Welt im Umbruch - Friedenspartei im Wandel: Grüne und Krieg, Militär und Gewaltfreiheit
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Winfried Nachtwei, MdB Berlin, 22. Februar 2002 Welt im Umbruch – Friedenspartei im Wandel: Grüne und Krieg, Militär und Gewaltfreiheit - Klärungsvorschläge zur grünen Grundsatzdebatte - Widersprüche und Glaubwürdigkeitsverluste Im letzten Jahr beschloss der Bundestag so viele und riskante Bundeswehreinsätze wie nie zuvor. Die vom Kanzler ausgerufene „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA und die Unterstützung der US-Operation „Enduring Freedom“ weckten massive Befürchtungen, die Bundesrepublik gerate damit in ein amerikanisch-afghanisches Kriegsabenteuer. „Stern“ und „Die Woche“ schrieben von einem rot-grünen „Kriegskurs“ und von „riskanten Groß- machtträumen“ der neuen „Militärmacht Deutschland“. Dass dies alles mit den Stimmen der Bündnisgrünen und zusammen mit der Schröder`schen Vertrauensfrage geschah, verstärkte in Teilen der Öffentlichkeit und der Grünen-Stamm- wähler das Bild vom Prinzipienverrat der Grünen um des Machterhalts willen. Gefragt wird, wofür die Grünen noch stehen und was sie noch alles mitmachen werden. Nach letz- ten Umfragen steht die Glaubwürdigkeit der Grünen an einem Tiefpunkt – und die Popula- rität von Joschka Fischer unverändert auf Höchstniveau. In der Tat ist der Positionswandel der Grünen in Militärfragen rasant. Das Bild vom Prinzi- pienverrat, von Macht statt Moral ist einfach und gängig, verzerrt die Wirklichkeit der Grü- nen Positionen und Politik aber in krasser Weise. Ignoriert wird, dass die Entscheidungen über die letzten Bundeswehreinsätze für die mei- sten grünen Abgeordnete und Delegierte keine prinzipielle Frage von Pazifismus ja oder nein, sondern eine komplexe Abwägungsfrage war, wieweit militärische Mittel zur Gefah- renabwehr gegenüber einer bisher nicht für möglich gehaltenen terroristischen Bedrohung legitim, notwendig und verantwortbar sind. Ignoriert werden die Erfahrungs- und Umorientierungsprozesse, die wachsende Teile der Grünen, der Friedensbewegten und der Gesellschaft in den 90er Jahren vor allem im Kon- text der Balkankriege durchmachten und die noch zur Oppositionszeit zu einem Positions- wandel gegenüber dem (SFOR-)Militäreinsatz in Bosnien führten. Die Regierungsbeteili- gung brachte die Grünen dann in einen Handlungsrahmen (Koalitionsvereinbarung, NATO- Mitgliedschaft, Verantwortung für die Bundeswehr, Kompromisszwänge multilateraler Außenpolitik), der programmatisch unzureichend vorbedacht war und kaum verständlich gemacht wurde. Vorprogrammierte überhöhte Erwartungen wurden dadurch umso mehr enttäuscht. Diese schmerzhaften Erfahrungsprozesse haben die friedens- und sicherheitspo- litische Programmatik der Grünen auf der Ebene von Parteitagsbeschlüssen (BDK Münster 2000) verändert und ihren Niederschlag im Entwurf des neuen Grundsatzprogramms ge- funden. Der nachholende Positionswandel ging aber offensichtlich an beträchtlichen Teilen der Grünen Stammwählerschaft, der restlichen Friedensbewegung und der Öffentlichkeit vorbei. Hier blieb vielfach das traditionelle Bild der Grünen als Bewegungs- und Protest- partei unverändert und wurde die Rolle der Gestaltungspartei, zugespitzt in den Anforde- rungen von Regierungsbeteiligung, kaum verarbeitet. Die Chancen, über die Aufarbeitung des Kosovokrieg–Schocks politische Lernprozesse zu organisieren und eingebrochenes Vertrauen zurückzugewinnen, wurden zu wenig genutzt. Der mit großer Mehrheit gefasste Beschluss von Rostock kann nicht darüber wegtäuschen,
2 wie ungeklärt und uneinheitlich im großen Schatten Fischers die Haltung des grün- alternativen Spektrums zu Krieg, Militär und Gewaltfreiheit, zu Friedens- und Sicherheits- politik in Regierungsverantwortung ist. Die kumulierten Enttäuschungen von Kosovo, Atomkompromiss und Afghanistan-Beschluss führten zu viel breiteren Entfremdungen von der Grünen Partei, als es in Austrittszahlen zum Ausdruck kommt. Ignorant und leichtfertig wäre es, die vielen Enttäuschten einfach abzuschreiben. Die schnelle Verdrängung dieser schmerzhaften Fragen wie nach der Bosnien-, der Koso- vo- und der Mazedoniendebatte können wir uns nicht noch einmal erlauben. Sie wird uns spätestens bei einer Ausweitung des US-Anti-Terror-Krieges auf den Irak einholen. Mit au- ßenpolitischen Themen lassen sich wohl keine Wahlen gewinnen, aber sehr wohl verlieren. Angesichts der bisherigen Glaubwürdigkeitsverluste und der bevorstehenden Wahlen ist eine klärende Verständigung über diese Schlüsselfragen politisch lebensnotwendig. Das geht weder mit einem Zurück vor 1998, noch mit einem Abschneiden der grünen frie- denspolitischen Wurzeln. Gelingen muss die sichtbare und glaubwürdige Weiterentwick- lung grüner Friedenskompetenz vor dem Hintergrund grüner Grundwerte, angesichts neuer friedens- und