Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz - www.linksfraktion.de

 
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Gutachten zum
                       Gesetzentwurf der
                       Bundesregierung
www.linksfraktion.de   zum Tarifeinheitsgesetz
                       von Prof. Dr. Wolfgang Däubler, Bremen
                       erstellt im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE
                       Berlin, 9.1.2015
Inhalt
1. Politische Schlussfolgerungerungen von                    C. Verfassungswidrigkeit der Tarifeinheit
Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender                  nach dem Mehrheitsprinzip?                               17
der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag,
aus dem Gutachten                                       3    I. Die Fragestellung im Einzelnen                        17

2. Zentrale Thesen aus dem Gutachten                         II. Der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG               17
im Überblick                                            4
                                                               1. Der Ausgangspunkt                                   17
3. Gutachten zum Gesetzentwurf
der Bundesregierung                                            2. Konkrete Konsequenzen                               18
zum Tarifeinheitsgesetz                                 5
                                                             III. Ausgestaltung oder Eingriff?                        20
A. Der Inhalt des Gesetzentwurfs                         5
                                                             IV. Rechtfertigung des Eingriffs mit dem Gedanken
I. Festlegung der Tarifeinheit                          5    der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie?               22

  1. Die Grundsatzentscheidung                           5     I. Die Ausgangsthesen                                  22

  2. Die zulässige Tarifpluralität                       5     2. Koalitionsfreiheit unter Funktionsvorbehalt?        22

  3. Unwirksamkeit der Tarifverträge der                      3. M
                                                                   angelnde Praktikabilität der Tarifpluralität? –
      Minderheitsgewerkschaft bei Tarifkollision        6         Die bisherigen Erfahrungen                          23

  4. Der Betrieb als maßgebende Einheit                 6      4. Aushöhlung der Friedenspflicht?                     25

  5. Anhörungs- und Nachzeichnungsrecht                 7      5. Zwischenergebnis                                    26

II. Flankierende Bestimmungen                           7    V. Hilfsweise: Prüfung am Maßstab der Verhältnis­
                                                             mäßigkeit                                                27
  1. Publizität                                         7
                                                               1. Geeignetheit des Mittels                            27
  2. Bestandsschutz                                     7
                                                               2. Erforderlichkeit des Mittels                        28
  3. Verfahrensrechtliche Umsetzung                     7
                                                               3. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne                29
III. Aussagen zum Arbeitskampfrecht                     9
                                                               4. Ergebnis                                            29
IV. Fragestellungen                                     9
                                                             D. Zusammenfassung                                       30
B. Die erwartbaren Konsequenzen
des Tarifeinheits­gesetzes                              10

1. Verhinderung von Streiks durch kleine Gruppen,
die Sondervorteile für sich herausholen wollen?         10

II. Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip als Mittel
zur Stabilisierung des Tarifsystems?                    12

III. Durchlöcherung des Flächentarifs                   13

IV. Gefährdung bestehender Tarifgemeinschaften          14

V. Die »neue Unübersichtlichkeit« – absehbare
Streitigkeiten über die Feststellung der Mehrheits­
gewerkschaft                                            14

                                                                                                                       1
Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Platz der Republik 1, 11011 Berlin
Telefon: 030/22751170, Fax: 030/22756128
E-Mail: fraktion@linksfraktion.de
V.i.S.d.P.: Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch
Autor: Prof. Dr. Wolfgang Däubler, Bremen
Layout/Druck: Fraktionsservice
Endfassung: 12. Januar 2015
Dieses Material darf nicht zu Wahlkampfzwecken
verwendet werden!
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2
1. Politische Schlussfolgerungerungen von Klaus Ernst,
stellvertretender Vorsitzender der Fraktion
DIE LINKE. im Bundestag, aus dem Gutachten
»Die geplante gesetzliche Regelung gestaltet die Rechte      Bestimmung »Minderheitsgewerkschaft« – bedroht die
einzelner Gewerkschaften aus Art. 9 (3) GG nicht aus,        existentielle Grundlage der betreffenden Gewerkschaft.
sondern schränkt sie in weitestem Umfang ein. Der            Die gesetzliche Vorgabe der Tarifeinheit ist der elegan-
faktische Entzug des Rechts, Tarifverträge abzuschließen     te Versuch Gewerkschaften auszuschalten, ohne sie
und dafür einen Arbeitskampf zu führen, stellt einen         explizit zu verbieten.
denkbar weitreichenden Eingriff dar, der nur noch durch
ein Gewerkschaftsverbot übertroffen werden könnte …          Das Gesetzesvorhaben beschneidet ebenfalls verfas-
Es handelt sich bei der geplanten Regelung nicht um          sungsmäßig verbriefte Freiheitsrechte des einzelnen
eine Ausgestaltung von Grundrechten, sondern um einen        Arbeitnehmers, wenn er Mitglied einer sogenannten
massiven Eingriff in die Koalitionsfreiheit …                »Minderheitsgewerkschaft« ist. Über die gesetzliche
                                                             Diskriminierung seiner Gewerkschaft kann er sein
Als Ergebnis bleibt daher festzuhalten, dass das vorge-      Grundrecht auf Koalitionsfreiheit nicht umsetzen. Trotz
schlagene Gesetz nicht geeignet ist, seine proklamierten     Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft erhält er den
Ziele zu erreichen. Es schafft im Gegenteil zusätzliche      gleichen Status wie ein Nichtorganisierter. Damit wird
Rechtsunsicherheit und differenziert ohne ausreichen-        seine Organisationsfreiheit ad absurdum geführt.
den Grund zwischen einzelnen Formen von Gewerkschaf-
ten.«                                                        Führende Gewerkschaftsfunktionäre, die dem ord-
                                Prof. Dr. Wolfgang Däubler   nungspolitischen Vorhaben ihre Zustimmung erteilt
                                                             haben, verkennen dabei ihre eigentliche Rolle: Es ist
Politische Schlussfolgerungerungen von Klaus                 nicht ihre Aufgabe, zum Arbeitsministerium von Frau
Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Frak-              Nahles parallel eine Co-Regierung zu bilden und für
tion Die Linke im Bundestag, aus dem Gutach-                 Ruhe im Land zu sorgen. Es ist nicht ihre Aufgabe, den
ten                                                          Geist der Großen Koalition auf alle Bereiche in unserer
                                                             Gesellschaft auszuweiten; und dies auch noch Hand in
»Es gibt keinen rechtlich begründbaren Bedarf für eine       Hand mit den Verbänden der Arbeitgeber.
gesetzliche Regelung der Tarifeinheit. Das Motiv dafür
ist politisch begründet. Vermeintlich gesetzliche Funk-      Unsere Verfassung garantiert Gewerkschaftsvielfalt.
tionen von Gewerkschaften, die es zu regeln gelte, sind      Dies impliziert eine Vielfalt von Tarifverträgen. Sie
frei erfunden. So ist es keineswegs gesetzliche Aufgabe      schützt zudem das Recht des Einzelnen, sich frei zu
von Gewerkschaften für Lohngleichheit im Betrieb zu          entscheiden, ob und wie man sich organisiert. Tarif-
sorgen, also eine ausgleichende Rolle innerhalb der Be-      autonomie lebt davon, dass sie nicht der politischen
legschaft auszuüben, wie der Gesetzentwurf unterstellt.      Kontrolle unterliegt. Diese erkämpften Freiheiten gilt es
Sinn und Zweck von Gewerkschaften ist es vielmehr die        zu schützen.
Interessen der in ihnen organisierten Arbeitnehmer ge-
genüber dem Arbeitsgeber durchzusetzen und darüber           Wir werden uns massiv dem Versuch widersetzen,
auch für mehr Verteilungsgerechtigkeit zwischen den          durch Verfassungsbruch die Freiheitsrechte des Ein-
Lagern zu sorgen. Die Streikmöglichkeit gehört daher         zelnen ebenso zu beschneiden, wie die Existenzfrage
zum existenziellen Wesen einer Gewerkschaft.                 von frei gebildeten Gewerkschaften. Dabei werden wir
                                                             uns direkt an Mitglieder und Funktionäre der Gewerk-
Wer den Streik über gesetzliche Regelungen für               schaften wenden, um deren Widerstand innerhalb der
bestimmte Gewerkschaften per se ausschließt – so             Interessenorganisationen zu stärken. Das vorliegende
geschehen im Gesetzentwurf zur Tarifeinheit über die         Gutachten wird dabei eine große Hilfe sein.«

                                                                                                                       3
2. Zentrale Thesen aus dem Gutachten im Überblick
(gekürzte Fassung)

Zentrale Thesen aus dem Gutachten                            5. Große Koalition fördert Destabilisierung der
im Überblick                                                 industriellen Beziehungen

