Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz - www.linksfraktion.de
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Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung www.linksfraktion.de zum Tarifeinheitsgesetz von Prof. Dr. Wolfgang Däubler, Bremen erstellt im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE Berlin, 9.1.2015
Inhalt 1. Politische Schlussfolgerungerungen von C. Verfassungswidrigkeit der Tarifeinheit Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender nach dem Mehrheitsprinzip? 17 der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, aus dem Gutachten 3 I. Die Fragestellung im Einzelnen 17 2. Zentrale Thesen aus dem Gutachten II. Der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG 17 im Überblick 4 1. Der Ausgangspunkt 17 3. Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung 2. Konkrete Konsequenzen 18 zum Tarifeinheitsgesetz 5 III. Ausgestaltung oder Eingriff? 20 A. Der Inhalt des Gesetzentwurfs 5 IV. Rechtfertigung des Eingriffs mit dem Gedanken I. Festlegung der Tarifeinheit 5 der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie? 22 1. Die Grundsatzentscheidung 5 I. Die Ausgangsthesen 22 2. Die zulässige Tarifpluralität 5 2. Koalitionsfreiheit unter Funktionsvorbehalt? 22 3. Unwirksamkeit der Tarifverträge der 3. M angelnde Praktikabilität der Tarifpluralität? – Minderheitsgewerkschaft bei Tarifkollision 6 Die bisherigen Erfahrungen 23 4. Der Betrieb als maßgebende Einheit 6 4. Aushöhlung der Friedenspflicht? 25 5. Anhörungs- und Nachzeichnungsrecht 7 5. Zwischenergebnis 26 II. Flankierende Bestimmungen 7 V. Hilfsweise: Prüfung am Maßstab der Verhältnis mäßigkeit 27 1. Publizität 7 1. Geeignetheit des Mittels 27 2. Bestandsschutz 7 2. Erforderlichkeit des Mittels 28 3. Verfahrensrechtliche Umsetzung 7 3. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne 29 III. Aussagen zum Arbeitskampfrecht 9 4. Ergebnis 29 IV. Fragestellungen 9 D. Zusammenfassung 30 B. Die erwartbaren Konsequenzen des Tarifeinheitsgesetzes 10 1. Verhinderung von Streiks durch kleine Gruppen, die Sondervorteile für sich herausholen wollen? 10 II. Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip als Mittel zur Stabilisierung des Tarifsystems? 12 III. Durchlöcherung des Flächentarifs 13 IV. Gefährdung bestehender Tarifgemeinschaften 14 V. Die »neue Unübersichtlichkeit« – absehbare Streitigkeiten über die Feststellung der Mehrheits gewerkschaft 14 1
Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon: 030/22751170, Fax: 030/22756128 E-Mail: fraktion@linksfraktion.de V.i.S.d.P.: Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch Autor: Prof. Dr. Wolfgang Däubler, Bremen Layout/Druck: Fraktionsservice Endfassung: 12. Januar 2015 Dieses Material darf nicht zu Wahlkampfzwecken verwendet werden! Mehr Informationen zu unseren parlamentarischen Initiativen finden Sie unter: www.linksfraktion.de 2
1. Politische Schlussfolgerungerungen von Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, aus dem Gutachten »Die geplante gesetzliche Regelung gestaltet die Rechte Bestimmung »Minderheitsgewerkschaft« – bedroht die einzelner Gewerkschaften aus Art. 9 (3) GG nicht aus, existentielle Grundlage der betreffenden Gewerkschaft. sondern schränkt sie in weitestem Umfang ein. Der Die gesetzliche Vorgabe der Tarifeinheit ist der elegan- faktische Entzug des Rechts, Tarifverträge abzuschließen te Versuch Gewerkschaften auszuschalten, ohne sie und dafür einen Arbeitskampf zu führen, stellt einen explizit zu verbieten. denkbar weitreichenden Eingriff dar, der nur noch durch ein Gewerkschaftsverbot