sicherheitspolitischer Herausforderungen und den Rahmenbedingungen von Regierungsverantwortung und multilateraler Politik. Geißel Krieg im Wandel Krieg ist und bleibt schlimmste Verletzung von Menschenrechten, der Menschenwürde und des Rechts auf Leben. Krieg ist eine Geißel der Menschheit. Gerade weil Kriege heute wie- der führbar erscheinen, darf die grausame Wirklichkeit von Krieg nicht in Vergessenheit geraten. Die Grünen haben so sehr wie keine andere Partei nach verantwortbaren Antwor- ten auf die Balkankriege, auf Vertreibung und Massenmord gesucht und sich frühzeitig für zivile Lösungen engagiert. Mit der mehrheitlichen Unterstützung der NATO-Luftangriffe gegen das Milosevic-Regime mutierten die Grünen ganz und gar nicht zu Kriegsbefürwor- tern. Sie sind und bleiben Friedens- und Menschenrechtsspartei. Direkte Kriegsverhütung und die langfristige Überwindung der politischen Institution des Krieges zu Gunsten einer Weltinnenpolitik müssen zentrale Aufgabe von Friedenspolitik sein. Kriegsdienstverweige- rung ist ein Menschenrecht und ist von allen Staaten anzuerkennen. Kriege und Kriegsgefahren haben sich grundlegend gewandelt. In den 80er Jahren, dem ersten Jahrzehnt der Grünen, hatten wir es noch überwiegend mit einer gewaltträchtigen Staatenwelt zu tun, zugespitzt im Wahn des atomaren Wettrüstens. Krieg in Europa hätte die Selbstvernichtung bedeutet. Krieg war nicht führbar. Der Ost- West-Konflikt prägte auch die vielen Stellvertreter-Kriege in der Dritten Welt. Trotz Ende der Ost-West-Konfrontation und erheblicher Abrüstung im konventionellen und atomaren Bereich dauerte in den 90er Jahren staatliche Hochrüstung an. Das Streben weite- rer Staaten nach Massenvernichtungswaffen (auch den verbotenen B- und C-Waffen) und Trägersystemen ist eine andauernde Bedrohung der internationalen Sicherheit. Zugleich verschob sich das Grundmuster kriegerischer Gewalt: Aus den Klammern des Ost-West-Konflikts entlassen wurde nun in vielen Regionen die Gesellschaftswelt immer gewalttätiger. Inzwischen dominieren innerstaatliche und regionalisierte Gewaltkonflikte und Kriege – auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentral- und Südostasien, in West-, Zentral- und Nordostafrika etc. Offene Kriege wechseln mit Zuständen eines „zerbrechlichen Frie- dens“. (Tobias Debiel) Diese „Neuen Kriege“ (Mary Kaldor) entstaatlichter und privatisierter Gewalt unterschei- den sich hinsichtlich ihrer Akteure, Ziele, Kriegführung und Finanzierung grundlegend von früheren „Befreiungskriegen“ und traditionellen zwischenstaatlichen Kriegen. Sie gehen einher mit einem Zerfall von Staatlichkeit, werden oft angeheizt durch ethno-nationalisti-
3 sche Identitätspolitik, wuchern auf einer spezifischen Kriegsökonomie und sind eng ver- flochten mit organisierter Kriminalität (Waffen-, Drogen-, Menschen- und Diamantenhan- del). Sie zielen in erster Linie auf die Zivilbevölkerung und ähneln in vieler Hinsicht dem Muster des 30-jährigen Krieges. (Herfried Münkler) Die meisten „Neuen Kriege“ außerhalb Europas blieben bisher weitgehend unbeachtet. Sie schienen uns nicht zu betreffen. Mit dem entgrenzten Terror transnationaler Netzwerke er- weist sich das als Illusion, sind auch die friedlichen Inseln Westeuropas direkt bedroht und wird privatisierte Gewalt endgültig zu einer Bedrohung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens. Deutlich wird, dass die „ordnungslosen Räume“ der Neuen Kriege schon längst Exportstätten von Gewalt, Terror und Kriminalität geworden sind. Mit dem „Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“ erklärten wir mit der Friedensbe- wegung der 80er Jahre dem Wettrüsten und der Kriegsgefahr zwischen den Blöcken unsere Absage und wollten damit kriegsverhütend wirken. Angesichts des Paradigmenwechsels kriegerischer Gewalt und realer Kriege greift das bloße „Ohne mich!“ nicht mehr. Es wurde von den Staaten gegenüber dem drohenden Bürgerkrieg in Ruanda 1994 und anderen Ge- waltkonflikten mit verheerenden Konsequenzen praktiziert. Am 11. September griff ein Terrorismus kriegerischer Intensität die stärkste Militärmacht in ihrem Zentrum an. Die Ge- fahr einer Wiederholung und Steigerung mit Massenvernichtungswaffen ist real. Während die „Neuen Kriege“ vor allem am Boden wüten, stützt sich die High-Tech- Kriegführung hochindustrialisierter Staaten zuerst auf Luftstreitkräfte. Mit dem Golfkrieg, dem Kosovo-Luftkrieg und dem „Anti-Terror-Krieg“ entwickeln die USA aufgrund ihrer militärtechnologischen Dominanz eine Fähigkeit zur globalen Interventionskriegführung auf Distanz und unter weitgehender Vermeidung eigener Opfer. Hierbei verstärkt sich die Tendenz zu einer anderen Art der Privatisierung von Gewalt und Sicherheit, der eines star- ken Staates gegenüber dem (Kriegs-)Völkerrecht und der gemeinsamen Sicherheit. Gefragt ist aktive Anti-Kriegspolitik im