1. Angriff auf die Freiheit und das Streikrecht              Eine gesetzlich verordnete Tarifeinheit würde keines-
                                                             wegs zur Stabilisierung der industriellen Beziehungen
Der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 9 Abs.3           beitragen. Die Mehrheitsposition muss keineswegs
GG umfasst die freie Entscheidung über die Organisa-         immer von einer DGB-Gewerkschaft errungen werden.
tionsform sowie den Abschluss von Tarifverträgen und         Die öffentliche Aufmerksamkeit sollte vielmehr darauf
die Vornahme von Maßnahmen des Arbeitskampfes.               gelenkt werden, dass Umstrukturierungen auf Arbeitge-
Wird das Recht zum Abschluss von Tarifverträgen und          berseite und die Beschäftigung atypischer Arbeitskräfte
zum darauf bezogenen Arbeitskampf entzogen, liegt ein        zu einem Abbau und einer »Zergliederung« des Tarifsys-
Grundrechtseingriff vor; der Spielraum für eine bloße        tems geführt haben.
»Ausgestaltung« ist bei weitem überschritten.
                                                             6. Bestehende Kooperationsbeziehungen und
2. Koalitionsfreiheit steht nicht unter allgemei­            Tarifgemeinschaften werden zerstört
nen Funktionsvorbehalt
                                                             Bestehen Kooperationsbeziehungen und Tarifgemein-
Eingriffe in die Koalitionsfreiheit sind nur zugunsten an-   schaften zwischen verschiedenen Gewerkschaften, so
derer verfassungsrechtlich geschützter Güter möglich,        werden diese zumindest mittelfristig zerstört, wenn
die bloße »Praktikabilität« genügt hierfür nicht.            eine Mehrheitsorganisation keinem Zwang zum Kom-
                                                             promiss mehr unterliegt.
3. Große Koalition will Gewerkschaften Tarif­
fähigkeit nehmen                                             7. Tarifeinheit schafft Rechtsunsicherheit

Der Regierungsentwurf will Minderheitengewerk-               Das Abstellen auf die größere Mitgliederzahl führt
schaften das Recht zum Abschluss von Tarifverträ-            entgegen dem ersten Eindruck zu einer schwer erträgli-
gen entziehen. Nach seiner Begründung muss damit             chen Rechtsunsicherheit. Bislang existiert kein wirklich
gerechnet werden, dass auch ein Streik jedenfalls dann       verlässliches Verfahren, wie in überschaubarer Zeit die
ausgeschlossen ist, wenn die Minderheitenposition der        Mitgliederzahl von zwei Gewerkschaften festgestellt
fraglichen Gewerkschaft offensichtlich ist oder in einem     werden soll. Auch gibt es keine einsichtigen Regeln für
arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren rechtskräftig        die Zeit bis zu einer denkbaren gerichtlichen Klärung.
festgestellt wurde.
                                                             8. Unverhältnismäßiger Eingriff in die Koaliti­
4. Angriff auf das System der Flächentarif­                  onsfreiheit
verträge
                                                             Die Realisierung des Gesetzentwurfs der Bundesregie-
Bestehen in einzelnen Betrieben unterschiedliche Mehr-       rung würde jedenfalls einen unverhältnismäßigen Ein-
heiten, wird der Flächentarif durchlöchert; an seine         griff in die Koalitionsfreiheit darstellen. Es fehlt bereits
Stelle tritt noch mehr als bisher ein bunter Flickentep-     die Geeignetheit, da die Förderung der Rechtssicher-
pich von vielfältigen Regelungen.                            heit nicht ersichtlich ist und die gewünschte Regelung
                                                             außerdem selektiven Charakter hat, d. h. im Aufbau
                                                             befindliche oder nach bestimmten Kriterien organisierte
                                                             Organisationen in besonderem Maße benachteiligt.

4
3. Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung
zum Tarifeinheitsgesetz
A. Der Inhalt des Gesetzentwurfs
Am 11. Dezember 2014 hat die Bundesregierung den             (3) Für Rechtsnormen eines Tarifvertrags über eine
»Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit« beschlossen,       betriebsverfassungsrechtliche Frage nach § 3 Absatz
der anschließend dem Bundesrat zugeleitet wurde (Bun-        1 und §117 Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes
desrats-Drucksache 635/14). Er will das Tarifvertrags-       gilt Absatz 2 Satz 2 nur, wenn diese betriebsverfas-
gesetz (TVG) ändern; daneben sollen Bestimmungen in          sungsrechtliche Frage bereits durch Tarifvertrag einer
das Arbeitsgerichtsgesetz aufgenommen werden, die            anderen Gewerkschaft geregelt ist.
eine Reihe von Folgeproblemen sowie mögliche Rechts-
streitigkeiten zum Gegenstand haben. Der Gesetzent-          (4) Eine Gewerkschaft kann vom Arbeitgeber oder
wurf ist mit einer eingehenden Begründung versehen,          der Vereinigung der Arbeitgeber die Nachzeichnung
die bei der Bestimmung seines Inhalts von erheblicher        eines mit ihrem Tarifvertrag kollidierenden Tarifver-
Bedeutung ist.                                               trags verlangen. Der Anspruch auf Nachzeichnung
                                                             beinhaltet den Abschluss eines die Rechtsnormen des
I. Festlegung der Tarifeinheit                               kollidierenden Tarifvertrags enthaltenden Tarifvertrags,
                                                             soweit sich die Geltungsbereiche und Rechtsnormen
1. Die Grundsatzentscheidung                                 der Tarifverträge überschneiden. Die Rechtsnormen
                                                             eines nach Satz 1 nachgezeichneten Tarifvertrags gelten
Kernstück der vorgeschlagenen Regelung ist ein neuer         unmittelbar und zwingend, soweit der Tarifvertrag der
§ 4a TVG, der den Grundsatz der Tarifeinheit fest-           nachzeichnenden Gewerkschaft nach Absatz 1 Satz 2
schreiben will. Seinem Wortlaut nach bestimmt er:            nicht zur Anwendung kommt.

§ 4a                                                         (5) Nimmt ein Arbeitgeber oder eine Vereinigung von Ar-
Tarifkollision                                               beitgebern mit einer Gewerkschaft Verhandlungen über
(1) Zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunk-       den Abschluss eines Tarifvertrags auf, ist der Arbeitge-
tion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von         ber oder die Vereinigung von Arbeitgebern verpflichtet,
Rechtsnormen des Tarifvertrags werden Tarifkollisionen       dies rechtzeitig und in geeigneter Weise bekanntzu-
im Betrieb vermieden.                                        geben. Eine andere Gewerkschaft, zu deren satzungs-
                                                             gemäßen Aufgaben der Abschluss eines Tarifvertrags
(2) 1Der Arbeitgeber kann nach § 3 an mehrere Tarif-         nach Satz 1 gehört, ist berechtigt, dem Arbeitgeber oder
verträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden           der Vereinigung von Arbeitgebern ihre Vorstellungen
sein. 2Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhalts-       und Forderungen mündlich vorzutragen.
gleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften
überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im         Während Absatz 1 die verschiedenen Zwecke von
Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags der-          Tarifverträgen aufzählt, die es nach Ansicht der Bundes-
jenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt            regierung zu beachten gilt, regelt Abs. 2 die Tarifeinheit
des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidie-        nach dem Mehrheitsprinzip und stellt damit den Kern
renden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem         des Gesetzgebungsvorhabens dar.
Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. 3Kollidieren
die Tarifverträge erst zu einem späteren Zeitpunkt, ist      2. Die zulässige Tarifpluralität
dieser für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich. 4Als
Betriebe gelten auch ein Betrieb nach §1 Absatz 1 Satz       § 4a Abs. 2 Satz 1 betont zunächst den Grundsatz, dass
2 des Betriebsverfassungsgesetzes und ein durch Tarif-       ein Arbeitgeber auch an mehrere Tarifverträge gebun-
vertrag nach § 3 Absatz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 des Betriebsver-   den sein kann, die er mit verschiedenen Gewerkschaf-
fassungsgesetzes errichteter Betrieb, es sei denn, dies      ten abgeschlossen hat. Dies ist etwa dann der Fall,
steht den Zielen des Absatzes 1 offensichtlich entgegen.     wenn er für zwei Berufsgruppen mit zwei Gewerkschaf-
5Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Betriebe von       ten Tarifverträge geschlossen hat, deren Geltungsbe-
Tarifvertragsparteien unterschiedlichen Wirtschafts-         reiche sich in keiner Weise überschneiden. Als Beispiel
zweigen oder deren Wertschöpfungsketten zugeordnet           kann etwa das Nebeneinander eines Tarifvertrags für
worden sind.                                                 Piloten mit der Vereinigung Cockpit und eines Tarifver-
                                                             trags für das Kabinenpersonal mit der UFO gelten. Mög-
                                                             lich ist nach Abs. 2 Satz 1 aber auch eine sog. gewillkür-
                                                             te Tarifpluralität; die beteiligten Gewerkschaften und
                                                             Arbeitgeber können sich beispielsweise dahingehend
                                                             verständigen, dass für eine bestimmte Gruppe von
                                                             Beschäftigten je nach Mitgliedschaft in einer bestimm-
                                                             ten Gewerkschaft unterschiedliche Tarifverträge gelten
                                                             sollen. So kann etwa die Deutsche Bahn mit EVG und

