Gut gemeint - gut gemacht? Roma aus Südosteuropa und Ungarn: Ihre Erfahrungen mit "Hilfen zur Selbsthilfe"
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Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte 131 Internationale Konferenz in Berlin Gut gemeint – gut gemacht? Roma aus Südosteuropa und Ungarn: Ihre Erfahrungen mit „Hilfen zur Selbsthilfe“ Veranstalter: Südosteuropa-Gesellschaft (SOG) in Kooperation mit Renovabis (Osteuropahilfswerk der Katholischen Kirche), gefördert von der Freudenberg Stiftung Berlin, 10. – 12. Februar 2020 Bericht von Janka Vogel, Berlin Hintergründe zu einer Minderheit zu beseitigen, zeigte sich Fast zehn Jahre ist es her, dass die Europäische 2011 die Europäische Kommission überzeugt.3 Kommission den „EU-Rahmen für nationale Sie hatte die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert, Strategien zur Integration der Roma bis 2020“ bis Ende 2011 eigene nationale Strategien zur vorgestellt hat.1 Darin wird gefordert: Roma als Integration der Roma zu erarbeiten. größte ethnische Minderheit Europas müssen endlich gleichberechtigt am gesellschaftlichen Obwohl die deutsche Bundesregierung zu- Leben der Länder teilhaben können, in denen nächst zögerlich auf dieses Ansinnen reagierte, sie leben. Weithin wurde und wird dabei vor al- übermittelte das Bundesministerium des Innern lem humanitär, sicherheitspolitisch und wirt- seit 2011 jährlich einen Bericht zu „Integrierten schaftlich argumentiert. Die Weltbank etwa Maßnahmenpaketen zur Integration und Teilha- rechnete vor, dass Staaten es sich angesichts be von Sinti und Roma in Deutschland“ an von demographischem Wandel und Fachkräfte- Brüssel, zuletzt 2019.4 Die Bundesregierung un- mangel zukünftig schlicht nicht mehr leisten terscheidet dabei regelmäßig zwischen der au- könnten, die Roma nicht in ihre Gesellschaften tochthonen Minderheit der deutschen Sinti und zu integrieren. Den Staaten Bulgarien, Tschechi- Roma, die grundsätzlich „alle Rechte und en, Rumänien und Serbien gingen durch die Pflichten deutscher Staatsangehöriger“ haben, ökonomische Exklusion ihrer Roma-Bevölke- für die aber ein besonderer Minderheitenschutz rung jährlich zwischen 900 Millionen und zwei gelte,5 und Roma aus anderen EU- oder Dritt- Milliarden Euro Steuereinnahmen verloren.2 staaten, denen ethnienunabhängig „dieselben Integrationsprogramme wie anderen Auslän- Die wirtschaftliche Integration der Roma werde dern offen“ stünden.6 Handlungsleitend bei den den sozialen Zusammenhalt stärken, eine bes- in Deutschland umgesetzten Maßnahmen für sere Achtung der Grundrechte, wie beispiels- Roma und Sinti ist außerdem die Maxime „ex- weise der Minderheitenrechte, gewährleisten plizit, aber nicht exklusiv“. Extra-Programme für und dazu beitragen, Diskriminierungen auf- Roma soll es demnach nicht geben, vielmehr grund der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen gehe es um gleiche Teilhabe-Chancen für alle, oder sozialen Herkunft oder der Zugehörigkeit wobei für den Abbau bestehender Zugangshür- 1 Vgl. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52011DC0173&from=DE, letzter Zu- griff am 11.03.2020. 2 Vgl. Joost de Laat (2010): Costurile economice aferente exclziunii Romilor, S. 4. 3 Vgl. Max Matter (2015): Nirgendwo erwünscht, S. 201. 4 Vgl. Bundesministerium des Innern (2019): Informationen von Deutschland über den Fortschritt bei der Umsetzung des Berichts „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 – Inte- grierte Maßnahmenpakete zur Integration und Teilhabe der Sinti und Roma in Deutschland“, 2017. 5 Hier vor allem jene Rechte, die in der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen und im Rahmen-Übereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten festgehalten sind. Deutschland hat das Rahmen-Übereinkommen 1997 und die Charta 1998 ratifiziert. 6 Bundesministerium des Innern (2017): Informationen von Deutschland über den Fortschritt des Berichts „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 – Integrierte Maßnahmenpake- te zur Integration und Teilhabe der Sinti und Roma in Deutschland“, 2016, S. 3 f.
132 Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte den spezielle Maßnahmen und Förderprogram- gen sind territorial organisiert“. Schließlich me konzipiert wurden und werden. übertrug Rütten die post-koloniale Kritik an globalen Ungleichheitsstrukturen auf die „bin- Wie es um die gesellschaftliche Teilhabe der nen-europäische Ost-West-Asymmetrie“ und Roma-Minderheit in verschiedenen Ländern Eu- verortete die Minderheit im Spannungsfeld ropas bestellt ist und vor allem, ob die Aktions- billiger osteuropäischer Arbeitskräfte auf deut- pläne, EU-Fonds und die Anstrengungen staatli- schen Baustellen, Diskriminierung im öffent cher und nicht-staatlicher Akteur*innen die ge- lichen Leben und Strukturen des Menschen- wünschten Effekte zeigen, darum ging es auf handels zur sexuellen Ausbeutung, namentlich der internationalen Konferenz „Gut gemeint – Zwangsprostitution. „Neokoloniale Machtstruk- gut gemacht? Roma aus Südosteuropa und Un- turen sind [...] im Rahmen dieses Themas ein garn: Ihre Erfahrungen mit ‚Hilfen zur Selbsthil- Zusammenspiel von Kontrolle über Raum fe‘“ in Berlin unter der Leitung von SOG-Präsidi- (Grenzen), Gewalt, Ausbeutung von Ressourcen umsmitglied Dr. Ursula Rütten (Berlin). und von Menschen. Nicht minder bedeutsam sind hegemoniale europäische Diskurse, die In ihrer Eröffnungsrede schilderte Ursula Rüt- westliche Lesart ,der Anderen‘, eingepfercht ins ten, wie sie vor über 15 Jahren als Journalistin eigene Normen- und Wertekorsett, das die begonnen hatte, sich Wissen über Roma auf ,richtigen‘ Passformen des Lebens vorgibt: Kapi- Reisen in verschiedenen Ländern Südosteuro- talismus, Christentum, Weiß-Sein, Männlichkeit pas