Rahmen der Normen und Organe Gemeinsamer Sicherheit, zuerst der Vereinten Nationen, durch - Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung, Abrüstung und Entmilitarisierung; - strukturbezogene langfristige Krisenprävention, also Bekämpfung von internen und externen Kriegsursachen; Vermeidung eigener Beiträge zur Kriegsförderung; Ver- rechtlichung internationaler Beziehungen; - direkte Gewalt- und Krisenprävention in akut eskalierenden Konflikten; - Eindämmung und Befriedung realer innerstaatlicher Kriege und Verhinderung von Massenvertreibungen und Völkermord; Konsolidierung legitimer Staatlichkeit und Austrocknung von Kriegsökonomien; - Schutz der eigenen und internationalen Sicherheit durch Abhalten und Abwehr kriegerischer und terroristischer Bedrohungen. Dabei gehören direkte Gefahrenabwehr und Ursachenbekämpfung untrennbar zusammen. Direkte Gewalteindämmung bleibt ohne Ursachenbearbeitung ein Kampf gegen Wind- mühlenflügel. Die Mahnung zur – oft vernachlässigten - Ursachenbekämpfung darf keine Ausrede gegenüber der Frage sein, was angesichts akuter Gewaltbedrohungen mit den vor- handenen Mitteln geschehen muss, kann und darf. Dieser Kernfrage politischer Verant- wortung weicht z.B. die PDS im Bundestag bei Entscheidungen über Bundeswehreinsätze systematisch aus. Es bleiben unauflösbare Dilemmata: Aktive Anti-Kriegspolitik im Dienste Gemeinsamer Sicherheit und nach der Charta der VN rechtfertigt in Einzelfällen die Anwendung von be- grenzter kriegerischer Gegengewalt. Eine prinzipielle Absage an kriegerische Gewalt kann im Extremfall bedeuten, kriegerischen Aggressoren freie Hand zu lassen.
4 Gewaltfreiheit bleibt Grundwert Zu den Grundwerten der Grünen gehört die Gewaltfreiheit. Die Mehrheit verstand sie eher im antimilitaristischen Sinne, eine Minderheit als absolute Gewaltfreiheit. Absolute und unbedingte Gewaltfreiheit, die gemeinhin mit Pazifismus gleich gesetzt wird, ist bestens begründbar, völlig legitim und kann von Individuen und Gruppen vorbild- lich praktiziert werden. Sie warnen beharrlich vor der Verharmlosung von Gewalt und vor Gewaltspiralen, der Dummheit von „Gewaltlösungen“ und den menschlichen und materi- ellen Kosten von Gewaltanwendung. Insofern sind sie oft viel mehr Realisten als die Ideo- logen militärischer „Lösungen“. Sie tragen zur Alphabetisierung in gewaltfreier Kon- fliktbearbeitung bei und sind für die ständige Infragestellung und Eindämmung von Gewalt in der Gesellschaft unverändert von großer Bedeutung. Unbedingte Gewaltfreiheit bedeutet ganz und gar nicht Wegsehen, Nichtstun oder Wehrlosigkeit, sondern ständiges Bemühen um Auswege aus der Gewalt und Alternativen zur Gewalt. Geschichte und Gegenwart zei- gen viele Beispiele von nicht nur mutigem, sondern auch wirksamem gewaltfreiem Wider- stand. Die Möglichkeiten eines solchen aktiven und konstruktiven Pazifismus sind viel zu wenig bekannt, seine Potentiale kaum ausgeschöpft. Dieser Pazifismus ist nicht am Ende, er wird nötiger denn je gebraucht. In Regierungsverantwortung, aber auch in parlamentarischer Opposition mit ihrem An- spruch einer besseren Regierung, ist allerdings unbedingte Gewaltfreiheit so nicht prakti- zierbar. In Verantwortung für eine Gesellschaft ist Kernpflicht von Politik und Staat, die Sicherheit der BürgerInnen gegen Gewaltbedrohungen von innen und außen zu gewährlei- sten und zum Schutz der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens beizutragen. Ver- bindlicher Rahmen ist das Völkerrecht, das zwei Ausnahmen vom internationalen Gewalt- verbot vorsieht: den Fall der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung und der vom VN-Sicherheitsrat festzustellenden Bedrohung von internationaler Sicherheit und Weltfrie- den. Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord kristallisieren sich als dritter Ausnahmetatbestand vom Gewaltverbot und vom Nichteinmischungsgebot heraus. Zur in- ternationalen Sicherheit beizutragen, ist die Bundesrepublik laut Grundgesetz und als Mit- glied von Vereinten Nationen und NATO verpflichtet. Mit Regierungsantritt der „Koalition der Ungedienten und Kriegsdienstverweigerer“ traten die individuellen Grundeinstellungen vieler in Widerspruch zur staatlichen Verantwortung für das staatliche Gewaltmonopol. Dieser Widerspruch wurde lieber verdrängt als geklärt. Konsequenz aus dem Wandel des Krieges und aus der staatlichen Schutzpflicht ist aber keineswegs der Abschied vom Grundwert Gewaltfreiheit, sondern seine Übersetzung in staatliche Politik: Es geht um Gewalteindämmung und –verhütung mit dem Ziel der Gewaltfreiheit, um (Wieder-)Errichtung legitimer Ordnungen und Staatlichkeit, um rechts- staatliche und völkerrechtliche Einbindung und Begrenzung staatlicher Gewalt, um Zivili- sierung der Sicherheitspolitik und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, um Zivile Konfliktbearbeitung mit aller