                                                                                                                      5
GDL eine Absprache der Art treffen, dass für die Zugbe-      So die Amtliche Begründung, Besonderer Teil, Zu § 4a
gleiter, die EVG-Mitglieder sind, die EVG-Tarifverträge,     Absatz 2, Abs. 9
und für die Zugbegleiter, die GDL-Mitglieder sind, die
GDL-Tarifverträge gelten sollen.                             Eine Ausnahme gilt nach Abs. 3 nur für betriebsver-
                                                             fassungsrechtliche Tarifnormen, die lediglich dann
Ebenso im Ergebnis die Amtliche Begründung zum Ge-           zurücktreten, wenn die Mehrheitsgewerkschaft ihrer-
setzentwurf, Besonderer Teil, Zu § 4a Absatz 2, 3. Absatz    seits betriebsverfassungsrechtliche Normen vereinbart.
                                                             Dies soll der »Kontinuität tarifvertraglich geschaffener
Über entsprechende Abmachungen wird aus dem Be-              betriebsverfassungsrechtlicher Vertretungsstrukturen«
reich der Privatbahnen berichtet.                            dienen. Die Frage, was bei erheblichen inhaltlichen Ab-
                                                             weichungen durch den zweiten Tarifvertrag geschieht,
3. Unwirksamkeit der Tarifverträge der Minder­               wird nicht angesprochen.
heitsgewerkschaft bei Tarifkollision
                                                             4. Der Betrieb als maßgebende Einheit
Soweit eine solche Abmachung nicht zustande kommt,
ist danach zu fragen, ob eine sog. Tarifkollision besteht.   Bezugsgröße für die Bestimmung der Mehrheit ist
Diese ist nach § 4a Abs. 2 Satz 2 dann gegeben, wenn         der Betrieb. Dieser wird im Gesetz nicht definiert. Die
sich die Geltungsbereiche von Tarifverträgen über-           Amtliche Begründung ist nicht völlig eindeutig, scheint
schneiden, die von verschiedenen Gewerkschaften              jedoch in die Richtung zu tendieren, dass der Betriebs-
abgeschlossen wurden und die inhaltlich nicht identisch      begriff des BetrVG maßgebend sein soll. So heißt es in
sind.                                                        Abs. 12 der Erläuterungen zu § 4a Abs. 2:

Beispiel: Für die angestellten Krankenhausärzte gibt es      »Der Betriebsbegriff, der für die Ermittlung der Mehr-
einen Tarifvertrag des Marburger Bundes, doch bezieht        heitsverhältnisse zugrunde zu legen ist, ist tarifrechtlich
auch der von Ver.di abgeschlossene TVöD die Ärzte mit        zu bestimmen. Danach ist ein Betrieb diejenige organi-
ein.                                                         satorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber mit
                                                             seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Hilfe
In diesem Fall soll allein der Tarifvertrag der Gewerk-      von technischen und immateriellen Mitteln bestimmte
schaft gelten, die im Betrieb die meisten in einem Ar-       arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Damit
beitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Der Tarifver-      entspricht der tarifrechtliche Betriebsbegriff in seiner
trag der Minderheitsgewerkschaft kann keine Wirkung          grundsätzlichen Ausrichtung dem betriebsverfassungs-
mehr entfalten. Maßgebend für die Bestimmung der             rechtlichen Betriebsbegriff, der infolge seiner Kontu-
Mehrheit ist der Zeitpunkt, in dem der jüngere Tarifver-     rierung durch die Rechtsprechung einen für die Praxis
trag abgeschlossen wurde. Kommt die Kollision erst           praktikablen Rahmen setzt. Damit dient als Anknüpfungs-
später zustande, so ist nach Satz 3 dieser spätere Zeit-     punkt für das Mehrheitsprinzip die Solidargemeinschaft,
punkt maßgebend. Erfasst der ältere Tarifvertrag nicht       die infolge der Zusammenfassung von Arbeitnehmerin-
die gesamte Belegschaft, klammert er beispielsweise          nen und Arbeitnehmern zur Verfolgung arbeitstechni-
Führungskräfte aus, so kann eine Führungskräftege-           scher Zwecke entsteht.«
werkschaft für diesen Bereich weiterhin Tarifverträge
abschließen.                                                 Für eine solche Übereinstimmung spricht weiter die
                                                             ausdrückliche Erwähnung des gemeinsamen Betriebes
So auch die Amtliche Begründung, Besonderer Teil, Zu §       nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BetrVG und der tariflich errich-
4a Absatz 2, Abs. 8                                          teten betriebsverfassungsrechtlichen Einheit nach §
                                                             3 Abs. 1 Nummer 1 bis 3 BetrVG; beide werden durch
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass jede           Absatz 2 Satz 4 ausdrücklich einem »Betrieb« im hier
Gewerkschaft ihren Zuständigkeitsbereich selbst              relevanten Sinne gleichgestellt. Damit ist zugleich die
bestimmen kann und deshalb ggf. in der Lage ist, einen       These abgelehnt, dass die Mehrheit in dem Bereich
Tarifvertrag auch auf eine bisher ausgeklammerte Grup-       zu bestimmen ist, in dem sich die beiden Tarifverträge
pe auszudehnen.                                              überschneiden.

Darauf verweist auch Konzen, Die Kodifikation der Ta-        So ausdrücklich auch die Amtliche Begründung, Allge-
rifeinheit im Betrieb, JZ 2010, 1036, 1038                   meiner Teil, III, 2. Abs.

Soweit wie im Beispielsfall der Kliniken eine Über-          Geht es beispielsweise um die Überschneidung zwi-
schneidung des Geltungsbereichs von Tarifverträgen           schen einem Ärztetarif und einem anderen für das gan-
verschiedener Gewerkschaften besteht, treten die             ze Krankenhaus geltenden Tarif, so wäre allein danach
Tarife der Minderheitsgewerkschaft generell zurück.          zu fragen, welche Organisation in dem (in den Regel
Welche Gegenstände tariflich geregelt sind, spielt keine     einen Betrieb darstellenden) Krankenhaus die Mehrheit
Rolle. Würde die Mehrheitsgewerkschaft beispielsweise        hat.
nur einen Lohntarif schließen, die Arbeitszeit aber un-
geregelt lassen, würde ein Arbeitszeittarif der Minder-      Der Unternehmer kann durch organisatorische Maßnah-
heitsgewerkschaft gleichwohl verdrängt.                      men in gewissem Umfang bestimmen, welche Einhei-
                                                             ten als Betrieb zu qualifizieren sind. Hier könnte eine

6
Versuchung bestehen, die Einheiten so zuzuschneiden,       II. Flankierende Bestimmungen
dass die weniger »angesehene« Gewerkschaft typi-
scherweise in der Minderheit bleibt. Der Gesetzentwurf     1. Publizität
nimmt zu solchen Gefahren nicht Stellung, wohl aber
zu einem möglichen Missbrauch der Gestaltungsbe-           Welcher Tarifvertrag im Betrieb anwendbar ist, muss
fugnis nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 – 3 BetrVG. So betont § 4a    dort bekannt gemacht werden. Dies kommt in der
Abs. 2 Satz 4, die Festlegung der Einheit nach § 3 Abs.    Neufassung des§ 8 TVG zum Ausdruck und soll der
1 BetrVG sei dann nicht maßgebend, wenn dadurch den        Rechtssicherheit dienen. Im Einzelnen lautet die geplan-
Zwecken der tariflichen Rechtsetzung im Sinne des §        te Bestimmung:
4a Abs. 1 zuwidergehandelt werde. Dies soll nach § 4a
Abs. 2 Satz 5 insbesondere dann der Fall sein, wenn die    §8
tariflich geschaffene Einheit Betriebe unterschiedlicher   Bekanntgabe des Tarifvertrags
Wirtschaftszweige zusammenfasst oder wenn der Tarif        Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die im Betrieb anwend-
dies in Bezug auf Teile der Wertschöpfungsketten von       baren Tarifverträge sowie rechtskräftige Beschlüsse
Betrieben unterschiedlicher Branchen macht. Damit          nach § 99 des Arbeitsgerichtsgesetzes über den nach
soll vermutlich einer Dienstleistungsgewerkschaft die      § 4a Absatz 2 Satz 2 anwendbaren Tarifvertrag im Be-
Möglichkeit genommen werden, Industriedienstleis-          trieb bekanntzumachen.
tungsunternehmen mit sonstigen Dienstleistungsbetrie-
ben zusammenzufassen, um sich so eine Mehrheit zu          Besondere Interpretationsprobleme sind nicht ersicht-
sichern.                                                   lich.