anzueignen. Anlass sei die europäische und Heterosexualität“, resümierte sie, um mit „Dekade zur Integration der Roma“ (2005 – 2015) einem Appell zur Solidarität zu enden. gewesen, die auf Initiative der Weltbank und der Soros-Stiftung ins Leben gerufen worden Mangelhafte Repräsentation der Roma in war. Seitdem habe sie das Thema nicht mehr Deutschland losgelassen. Rüttens Ausführungen hatten star- Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags ke persönliche Bezüge. Sie ließ die Teilneh- und Schirmfrau der Konferenz, Claudia Roth, mer*innen teilhaben an ihren Fragen, Gedanken MdB, unterstrich, wie wichtig es ihr gewesen sei, und Erfahrungen – oder wie sie es nannte „ge- an der Eröffnung dieser Konferenz mitzuwirken, danklichen Mosaiksteinen“ – und scheute auch die sich dem Kampf gegen Antiziganismus ver- vor „unbequemen“ Reflektionen nicht zurück. schrieben habe. Sie bedauerte die unverändert So fragte sie nach dem Verhältnis der Gadje mangelhafte Repräsentation der Roma in (Weißen) zu den Roma, das von rassistischen Deutschland und vielen anderen europäischen Einstellungen stark belastet sei. Anschauliches Ländern. Trotz der Verfolgung und Vernichtung Beispiel aus Ungarn: Ein Kosmetikprodukt zur von Sinti und Roma im NS-Regime sei für die Hautaufhellung, beworben mit dem Satz, dass Roma – mit rund zwölf Millionen Angehörigen „in unseren Gesellschaften ein weißerer Haut- die größte Minderheit in Europa – auch in ton von Vielen ästhetischer empfunden [wird]“.7 Deutschland nach wie vor Ausgrenzung und Diskriminierung in allen Gesellschaftsbereichen Rütten fragte auch nach politischen Emanzipa- an der Tagesordnung. tionsprojekten von Roma und stellte fest: „Die Kollektivbezeichnung ,Roma‘ macht aus dieser Antiziganismus sei ein gezielter Angriff auf unse- heterogenen, unzusammenhängend quer über re Demokratie, auf Moral und Ethik sowie den den Kontinent lebenden Bevölkerungsgruppe Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Dem trotz einer gemeinsamen Unterdrückungsge- müssten sich alle Demokrat*innen entgegenstel- schichte und Bezügen auf die Herkunft aus In- len. Deutschland stehe vor der Aufgabe, während dien noch keine einheitliche ethnische Minder- seiner EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten heit. Das ist wichtig für den Prozess ihrer Politi- Hälfte des Jahres 2020 die Erarbeitung und Ver- sierung, denn die in der EU anerkannten ethni- abschiedung einer neuen EU-Roma-Strategie zu schen Minderheiten- und Autonomiebewegun- begleiten. Diese müsse, so Roth, verbindlicher 7 Übersetzung aus dem Ungarischen: Katrin Kremmler.
Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte 133 sein als die vorherige. Angesichts der weit ver- jetzt neu aufgelegt werden müsse. Im Mai 2020 breiteten Vorurteile gegenüber Roma finde die gebe es im Rahmen eines Konsultationsprozes- Konferenz zur rechten Zeit statt. Es müsse offen ses ein Treffen einer unabhängigen Experten- und ehrlich die Frage aufgeworfen werden, wel- gruppe auf Einladung der EU-Kommission und che Maßnahmen tatsächlich Wirkung zeigten und auf Grundlage ihrer Berichte zum Antiziganis- welche nicht. Sich über bewährte Verfahren aus- mus. Diese Expertengruppe, an welcher der zutauschen und nicht bewährte klar zu benen- Zentralrat Deutscher Sinti und Roma mitwirke, nen, nicht zuletzt auch bisherige Strategien ge- solle Empfehlungen für die Arbeit gegen Antizi- sellschaftlicher und politischer Selbstermächti- ganismus erarbeiten. Er erwarte, dass sich die gung zu hinterfragen, sei die Aufgabe – und zwar Ergebnisse dann in der neuen EU-Strategie wie- mit der entsprechenden Expertise aus den ver- derfinden. Auch Heuß appellierte an die Bun- schiedenen europäischen Ländern. desregierung, bei diesem Thema in Europa eine führende Rolle einzunehmen – und zwar über Die Vizepräsidentin der Südosteuropa-Gesell- die EU-Ratspräsidentschaft hinaus. schaft, Gudrun Steinacker, Botschafterin a.D., unterstrich, dass sie während langer Jahre im Am Abend des ersten Konferenztags wurde die diplomatischen Dienst in der Region Südosteu- Arte-Dokumentation „Die Stadt der Roma“ ge- ropa viele Organisationen und vor allen von zeigt. Sie begleitet einen Roma-Schulmediator Deutschland finanzierte Projekte kennengelernt bei seiner Arbeit im Viertel „Nadeshda“ im bul- habe. Allerdings seien die Ergebnisse häufig un- garischen Sliven. Der Film zeigt, dass die Bil- befriedigend, so dass sich die Frage aufdränge, dungsteilhabe der Kinder aus dem Roma-Ghet- ob es überhaupt möglich sei, die soziale Lage to eine langwierige gesellschaftliche Aufgabe einer so großen und so lange diskriminierten ist, die von allen Verantwortlichen gleicherma- Minderheit allein über Projekte zu verbessern. ßen angegangen werden müsste. Die Viertel Trotz der sicherlich guten Absichten der „Deka- bewohner*innen stehen auch im Film mit ihrem de zur Integration der Roma“, mit der sie auch Kampf um Teilhabe aber fast allein da – der beruflich Berührung hatte, könne man mit de- Schuldirektor glaubt nicht an die Bildungsfähig- ren Resultaten nicht zufrieden sein. Ohne viele, keit der Kinder, von der städtischen Verwaltung auch sehr gute und erfolgreiche Projekte in Ab- oder gar der politischen Ebene sind keine Un- rede zu stellen, müsse darüber nachgedacht terstützungsmaßnahmen zu verzeichnen. So werden, wie die Situation der Roma – gemein- bleibt der Film ein trauriges Beispiel für die sam mit ihnen – langfristig und dauerhaft ver- fortdauernde gesellschaftliche – und räumliche bessert werden könne. Das Ziel müsse die volle – Ausgrenzung von Roma in Europa. Gleichberechtigung und Teilhabe in allen Län- dern sein, in denen sie leben. Dies sei sicher ei- Am zweiten Konferenztag waren drei themati- ne wichtige Aufgabe bei der Erarbeitung der sche