaubt, den jeweiligen Entste- schubartige Bewegungen einen Widerstand hungshintergrund des „problematischen“ Ver- finden. Die andere umhüllt das Kind, so dass haltens ihres Babys (z. B. haltloses und nicht künstlich ein Geburtskanal symbolisiert wird. enden wollendes Schreien des Säuglings) aus In diesem Vorgehen treten implizite Körperer- einer veränderten Perspektive zu sehen und emotional neu zu erfahren. 8 1 | 2016
Eltern-Säugling-Körperpsychotherapie Ein Beispiel: Der vier Monate alte Daniel, der itterlich, aber er fängt jetzt an, kraftvoll mit b mit einem Notkaiserschnitt zur Welt gebracht den Beinen zu schieben. In zwei, drei großen wurde, beginnt, sich während einer Beobach- Schüben bewegt er sich über die Matte. Es tungssequenz auf die Seite zu legen. Immer folgt ein tiefes seufzendes Ausatmen. Jetzt wieder setzt er zu einer Rotationsbewegung bitte ich die Mutter, ihren Sohn zu empfangen, an. Obwohl er schon in der Lage ist, vom Rü- der sich förmlich in ihre Hände schiebt. Sie cken auf den Bauch zu rollen, hält er plötzlich nimmt ihn hoch und legt Daniel auf den Arm. inne und rollt zurück. Die Mutter, die eben- Er atmet noch schnell und aufgeregt. Doch falls die Szene beobachtet, hatte einige Mi- schon nach wenigen Augenblicken legt er nuten zuvor ausführlich über ihren Schmerz sein Köpfchen ab, sein Körper entspannt und und ihr „Feststecken“ in der letzten Phase der „landet“ auf dem Bauch seiner Mutter. Es ver- Geburt berichtet. Daniel rollt erneut auf die gehen einige Minuten inniger Stille. Im Raum rechte Seite. Er ächzt jetzt, stöhnt, um dann entfaltet sich eine Atmosphäre tiefer Berüh- wenige Augenblicke später mit einem tiefen rung und Dankbarkeit. Die Mutter streichelt Weinen zu starten. Immer wieder ruckelt Da- Daniel ganz zart und liebevoll. „Jetzt habe ich niel seinen Schädel von links nach rechts, das Gefühl, dass wir ganz nahe beieinander so als müsste er sich von etwas losmachen. sind, so habe ich ihn noch nie erlebt.“, sagt sie Die Kopfhaut ist rot, und dicke Schweißper- mir gerührt am Ende der Sitzung, bevor sie len stehen ihm auf der Stirn. Ich habe den in- den Raum verlässt. tuitiven Impuls, ihm eine Hand auf die rechte Seite seines Schädels zu legen. Er schiebt sei- Die babyzentrierte Regressionsarbeit be- nen Kopf nun dort hinein, drückt ihn immer kommt dann ihren Platz, wenn die Mütter und wieder dagegen. Ich spreche mit Daniel: „Ja, Väter in ihrer Selbstanbindungsfähigkeit ge- so machst du das gut. Zeige mir, was passiert nügend gesichert sind. In diesem Fall rekapi- ist. Ich bin jetzt ganz bei dir.“ Ich schaue zur tulierte der Säugling eine unabgeschlossene Mutter herüber, die den Prozess begleitet und Gestalt seines Geburtsprozesses. Das thera- auch spürt, dass ihr Sohn gerade etwas Wich- peutische Agens besteht somit nicht allein tiges wiederholt und erlebt. Ich teile es Daniel darin, das perinatale Muster erneut zu erleben mit, was ich sehe. „Auch die Mama ist jetzt und zu wiederholen. Vielmehr fokussiert der ganz nahe bei dir und schaut, was gerade pas- Ansatz auf die Entwicklung eines veränderten siert. Zeige uns, was geschehen ist, was dein Gegenwartsmoments (Stern 2010). Der Säug- Körper machen möchte.“ ling muss im Hier und Jetzt die verkörperte Daniels Bewegungen werden jetzt immer Erfahrung von Halt und Sicherheit machen. vitaler und kraftvoller. Ich sehe, wie er kämpft Der Aufbau einer verkörperten Selbstwahr- und mit dem Kopf drückt. Er kommt nicht vo- nehmung der Eltern schafft den notwendi- ran, so als hänge er fest. Sein Schreien ist jetzt gen Boden, auf dem dann die impliziten Kör- heftig, verzweifelt und schrill. Immer wieder pererinnerungen des Kindes ausgedrückt und ermuntere ich die Mutter, sich über den Atem wiederbelebt werden können. Das Gewinn- mit ihrem Körper zu verbinden. Plötzlich hält bringende dieses Vorgehens liegt meines Er- Daniel inne, so als mache er eine schöpferi- achtens weniger in der szenischen Wiederho- sche Pause. Nun holt er nochmals Schwung lung als in der Tatsache begründet, dass sich und rollt erfolgreich auf den Bauch. Sofort be- die Eltern im Rahmen der therapeutischen ginnt er, aktiv mit den Füßen zu stoßen. Ich Regressionen ihrer Kinder so sicher erleben, habe den Impuls, meine Hände an seine Fuß- dass sie auch in schwersten Momenten der sohlen zu legen. Daniel weint immer noch Kinder an ihrer Seite bleiben können. 1 | 2016 9