5. Anhörungs- und Nachzeichnungsrecht                      2. Bestandsschutz

Eine Gewerkschaft kann zwar für ihre Mitglieder in den     Bestehen schon bei Inkrafttreten des Gesetzes in einem
Betrieben, in denen sie Minderheit ist, keine wirksa-      Betrieb zwei Tarifverträge nebeneinander, die mit zwei
men Tarifverträge mehr abschließen, doch gibt ihr der      verschiedenen Gewerkschaften abgeschlossen wurden,
neue § 4a Abs. 4 und 5 zum (scheinbaren) Ausgleich         so bleiben diese bestehen. Für die Minderheitsgewerk-
bestimmte Rechte. Nach § 4a Abs. 5 hat sie ein Recht       schaft bedeutet dies, dass ihr Tarifvertrag auf dem
auf Anhörung durch die Arbeitgeberseite, wenn diese        bisher erreichten Stand »eingefroren« wird. Dies ist in
mit einer konkurrierenden Gewerkschaft in Verhandlun-      einem neuen § 13 Abs. 3 TVG festgelegt, der lautet:
gen über den Abschluss eines Tarifvertrags eintritt. Die
Gewerkschaft kann allerdings lediglich ihre Auffassung     § 13
mündlich darlegen; ein Erörterungs- oder Verhandlungs-     Inkrafttreten
recht besteht nicht.                                       (3) § 4a ist nicht auf Tarifverträge anzuwenden, die am

So ausdrücklich die Amtliche Begründung, Besonderer        [einsetzen: Tag nach der Verkündung dieses Gesetzes)
Teil, Zu § 4a Absatz 5, letzter Absatz                     gelten.

Diese Möglichkeit dürfte insbesondere von Kleinst-         3. Verfahrensrechtliche Umsetzung
gewerkschaften (etwa aus dem Bereich des CGB) in
Anspruch genommen werden.                                  a) Zuständigkeit
                                                           Der Gesetzentwurf will auch Änderungen im Arbeitsge-
Nach Abs. 4 steht der Minderheitsgewerkschaft ein          richtsgesetz (ArbGG) vornehmen, um die neuen Regeln
sog. Nachzeichnungsrecht zu, sofern ein bestehender        wirksam werden zu lassen. Besteht Streit oder Unge-
und von ihr abgeschlossener Tarifvertrag verdrängt         wissheit über den im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag,
wird. Sie kann auf diese Weise die unmittelbare und        soll dies im Rahmen eines Beschlussverfahrens geklärt
zwingende Wirkung des Tarifvertrags auf ihre Mitglie-      werden. Insoweit wird § 2a ArbGG um diesen neuen
der erstrecken. In der Praxis ist dies von eher geringer   Anwendungsfall ergänzt. Der Gesetzentwurf bestimmt
Bedeutung, da Arbeitgeber typischerweise im Arbeits-       insoweit:
vertrag den im Betrieb (allein) anwendbaren Tarifvertrag
in Bezug nehmen und so auch für Nicht- oder Andersor-      § 2a Absatz 1 wird wie folgt geändert:
ganisierte verbindlich machen.                             a) In Nummer 5 wird der Punkt am Ende durch ein
                                                           Semikolon ersetzt.
Vgl. auch Hufen, Gesetzliche Tarifeinheit und Streiks
im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der verfas-     b) Folgende Nummer 6 wird angefügt:
sungsrechtliche Rahmen, NZA 2014, 1237, 1239/40: Nur
bei Beteiligung an Tarifverhandlungen entsprechend der     »6. die Entscheidung über den nach § 4a Absatz 2 Satz
Mitgliederzahl ist Art. 9 Abs. 3 GG gewahrt. Ebenso im     2 des Tarifvertragsgesetzes im Betrieb anwendbaren
Ergebnis Schliemann NZA 2014, 1250, 1252; ähnlich Hro-     Tarifvertrag.«
madka, Wiederherstellung der Tarifeinheit – Die Quadra-
tur des Dreiecks, NZ 2014, 1105, 1109                      b) Beweismittel
                                                           Um festzustellen, welche Gewerkschaft im Betrieb die
                                                           höhere Mitgliederzahl hat, sind alle zulässigen Beweis-

                                                                                                                     7
mittel möglich. Allerdings besteht ein vom Gesetzgeber     eines Beschlussverfahrens sichern. Zentrale Bedeutung
anerkanntes Interesse daran, dass die Gewerkschaft         hat dabei die Vorschrift des Abs. 3, die der getroffenen
die Namen ihrer Mitglieder dem Arbeitgeber gegenüber       Entscheidung Rechtskraftwirkung gegenüber jeder-
nicht aufdecken muss. Deshalb wird ausdrücklich die        mann zuweist. Abs. 4 lässt unter erleichterten Voraus-
Möglichkeit geschaffen, die Zahl der Mitglieder durch      setzungen eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu.
eine notarielle Tatsachenbescheinigung zu belegen. In      Keine Aussage wird zu der Frage getroffen, wann verän-
§ 58 ArbGG soll deshalb ein Absatz 3 angefügt werden,      derte Umstände (z. B. ein gestiegener oder gefallener
der bestimmt:                                              Mitgliederbestand) eine Abänderung der Entscheidung
                                                           ermöglichen sollen. Auch die Begründung enthält dazu
»(3) Insbesondere über die Zahl der in einem Arbeits-      keine Aussagen. Der neue § 99 soll lauten:
verhältnis stehenden Mitglieder oder das Vertretensein
einer Gewerkschaft in einem Betrieb kann Beweis auch       Ȥ 99
durch die Vorlegung öffentlicher Urkunden angetreten       Entscheidung über den nach § 4a Absatz 2 Satz 2
werden.«                                                   des Tarifvertragsgesetzes im Betrieb anwendba­
                                                           ren Tarifvertrag
Aus der Begründung wird deutlich, dass es sich dabei       (1) In den Fällen des § 2a Absatz 1 Nummer 6 wird das
in der Regel um eine notarielle Erklärung handeln wird.    Verfahren auf Antrag einer Tarifvertragspartei eines
Ausdrücklich wird betont, dass der Notar nach § 18 Abs.    kollidierenden Tarifvertrags eingeleitet.
1 Bundesnotarordnung zur Verschwiegenheit verpflich-
tet ist.                                                   (2) Für das Verfahren sind die §§ 80 bis 82 Absatz 1 Satz
                                                           1, §§ 83 bis 84 und §§ 87 bis 96a entsprechend anzu-
Amtliche Begründung, Besonderer Teil, Zu Artikel 2, Zu     wenden.
Nummer 2, 4. Absatz
                                                           (3) Der rechtskräftige Beschluss über den nach § 4a
Zahlreiche Folgefragen wie z. B. das Problem, wie der      Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes im Betrieb an-
Notar ausgesucht wird, wer als »Arbeitnehmer« zählt        wendbaren Tarifvertrag wirkt für und gegen jedermann.
und wie der Notar die Richtigkeit der eingereichten Mit-
gliederliste überprüfen kann, sind nicht angesprochen.     (4) In den Fällen des § 2a Absatz 1 Nummer 6 findet eine
                                                           Wiederaufnahme des Verfahrens auch dann statt, wenn
Zu diesen Problemen insbesondere Bayreuther, Funkti-       die Entscheidung über den nach § 4a Absatz 2 Satz 2
onsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeits-   des Tarifvertragsgesetzes im Betrieb anwendbaren
rechtlichen Praxis? NZA 2013, 1395 ff.                     Tarifvertrag darauf beruht, dass ein Beteiligter absicht-
                                                           lich unrichtige Angaben oder Aussagen gemacht hat.
c) Durchführung des Beschlussverfahrens                    § 581 der Zivilprozessordnung findet keine Anwendung.«
Ein neuer § 99 ArbGG soll die praktische Durchführung

8
III. Aussagen zum Arbeitskampfrecht                           IV. Fragestellungen

Der Gesetzeswortlaut erwähnt das Arbeitskampfrecht            Im Folgenden stellt sich zunächst die Frage nach der
nicht. Allerdings stellt sich die Frage, ob ein Streik für    gesellschaftspolitischen Einordnung: Was kann die Re-
einen Tarifvertrag zulässig ist, der im Ergebnis gar keine    alisierung des Gesetzentwurfs bewirken, wie sehen die
Wirkung entfalten kann, da der von einer Gewerkschaft         Konsequenzen des geplanten Gesetzes für die industri-
mit größerer Mitgliederzahl abgeschlossene Tarifvertrag       ellen Beziehungen in Deutschland aus? Dazu unten B.
den Vorrang besitzt. Denkbar und durchaus nahelie-
gend ist allerdings die Situation, dass im Zeitpunkt          Weiter ist dem Problem nachzugehen, ob der Grundsatz
des Arbeitskampfes noch gar nicht feststeht, welcher          der Tarifeinheit in der geplanten Form mit der Koali-
Tarifvertrag der »repräsentative« und deshalb allein          tionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar ist. Dazu
wirksame sein wird. Die Amtliche Begründung hat das           unten C.
Problem gesehen. In den Erläuterungen zu § 4a Abs. 2
ist im 5. Absatz ausgeführt:

»Die Regelungen zur Tarifeinheit ändern nicht das
Arbeitskampfrecht. Über die Verhältnismäßigkeit von
Arbeitskämpfen, mit denen ein kollidierender Tarifvertrag
erwirkt werden soll, wird allerdings im Einzelfall im Sinne
des Prinzips der Tarifeinheit zu entscheiden sein. Der
Arbeitskampf ist Mittel zur Sicherung der Tarifautonomie.
Der Arbeitskampf dient nicht der Sicherung der Tarifau-
tonomie, soweit dem Tarifvertrag, der mit ihm erwirkt
werden soll, eine ordnende Funktion offensichtlich nicht
mehr zukommen würde, weil die abschließende Gewerk-
schaft keine Mehrheit der organisierten Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer im Betrieb haben würde. Im Rah-
men der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen.
Dazu können auch Strukturen des Arbeitgebers und die
Reichweite von Tarifverträgen gehören.«

Die bestehenden richterrechtlichen Regeln des Arbeits-
kampfrechts werden durch den Entwurf in der Tat nicht
formal geändert, doch wird eine Situation geschaffen,
durch die unter Anwendung der schon bisher anerkann-
ten Grundsätze Streiks von Minderheitengewerkschaf-
ten rechtswidrig werden. Dieser Fall ist – wenn man der
wiedergegebenen Formulierung folgt – jedenfalls dann
gegeben, wenn sich eine Gewerkschaft »offensichtlich«
in einer betrieblichen Minderheitenposition befindet.
Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn sie
nur eine kleinere Berufsgruppe organisiert und die
zahlenmäßig bei weitem überwiegenden sonstigen
Beschäftigten einen durchschnittlichen gewerkschaftli-
chen Organisationsgrad von 15 bis 20 % aufweisen. Erst
recht gilt dies, wenn durch rechtskräftige gerichtliche
Entscheidung festgestellt ist, dass eine andere Gewerk-
schaft die Mehrheitsposition im Betrieb innehat. In vie-
len Fällen wird die »Offensichtlichkeit« zweifelhaft sein,
weshalb die Gewerkschaft wegen des Haftungsrisikos
lieber auf einen Arbeitskampf verzichtet.

Darauf verweist Löwisch. BB Heft 48/2014 Die Erste Sei-
te, der im Übrigen auf die Möglichkeit eines Sympathie-
streiks verweist, wenn die Minderheitsgewerkschaft in
einzelnen Betrieben ausnahmsweise die Mehrheit stellt.

                                                                                                                  9
B. Die erwartbaren Konsequenzen des Tarifeinheits­gesetzes
1. Verhinderung von Streiks durch kleine Grup-              Nach der amtlichen Statistik der Bundesagentur für
pen, die Sondervorteile für sich herausholen                Arbeit gingen in dem fraglichen Zeitraum pro Jahr
wollen?                                                     zwischen 11.000 und 429.000 Arbeitstage durch Streik
                                                            verloren. Die Dimension dieser Ausfälle wird deut-
Das am häufigsten geäußerte Argument zugunsten der          lich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass bei einer
gesetzlichen Schaffung der Tarifeinheit ist die Verhin-     Gesamtzahl von ca. 36 Mio. abhängig Erwerbstätiger
derung von Streiks kleiner Gruppen, die ihre Schlüssel-     36.000.000 Arbeitstage verloren gegangen wären, wenn
position ausnutzen könnten, um auf Kosten der Allge-        jeder Arbeitnehmer einen Tag lang gestreikt hätte. Im
meinheit die eigenen wirtschaftlichen Interessen zu         Einzelnen verteilten sich die streikbedingten Ausfalltage
befriedigen. Die Tatsache, dass 200 Vorfeldmitarbeiter      wie folgt:
den ganzen Flugverkehr auf dem Frankfurter Flughafen
lahm legen können, vermag diese Befürchtung beson-
ders realistisch erscheinen zu lassen.
                                                            Zahlen bei Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., Baden-
Bevor man die These von dem »Egoistentrip« auf Kosten       Baden 2011, § 8 Rn 30; WSI-Tarifarchiv, Tariftaschenbuch
der Übrigen vertritt, sollte man zunächst die Erfahrun-     2014, Abschnitt 4.2, abrufbar unter www.boeckler.de
gen berücksichtigen, die bisher mit Spartenorganisatio-
nen und ihrer Tarifpolitik gemacht wurden. Die »neuen«         2000		                  11.000
Gewerkschaften existieren nicht erst seit einigen Mona-        2001		                 27.000
ten; wäre dies der Fall, müsste man für Spekulationen          2002		                310.000
Verständnis haben. Vielmehr bestehen sie als selbstän-         2003		                163.000
dig agierende Tarifparteien zum Teil schon länger als          2004		                  51.000
zehn Jahre.                                                    2005		                 19.000
                                                               2006		               429.000
- Die Vereinigung Cockpit kündigte im Jahr 1999 die           2007		               286.000
   tarifpolitische Vertretung durch die DAG auf und ver-       2008		                132.000
   folgte von da an selbständig ihre Ziele.                    2009		                 64.000
                                                               2010		                 26.000
- Im Jahre 2001 löste die GDL die Tarifgemeinschaft mit       2011		                 70.000
   der damaligen GdED auf und tritt seither als eigen-         2012		                 86.000
   ständige Tarifpartei in Erscheinung.
                                                            Damit sind allerdings kurzfristige Arbeitsniederlegun-
- Im Jahre 2002 kündigten die Fluglotsen die Zusammen-     gen von bis zu einem Tag nicht erfasst. Bezieht man sie
   arbeit mit ver.di auf und gründeten 2004 die GdF.        ein, so erhöhen sich die Streiktage um das Zwei- bis
                                                            Dreifache,
- Seit 2005 kämpft der Marburger Bund für eigene Tarif-
   verträge, nachdem er zuvor die Kooperation mit ver.di    WSI-Tarifarchiv, Tariftaschenbuch 2012, a. a. O., Abschnitt
   beendet hatte.                                           4.3

- Die UFO wurde als eigenständige Organisation schon       doch ist zu berücksichtigen, dass damit auch Arbeits-
   im Jahre 1992 gegründet, ohne dass es zu einer länger-   niederlegungen von ein oder zwei Stunden Dauer so
   fristigen Bindung an eine größere Organisation gekom-    mitgezählt werden, als wenn sie einen Tag gedauert
   men wäre. Ihre eigenständige Tarifpolitik begann 1999.   hätten. Sogar auf dieser Grundlage gehört die Bun-
                                                            desrepublik weiter zu den streikärmsten Ländern in
- Seit 1997 verhandelt die VAA allein mit dem BAVC         Europa. Bezieht man die verlorenen Arbeitstage auf
   über den Akademiker-Tarifvertrag, wobei es allerdings    jeweils 1.000 Beschäftigte (wie dies den auch in andern
   primär um Konzessionen ging, die die IG Chemie-          Ländern praktizierten statistischen Methoden ent-
   Papier-Keramik (heute: IG BCE) nicht als akzeptabel      spricht), so liegt Deutschland selbst nach den WSI-
   betrachtete.                                             Kriterien im Durchschnitt der Jahre 2005 – 2012 bei 16
                                                            Tagen, während Großbritannien bei 26, Norwegen bei
Darstellung im Anschluss an Hensche, Hände weg von          59, Spanien bei 65 und Belgien bei 73 liegen. Spitzenrei-
Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und Streikrecht! Über    ter sind Finnland mit 84, Dänemark mit 106, Kanada mit
das Gesetz der Bundesregierung zur Tarifeinheit, Schrif-    117 Tagen und Frankreich mit 150 Tagen.
tenreihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2014, S. 9 f.
                                                            Angaben nach Bispinck/WSI-Tarifarchiv (Hrsg.), WSI-
Im Zeitraum zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2010        Tarifhandbuch 2014, Düsseldorf 2013, Abschnitt 4.4
haben die Arbeitsniederlegungen trotz der »Ausdiffe-
renzierung der Gewerkschaftslandschaft« nicht zuge-         Eine Steigerung der Streikhäufigkeit im Vergleich zu
nommen. Vielmehr bewegten sie sich wie schon zuvor          den 1990-er und 1980-er Jahren ist nicht feststellbar.
weiter in einem recht bescheidenen Rahmen.