Panel vorgesehen, auf denen ausgewählte neuen EU-Roma-Strategie ab Sommer 2020 un- Projekte und Aktivitäten aus Ungarn, Bosnien ter deutscher EU-Ratspräsidentschaft. und Herzegowina, Bulgarien, Rumänien, Kosovo, Serbien und Nordmazedonien vorgestellt wur- Allianz gegen Antiziganismus den. Ein viertes, den Tag abschließendes Panel In Vertretung für Emran Elmazi vom Zentralrat stand unter dem Motto „Berichte aus der For- Deutscher Sinti und Roma sprach im Rahmen schung vor Ort, Bürgerrechtsbewegungen von der Keynote Dr. Herbert Heuß als wissenschaft- Roma und Romnja in Südosteuropa und Ungarn licher Leiter des Zentralrats. Auch er begrüßte – Fragen und Probleme politischer (Selbst-)Re- die Ausrichtung der Konferenz. Es gehe bei der präsentation und Teilhabe“. Überwindung der strukturellen Probleme des weit verbreiteten Antiziganismus letztlich um Projekte und Aktivitäten in Ungarn eine Allianz gegen eben diesen Antiziganismus Auf dem ersten Panel, übersetzend moderiert angesichts der bestehenden kumulativen Dis- von der Ungarn-erfahrenen Historikerin Gwen kriminierung von Roma in Deutschland und Jones, wurden dem Publikum drei Projekte nä- ganz Europa. Heuß verwies ebenfalls auf die her gebracht: Zunächst stellte Alíz Kun das EU-Rahmenstrategie, die derzeit auslaufe und Community-Entwicklungsprojekt „To be able to“
134 Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte in Trägerschaft der Stiftung „Igazgyöngy“ aus Zunächst stellte Bernd Krüger das Projekt „Musik Berettyóújfalu, Ost-Ungarn vor.8 Die drei Säulen statt Straße“ vor, das im Rahmen der Städte- des Projekts, für das Kun Öffentlichkeitsarbeit partnerschaft der thüringischen Stadt Gera mit und Fundraising macht, seien Bildung, Commu- der bulgarischen Stadt Sliven ins Leben gerufen nity-Entwicklung mit Schaffung von Arbeitsplät- worden war. „Wenn ich einen Taxifahrer [in Sli- zen und institutionelle Kooperationen. Danach ven] frage, ob er mich nach Nadeshda bringt, gefragt, ob die Stiftung mit der Regierung zu- lehnt er das glatt ab“, schilderte Krüger seine Er- sammenarbeite und es Vertriebskooperationen fahrungen. Im Roma-Viertel Nadeshda, das am gebe, meinte Kun: „The product are the people Vorabend auch im Film porträtiert worden war, and their attitude“. leben bis zu 30.000 Menschen auf engstem Raum, mit fehlender Infrastruktur und kaum Mit István Mezei, dem Präsidenten der János-Far- Aussicht auf Hoffnung – denn das bedeutet „Na- kas-Stiftung, wurde sodann eine Persönlichkeit deshda“ – zusammen. Mit dem vorgestellten vorgestellt, die ihr Leben dem Aufbau und der Projekt, welches vom Roma-Orchester-Musiker Förderung des ungarischen Roma-Fußballs ver- Georgi Kalaidijev geleitet wird, erhielten Kinder schrieben hat. Der über 70-Jährige freute sich aus dem Viertel die Chance, sich eine andere sehr über die Einladung zur Konferenz und hatte Zukunft aufzubauen. Krüger betonte, dass Städ- viel zu sagen. Da das Dolmetschen aus dem Un- tepartnerschaften einen guten Beitrag zur garischen und ins Ungarische einige Probleme „Überwindung nationaler Überheblichkeit“ leis- bereitet hätte, wurde seine Stiftung per stummer ten könnten. Die Konferenzteilnehmer*innen Power-Point-Präsentation vorgestellt, was dem aus Pécs, ebenfalls eine Partnerstadt von Sliven, Ganzen nur deshalb keinen Abbruch tat, weil rief er dazu auf, sich am Projekt zu beteiligen. Mezei im weiteren Verlauf der Konferenz seine Erfahrungen und Empfehlungen immer wieder Vera Mihaylova von der Nationalen Allianz für begeistert einbrachte und so der Funke zum Pu- die Arbeit mit Ehrenamtlichen (NAVA) aus Plov- blikum überspringen konnte. Mezeis Roma-Fuß- div präsentierte ein soziales Unternehmen, das baller haben 139 von 152 internationalen Turnie- in Trägerschaft der Stiftung NAVA Nähwerkstät- ren gewonnen – zu den außergewöhnlichsten ten betreibt. Die Stiftung möchte das ehrenamt- Spielerbegegnungen zählen wahrscheinlich die liche Engagement in Bulgarien stärken und ver- Spiele mit der päpstlichen Schweizer Garde oder schiedene gesellschaftliche Gruppen zusam- den ungarischen Polizeimannschaften. Hilfreich menbringen. In Stolipinovo leben etwa 50.000 zum Verständnis der Leistungen der Stiftung wa- Roma in einer Siedlung zusammen, möglicher- ren die Einlassungen des Journalisten Mirko weise die größte ihrer Art auf dem Balkan. Mehr Schwanitz, der unter anderem auch darauf ver- als die Hälfte der Romnja aus diesem Viertel wies, dass die FIFA den Verband zwar für sich waren und sind nicht erwerbstätig. Das Projekt werben lasse, aber keinerlei finanzielle Unter- will diese Frauen für eine Beschäftigung in der stützung leiste – mitunter fehle sogar das Geld bulgarischen Textilbranche, in der Fachkräfte für einen Bus, der die Spieler aus ihren Siedlun- dringend gebraucht werden, qualifizieren. Zwi- gen zum Training oder zum Turnier fahre. schen 2016 und 2018 haben bereits 62 Frauen einen Abschluss erworben, die Hälfte von ihnen Hilfe zur Selbsthilfe für Bulgarien: Musik als fand Arbeit in Textilfabriken. Die Nachfrage sei Hoffnung, Nähen als Chance groß – sowohl seitens der Romnja aus Stolipi- Im zweiten Panel wurden Projekte aus Bulgarien novo, als auch seitens der Textilfirmen. Bisher (Teil 1) und Rumänien (Teil 2) vorgestellt. Mode- stehe das Projekt auf schwachen finanziellen rator Mirko Schwanitz hatte drei Gäste auf dem Füßen, institutionelle Förderung gebe es nicht, Podium: Vera Mihaylova von der National Alli- es werde zum Großteil über Spenden finanziert. ance for Volunteer Action (NAVA), Nurcihan De- An EU-Mittel heranzukommen, sei für NGOs im mirbas aus dem Projekt „Musik statt Straße“ zentralistischen Bulgarien so gut wie unmög- und Bernd Krüger aus dem Stadtrat von Gera. lich, Entscheidungen im EU-Ministerium seien 8 Deutsch: „Wahre Perlen“.
Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte 135 hoch korruptionsanfällig und intransparent, Smith beantwortete die Frage nach der Finan- schilderte Mihaylova. zierung der Integrationsarbeit so: Die sozialen Träger haben ihre strukturellen Grenzen aufge- Zugewanderte aus Rumänien in Deutschland: löst und arbeiten eng zusammen. Es werden Netzwerke gegen Exklusion bedarfsgerechte Angebote entwickelt und mit Im zweiten Teil des Panels stellte zunächst der einem Mix aus verschiedenen Fonds (EU, Bund, Soziologe Marian Daragiu die von ihm gegrün- Land) finanziell untersetzt. Sie unterstrich die dete Ruhama-Stiftung aus Oradea vor. Unter enge Kooperation zwischen Trägernetzwerk und dem Titel „Confrontation and Cooperation – In- Stadtverwaltung, die wesentlich für den Erfolg tervention against Policy Failures“ beschrieb er des Projektes sei. zunächst den Kreislauf intergenerationeller Ex- klusion, in dem die meisten Roma aus Rumäni- Kosovo, Serbien und Nordmazedonien: en sich befinden. So arbeiteten nur 35 Prozent Ursachen für Flucht, Verfolgung und der Roma in regulären Beschäftigungsverhält- Remigration nissen. Ungenügende Zugänge zu Gesundheits- Projekte aus Kosovo, Serbien und Nordmazedo- versorgung und Bildung, aber auch die räumli- nien wurden auf dem dritten Panel vorgestellt. che Segregation vieler Roma-Siedlungen be- Es moderierte der Schauspieler und Roma-Akti- nannte er als Hauptprobleme. Der nationale vist Hamze Bytyci, Vorsitzender von RomaTrial Aktionsplan Rumäniens zur Verbesserung der e.V. und Mitinitiator des Bündnisses für Solida- Lage der Roma werde nur ungenügend umge- rität mit den Sinti und Roma Europas. setzt, bedauerte Daragiu. Die Ruhama-Stiftung setze sich gegen Diskriminierung, für den Aus- Erste Rednerin des Nachmittags war Klara Ilie- bau der öffentlichen Daseinsvorsorge und ei- va, die das Centre for Social Initiatives in Trä- nen institutionellen Rahmen für die Inklusion gerschaft des Vereins „S.C.I. Nadež“ im Bezirk der Roma ein. Anhand eines Image-Films Shuto Orizari von Skopje vorstellte. In dem brachte er dem Publikum die Tätigkeit der Stif- einstmaligen Stadtteil von Skopje, der inzwi- tung näher. schen eine eigene Stadtverwaltung hat, leben etwa 22.000 Menschen, die Mehrheit von ihnen Johanna Smith (Diakonie) und Elena Genova Roma. Amtssprache ist Romanes und Mazedo- (Caritas) sind Mitarbeiterinnen der Dortmunder nisch, der Bürgermeister Kurto Dudush ist Beratungsstelle „Willkommen Europa“, die sich selbst Rom. 2010 habe die mazedonische Re- um neuzugewanderte EU-Bürger*innen, darun- gierung ein Integrationsprogramm für Remig- ter auch Roma, kümmert. Sie gingen in ihrer rant*innen ins Leben gerufen. „S.C.I. Nadež“ ha- Präsentation auf Chancen und systemische Ri- be sich im Bereich der sozialen Unterstützung siken der Zuwanderung ein. So sei die Dort- von Rückkehrer*innen engagiert – und da viele munder Nordstadt ein Viertel, in dem die Raten selber Roma sind, seien vor allem für diese erwerbsloser Personen und solcher im Bezug Zielgruppe Angebote entwickelt worden. Vor- von Leistungen nach dem SGB II höher seien schulische Bildung, Unterstützung bei der Rein- als im Rest der Stadt. In das migrantisch ge- tegration ins nordmazedonische Schulsystem, prägte Gebiet zögen seit einigen Jahren ver- Ausbildung und Hilfe bei der Inanspruchnahme stärkt rumänische und bulgarische Roma zu. sozialer Rechte – so beschrieb Ilieva anhand ei- Die Stadt Dortmund habe schon 2011 ein „Ro- ner ausführlichen Präsentation – seien die Tä- ma-Netzwerk“ ins Leben gerufen, was später in tigkeiten des Trägers. Eine Herausforderung be- „EU-Netzwerk“ umbenannt worden sei und stehe in der Sicherung einer dauerhaften Fi- heute als „Dortmunder Strategie Zuwanderung“ nanzierung der gewachsenen Arbeit, die als firmiere. Die Stadt konzentriere sich auf Maß- „Roma-Reintegrationsprogramm“ des Caritas- nahmen der frühkindlichen Bildung, der schu- verbandes Essen etabliert worden war. lischen und außerschulischen Bildung, Erstin- tegration und -beratung, Arbeitsvermittlung Nysret Krasniqi von der Diakonie Kosovo stellte und (Nach-)Qualifizierung, Gesundheitsvorsor- im Anschluss das Diakonie-Trainings-Center in ge und Gemeinsinn stiftende Angebote im Mitrovica vor. Kosovo habe aktuell etwa 1,8 Mio. Quartier. Einwohner*innen, von denen etwa 50 Prozent
136 Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte jünger als 25 Jahre alt seien. Offiziellen Angaben Dragan Gračanin von der Association of Coordi- zufolge leben im Land 1,5 Prozent Serb*innen nators for Roma Issues stellte im Anschluss und 0,5 Prozent Roma; diesen Zahlen könne die Situation in Serbien vor. Auch hier spiele man jedoch nicht trauen, meinte Krasniqi. Mit die Remigration eine große Rolle. Zwischen einem Rückblick auf die Geschichte des Landes 2015 und 2018 seien Zahlen der GIZ und der seit Verlust des Autonomiestatus 1989 erläuter- deutsch-serbischen Partnerschaft zufolge etwa te er die heutige Situation des seit 2008 unab- 30.000 Menschen nach Serbien zurückgekehrt, hängigen Kosovos. Demnach könnten auch die Hälfte von ihnen nicht freiwillig. Von den neue Universitäten und Autobahnen nicht über Rückkehrer*innen hätten 81 Prozent von mehr- die desolate Lage des Sozial- und Gesundheits- facher Diskriminierung berichtet. Gračanin ging systems hinwegtäuschen. Krasniqi machte Kor- davon aus, dass dies vor allem Roma betraf. ruption, Machtmissbrauch und Nepotismus für 80 Prozent der Remigrant*innen hätten zuvor in die schlechte Situation verantwortlich. Roma, Deutschland gelebt, mitunter mehrere Jahre. Aschkali9 und Balkan-Ägypter10 gehörten zu den Hauptgründe der Auswanderung seien der Stu- weniger wahrgenommenen und unterstützten die zufolge die Suche nach Arbeit und besserer ethnischen Gruppen Kosovos. Die Diakonie ar- sozialer Absicherung gewesen. beite seit 2007 mit den Minderheiten, zunächst mit den Rückkehrer*innen aus Westeuropa, Die 2014 gegründete Association of Coordina- mittlerweile mit allen Minderheiten. Im Ausbil- tors for Roma Issues macht vor allem Lobby-Ar- dungszentrum würden Roma in technischen Be- beit für die bessere soziale und gesellschaftli- rufen und Romnja zu Friseurinnen und Schnei- che Integration der Roma. Sie möchte politische derinnen ausgebildet. Auch materielle Hilfen, Rahmenbedingungen und die Umsetzung der Beratung und Jugendsozialarbeit gehörten zu europäischen „Dekade zur Integration der Ro- den Angeboten der Diakonie Kosovo. ma“ besonders auf lokaler Ebene erreichen. Schon 11 lokale Arbeitsgruppen und 83 Projekte Ebenfalls aus Kosovo berichtete der folgende in verschiedenen Kommunen sind ins Leben Redner, Isak Skenderi, vom Verband Voice of gerufen worden. 