Kraft. „Gewalt erzeugt Gegengewalt“ ist eine alte Er- fahrung, die zur rechtsstaatlichen Vorsicht im Umgang mit Gewalt mahnt. Die Debatte um die Gewaltfreiheit täte ein Blick in die englische Sprache gut. Das deutsche Wort „Gewalt“ umfasst die Bedeutungen der englischen Worte „violence“, „force“ und „authority“. Die im Jahr 2001 begonnene Ökumenische Dekade zur Überwindung der Ge- walt zielt in ihrer englischen Version darauf, „to overcome violence“, also die Abschaffung rechtlich nicht geordneter, chaotischer Gewalt. Nicht gemeint ist damit die Ablösung rechtsstaatlich legitimierter Zwangsmittel. Die Grünen sind die Partei in der Bundesrepublik und im Bundestag, die sich am intensiv- sten, konkretesten und glaubwürdigsten für Gewaltfreiheit im o.g. Sinne einsetzen, auch
5 wenn der Aufbau einer Infrastruktur Zivile Konfliktbearbeitung oder erfolgreiche, aber oft nicht sichtbare Krisenprävention unspektakulär und in den Medien schwer „verkäuflich“ sind. (s.u.) Grüne haben keinen Grund, sich von der PDS in Sachen Gewaltfreiheit belehren und beerben zu lassen. Deren Anspruch, letzte Antikriegs- und Friedenspartei zu sein, ist eine Mogelpackung, ihre Ablehnung auch von friedenserhaltenden Bundeswehreinsätzen mit VN-Mandat ist wider besseres Wissen allein parteitaktisch motiviert. Auf ihrem Weg zu weiterer Regierungsfähigkeit sind Kurswechsel gerade in der Außenpolitik absehbar. Im Berliner Koalitionsvertrag legte sie schon mal ihr Bekenntnis zur NATO ab. Beim Aufbau von Fähigkeiten der Zivilen Konfliktbearbeitung spielt die PDS keine erkennbare Rolle. Die angeblich letzte Adresse für enttäuschte Grüne und Friedensbewegte wird zusehends zu einer Briefkastenfirma. Die bisherigen friedenspolitischen Konflikte der Grünen zeigen aber auch unsere Defizite: Kriegsgegnerschaft und Gewaltfreiheit bleiben zu oft bekenntnishaft, auf die Militärfrage fixiert und konjunkturabhängig. Sie werden vielfach erst dann aktiviert, wenn der Identi- tätspunkt Ablehnung eigener Kriegsbeteiligung (eine Art verallgemeinerte KDV) betroffen ist. Im kollektiven Bewusstsein prägen sich dann der Kosovo-Luftkrieg und die deutsche Unterstützung von „Enduring Freedom“ ein, nicht hingegen der ganze Bosnienkrieg mit Srebrenica und Sarajewo, Ruanda, der jahrzehntelange Krieg in Afghanistan. Zugleich ist die Bereitschaft gering, sich mit den neueren sicherheits- und friedenspoliti- schen Herausforderungen auseinander zu setzen, gar sich an der Arbeit und Politik für Ge- waltfreiheit auf welcher Ebene auch immer zu beteiligen. Seit Jahren machen praktizieren- den Pazifisten mit den Grünen beim Aufbau des Pilotprojekts von Gewaltfreiheit, dem Zi- vilen Friedensdienst (ZFD), ambivalente Erfahrungen: Dank grüner Initiative wurde wohl die staatliche Unterstützung des ZFD in den Koalitionsverträgen von NRW und Bund (1998) verankert und sein Aufbau von uns begleitet. Aber zugleich bleibt die Breite der Unterstützung weit hinter unseren Möglichkeiten zurück. Die durchgängig dürftige Reso- nanz auf Veranstaltungen zu friedenspolitischen Konsequenzen aus dem Kosovo-Krieg und zur Praxis der Krisenprävention ist symptomatisch. Es mangelt an einem „auf eine Kultur des Friedens zielenden Pro-Pazifismus“. (H.E. Richter) Für das geringe kontinuierliche außen- und friedenspolitische Interesse gibt es plausible Gründe. Merkwürdig ist nur, dass dies oft mit besonders prinzipiellen Haltungen und man- gelnder Sorgfalt bei der Beurteilung rot-grüner Außenpolitik einhergeht. So werden etliche Grüne immer wieder aus purer Fahrlässigkeit Kronzeugen gegen Grün und nützlich für po- litische Gegner von PDS bis FDP. Die Verwechslung der verschiedenen Handlungsebenen, Rollen und ihrer Möglichkeiten ist eine wesentliche Ursache für falsche Erwartungen – und damit Enttäuschungen – sowie das viele Aneinandervorbeireden zwischen „Berlinern“ und Teilen der Basis, zwischen Grünen und Friedensbewegten. Unbestreitbar gibt es Machtopportunismus unter Grünen und Sozialdemokraten und dogmatischen Stillstand und Rückfälle ins Sektierertum unter Antimilitaristen und Friedensbewegten. Falsch und kontraproduktiv ist es allerdings, solche Kritiken zu pauschalen gegenseitigen Schuldzuweisungen zu eskalieren. Wo die verschiedenen Handlungsebenen nüchtern wahrgenommen werden, können Indivi- duen, gesellschaftliche Akteure und staatliche Politik ihre jeweils spezifischen Beiträge lei- sten zur gemeinsamen Aufgabe, Gewalt zu verhindern, zu mindern und Frieden zu fördern. Maßstab staatlicher Politik ist dabei nicht die absolute Gewaltfreiheit, sondern was sie zur Gewalteindämmung und –verhütung, zur Sicherheit der offenen Gesellschaft beiträgt. Maß- stab für gesellschaftliche Friedenskräfte ist demgegenüber nicht, was sie gegen direkte Ge- walt ausrichten können, sondern was sie zur gesellschaftlichen Gewaltvorbeugung und Friedensfähigkeit leisten können.