10
Ebenso im Ergebnis der Abg. Kolb (FDP) und der Abg.        zung der Lohnpolitik durch die Deutsche Bundesbank,
Vogel (FDP) in der Aktuellen Stunde des Bundestags vom     die die Gewerkschaften zu höheren Lohnabschlüssen
7.3.2012, Protokolle des Deutschen Bundestags, 17. WP,     aufgefordert hat, s. https://magazin.spiegel.de/digital/
164. Sitzung S. 19484 bzw. S. 19488                        index_SP.html#SP/2014/30/128239323

Im Gegenteil: Zahlen wie im Jahre 1997 (534.000), 1993     Bei rein abstrakter Betrachtung wäre es sicherlich
(593.000), 1992 (1.545.000) und 1984 (5.617.595) wurden    denkbar, dass eine kleine Gruppe von Beschäftigten
während des ganzen Jahrzehnts von 2000 bis 2010 und        ihre Schlüsselposition dazu benutzt, um ausschließlich
auch in den folgenden Jahren bei weitem nicht erreicht.    für sich ungewöhnlich gute Vergütungen und Arbeits-
                                                           bedingungen zu erzwingen. Etwas Derartiges ist jedoch
Auch die These, »kleine Gruppen« würden Sondervor-         bisher nicht geschehen und wird aller Voraussicht
teile für sich herausholen und ihre Marktmacht rück-       nach auch in Zukunft nicht eintreten. Dies hängt damit
sichtslos ausnutzen, lässt sich empirisch nicht belegen.   zusammen, dass die Gewerkschaftsmitglieder sowie die
                                                           Streikenden generell darauf angewiesen sind, für ihre
Ebenso Henssler RdA 2011, 65, 70: Ein allgemeiner Trend    Forderungen Unterstützung auch in der Öffentlichkeit
zu rücksichtslosem Gruppenegoismus ist bislang nicht       zu finden. Würde es daran völlig fehlen, würde im Ge-
erkennbar. Abwegig Hufen, Gesetzliche Tarifeinheit und     genteil die Öffentlichkeit bis hin zu den Arbeitskollegen
Streiks im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der     ihr Verhalten deutlich ablehnen, wäre auch für »Schlüs-
verfassungsrechtliche Rahmen, NZA 2014, 1237: Spezialis-   selkräfte« kein Erfolg erreichbar. Die Gegenseite wäre
tengewerkschaften können »ohne eigenes Risiko« ganze       nicht zu einem Kompromiss bereit, die eigene Aktion
Bereiche der Infrastruktur lahmlegen.                      stünde noch stärker als sonst in der Gefahr, im Wege
                                                           der einstweiligen Verfügung verboten zu werden. Es
Nur der Vereinigung Cockpit, dem Marburger Bund, der       verwundert daher nicht, dass sich die Forderungen der
GDL und der GdF ist es bislang gelungen, Tarifverträge     »neuen« Gewerkschaften nicht qualitativ von denen der
abzuschließen, die über das von den DGB-Gewerkschaf-       DGB-Gewerkschaften unterscheiden; in der Regel geht
ten erreichte Niveau hinausgehen.                          es nur darum, die vorhandenen wirtschaftlichen Spiel-
                                                           räume etwas stärker auszuschöpfen und sich weniger
So die zusammenfassende Darstellung bei Schroeder/         durch Loyalitäten binden zu lassen.
Kalass/Greef, Berufsgewerkschaften in der Offensive.
Vom Wandel des deutschen Gewerkschaftsmodells,             Auch der Egoismus-Vorwurf hat somit keine Grundlage.
Wiesbaden 2011, S. 262. Die Angaben zur GdF beruhen        Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die Gewerk-
auf einer Auskunft an den Verf. Dazu weiter Hensche, a.    schaft der Flugsicherung (GdF) Tarifverträge nicht nur
a. O., S. 10 f.                                            für ihre Kerntruppe, die Lotsen, abschließt, sondern
                                                           auch für die bei der DFS beschäftigten Verwaltungs-
Der »Vorsprung« führte aber nicht dazu, dass die           kräfte, die ihrerseits nicht dieselbe starke Verhand-
Arbeitgeberseite in wirtschaftliche Schwierigkeiten        lungsposition wie die Lotsen besitzen. Das Argument
gekommen wäre. Vielmehr liegt der Schluss nahe,            »Es wird nur um Privilegien gestreikt.« geht daher ins
dass lediglich die Verteilungsspielräume ausgeschöpft      Leere.
wurden.

Ebenso Henssler RdA 2011, 65, 70: Ausgleich »eines ge-
wissen Rückstaus in der Lohnentwicklung«. Zur Einschät-

                                                                                                                  11
II. Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip als              Auch im Bereich der Zeitungsredaktionen hat nach
Mittel zur Stabilisierung des Tarifsystems?                 verbreiteter Einschätzung der Deutsche Journalisten-
                                                            Verband (DJV) mehr Mitglieder als ver.di.
Mit dem Gedanken, das Erstreiken von Sondervorteilen
zu vermeiden, ist das Argument verwandt, die industri-      Mitgeteilt bei Hensche, Wider die Tarifeinheitsfront, Blät-
ellen Beziehungen könnten in der Bundesrepublik nur         ter für deutsche und internationale Politik, Heft 8/2010
dann stabil bleiben, wenn auf Arbeitnehmerseite nicht       S. 13,16
eine Vielzahl von Organisationen existieren würde: Wä-
ren beispielsweise fünf verschiedene Gewerkschaften         Weiter lässt sich nicht ausschließen, dass die gesetz-
zu unterschiedlichen Zeiten in der Lage, für ihre Mit-      liche Einführung der Tarifeinheit nach dem Mehrheits-
glieder Tarifverhandlungen zu beginnen und ggf. einen       prinzip zu einem Zusammenschluss der bestehenden
Streik zu organisieren, so würde das Unternehmen in         Berufsgewerkschaften bei den Fluggesellschaften
eine Situation des permanenten Verhandeln-Müssens           und Flughafenbetreibern führen könnte, sodass am
versetzt. Dies würde im Vergleich zum Status quo viele      Ende des Tages die »Flugverkehrsgewerkschaft« mehr
Dispositionen erschweren und sich ggf. negativ auf die      Mitglieder als die DGB-Gewerkschaft ver.di aufweisen
Rentabilität auswirken. Hätte man dagegen nur einen         würde.
Partner, so ließe sich eine Einigung erreichen, die für
ein bis zwei Jahre jede weitere Auseinandersetzung          S. den Vorschlag der Flugbegleiter-Gewerkschaft UFO
ausschließt. Dabei mag in der Regel die Vorstellung         vom 4. November 2014, wiedergegeben bei http://www.
eine Rolle spielen, dass die Funktion des einheitlichen     zeit.de/news/2014-11/04/gewerkschaften-flugbegleiter-
Ansprechpartners von einer DGB-Gewerkschaft, und            wollen-neue-gewerkschaft-fuerluftverkehr-04131213
nicht von einer der »lästigen« Spartengewerkschaften
wahrgenommen würde.                                         Neustrukturierungen dieser Art stellen keinen Beitrag
                                                            zur Stabilität der Arbeitsbeziehungen dar, weil ggf. neue
Schon die Annahme, die DGB-Gewerkschaften würden            Verhaltensmuster auf beiden Seiten dominieren, die zu
durchweg vom Mehrheitsprinzip profitieren, lässt sich       unerwarteten Konflikten führen können.
empirisch nicht belegen. So ist es etwa denkbar, dass
in einem Krankenhaus der Marburger Bund und nicht           Im Bereich der Eisenbahn befindet sich zwar die GDL
etwa Ver.di die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder        in einer strukturellen Minderheitenposition, doch wird
stellt.                                                     es ihr voraussichtlich gelingen, eine Abgrenzung der
                                                            Tätigkeitsfelder im Verhältnis zur EVG und damit eine
Unterstellt, in einem großen Klinikum seien 200 Ärzte und   »gewillkürte Tarifpluralität« zu erreichen. Diese kann
800 Pflege- und Verwaltungskräfte tätig. Der Marburger      auch die Variante einschließen, dass es für die Zugbe-
Bund habe einen Organisationsgrad von 80 %, so dass         gleiter eine Doppelzuständigkeit von GDL und EVG gibt.
sich 160 »Organisierte« ergeben. Die Gewerkschaft ver.di    Abmachungen dieser Art sollen weiterhin den Vorrang
habe jedoch nur einen Organisationsgrad von 15 %, was       vor dem gesetzlichen Prinzip der Tarifeinheit haben.
120 Personen ergibt. Gemäß dem Grundsatz der Tarifein-
heit nach dem Mehrheitsprinzip gelten die Tarifverträge     Dazu oben A I 2
des Marburger Bundes.