90 Gesundheitsmediator*in- Roma, Ashkali and Egypt (VORAE) aus Pristina. nen, 190 pädagogische Assistent*innen und 50 Sein Vortrag trug den Titel „Roma aus den mobile Teams sind mittlerweile in Serbien zur Westbalkanstaaten: Ursachen der Migration und Unterstützung der Roma, bzw. der Remig- Flucht vor Verfolgung“. Skenderi verwies auf das rant*innen, unterwegs. Balkan Barometer, eine Umfrage, die ergeben habe, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Letzter Redner des dritten Panels war Ashmet Roma ablehnend gegenüberstehe.11 Demzufolge Elezovski. Der Menschenrechtsaktivist und Ge- habe eine große Zahl kosovarischer Roma in schäftsführer des Nationalen Roma Centrums westeuropäischen Staaten Asyl gesucht. In Be- aus Kumanovo sprach zum Thema „Antiziganis- zug auf die Neuauflage der „Dekade zur Integra- mus als strukturelles Problem von Segregation tion der Roma“ in Europa schlug er vor, dass und Marginalisierung in der Republik Nordmaze- der Kampf gegen Antiziganismus als Quer- donien“. Er mahnte an, dass der weit verbreitete schnittsaufgabe in den bestehenden Hand- gesellschaftliche Antiziganismus dazu führe, lungsfeldern implementiert werden müsse, er dass für Roma viele Wege versperrt seien und müsse zusätzlich aber auch ein eigenes Hand- dass es viele Zugangshürden bei staatlichen lungsfeld bilden. Die Bekämpfung von Diskrimi- Strukturen, Bildungsangeboten und Hilfen gebe. nierung und Antiziganismus dürfe den Inklusi- onsansatz nicht ersetzen, sondern müsse ihn An der Frage der Auswanderung der Roma aus ergänzen. Südosteuropa nach West- und Nordeuropa ent- 9 Dies ist eine muslimische Teilminderheit der Roma in Südosteuropa, vor allem in Kosovo, Serbien, Albanien, Bulgarien und Nordmazedonien. 10 Dabei handelt es sich um eine Teilminderheit der Roma in Südosteuropa, die überwiegend Albanisch spricht. 11 Vgl. z.B. auch Wilhelm Heitmeyer (2011): Deutsche Zustände.
Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte 137 zündete sich im Anschluss eine emotionalisier- Buchreihe „Roma-Studien“, sprach über die Bil- te Debatte. Gudrun Steinacker meinte, die Lö- dungssituation ungarischer Roma und stellte Er- sung des Problems könne nicht darin bestehen, gebnisse aus der aktuellen Bildungsforschung „dass alle Roma ihre Sachen packen und nach vor. Sie sensibilisierte zunächst dafür, dass Zah- Deutschland kommen“. – Keiner der Menschen len in Bezug auf die Minderheit ganz unter- wolle nach Deutschland und daher müssen wir schiedlich zustande kämen, je nachdem, ob man auch nicht ständig darüber reden, was zu tun es mit Selbst- oder Fremdzuschreibungen zu tun sei, damit sie nicht kämen, war die Antwort von habe oder ob nach der Muttersprache gefragt Christoph Leucht, Projektmanager bei der Berli- werde. Sie unterschied drei Gruppen ungarischer ner Hildegard-Lagrenne-Stiftung und ehemali- Roma, und zwar die ungarischsprachigen Ro- ger Koordinator des ROMED2-Programmes des mungro, die romanessprachigen Oláh-cigány Europarats in Deutschland. Marian Daragiu von und die rumänischsprachigen Beás-cigány. der rumänischen Ruhama-Stiftung unterstrich das: „We don’t want to leave our countries“. Es Óhidy stellte ein Klassenmodell vor, demzufolge müsse darum gehen, bessere Bedingungen in die Frage der gesellschaftlichen Integration der den Ländern zu schaffen, wo die Roma lebten. Roma auch mit ihrer Schichtzugehörigkeit zu- Diese Message müsse in Brüssel ankommen, sammenhänge. Etwa 20 Prozent der ungari- betonte er. schen Roma schafften den Aufstieg in die Mit- telschicht und würden teils nicht mehr als Ro- Nicht weniger hitzig ging die Debatte weiter, ma wahrgenommen. Óhidy unterschied außer- nachdem Schwester Lea Ackermann, Vorsitzen- dem zwischen „Underclass“ und „Undercast“. de des Vereins SOLWODI, wohlmeinend geschil- Ersteres sei die gesellschaftliche Realität der dert hatte, sie habe als Kind immer eine „Zigeu- Roma in Ungarn, letzteres die in „den anderen nerin“ sein wollen. Dieser Versuch, Bewunde- Westbalkan-Staaten“. Óhidy hat nach Gemein- rung und Empathie für die Minderheit zu zeigen, samkeiten und Unterschieden bei den bil- wurde vom Publikum gemischt aufgenommen. dungspolitischen Maßnahmen zur Verbesserung Gilda-Nancy Horvath, Projektleiterin und Chef- der Bildungssituation der Roma in 15 europäi- redakteurin von Romblog.at, lehnte die pejora- schen Ländern geforscht. Ihr Befund: Es gebe tive Bezeichnung strikt ab und appellierte: gemeinsame Herausforderungen, ähnliche Lö- „Leute, nennt euch ,Roma‘ und bezeichnet uns sungen und bisher unbefriedigende Ergebnisse. so!“. István Mezei meinte: „Wir müssen uns ver- Dabei sei die anhaltende Segregation der Roma einigen wie die Schwarzen“.12 Jemand brachte es im Schulbereich die größte Herausforderung. dann auf den Punkt: „Wir wollen nicht mehr Rechte – wir wollen nur dieselben Rechte.“ Im Eine zweite Perspektive aus der aktuellen For- Hinblick auf eine EU-Beitrittsperspektive der schung brachte Márton Rövid von der Central Westbalkan-Staaten warnte ein Vertreter aus European University (Wien) ein. Er ist Gastpro- Kosovo davor, den Beitritt nicht an eine tat- fessor am Institut für Roma-Studien und leiten- sächliche Verbesserung der Situation der Roma der Herausgeber der Zeitschrift „Critical Romani zu knüpfen. „When you open the door, you ac- Studies“. In seinem Vortrag „Empowerment cept the situation of Roma“. through knowledge production“ warf er einen kritischen Blick auf die zurückliegende „Dekade Die Situation ungarischer Roma zur Integration der Roma“, deren Umsetzung in Im sich anschließenden vierten Panel wurden Südosteuropa er koordiniert hat. Rövid stellte Perspektiven aus der Forschung beleuchtet. Es die Methode des „Shadow Reporting“ vor. Dabei moderierte Natascha Hofmann, Doktorandin an veröffentlichten NGOs anhand von Schattenbe- der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Länder- richten alternative Fakten und Daten über die schwerpunkt war bei diesem Panel Ungarn. Dr. Umsetzung staatlicher Maßnahmen und inter- Andrea Óhidy, Professorin an der Pädagogischen nationaler Abkommen, was als kritische Politik- Hochschule Freiburg und Mitherausgeberin der begleitung gelten könne. Gerade dadurch könn- 12 Im ungarischen Original: „mint a négerek“.