Thomas Harms Die wichtigsten Aspekte der babyzentrier- Werkzeuge der Eltern-Säugling- ten Arbeit seien hier nochmals stichwortartig Körperpsychotherapie zusammengefasst: Körperwahrnehmung und Stresserkundung 1. Einladung an das Baby, die affektiv-motori- Achtsame Körperwahrnehmung wird in den schen Schemata zu präsentieren Eltern-Säugling-Körperpsychotherapien einge- 2. Empathische Spiegelung der beobachtba- setzt, um das elterliche Körper- und Affekterle- ren Reaktionsmuster des Säuglings ben während spezifischer Bindungs- und Re- 3. Exploration der jeweiligen körperlichen und gulationsproblematiken zu erkunden. Anhand affektiven Antworten der anwesenden Eltern von gezielten Körperwahrnehmungen werden 4. Rekapitulation des spezifischen prä-, peri- objektive Verhaltensprozesse der erwachse- oder postnatalen Entwicklungstraumas nen Begleiter (z. B. hektisches Schaukeln des 5. Lösung der Entwicklungsblockaden und Er- Babys im Arm) mit den inneren Gefühls- und möglichung von stärkenden affekt-motori- Körperzuständen verbunden (Harms 2008; schen Impulsen beim Kind Levine 2011). So wird die verunsicherte Mut- 6. Formulierung von ersten entwicklungsba- ter im Zusammensein mit ihrem weinenden sierten Interpretationen der kindlichen Kör- Kind angeleitet, ihre Aufmerksamkeit – statt perreaktionen auf den gebannten und fragenden Blick zum Die hier vorgestellten Kernaspekte der kör- Kind – auf die inneren Körper- und Organemp- perpsychotherapeutischen Arbeit mit Babys findungen zu verlagern. Dabei werden spezi- werden in psychoanalytischen und verhal- fische Coping- und Handlungsstrategien der tenstherapeutischen Schulen der Eltern-Säug- Eltern („Schaukeln des Babys im Arm“) mit in- ling-Psychotherapie nicht geteilt oder gar neren Körperzuständen („Enge in der Brust“) vehement abgelehnt. In weiten Teilen der sowie affektiven Aspekten des Bindungserle- psychoanalytischen Eltern-Baby-Psychothe- bens zum Kind („Gefühle der Hilflosigkeit und rapie gilt nach wie vor ein explizites Berüh- Entfremdung“) verknüpft. rungstabu (Baradon et al. 2011). Weder der Anders als in klassisch neoreichianischen Körper der Erwachsenen noch der des Kin- Ansätzen, in denen der Ausdruck abgewehr- des wird dabei berührt. Ebenso ist es in den ter und unterdrückter Affektzustände im Vor- kognitiv ausgerichteten Eltern-Säugling-Ver- dergrund steht, wird in den bindungsorien- haltenstherapien, wo expressive, körperba- tierten Ansätzen der Körperpsychotherapie sierte Vorgehensweisen eher ungewöhnlich auf die Wahrnehmung und Einbindung bis- sind (Jansen / Streit 2015). Die Verhaltensbe- her un- und vorbewusster Erfahrungsinhalte obachtungen in den Eltern-Säugling-Psycho- gesetzt. Indem die Eltern die positiven und therapien fokussieren vornehmlich auf den negativen Zustände des Zusammenseins mit Gegenwartsmoment des Beziehungsgesche- dem Kind „somatisch markieren“ und loka- hens, während der szenischen Aufarbeitung lisieren (Damasio 2006), werden die Eltern von prä- und perinatalen Traumatisierungen befähigt, drohende Zustände des Bindungs- keine Bedeutung beigemessen wird. und Kontaktverlustes frühzeitiger zu erkennen und gezielt entgegen zu wirken. Körperwahr- nehmung selbst wird dabei auch als Werk- zeug eingesetzt, um einen Zustand der inne- ren Gelassenheit und dualer Bewusstheit zu entwickeln. Eltern werden während der thera peutischen Arbeit darin geschult, durch innere 10 1 | 2016