6 Vor diesem Hintergrund können vor allem praktizierende Pazifisten und auf staatlicher Ebene agierende FriedenspolitikerInnen produktiv und spannend zusammenwirken, in Kon- flikt und Kooperation, in und außerhalb der Grünen Partei. Das ist meine ermutigende Er- fahrung seit Jahren mit Teilen der Friedensbewegung, mit der FI Nottuln, der BI FREIe HEIDe/Brandenburg, dem Forum Ziviler Friedensdienst, den Peace Brigades International, Mitgliedern von Pax Christi, IPPNW, Grundrechte-Komitee und vielen anderen. Wo Kriegsgegner sich hingegen in Absolutheitsansprüche steigern und Kritik in Feindbil- der und Verteufelungen umschlägt, da gibt es keine Gemeinsamkeiten mehr. Militär ist nicht gleich Militär Im grün-alternativen Spektrum dominierte von Anfang an eine distanzierte bis ablehnende Haltung gegenüber dem Militär. Besonders weit auseinander liegen die Normen von grünen Milieus und (traditionellem) Militär. Die allermeisten männlichen Grünen sind Kriegs- dienstverweigerer, konkrete Erfahrungen und Kenntnisse mit der realen Bundeswehr sind rar, gesinnungsstarke Einstellungen umso verbreiteter. Grundsätzlich gilt weiterhin: Militärische Gewalt zielt mit ihren umfassenden und immer raffinierteren Zerstörungsmitteln auf die Bekämpfung und physische Vernichtung des Geg- ners. Sie tötet, verstümmelt und zerstört. Die Anwendung militärischer Gewalt im Krieg ist der GAU für Menschenrechte. Sie ist zudem ein äußerst tückisches Mittel (Eigendynamik und Brutalisierung, Folgen für die Zivilbevölkerung und insbesondere Frauen), wie die Realität jedes Krieges, z.B. aktuell in Tschetschenien, Afghanistan und Israel zeigt. Militä- rische Kriegsgewalt bleibt unabhängig von ihren Zielen ein großes Übel, kann in Einzel- fällen gerechtfertigt (z.B. alliierter Verteidigungskrieg gegen Nazi-Deutschland), aber nie- mals „gerecht“ werden. Sie sollte nicht mit der Formel „ultima ratio“ verharmlost werden, als sei sie bloß letztes Mittel in einem Spektrum von Maßnahmen. Wo das Menschenrecht auf Leben systematisch außer Kraft gesetzt wird, geschieht eine elementare Grenzüber- schreitung. Eingesetzt wird bisher Militär trotz aller propagandistischen Rechtfertigungen meistens als Instrument staatlicher Interessen- und Machtpolitik. Eine Politik militärisch-technischer Dominanz fördert bei Gegnern eher asymmetrische Antworten, als dass sie diese ab- schreckt. Rüstung ist extrem teuer und bedeutet immer eine enorme Ressourcenverschwen- dung auf Kosten sozialer und nachhaltiger Entwicklungen und einer vorbeugenden Frie- denspolitik. Die Bush-Administration führt das krass vor: Der US-Militäretat soll bis 2007 um 30% auf 451 Mrd. $ erhöht werden – auf Kosten bisheriger Sozial-, Gesundheits-, Um- welt- und Infrastrukturprogramme und von Bildungsprogrammen für Jugendliche. Die ausgeprägte Befehlshierarchie und strikte Gehorsamspflicht machen Militär meist zu einer besonders demokratiefernen Zone. Die sowjetische/russische Armee ist ein Beispiel für eine geradezu menschenverachtende Militärkultur. Diese Grunderfahrungen begründen, dass fundierte Militärkritik notwendig bleibt und Grüne antimilitaristisch bleiben müssen – sensibel und aktiv gegen jede Militärgläubigkeit und –fixiertheit, gegen Bestrebungen eines machtpolitischen Interventionismus und einer hegemonialen Militärpolitik, also einer tatsächlichen Militarisierung von Außenpolitik. Doch neben der traditionellen und machtpolitischen Ausprägung von Militär darf die teil- weise veränderte Funktion und Realität von Militär nach dem 2. Weltkrieg und vor al- lem seit den 90er Jahren nicht übersehen werden. Im Rahmen der NATO wurden nationale Armeen früherer Kriegsgegner nicht nur zu Ver- bündeten, sondern untereinander in vielfältiger Weise integriert. Viele Kooperationen be- stehen inzwischen zu den Armeen des ehemaligen Ostblocks, wirken einer Renationalisie-
7 rung von Militär entgegen und fördern rechtsstaatliche Militärreformen. Das bundesdeut- sche Modell des „Staatsbürgers in Uniform“, früher eher die Ausnahme von der internatio- nalen Regel, wurde inzwischen zu einem gefragten Exportgut. Im Rahmen von UN-mandatierten Einsätzen kann Militär notwendig und hilfreich zur Friedensbewahrung und -konsolidierung, zu nation building sein. Hierbei nimmt Militär mit militärischen Mittel eine quasi polizeiliche Ordnungsfunktion wahr und gewährleistet dank seiner „robusten“ Durchsetzungs- und Abschreckungsfähigkeit (im Unterschied zu früheren Blauhelmen) ein Minimum an öffentlicher Sicherheit und Ordnung. Militärische Gewalt wird nur nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und im Rahmen ver- einbarter rules of engagement eingesetzt. „Blaue“ Verhaltensweisen (Offenheit, Deeskala- tion, Verhandeln, Kompromisse, zivil-militärische Zusammenarbeit ) und eine breite Mul- tinationalität spielen eine zentrale Rolle. Das VN-Ausbildungszentrum der Bundeswehr in Hammelburg