138 Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte ten Roma aktiv an politischen Prozessen teilha- es „die Medien“ nicht gebe. Schwartz ist stell- ben, die sie betreffen. vertretender Leiter der Europa-Redaktion der Deutschen Welle in Berlin; bis vor kurzem leite- Kritisch verwies Rövid darauf, dass die Wissen- te er die Rumänien-Redaktion des Senders. Die schaft in der Vergangenheit nicht selten mit Re- Deutsche Welle sei ein internationaler Medien- gierungen kooperiert habe, die verantwortlich konzern, dessen Aufgabe es sei, auch Europa zu waren für die Vernichtung der europäischen betrachten. Von 2002 bis 2014 habe es eigens Roma. Abschließend stellte er die Zeitschrift eine Radio-Sendung auf Romanes gegeben. In „Critical Romani Studies“ vor, die vor allem Ro- Bezug auf ethnische Minderheiten zog Schwartz ma-Wissenschaftler*innen eine Plattform bie- das Beispiel Siebenbürgen heran, wo die einzel- ten möchte. „Nichts über uns ohne uns“, so das nen Parallelwelten sich immer wieder über- Motto. So gehe es denn auch darum, die Wis- schnitten. Gesellschaftliche Integration sei „ein sensproduktion über Roma direkt mit dem Kampf gegen Windmühlen“ und ohne die Ro- Kampf gegen ihre gesellschaftliche Ausgrenzung ma-Dekade wären die Windmühlen wahrschein- zu verbinden. Alle Artikel seien frei zugänglich, lich zahlreicher geblieben, gab er zu bedenken. womit man auch mit den in seinen Augen aus- Schwartz plädierte für eine transnationale Ver- beuterischen Praktiken angelsächsischer Ver- netzung der Roma-Minderheit. lagshäuser brechen wolle. Seinen Gesprächspartner Pavlović forderte er Podiumsdiskussion: Strategien gegen unter Bezugnahme auf den Titel von dessen Or- kolonisiertes Bewusstsein ganisation auf: „Nehmen Sie Abstand von dem Der dritte Konferenztag startete mit einer Podi- ,Rrom‘ mit doppeltem ,R‘!“ Diese Schreibweise umsdiskussion zwischen Milan Pavlović vom sei eine Erfindung des rumänischen Politikers Rrroma-Informations-Centrum Berlin e.V. und Corneliu Vadim Tudor, der damit eine deutliche- Robert Schwartz von der Deutschen Welle. Die re Unterscheidung der Ethnonyme „Român” und Diskussion moderierte Gudrun Steinacker. Zu- „Rom“ habe erreichen wollen, so Schwartz.13 In nächst sprach Milan Pavlović, der an der Abfas- Bezug auf Rumänien schilderte Schwartz, dass sung einer Deklaration zur Roma-Dekade und die Korruption sich zwar nicht gezielt gegen Ro- zur Nationalen Strategie zur Teilhabe und Integ- ma richte, dass diese aber die Hauptleidtragen- ration der Sinti und Roma beteiligt war. Pavlović den der Korruption seien. Was die Emigration stammt aus Serbien, kam im Alter von 16 Jahren von Roma aus Südosteuropa angeht, hielt nach Deutschland und lebte etwa 15 Jahre nur Schwartz numerische Argumente für nicht ziel- geduldet in Deutschland. In dieser Zeit war er führend. Schließlich gab er mit Blick auf unga- vom Zugang zu Schule und Ausbildung ausge- risch- und deutschsprachige Schulen in Rumä- schlossen. Pavlović kritisierte, dass bei der Initi- nien zu bedenken, dass schulische Segregation ierung der „Dekade zur Integration der Roma“ nicht unter allen Umständen negativ sein müs- in Europa keine Roma-Expert*innen beteiligt se. waren. Teilweise habe sich die Situation in ein- zelnen Ländern verschlimmert, meinte er im Pavlović entgegnete Schwartz: „Sie haben sich Hinblick auf das Thema Antiziganismus. Leider mit Themen befasst, die für mich rassistisch stellte Pavlović dem interessierten Publikum klingen.“ Deshalb verlasse er nun das Panel. An den Inhalt der oben erwähnten Deklaration seinem Entschluss konnten weder die Interven- nicht näher vor. tion der Moderatorin noch eine Klarstellung von Schwartz etwas ändern. Es entstand in Folge Robert Schwartz war als Vertreter der Medien dessen eine Diskussion darüber, ob Schwartz‘ geladen und stellte gleich zu Beginn klar, dass Hinweis gerechtfertigt war oder nicht. Die De- 13 Rumänisch: „Rumäne“ und „Rom“. Im Rumänischen sind sich die Begrifflichkeiten ähnlicher als im Deutschen, daher kann neben der sprachlichen auch eine historische Verwandtschaft der beiden Grup- pen interpretiert werden. Dies führt bis heute zu starken Abgrenzungstendenzen in der rumänischen Mehrheitsgesellschaft, bis hin zu Forderungen, den pejorativen Terminus „țigan” (dt. „Zigeuner“) wieder offiziell zu gebrauchen.
Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte 139 batte wurde emotional geführt und aus dem rechtigten Teilhabe in diesen Bereichen hinder- Publikum kamen Wortmeldungen unterschied- ten. Neukölln sei eine „Ankunftskommune“, ak- lichster Qualität, die den Hinweis von Schwartz tuell lebten etwa 30.000 EU-Bürger*innen, un- begrüßten oder aber kritisierten. ter ihnen ca. 7.000 rumänische und bulgarische Staatsangehörige, in seinem Bezirk. „Unsere Abschlussdiskussion: Wo ein Wille ist, Systeme greifen erst, wenn es Probleme gibt“, ist auch ein Weg? Politikgestaltung im sagte Hikel und merkte kritisch an, dass kaum Spannungsbogen zwischen Einsicht, gutem gesehen werde, wo Teilhabe gut funktioniere. Willen und Mangel an Vision und Tatkraft Keinesfalls dürften Problemlagen ethnisiert Das Podiumsgespräch moderierte die Konfe- werden. renz-Organisatorin Dr. Ursula Rütten. Als Gäste auf dem Podium begrüßte sie die Beauftragte Schwester Lea Ackermann nannte das Beispiel des Berliner Senats für Integration und Migrati- kenianischer Frauen, um die sich ihr Verein on, Katarina Niewiedzial, den Neuköllner Be- kümmere: „Die Menschen haben nicht gelernt, zirksbürgermeister Martin Hikel, Dr. Herbert sich etwas zuzutrauen“, meinte sie und be- Heuß vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, schrieb die Idee internationaler Solidarität zwi- die SOLWODI-Vorsitzende Sr. Lea Ackermann schen Frauen, der sich SOLWODI verschrieben und die Bildungsforscherin Dr. Andrea Óhidy. habe. 2019 seien 554 Frauen aus Bulgarien und Rumänien unterstützt worden, die Opfer von Die Fraktionen im Deutschen Bundestag haben Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeu- – mit Ausnahme der AfD – im März 2019 Anträge tung geworden waren. Keine dieser Frauen habe zur Bekämpfung des Antiziganismus einge- diesen Weg frei gewählt, sie seien als Betrogene bracht. Der Antrag der CDU-/CSU-Fraktion und nach Deutschland gekommen, schilderte Acker- der SPD-Fraktion war dabei gleichlautend mit mann. Dabei spiele die ethnische Zugehörigkeit dem Antrag von Links-Fraktion, Grünen- und der Frauen keine Rolle. FDP-Fraktion. Ein Satz jedoch war im Antrag der Regierungsparteien, der vom Parlament ange- Dr. Herbert Heuß, wissenschaftlicher Leiter des nommen wurde, nicht enthalten: „Der Deutsche Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, wurde Bundestag verpflichtet sich, jede Form des Has- gefragt, was für eine entsprechende Politikge- ses gegen Sinti und Roma und dem Antiziganis- staltung getan werden könne. Es gebe „Armuts- mus schon im Entstehen in aller Konsequenz flecken“ in der EU, so sein Standpunkt. Solange entschlossen zu begegnen.“ Dies beschrieb Rüt- es keine Veränderungen in den Herkunftslän- ten, um sodann mit der Frage an Katarina Nie- dern der Roma-Migrant*innen gebe, könne man wiedzial einzusteigen, inwiefern denn die soge- in Deutschland wenig ausrichten. „Wir müssen nannte. Aufnahmegesellschaft auf die Aufnah- über die Ursachen der Armut reden“, forderte me von Migrant*innen vorbereitet werden müs- Heuß. Der Zentralrat wolle viele Erfahrungswer- se. „Wir sind jeden Tag bemüht, etwas dagegen te aus Deutschland und anderen europäischen zu machen“, erwiderte Niewiedzial in Bezug auf Ländern in den europäischen Prozess einbrin- anti-ziganistische Haltungen in der Gesell- gen. Heuß sprach auch die Unabhängige Exper- schaft. Die Kritik, dass die Politik zu wenig ge- tenkommission Antiziganismus an, deren Ein- gen Antiziganismus tue, sei berechtigt. Ankom- setzung der Deutsche Bundestag 2019 be- men müsse ermöglicht werden, und zwar vor schlossen hatte – dies sei bereits in der vorvor- Ort in den Bezirken. letzten Legislaturperiode geplant gewesen. Wichtig sei, dass die Aufgabe der Bekämpfung Daraufhin wurde Martin Hikel gefragt, wie nah des Antiziganismus nicht nur an die Migranten- er als Berliner Bezirksbürgermeister dem Volk Selbstorganisationen bzw. die Roma-Organisati- sei. Er warf in seiner Antwort die Grundfrage onen delegiert werde. Dies sei eine gesamtge- auf, wohinein sich Neuzuwandernde überhaupt sellschaftliche Aufgabe. integrieren sollten. Es gehe um Teilhabe in den Bereichen Arbeit, Wohnen, Bildung und Ge- Katarina Niewiedzial betonte an dieser Stelle, sundheit und die Frage sei, welche Barrieren wie wichtig es sei, dass die Betroffenen beteiligt bestünden, die Menschen an einer gleichbe- werden. Es gehe um Empowerment und Er-
140 Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte mächtigung. Sie erwähnte den Berliner Aktions- und diese Situation dennoch einem Leben im plan zur Einbeziehung ausländischer Roma, der Herkunftsland vorzögen. In der EU gebe es ein ein Landesprogramm zur Bekämpfung von Anti- enormes Armutsgefälle. Durch das „Wild-Cam- ziganismus werden solle.14 Auch sei es für Poli- pen im öffentlichen Raum“ entstehe jedoch ein tikgestaltung wichtig, statistische Erhebungen Nutzungskonflikt, dem er als politisch Verant- zur Situation der Roma und ihrer Diskriminie- wortlicher begegnen müsse. Martin Hikel plä- rungserfahrungen durchzuführen. Daher habe dierte abschließend dafür, dass die Armutsmig- man in Berlin die Registerstelle Antiziganismus ration auf die europäische Agenda gehöre.15 Er eingerichtet. kritisierte, dass es keine Strafen für Staaten gibt, welche die Menschenrechte missachten. Die Frage, was die Wissenschaft leisten könne, Für die kommende EU-Ratspräsidentschaft der wurde an Dr. Andrea Óhidy gerichtet. Wissen- Bundesrepublik wünschte er sich, dass Berlin schaft müsse grundsätzlich unabhängig von po- ein starkes Zeichen der Solidarität mit den Ro- litischen Interessen agieren und gleichzeitig Po- ma und Sinti setzt. litiker*innen bestmöglich beraten, sagte sie. In ihrer Forschung habe sie beispielsweise auch Fazit danach gefragt, welche Faktoren die gesell- Die internationale SOG-Konferenz war eine schaftliche Teilhabe von Roma positiv beein- Konferenz der vielen Stimmen. Fazit: In Bezug flusst hätten. In biographischen Interviews habe auf die