12
III. Durchlöcherung des Flächentarifs                         Statt des berechenbaren einheitlichen Flächentarifs
                                                              könnte ein Flickenteppich unterschiedlicher Abmachun-
Eine weitere Folge der Tarifeinheit nach dem Mehrheits-       gen entstehen. Im einen Betrieb würde der Branchen-
prinzip liegt in der Gefahr, dass der Flächentarif zahlrei-   tarif der Gewerkschaft A, im anderen der der Gewerk-
che Durchbrechungen erfährt. Insbesondere in Betrie-          schaft B gelten. Dies wäre auch innerhalb desselben
ben mit geringem Organisationsgrad kann unschwer              Unternehmens denkbar, was eine neue Form von »Tarif-
die Situation eintreten, dass eine an sich mitglieder-        pluralität« darstellen würde. Dazu kämen Firmentarife,
schwache Organisation, die in der Branche eine eher           die je nach Mehrheitsverhältnissen die Flächentarife
unbedeutende Rolle spielt, plötzlich die Mehrheit der         verdrängen würden.
Gewerkschaftsmitglieder stellt. Da der Gesetzentwurf
nicht zwischen »Mehrheit« und »starker Mehrheit« diffe-       Auch für die Arbeitgeberseite würde dies wenig über-
renziert, könnte dieser Fall schon dann eintreten, wenn       zeugende Resultate hervorbringen, soweit eine Steue-
die Gewerkschaft A vier, die Gewerkschaft B dagegen           rung der Mitgliederentwicklung nicht beabsichtigt ist
nur drei Mitglieder hat. Außerdem ist auch an den Fall        oder misslingt. In die Arbeitsverträge eine Bezugnah-
zu denken, dass der Arbeitgeber unter solchen Umstän-         meklausel aufzunehmen, die immer auf denselben Flä-
den einigen ihm wohl gesonnenen Arbeitnehmern nahe            chentarif verweist, hätte ggf. kostspielige Nebenfolgen:
legt, sich der für ihn »pflegeleichteren« Gewerkschaft        Würde ein anderer Tarif wegen des Grundsatzes der
anzuschließen und sich so die bisherigen Mehrheiten           Tarifeinheit eingreifen, könnte die Verweisung nur im
verschieben.                                                  Rahmen des Günstigkeitsprinzips wirksam bleiben. Da-
                                                              bei müsste man die einzelnen Sachgruppenregelungen
Beispiel: Im Betrieb sind 200 Arbeitnehmer beschäftigt.       in beiden Tarifverträgen vergleichen – eine schwierige
20 von ihnen gehören der IG Metall, 8 der CGM an. Eini-       und »streitanfällige« Angelegenheit.
ge leitende Angestellte rühren die Werbetrommel für die
CGM; im Betrieb verbreitet sich das Gerücht, wenn die         Zur Handhabung des Günstigkeitsprinzips nach dem
CGM »an die Macht käme«, sei das 13. Monatsgehalt für         Sachgruppenvergleich s. Däubler-Deinert, TVG, 3. Aufl.,
alle Zeiten gesichert. Daraufhin treten 15 Arbeitnehmer       Baden-Baden 2012, § 4 Rn 657 ff.; Wiedemann-Wank, TVG,
(darunter 10 AT-Angestellte) der CGM bei, die damit zur       7. Aufl., München 2007 § 4 Rn 470 ff
Mehrheitsgewerkschaft wird.
                                                              Die gewünschte Stabilität würde unter diesen Bedin-
Es erstaunt, dass in den Stellungnahmen der IG Metall         gungen nicht eintreten, sondern im Gegenteil unter der
zu dem Gesetzentwurf an keiner Stelle eine solche             durch Gesetz eingeführten Tarifeinheit leiden.
Konstellation bedacht wird, obwohl sie sich im Kfz-
Handwerk unschwer realisieren lässt. Erst recht gilt
dies für viele Dienstleistungsbetriebe.

                                                                                                                     13
IV. Gefährdung bestehender Tarifgemeinschaf-                 V. Die »neue Unübersichtlichkeit« – absehbare
ten                                                          Streitigkeiten über die Feststellung der Mehr-
                                                             heitsgewerkschaft
Die Diskussion um die Tarifeinheit ist durchweg von
dem Gedanken bestimmt, potentielle Störungen vom             Im deutschen Recht gibt es wie auch in anderen euro-
System der industriellen Beziehungen fernzuhalten.           päischen Ländern aus guten Gründen kein staatliches
Dabei fällt völlig unter den Tisch, dass es funktionieren-   Register, aus dem Zahl und Namen der Gewerkschafts-
de Kooperationsbeziehungen zwischen verschiedenen            mitglieder ersichtlich sind. Eine solche »Publizität« wür-
gewerkschaftlichen Organisationen gibt, die durch das        de die Autonomie der gewerkschaftlichen Organisation
geplante gesetzliche Prinzip der Tarifeinheit in Frage       aufs schwerste beeinträchtigen und die Mitglieder ggf.
gestellt wären. Reichold hat in seiner Studie                repressiven Maßnahmen aussetzen.

Gelebte Tarifpluralität statt verordneter Tarifeinheit.      Die Mitglieder der Gewerkschaften sind in (unterschied-
Zu den Auswirkungen gesetzlicher Tarifeinheit auf die        lichen) Betrieben als abhängig Beschäftigte tätig. Ihr
vorhandene Tarifpluralität in der Praxis des Öffentlichen    von der Verfassung, d. h. von Art. 9 Abs. 3 GG aus-
Dienstes, herausgegeben von dbb tarifunion, Berlin 2010,     drücklich akzeptiertes Grundanliegen ist die »Wahrung
S. 6 ff                                                      und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedin-
                                                             gungen«, die sich häufig nur durch Konzessionen der
zwei Beispiele aus dem öffentlichen Dienst genannt,          Arbeitgeberseite realisieren lässt, die Kosten verursa-
nämlich den Flughafen Frankfurt-Hahn und den Nah-            chen. Von daher besteht die nahe liegende Gefahr, dass
verkehr in Bayern, in denen zwei Gewerkschaften ohne         das Management die Mitgliedschaft in der Gewerk-
größere Konflikte zusammengearbeitet haben, um den           schaft wenig schätzt und ggf. Maßnahmen ergreift,
Interessen ihrer Mitglieder zum Erfolg zu verhelfen. Mit     die die Beschäftigten von einem Engagement in der
Recht weist er auf die allgemeine und nie auszuschlie-       Gewerkschaft abhalten sollen. Selbst wenn eine solche
ßende Gefahr hin, dass die Interessen bestimmter Teile       Entwicklung im konkreten Fall nicht droht und die
des Mitgliederspektrums nicht ausreichend berücksich-        Arbeitgeberseite die gewerkschaftliche Interessenver-
tigt werden. Diese Personengruppen müssten deshalb           tretung im Grundsatz akzeptiert, besteht gleichwohl die
die Chance haben, sich nach alternativen Möglichkeiten       Gefahr, dass einzelne Arbeitnehmer Nachteile auf sich
umzusehen.                                                   zukommen sehen, wenn sie sich als Gewerkschaftsmit-
                                                             glieder zu erkennen geben. Der Einzelne befindet sich
Reichold, a. a. O., S. 9                                     ersichtlich in einer asymmetrischen Machtbeziehung.

Würden sie sich in einem eigenen Verband organisie-          Dies hat auch die Rechtsprechung des BAG im Zusam-
ren, könnten sie gemeinsam mit ihrer ursprünglichen          menhang mit der Frage anerkannt, wie die Gewerk-
Gewerkschaft ein Forderungspaket in die Verhandlun-          schaft den Beweis führen kann, dass sie »im Betrieb
gen einbringen, das ihre Interessen sehr viel besser         vertreten« ist, also dort zumindest über ein Mitglied
abbildet als dies eine einzige Organisation tun könnte.      verfügt.
Würde das Prinzip der Tarifeinheit nach dem Mehrheits-
prinzip gelten, würde eine in den meisten Betrieben          BAG 25. 3. 1992 – 7 ABR 65/90 – DB 1993, 95 ff
dominierende Gewerkschaft das Interesse verlieren,
mit einer Minderheitsgewerkschaft zu kooperieren. Wer        Ihr wird in diesem Zusammenhang das Recht zu-
allein handeln kann, wird bei Meinungsverschieden-           erkannt, das Mitglied als solches nicht namhaft zu
heiten keine Kompromisse eingehen, sondern sich auf          machen, sondern die Tatsachenbescheinigung eines
sein einseitiges Entscheidungs- und Gestaltungsrecht         Notars vorzulegen, aus der sich ergibt, dass jedenfalls
zurückziehen.                                                ein Beschäftigter aus dem Betrieb gleichzeitig über eine
                                                             gewerkschaftliche Mitgliedschaft verfügt. Daneben
Reichold, a. a. O., S. 11                                    kann das »Vertreten-Sein« auch auf anderem Wege wie
                                                             z. B. durch Vernehmung eines Gewerkschaftssekretärs
Die Kooperation, die unterschiedlich akzentuierte Inte-      bewiesen werden. Das BVerfG hat diese Vorgehens-
ressen zusammen führt, würde zerstört. Im besten Fall        weise gebilligt und das Grundrecht des Arbeitgebers
könnte sie einige Zeit als »Kooperation bis auf Widerruf«    auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG als nicht
weiterexistieren.                                            verletzt angesehen.