und das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr sind für diese Art von „Neuen Streitkräften“ (von Bredow) beispielhafte und international anerkannte Einrichtungen. Solche Friedensmissionen zur Kriegsverhütung und Entmilitarisierung – und nicht Kampf- und Kriegseinsatze - prägen inzwischen die Praxis vieler Armeen, nicht zuletzt der Bun- deswehr. SFOR, KFOR, Mazedonien- und ISAF-Afghanistan-Einsatz, Beteiligung an Be- obachtermissionen, Rüstungskontrolle und Abrüstungsaktionen von VN, OSZE und EU zeigen das. Dass der erste durch gegnerischen Beschuss im Oktober 2001 umgekommene („gefallene“) Bundeswehrsoldat ein Oberstabsarzt im Rahmen einer VN-Beobachtermis- sion in Georgien war, ist exemplarisch. Demgegenüber werden in der Öffentlichkeit Militär-, Kampf- und Kriegseinsätze oft gleichgesetzt. Das wird begünstigt durch einen Mangel an klaren Begriffen, die weder ver- harmlosen noch pauschalisieren. Der Begriff der „humanitären Intervention“ ist beschöni- gend und ideologisch und sollte tunlichst gemieden werden. Bei den o.g. Ausnahmetatbeständen erlaubt das Völkerrecht militärische Zwangsmaßnah- men von Embargos bis zu kriegerischer Gewalt im Rahmen militärisch organisierter Poli- zeiaktionen. Im Bericht der International Commission on Intervention and State Sovereign- tity an den VN-Generalsekretär vom 18.12.01 werden Kriterien für humanitär begründete Militärinterventionen entwickelt. Bei aller Legitimität und Notwendigkeit im Einzelfall bleibt umfassende „Friedenserzwingung“ mit Kampfeinsätzen bei zwischen- und inner- staatlichen Gewaltkonflikten hoch problematisch, weil unberechenbar und höchst riskant, extrem kostspielig und in den Wirkungen äußerst ambivalent. An den Neuen Kriegen zei- gen sich Möglichkeiten und Grenzen von Militäreinsätzen besonders deutlich: Ihren vom Krieg lebenden warlords und Kriegern ist ohne Militäreinsätze nicht beizukommen. Zu- gleich ist die Vorstellung illusionär, im Chaos dieser Kriege ließe sich Frieden militärisch erzwingen. Erfolgschancen haben nur multidimensionale, integrierte und kohärente Ansät- ze. Wo Militär der Gewaltverhütung und –eindämmung im Dienste kollektiver Sicherheit auf dem Boden der VN-Charta dient, wird es zum Instrument einer sich herausbildenden Weltinnenpolitik und ihres Gewaltmonopols, zu einer Waffe des Rechts. Wer die Stärkung der VN in diesem Sinne befürwortet, darf sich nicht den Konsequenzen verweigern. Und dazu gehört unausweichlich die Bereitstellung schnell einsatzfähiger mi- litärischer Kräfte und die Bereitschaft zur aktiven Teilnahme an Friedenseinsätzen im VN- Kontext. Wenn die PDS die laufenden Balkaneinsätze ablehnt, wenn Teile der Friedensbe- wegung pauschal die Auflösung der Einsatzkräfte fordern, dann läuft das alles darauf hin- aus, die aktuelle Gewalteindämmung auf dem Balkan aufzugeben und der Remilitarisierung und Gewalteskalation Tür und Tor zu öffnen. Solche Forderungen schwächen das VN- System statt es zu stärken.
8 Auch der VN-Kontext ändert aber nichts an der Tatsache, dass Militäreinsätze besonders kostspielig und oft riskant sind und die Frage der Verantwortbarkeit immer besonders sorg- fältig überprüft werden muss. Schon deshalb darf Militär kein „normales“ Instrument der Politik werden. Die beiden Entwicklungslinien von Militär – die VN-Linie und die militärische Machtpoli- tik – sind in der Realität der verschiedenen Staaten nicht klar unterscheidbar. Ihre militäri- schen Fähigkeiten – nämlich zu Einsätzen über größere Distanz, also zu Intervention - sind grundsätzlich dieselben und hat sie mit denen der Bündnisverteidigung gemeinsam. In der Bundesrepublik ist die künftige Entwicklungsrichtung der Bundeswehr nicht eindeutig ge- klärt, auch wenn bisher alle Bundestagsfraktionen eine „Interventionsarmee Bundeswehr“ ablehnen und die Bundesregierung die VN-Linie betreibt. Demgegenüber realisiert der ak- tuelle US-Krieg gegen den Terrorismus eine immer deutlichere Abkehr von der VN-Linie: Recht des Stärksten statt Stärkung des internationalen Rechts, Instrumentalisierung der le- gitimen Selbstverteidigung für hegemoniale wie innenpolitische Zwecke, Militärfixiertheit statt umfassender Sicherheit mit Ursachenbekämpfung, Alleingang mit flexiblen Koalitio- nen und forcierte Aufrüstung statt gemeinsamer Sicherheit. Bei etlichen rot-grünen Ex-Friedensbewegten ist die partielle Relegitimierung des Militäri- schen umgekippt in eine neue Naivität gegenüber dem Instrument Militär und seinem po- tentiellen Missbrauch für Machtinteressen. Das ist so verfehlt wie gefährlich. Nicht wenige trauten dem Militär früher alles Schlimme zu - und heute jede Auftragserfüllung. Kurzsichtig und kontraproduktiv ist aber auch die gerade im linken und grünen Spektrum verbreitete Nichtbeachtung des Militärischen, die mit der pauschalen Warnung vor der „Enttabuisierung des Militärs“ einhergeht und auf jeden