übertroffen werden könnte … Das Gesetzesvorhaben beschneidet ebenfalls verfas- Es handelt sich bei der geplanten Regelung nicht um sungsmäßig verbriefte Freiheitsrechte des einzelnen eine Ausgestaltung von Grundrechten, sondern um einen Arbeitnehmers, wenn er Mitglied einer sogenannten massiven Eingriff in die Koalitionsfreiheit … »Minderheitsgewerkschaft« ist. Über die gesetzliche Diskriminierung seiner Gewerkschaft kann er sein Als Ergebnis bleibt daher festzuhalten, dass das vorge- Grundrecht auf Koalitionsfreiheit nicht umsetzen. Trotz schlagene Gesetz nicht geeignet ist, seine proklamierten Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft erhält er den Ziele zu erreichen. Es schafft im Gegenteil zusätzliche gleichen Status wie ein Nichtorganisierter. Damit wird Rechtsunsicherheit und differenziert ohne ausreichen- seine Organisationsfreiheit ad absurdum geführt. den Grund zwischen einzelnen Formen von Gewerkschaf- ten.« Führende Gewerkschaftsfunktionäre, die dem ord- Prof. Dr. Wolfgang Däubler nungspolitischen Vorhaben ihre Zustimmung erteilt haben, verkennen dabei ihre eigentliche Rolle: Es ist Politische Schlussfolgerungerungen von Klaus nicht ihre Aufgabe, zum Arbeitsministerium von Frau Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Frak- Nahles parallel eine Co-Regierung zu bilden und für tion Die Linke im Bundestag, aus dem Gutach- Ruhe im Land zu sorgen. Es ist nicht ihre Aufgabe, den ten Geist der Großen Koalition auf alle Bereiche in unserer Gesellschaft auszuweiten; und dies auch noch Hand in »Es gibt keinen rechtlich begründbaren Bedarf für eine Hand mit den Verbänden der Arbeitgeber. gesetzliche Regelung der Tarifeinheit. Das Motiv dafür ist politisch begründet. Vermeintlich gesetzliche Funk- Unsere Verfassung garantiert Gewerkschaftsvielfalt. tionen von Gewerkschaften, die es zu regeln gelte, sind Dies impliziert eine Vielfalt von Tarifverträgen. Sie frei erfunden. So ist es keineswegs gesetzliche Aufgabe schützt zudem das Recht des Einzelnen, sich frei zu von Gewerkschaften für Lohngleichheit im Betrieb zu entscheiden, ob und wie man sich organisiert. Tarif- sorgen, also eine ausgleichende Rolle innerhalb der Be- autonomie lebt davon, dass sie nicht der politischen legschaft auszuüben, wie der Gesetzentwurf unterstellt. Kontrolle unterliegt. Diese erkämpften Freiheiten gilt es Sinn und Zweck von Gewerkschaften ist es vielmehr die zu schützen. Interessen der in ihnen organisierten Arbeitnehmer ge- genüber dem Arbeitsgeber durchzusetzen und darüber Wir werden uns massiv dem Versuch widersetzen, auch für mehr Verteilungsgerechtigkeit zwischen den durch Verfassungsbruch die Freiheitsrechte des Ein- Lagern zu sorgen. Die Streikmöglichkeit gehört daher zelnen ebenso zu beschneiden, wie die Existenzfrage zum existenziellen Wesen einer Gewerkschaft. von frei gebildeten Gewerkschaften. Dabei werden wir uns direkt an Mitglieder und Funktionäre der Gewerk- Wer den Streik über gesetzliche Regelungen für schaften wenden, um deren Widerstand innerhalb der bestimmte Gewerkschaften per se ausschließt – so Interessenorganisationen zu stärken. Das vorliegende geschehen im Gesetzentwurf zur Tarifeinheit über die Gutachten wird dabei eine große Hilfe sein.« 3