                                                             BVerfG 21. 3. 1994 – 1 BvR 1485/93 – AP Nr. 4a zu § 2
                                                             BetrVG 1972 = AuR 1994, 313

                                                             Was bei der Feststellung eines einzelnen Gewerk-
                                                             schaftsmitglieds gut funktionieren kann, ist deshalb
                                                             noch lange nicht geeignet, gewissermaßen flächende-
                                                             ckend das Vorhandensein von Gewerkschaftsmitglie-
                                                             dern mit Verbindlichkeit zu klären. Der BDA/DGB-Vor-
                                                             schlag war davon ausgegangen, bei der Feststellung der
                                                             Mehrheitsverhältnisse gleichfalls einen Notar einzu-

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schalten, der von der fraglichen Gewerkschaft eine          Notar beauftragen? Gibt es hier besondere Vorausset-
Mitgliederliste erhält und deren Richtigkeit dadurch        zungen für die Unparteilichkeit? Wie lange kann das
überprüft, dass er stichprobenweise einzelne Personen       »Feststellungsverfahren« durch den Notar dauern? Was
anruft. Er sollte über die Identität der fraglichen Per-    geschieht, wenn eine beträchtliche Zahl von Arbeitneh-
sonen Stillschweigen bewahren. Dies scheint auf den         mern von ihrem informationellen Selbstbestimmungs-
ersten Blick ein plausibles Vorgehen zu sein, weshalb       recht Gebrauch macht und jede Auskunft verweigert?
es auch durch den Gesetzentwurf aufgegriffen wird.          Welche Kosten sind mit dem Verfahren verbunden?
                                                            Was soll während seiner Dauer geschehen? Müssen
S. oben A II 3 b                                            beide Gewerkschaften oder muss zumindest die sich
                                                            der Zählung entziehende auf Arbeitskampfmaßnahmen
Bei näherem Hinsehen ergeben sich gewichtige Beden-         verzichten?
ken. Zum einen ist denkbar, dass sich einzelne Perso-
nen nicht oder nicht direkt telefonisch erreichen lassen.   Die Dinge komplizieren sich weiter, wenn zwei ver-
Innerbetriebliche Recherchen (etwa eine Anfrage an          schiedene Notare eingeschaltet werden, um den
einen Abteilungsleiter: »Gibt es bei Ihnen einen Franz X.   Mitgliederbestand ein und derselben Gewerkschaft
Müller?«) verbieten sich, weil dies den Rückschluss auf     festzustellen. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass
eine potentielle Gewerkschaftsmitgliedschaft zulassen       eine Gewerkschaft freiwillig einen Notar beauftragt,
würde. Hausbesuche wären außerordentlich aufwendig          das Gericht im Beschlussverfahren aber einen zweiten
und deshalb kostenintensiv. Zum zweiten ist es denk-        Notar heranzieht, um den Verdacht einer Beeinflussung
bar, dass einzelne im Rahmen einer Stichprobe Be-           auszuschließen. Was geschieht, wenn beide zu unter-
fragte falsche oder kein Angaben machen, weil sie die       schiedlichen Ergebnissen kommen? Während beispiels-
Vertraulichkeit nicht als garantiert ansehen, da ihnen      weise der eine bei bloßen Stichproben stehen blieb, da
der Notar in aller Regel nicht persönlich bekannt ist. Er   alle telefonisch Angerufenen ihre Mitgliedschaft ohne
wird also ggf. seine Mitgliedschaft der Wahrheit zuwi-      Einschränkung bejahten, traf der andere auf Organisati-
der in Abrede stellen und so das Ergebnis verfälschen.      onsunwillige oder Furchtsame, die die Mitgliedschaft in
Möglich ist auch, dass er die Auskunft verweigert.          Abrede stellten, und nahm so eine umfassende Befra-
Ungeklärt ist zum dritten, wie sich der Notar verhalten     gung vor, die zu zahlreichen »Ausfällen« auf der Liste
soll, wenn er durch Rückfragen einige (richtige oder        führte. Wem ist zu glauben? Muss ein dritter Notar als
unrichtige) Antworten erhält, wonach die befragte           »Obergutachter« eingeschaltet werden?
Person zu Unrecht auf der Liste Der Gewerkschafts-
mitglieder stehe und in Wirklichkeit kein Mitglied sei.     Das alles bezieht sich nur auf den einzelnen Betrieb.
Sagen dies beispielsweise vier von zehn Personen –          Nun ist aber der Flächentarif noch immer die beherr-
muss er dann die gesamte Liste überprüfen, weil die         schende Form des Tarifvertrags, der sich (beispiels-
zunächst anzunehmende Vermutung ihrer Richtigkeit           weise) auf 100 oder mehr Betriebe erstrecken kann.
und Vollständigkeit erschüttert ist? Welcher Zeitraum       Wie will man hier in überschaubarer Zeit eine Klärung
steht ihm zur Verfügung, wenn es um einen Betrieb mit       herbeiführen? Auch ein Blick in ausländisches Recht
500 oder 1000 Beschäftigten (oder gar um eine noch viel     führt nicht weiter, weil dort keine »Mitgliederzählung«
größere Einheit) geht? Welche Folgen hat es – viertens      stattfindet, sondern z. B. in Frankreich darauf abgestellt
–, wenn jemand auf der Liste steht, der keine Beiträge      wird, wie die Wahlergebnisse der einzelnen Gewerk-
mehr bezahlt hat, so dass die Mitgliedschaft nach der       schaften bei der letzten Wahl zu den betrieblichen
Satzung an sich erloschen ist, die Gewerkschaft sich        Interessenvertretungen (oder zur Arbeitnehmerseite bei
darauf aber nicht beruft? Müssen solche »Karteilei-         den Arbeitsgerichten) beschaffen waren.
chen« mitgezählt werden? Wer gehört – fünftens – zu
den Arbeitnehmern? Zählen auch Leiharbeitnehmer             Zu weiteren Modellen s. Waas, Der Regelungsentwurf
oder Beschäftigte mit, die sich in der Freizeitphase der    von DGB und BDA zur Tarifeinheit – Verfassungs- und
Altersteilzeit befinden? Wie steht es mit Beurlaubten       internationalrechtliche Aspekte – AuR 2011, 93, 98 f.
oder ins Ausland Entsandten? Sind auch Personen zu
berücksichtigen, die sich in Elternzeit befinden? Anders    Dies lässt sich ersichtlich unschwer durch Dokumente
als bei Betriebsratswahlen, wo sich ähnliche Probleme       nachweisen, während der Gesetzentwurf auf eine Art
stellen können, gibt es keinen »Wahlvorstand«, der          Volkszählung im Kleinformat setzt, die jedoch auf frei-
gemeinsam mit dem Arbeitgeber eine rasche Klärung           williger Mitwirkung der beteiligten Arbeitnehmer beruht.
herbeiführen kann.
                                                            Auf diese Probleme verweist nachhaltig auch Bayreuther,
Die Schwierigkeiten potenzieren sich, wenn man be-          a. a. O., NZA 2013, 1395 ff. S. auch Löwisch, Referenten-
denkt, dass mindestens zwei dieser Verfahren durch-         entwurf eines Tarifeinheitsgesetzes – hofft Nahles auf
geführt werden müssen, damit die »Mehrheitsorgani-          das Bundesverfassungsgericht? BB 48/2014 Die Erste
sation« festgestellt werden kann. Was geschieht, wenn       Seite
die zweite Organisation sich dem Verfahren entzieht
und lediglich behauptet, die Zahl ihrer Mitglieder sei so   Die Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip schafft
groß, dass sie selbstredend mehr Organisierte als die       also nicht die erwünschten und erhofften klaren Ver-
»kleine« Konkurrenz habe? In solchen Fällen hilft nur       hältnisse. Sie führt im Gegenteil zu einer Unzahl von
eine gerichtliche Klärung im Beschlussverfahren. Kann       Zweifelsfragen, über die sich trefflich streiten lässt. Die
das Gericht auch für die zweite Organisation einen          Rechtsunsicherheit würde alle bisherigen Erfahrungen

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