Gestaltungsanspruch verzichtet. Notwendig ist ein zurückhaltender und verantwortungsbewusster Umgang mit dem Militär, was eine fundierte Militärkritik einschließen muss. Bundeswehr wohin? Die bundesdeutsche Sicherheitspolitik leidet seit Jahren unter einem Demokratiedefizit. Eine umfassende gesellschaftliche Debatte und Verständigung über Rolle, Leistungsfähig- keiten und Grenzen von Militär in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik nach Ende des Ost-West-Konflikts wurde gemieden, unter Rühe wie unter Scharping. Der gründliche Bericht der Weizsäcker-Kommission zur Bundeswehr-Reform wurde schnell ausmanövriert. Unser Fraktionskonzept zur Zukunft der Bundeswehr fand wohl gute Resonanz bei Friedensforschern wie bei aufgeschlossenen Militärs, war aber kein Thema in der Koalition. Die Angebote des „Friedenswortes“ der katholischen Bischöfe und der EKD-Denkschrift zu einer grundlegenden friedensethischen Verständigung wurden von Politik und Öffentlichkeit nicht aufgenommen. Die meisten Friedensorganisationen ver- harrten in grundsätzlichen antimilitärischen Positionen und scheuten vor einer Einmischung in die Debatte um die Zukunft der Bundeswehr zurück. Stattdessen entwickelt sich deutsche Sicherheitspolitik durch exekutives Handeln und Fall- zu-Fall-Entscheidungen, nach dem 11. September mit einem regelrechten Quantensprung. Angesichts der Sackgasse der laufenden Bundeswehrreform, des Paradigmenwechsels seit dem 11. September und der von der Bundesregierung proklamierten gewachsenen deutschen Verantwortung in der Welt ist die strategische außen- und sicherheitspoliti- sche Debatte gemeinsam mit der Gesellschaft dringend geboten. Wo die Reaktionen auf den entgrenzten Terror zunehmend eine Entgrenzung erfahren (des Verständnisses von Verteidigung, der Einsatzräume und Einsatzformen), wo sich die Klüfte
9 zwischen den USA und ihren Verbündeten vertiefen, da steht umso mehr die Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und aller Elemente gemeinsamer, um- fassender und vorbeugender Sicherheit sowie ein neuer Anlauf zu Rüstungskontrolle und Abrüstung auf der Tagesordnung. Zu klären sind mit den Aufgaben vor allem auch die Grenzen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Die sicherheitspolitische Grundsatzdebatte bedarf der Beteiligung und Verständigung aller, denen an einer deutschen Friedenspolitik liegt. Nur dann haben Vorschläge für eine Bun- deswehrreform, die Richtung Weltinnenpolitik gehen soll, auch Aussicht auf Wirkung. Friedenspartei auch unter schwersten Bedingungen Kritiker des Kurses der Bundesregierung und der Grünen nennen sich „Kriegsgegner“ – und erklären damit ihre politische Widersacher zu „Kriegsbefürwortern“. Ausschlaggebend für die tatsächliche Kriegsgegnerschaft und Friedensfähigkeit ist aber nicht die Laut- stärke eines Bekenntnisses, sondern was auf den jeweiligen Handlungsfeldern faktisch zur Verhütung bzw. Beendigung realer Kriege und umfassender Gewalt beigetragen wird – operativ in konkreten Krisen und den Aufbau von Fähigkeiten der Krisenprävention, durch Rüstungskontrolle und Abrüstung, strukturell durch die Förderung von Menschenrechten und Demokratie, durch Armutsbekämpfung, internationale Umweltpolitik, Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, interkulturellen Dialog, Stärkung der VN und OSZE. Von einem grünen Minister geprägte deutsche Außenpolitik hat sich seit 1999 ganz beson- ders wirksam um Gewalteindämmung auf dem Balkan bemüht: als Initiatorin des Frie- densplans im Kosovokrieg und des Stabilitätspakts; in der Unterstützung der demokrati- schen Opposition gegen Milosevic, was erheblich zur friedlichen Oktoberrevolution in Bel- grad beitrug; bei der Krisenvorbeugung in Südserbien und Mazedonien. Mazedonien wäre schon längst im Bürgerkrieg explodiert, wenn es nicht das relativ frühe, kohärente und energische Eingreifen der „Staatengemeinschaft“ unter Federführung der EU und mit Un- terstützung von NATO und OSZE gegeben hätte. Trotz aller Defizite ist Mazedonien bisher ein Beispiel gelungener Krisenprävention. Wider viele Befürchtungen bedeutete die deutsche Unterstützung für „Enduring Freedom“ keine Teilnahme am US-Krieg in Afghanistan. Die Transportflüge von bis zu drei Tran- sall pro Tag ab 26.11. in die Türkei wurden am 10.1.02 eingestellt. Darüberhinaus findet eine begrenzte Unterstützung des militärischen Anti-Terror-Einsatz vor allem als Seeraumüberwachung statt. Zugleich ist die Bundesrepublik aber maßgeblich an den internationalen Bemühungen be- teiligt, das 23-jährige Kriegschaos zu überwinden. Erste Initiativen für ein Afghanistan nach den Taliban gingen von Berlin aus. Nicht von ungefähr fanden vier zentrale Afgha- nistan-Konferenzen in Deutschland statt: neben der auf dem Petersberg die der Afghanistan Support Group, eine mit Akteuren der Zivilgesellschaft und gerade eine zum Polizeiaufbau. Die deutsche