Eltern-Säugling-Körperpsychotherapie Aufmerksamkeitslenkung den Körper als in- phase. Letztlich scheinen sowohl die eine wie nere Informationsquelle zu nutzen, um die je- die andere Vorgehensweise zu funktionieren. weilige Kontaktbereitschaft zu befürsorgen Anders als in expressiv orientierten Verfahren und zu modulieren. Neben Verhaltensbeob- der Körperpsychotherapie (Lowen 2008; Reich achtung und Köperlesen ist dieser innere Kör- 2010) geht es weniger um die Freisetzung von perscan eines der wichtigsten Mittel, um die zurückgehaltenen Emotionen als vielmehr um Beziehungs- und Feinfühligkeitsfähigkeit der den Aufbau einer inneren Verfassung, welche Eltern wieder aufzubauen. die Kontaktaufnahme zum Kind erleichtert. Atmung und Bindungsstärkung 2. Atmung als Mittel der Aufmerksamkeit Die Atmung nimmt im Methodenspektrum der steuerung: Die Atmung kann zudem genutzt Körperpsychotherapie seit jeher eine zentrale werden, um die Aufmerksamkeit primär auf Stellung ein. Ursprünglich wurde die Atem- das Innenerleben zu lenken. Dabei werden die arbeit in der körperpsychotherapeutischen Eltern so angeleitet, dass sie die Atmung mit Arbeit eingesetzt, um die psychischen Abwehr- gerichteten Körperwahrnehmungen verknüp- prozesse aufzuweichen und den Ausdruck von fen. Während das Baby auf der Bauchdecke unterdrückten Affekten zu erleichtern. Im Rah- der Mutter liegt, soll sie in der Einatmungs- men der Eltern-Säugling-Körperpsychothera- phase von innen spüren, wie ihr Bauch sich pie wird die Atemarbeit in unterschiedlichen an die Körperoberfläche des Kindes kuschelt. Funktionen genutzt. Dabei lassen sich in der Die Atmung hilft der Mutter, die Innenwahr- Arbeit mit Eltern und Säuglingen drei unter- nehmung des Körpers mehr in den Mittelpunkt schiedliche Einsatzbereiche der Atemarbeit zu stellen. unterscheiden: Ein Beispiel aus der Praxis: Schon nach we- 1. Unterstützung der körperlichen Entspan- nigen Atemzügen werden die Gesichtszüge nungsfähigkeit: Die Eltern werden im Körper- der zuvor verunsicherten Mutter weicher, ihre kontakt mit ihren Säuglingen angeleitet, die Auf- Schultern geben nach, und die Atembewe- merksamkeit während der Einatmungsphase gungen sind jetzt verbunden und fließend. auf den Bauchraum zu verlagern. Durch diese Die Mutter äußert verblüfft: „Ich merke plötz- Atemmodulation kommt es zu einer Stärkung lich, wie sich mein Bauch mit Wärme anfüllt, der parasympathischen Teile des autonomen ganz so, als breite sich eine warme Flüssig- Nervensystems. Körperliche Entspannung, all- keit in mir aus. Ich spüre jetzt eine Innigkeit gemeine Verlangsamung der Verhaltensab- und Nähe zu meinem Baby. Es ist ganz so, als läufe sowie eine Verbesserung der allgemeinen würden die äußeren Grenzen gar nicht mehr Resonanz- und Kontaktfähigkeit der Eltern sind da sein.“ direkte Folgen dieser Vorgehensweise. Atmung wirkt somit als Mittel, um die tiefere körperlich- Durch die vagotone Wirkung der Atmung wird vegetative Regulation zu beeinflussen, so dass die Innenwahrnehmung des Körpers erleich- die intuitiv elterlichen Kompetenzen leichter tert. Innere Körper- und Affektzustände kön- zum Tragen kommen. Während ich in meinen nen von den Klienten leichter identifiziert und bindungsorientierten Konzepten die Bauchat- beschrieben werden. mung betone (Harms 2000, 2008), fokussieren 3. Atmung als Frühwarnsystem: Indem die andere Autoren (Diederichs / Olbricht 2002; Eltern lernen, ihre Atemtätigkeit kontinuier- Diederichs / Jungclaussen 2009; Wendelstadt lich innerlich zu beobachten, wird die At- 2000) auf die Unterstützung der Ausatmungs- mung für sie zu einem Frühwarnsystem, das 1 | 2016 11