Situation der Roma in Europa gibt es sie erfahren, dass etwa positive Erfahrungen nicht einen, sondern viele verschiedene Diskur- mit Lehrer*innen eine enorme Stärkung des se. Soll man von „Inklusion“, von „Integration“ Selbstbewusstseins bedeuten können. Sie äu- oder von „Teilhabe“ sprechen? Sollen Roma-Or- ßerte den Wunsch, dass wissenschaftliche Er- ganisationen an Prozessen beteiligt werden kenntnisse bei politischen Entscheidungen oder die Prozesse selbst gestalten – und wenn stärker berücksichtigt werden. Die Befunde ih- ja, wie können sie dazu befähigt werden? Ist res Bielefelder Kollegen Wilhelm Heitmeyer et- Antiziganismus die Ursache der aktuell margi- wa seien als „Bielefelder Alarmismus“ abgetan nalisierten Situation der Roma und wenn ja, ist worden – zu Unrecht. er die einzige Ursache dafür? Warum ist diese Minderheit so stark von Armut und sozialer Ex- Ursula Rütten wollte wissen, ob es Ansätze zur klusion betroffen – und zwar in allen Ländern Vermittlung der Kultur und Geschichte der Ro- Europas? ma und Sinti in den Lehrplänen der Schulen ge- be. Katarina Niewiedzial verwies hier auf aktuell Die bei der Konferenz vorgestellten Projekte äh- laufende Absprachen zwischen dem Berliner nelten sich in vielerlei Hinsicht. Die meisten Beirat der Roma und Sinti und der Senatsver- fördern frühkindliche Bildung, Teilhabe am Er- waltung für Bildung, Jugend und Familie. In ei- werbsleben, (Nach-)Qualifizierung, politische nem abschließenden Statement stellte sie au- Teilhabe und Identitätsbildung von Roma. Und ßerdem klar: „Roma leben seit Jahrhunderten in sie alle würden institutionelle Förderung benö- Europa“, und fragte, wieso derzeit so getan wer- tigen. Deutlich wurde auch, dass der Faktor Mig- de, als seien sie erst kürzlich von irgendwoher ration eine bedeutende Rolle spielt. Migration zugewandert. In Deutschland gelte es, einen in ihren vielen Gestalten – als Transmigration, Weg zu finden, um sowohl die autochthone Remigration, Immigration – entwurzelt die Men- Minderheit der Sinti und Roma als auch die schen. Sie verstärkt sowohl die soziale Ausgren- neuzuwandernden Roma aus Südosteuropa zung der Roma als auch die Ressentiments in gleichermaßen zu schützen und zu fördern. der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Ob als Re- migrant*innen in Kosovo oder als Neuzuwan- Bezirksbürgermeister Martin Hikel schilderte im dernde in Neukölln – Roma sind stets „die An- weiteren Verlauf des Gesprächs, dass viele EU- deren“. Die Erfahrung von Nicht-Zugehörigkeit Bürger*innen in Berlin im Freien übernachteten verbindet sie alle – ob sie nun innerhalb oder 14 Kurz: Aktionsplan Roma. 15 Im Original-Statement auf Englisch: „migration of poverty“.
Südosteuropa Mitteilungen | 01 – 02 | 2020 Berichte 141 außerhalb der EU leben. Insofern bleibt kritisch die Bundesrepublik während ihrer EU-Ratsprä- abzuwarten, welche Akzente die EU-Kommission sidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 hier ei- in Zukunft bei der Weiterentwicklung ihrer Ro- nen entscheidenden Beitrag wird leisten kön- ma-Integrations-Strategie setzen wird und ob nen. Panel Discussion at the German Bundestag What’s Next in the EU’s Enlargement Process? – Before the EU Summit. Organizers: Southeast Europe Association (Südosteuropa-Gesellschaft/SOG) / Europa-Union Deutschland Berlin, 3 March 2020 Report by Sara Marenčić, Berlin Introduction To address these and other questions, the After having postponed the matter of Albania Southeast Europe Association (SOG) and Eu- and North Macedonia’s EU accession negotia- ropa-Union Deutschland gathered representa- tions already in June 2019 and despite an over- tives from the Albanian and North Macedonian whelming support for a green light, the EU governments as well as politicians and diplo- Council was still unable to find unanimity in mats from Germany for a panel discussion at October 2019. This came as a great disappoint- the German Bundestag on 3 March 2020. As the ment and a bitter blow to the region: North coronavirus hadn’t paralyzed the world yet, rep- Macedonia’s Prime Minister Zoran Zaev re- resentatives from different political parties at signed as a consequence and called a snap local, state and national state levels, journal- election in his country. In a similar vein, his ists, diplomats, researchers, students, and ac- neighbouring counterpart Prime Minister Edi tivists filled the seats of the Europasaal in the Rama likened Albania to a jilted lover who has Paul-Löbe-Haus of the Bundestag. For those in- become an undue “collateral”1 in inter-EU pow- terested, a full recording of the livestream of er-struggles. the discussion can be viewed on the SOG’s facebook page, where the Association regularly Since then there had been statements and re- streams its events. leases that signalled the positive decision which had come at the EU Council’s videoconference of The audience and panellists were greeted by Dr. ministers for European affairs on 24 March 2020. Hansjörg Brey, the executive director of the However, damage had been done and trust in Southeast Europe Association. Brey sketched the EU considerably weakened. So in the after- out the difficult circumstances in which the ac- math of this “lourde erreur historique”, as Jean- cession process was taking place, namely the Claude Juncker put it, the questions arose: What spread of the coronavirus, the possibility of a has happened? What can be made of these sig- new refugee crisis and a new Balkan route, and nals sent by the EU? And finally, where will the the open questions regarding human rights in EU accession process go? Turkey. He highlighted the October 2019 Council meeting and recently published key documents: the 5 February 2020 Commission’s Communica- tion on “Enhancing the accession process – A 1 Citation in: The Guardian, https://www.theguardian.com/world/2020/feb/17/albania-pm-likens- country-jilted-lover-effort-join-eu-edi-rama.
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