Botschaft in Kabul hat die Förderung von Bildung, Frauen und Zivilgesell- schaft sowie die Entminung als Schwerpunkt. Nach fünfjährigem Schulverbot besuchen jetzt 10.000 afghanische Mädchen dank deutscher Hilfe wieder 15 Schulen in Kabul. Die Bundesregierung hat die Führungsrolle beim Aufbau der afghanischen Polizei übernommen und dafür 10 Mio. € bereitgestellt. Das ist die Schlüsselaufgabe überhaupt. Die Bundesrepublik praktiziert gegenüber den USA selbstbewusste und keineswegs unein- geschränkte Solidarität. Der Ausbau der im Koalitionsvertrag angekündigten Infrastruktur für Zivile Konfliktbe- arbeitung wurde sofort begonnen: die Stärkung der Krisenprävention in der Entwicklungs- zusammenarbeit und die Förderung des Zivilen Friedensdienstes, die Ausbildung von zivi-
10 lem Fachpersonal für internationale Friedensmissionen von VN und OSZE, die Errichtung der Bundesstiftung Friedensforschung, die systematische Förderung von Projekten der Kri- senprävention. Bund und Länder tragen international vorbildlich zur Stärkung Internatio- naler Polizeimissionen (CIVPOL) bei, die für erfolgreiche Friedenskonsolidierung und Entmilitarisierung von strategischer Bedeutung sind. Zusammen vor allem mit den skandi- navischen Ländern machte sich die Bundesregierung in OSZE und EU stark für neue Kapa- zitäten ziviler Krisenbewältigung. Im Rahmen der ESVP werden die Kräfte nichtmilitäri- scher Krisenbewältigung (Polizei, Justiz- und Verwaltungshilfe) eher einsatzbereit sein als die militärische Säule. Gerade verabschiedete das Bundeskabinett zwei Gesetzentwürfe zur Zusammenarbeit mit dem künftigen Internationalen Strafgerichtshof. Das sind nur einige Beispiele aus der friedenspolitischen Bilanz von Rot-Grün.1) Uns ist bewusst, dass die bisherigen Fortschritte Ansätze auf dem Weg zu einer effektiven Krisenprävention sind: Überschattet werden sie durch manche gegen die Grünen durchge- setzte Rüstungsexport- und Hermesbürgschaftsentscheidungen sowie den zeitweiligen Ein- druck bedingungsloser Solidarität mit der US-Machtpolitik. Die Diskrepanz zwischen den Fähigkeiten militärischer Krisenreaktion und ziviler Krisenprävention sind noch erheblich, auch wenn sich die militärischen und zivilen Ausgaben für Krisenregionen wie Mazedonien und Afghanistan aufeinander zu bewegen. (Für ISAF und Enduring Freedom hat die Bun- desregierung 153 Mio. € für 2002 eingeplant, für Wiederaufbau 80 Mio. €, für Polizei 10 Mio., für Humanitäre Hilfe 51 Mio. in 2001.) Aber verglichen mit dem Stand von 1998 und den meisten anderen Staaten sind die Ansätze zugleich regelrechte Durchbrüche bei der Förderung der Gewalt- und Krisenprävention. Die Grünen gehören in Berlin zu den treibenden Kräften dabei. Die realen Fortschritte werden nicht dadurch gemindert, dass sie von einer militärfixierten Öffentlichkeit ignoriert und von manchen Kriegsgegnern als „Alibi“ denunziert oder arro- gant klein geredet werden. Die Resonanz auf die grünen Anstrengungen vor allem bei Friedenspraktikern aus Krisen- regionen, aus Internationalen und Nichtregierungsorganisationen zeigt aber, dass wir auf dem richtigen Weg vorne sind. Die Bündnisgrünen werden die kommenden Monate nur mit Selbstbewusstsein, Geschlos- senheit und Glaubwürdigkeit bestehen können. Zweifel und Enttäuschungen, die sich unter (ehemaligen) Grünen-Anhängern besonders auch an der Identitätsfrage von Krieg und Frieden festmachen, sind ernst- und aufzunehmen. Es gilt, die neuen friedenspolitischen Herausforderungen und die von den Grünen mitgeprägte deutsche Außenpolitik in ihrem Handlungsrahmen und ihrer Breite wahrzunehmen und dabei Leistungen, Kompromisse und Defizite ehrlich zu bilanzieren. Ich meine: Bündnisgrüne haben Grund zu Selbstbewusstsein. Unter den schweren Bedin- gungen komplexer Krisen und multilateraler Politik stehen Bündnis 90/Die Grünen ge- meinsam mit ihrem Außenminister für aktive Antikriegs- und Friedenspolitik in und mit Europa. Der Aufbau der Friedensmacht Europa braucht Grüne in der Verantwortung. 1) Gesamtüberblick vgl.: Von der Friedensbewegung zur Friedenspolitik – Elemente einer Weltinnenpoli- tik, Beschluss der Bundestagsfraktion vom 11.12.2001, lang & schlüssig 14/48; Gewaltvorbeugung kon- kret: Zwischenbilanz rot-grüner Maßnahmen zur zivilen Krisenprävention, lang & schlüssig 14/27; Wer den Frieden will, bereite den Frieden vor. Dokumentation der Fachtagung zur Stärkung der zivilen Säulen internationaler Friedensmissionen, lang & schlüssig 14/45 Infobrief des Fraktions-AK IV Außenpolitik/Menschenrechte/Abrüstung, Februar 2002 Zur bisher erfolgreichen Krisenprävention in Mazedonien vgl. Bericht der Bundesregierung vom 10.12.2001, BT-Drs. 14/7891 Weitere Informationen: W. Nachtwei, MdB, Deutscher Bundestag, 11011 Berlin, 030-227- 72567, Fax 030/227-76016; winfried.nachtwei@bundestag.de; www.nachtwei.de
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