Thomas Harms einen drohenden Verlust der elterlichen Be- rungen genutzt, um das Sicherheits- und Bin- ziehungsbereitschaft anzeigt. Die innere Ver- dungserleben der Eltern zu verbessern. In dem bindung zur (Bauch-)Atmung ist für mich ein Modell der „Sicherheitsstationen“ (Harms Parameter für das Vorhandensein einer hinrei- 2008) suchen die professionellen Begleiter chenden Kontakt- und Aufnahmebereitschaft gemeinsam mit den Eltern nach einer spe- der Begleiter des Kindes (Harms 2008, 2013). zifischen Körperstelle, die in der Berührung Verlieren die erwachsenen Begleiter den Kon- ein optimales Sicherheitserleben vermittelt. taktfaden zur Atmung, ist dies ein Signal für Dieser Suchprozess selbst ist eine wichtige eine einsetzende Dominanz der Stress- und Übung zur Stärkung der elterlichen Fähigkeit Alarmsysteme des Organismus. So können zur Feinfühligkeit. Durch die aktive Erprobung die Eltern z. B. in der Begleitung ihres unru- verschiedener Berührungsstellen identifizie- higen und verzweifelt schreienden Säuglings ren die Klienten nicht allein die sicheren und durch wiederholte Kontaktaufnahme mit der kohärenten Orte am Körper, sondern auch in- Bauchatmung dafür sorgen, dass sie als Ko- nere Zustände der Bindungssicherheit, die Regulatoren des Säuglings weiterhin verfüg- dann unmittelbar und „affektiv ansteckend“ bar bleiben. an die Babys weiter vermittelt werden. Ein weiteres Einsatzfeld der Körperberüh- Eine Mutter beschrieb das in einer Sitzung in rungen findet sich in der körperpsychothera- der Schreiambulanz folgendermaßen: „Wenn peutischen Arbeit mit Eltern, die ein eigenes das Schreien meines Säuglings schrill und Trauma haben. Deren Traumaanteile werden haltlos wird, dann gibt es einen Punkt, an dem häufig durch die Schrei- und Unruheäußerun- ich nur noch funktioniere. Ich laufe durch den gen des Säuglings reaktiviert und führen zu Raum, setze mich auf den Gymnastikball und Zuständen temporärer Dissoziation. Dieses bin immerfort in Bewegung. In diesen Phasen zeitweilige Eintreten in einen Erstarrungszu- gehe ich unter, ich bin nicht mehr ich selbst. stand durchtrennt den Beziehungsfaden zwi- Mit der Konzentration auf die Atmung kann schen Eltern und Kind (van der Kolk 2014). In ich mich zurückholen. Ich habe einen Punkt, der Praxis zeigt sich, dass die bereits disku- auf den ich mich in dem ganzen Wahnsinn tierten Techniken bindungsstärkender Körper- mit meinem Baby konzentrieren kann. Durch und Atemarbeit hier wenig bewirken. die Atmung finde ich wieder Sicherheit und Ich verwende in diesem Zusammenhang beginne, mich wieder zu spüren. Auch wenn eine weiterführende Methode, bei welcher mein Kind dann weiter weint, so fühle ich der Therapeut die etablierten Sicherheitssta- mich nicht mehr so allein mit allem.“ tionen nutzt, um sich in das elterliche System „einzuloggen“. Konkret bedeutet dies, dass Für viele Eltern ist zweierlei wichtig: Zum einen der professionelle Helfer über das Kontakter- lässt sich die Technik der Bauchatmung leicht leben an der Sicherheitsstation kontinuierlich in den Alltag integrieren. Zum anderen kön- an den inneren Befindlichkeitsveränderungen nen die Eltern auch in schwierigen Phasen et- des Klienten teilnimmt. Das „Dünner-Werden“ was tun, sie erfahren sich selbstwirksam und oder „Abreißen“ des Kontaktfadens repräsen- sind in der Lage, ihre Kontaktbereitschaft kon- tieren die Bindungsschwächung im doppelten struktiv zu beeinflussen. Sinne: Zum einen ist es ein Hinweis auf den Verlust der Abstimmung zwischen Therapeut Körperberührung und Sicherheitsaufbau und Klient, zum anderen repräsentiert die In den heutigen Eltern-Säugling / Kleinkind- Schwächung des „Nabelschnur-Kontakts“ die Körperpsychotherapien werden Körperberüh- instabile Verbindung zwischen der Elternper- 12 1 | 2016
Eltern-Säugling-Körperpsychotherapie son und ihrem Kind. Indem die Nabelschnur- und stärkenden Augenblicke mit ihrem Baby Verbindung durch den Therapeuten in einem zu realisieren. Durch die positiven Imagina- dualen Aufmerksamkeitsprozess kontinuier- tionen können die negativen Selbstbewertun- lich beobachtet, benannt und ausgewertet gen abgeschwächt und eine realistische Neu- wird, können drohende Kontaktabrisse zum bewertung der konkreten Beziehung zum Kind Kind frühzeitig erkannt und aufgelöst werden. eingeleitet werden. Der Therapeut übernimmt somit in der Körper- Ebenso werden imaginative Zugänge ver- berührung zeitweilig die Regulationsfunktion wandt, um in einem Zustand „sicherer“ Dis- der überlasteten Elternperson. Anders formu- tanz die Problemsituationen neutraler zu be- liert: Der professionelle Helfer wird zum Body- trachten. Dabei wird auch in der vorgestellten guard und Hilfs-Ich des temporär überwältig- Situation ständig gewechselt zwischen exter- ten Begleiters des Kindes (Harms 2008, 2013). ner Verhaltens- und Körperbeobachtung und einem Wechsel hin zur Erkundung des inneren Bindungsstärkung durch Imagination Körper- und Affekterlebens. In der Eltern-Säugling-Psychotherapie gibt es häufig die Problematik, dass sich die geschil- Während das Baby an ihrer Brust eingeschla- derten Problemstellungen mit dem Kind nicht fen ist, stellt sich die Mutter die Schreiatta- unmittelbar im Behandlungssetting abbilden. cken ihres vier Monate alten Sohnes vor. Sie Dies gilt besonders für die Regulationsstö- kann in ihrer Vorstellung erkennen, wie der rungen im Bereich des kindlichen Schlafes. imaginierte Körper Anspannung und Not aus- Ähnliches trifft aber auch für Zustände der drückt. Während des Vorstellens der Situa- Überwältigung bei abendlichen Schreiphasen tion können durch einen Wechsel der Auf- des Säuglings zu. Häufig stellt sich die Situa- merksamkeit das konkrete Körpererleben und tion so dar, dass während der Präsentation die Affektsituation erfasst werden. Die Mutter der belastenden Schrei- und Schlafsituatio- spürt beim Betrachten der inneren Bilder die nen das „reale“ Baby ein komplett unauffäl- „Enge in der Brust“ und den stockenden Atem. liges Verhalten zeigt. In diesen Fällen arbei- Mit Hilfe des Therapeuten kann sie das „Jetzt- ten die unterschiedlichen Verfahren im Feld Erleben“ des Körpers mit den abendlichen Be- der Eltern-Säugling-Psychotherapie mit ima- lastungssituationen mit dem Kind verknüpfen. ginativen Verfahren, um sich den bindungs- stärkenden Momenten von Eltern und Kind zu Eine weitere Möglichkeit liegt in der Verknüp- nähern. Dabei spielt die Visualisierung von fung von Körperinterventionen mit den durch- „gelingenden“ Beziehungsmomenten eine geführten Imaginationen. Die Mutter wird besondere Rolle. Die Eltern werden dabei auf- aufgefordert, ihre Aufmerksamkeit auf die ru- gefordert, sich eine schöne Situation mit dem higen, ausdehnenden Atembewegungen im Kind vorzustellen und dabei zugleich die inne- Bauch zu verlagern. Nachdem sie spürt, wie ren Reaktionen ihres Körpers zu beobachten. sich ein Zustand der Wärme und Entspannung So führt die Vorstellung der morgendlichen in ihrem Körper ausbreitet, wird sie aufgefor- Kuschelsituation mit dem neugeborenen Kind dert, diese Bauchatmung in die Vorstellung zu einem Erleben von „Weite in der Brust“, der belastenden Abendsituation „hineinzu- verbunden mit dem sich ausbreitenden Ge- nehmen“. Die betroffene Mutter sieht nun, wie fühl von Glück und Zufriedenheit. Gerade El- sie in einer Haltung innerer Verbundenheit das tern, die den Beziehungsfaden zum Säug- weinende Baby in ihren Armen hält und dabei ling dauerhaft verloren haben, fällt es schwer, ganz gelöst und gefasst aussieht. Durch die die – häufig noch vorhandenen – gelingenden Verbindung von Imagination und Körpererle- 1 | 2016 13
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