2. Zentrale Thesen aus dem Gutachten im Überblick (gekürzte Fassung) Zentrale Thesen aus dem Gutachten 5. Große Koalition fördert Destabilisierung der im Überblick industriellen Beziehungen 1. Angriff auf die Freiheit und das Streikrecht Eine gesetzlich verordnete Tarifeinheit würde keines- wegs zur Stabilisierung der industriellen Beziehungen Der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 9 Abs.3 beitragen. Die Mehrheitsposition muss keineswegs GG umfasst die freie Entscheidung über die Organisa- immer von einer DGB-Gewerkschaft errungen werden. tionsform sowie den Abschluss von Tarifverträgen und Die öffentliche Aufmerksamkeit sollte vielmehr darauf die Vornahme von Maßnahmen des Arbeitskampfes. gelenkt werden, dass Umstrukturierungen auf Arbeitge- Wird das Recht zum Abschluss von Tarifverträgen und berseite und die Beschäftigung atypischer Arbeitskräfte zum darauf bezogenen Arbeitskampf entzogen, liegt ein zu einem Abbau und einer »Zergliederung« des Tarifsys- Grundrechtseingriff vor; der Spielraum für eine bloße tems geführt haben. »Ausgestaltung« ist bei weitem überschritten. 6. Bestehende Kooperationsbeziehungen und 2. Koalitionsfreiheit steht nicht unter allgemei Tarifgemeinschaften werden zerstört nen Funktionsvorbehalt Bestehen Kooperationsbeziehungen und Tarifgemein- Eingriffe in die Koalitionsfreiheit sind nur zugunsten an- schaften zwischen verschiedenen Gewerkschaften, so derer verfassungsrechtlich geschützter Güter möglich, werden diese zumindest mittelfristig zerstört, wenn die bloße »Praktikabilität« genügt hierfür nicht. eine Mehrheitsorganisation keinem Zwang zum Kom- promiss mehr unterliegt. 3. Große Koalition will Gewerkschaften Tarif fähigkeit nehmen 7. Tarifeinheit schafft Rechtsunsicherheit Der Regierungsentwurf will Minderheitengewerk- Das Abstellen auf die größere Mitgliederzahl führt schaften das Recht zum Abschluss von Tarifverträ- entgegen dem ersten Eindruck zu einer schwer erträgli- gen entziehen. Nach seiner Begründung muss damit chen Rechtsunsicherheit. Bislang existiert kein wirklich gerechnet werden, dass auch ein Streik jedenfalls dann verlässliches Verfahren, wie in überschaubarer Zeit die ausgeschlossen ist, wenn die Minderheitenposition der Mitgliederzahl von zwei Gewerkschaften festgestellt fraglichen Gewerkschaft offensichtlich ist oder in einem werden soll. Auch gibt es keine einsichtigen Regeln für arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren rechtskräftig die Zeit bis zu einer denkbaren gerichtlichen Klärung. festgestellt wurde. 8. Unverhältnismäßiger Eingriff in die Koaliti 4. Angriff auf das System der Flächentarif onsfreiheit verträge Die Realisierung des Gesetzentwurfs der Bundesregie- Bestehen in einzelnen Betrieben unterschiedliche Mehr- rung würde jedenfalls einen unverhältnismäßigen Ein- heiten, wird der Flächentarif durchlöchert; an seine griff in die Koalitionsfreiheit darstellen. Es fehlt bereits Stelle tritt noch mehr als bisher ein bunter Flickentep- die Geeignetheit, da die Förderung der Rechtssicher- pich von vielfältigen Regelungen. heit nicht ersichtlich ist und die gewünschte Regelung außerdem selektiven Charakter hat, d. h. im Aufbau befindliche oder nach bestimmten Kriterien organisierte Organisationen in besonderem Maße benachteiligt. 4
3. Gutachten zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Tarifeinheitsgesetz A. Der Inhalt des Gesetzentwurfs Am 11. Dezember 2014 hat die Bundesregierung den (3) Für Rechtsnormen eines Tarifvertrags über eine »Entwurf eines Gesetzes zur Tarifeinheit« beschlossen, betriebsverfassungsrechtliche Frage nach § 3 Absatz der anschließend dem Bundesrat zugeleitet wurde (Bun- 1 und §117 Absatz 2 des Betriebsverfassungsgesetzes desrats-Drucksache 635/14). Er will das Tarifvertrags- gilt Absatz 2 Satz 2 nur, wenn diese betriebsverfas- gesetz (TVG) ändern; daneben sollen Bestimmungen in sungsrechtliche Frage bereits durch Tarifvertrag einer das Arbeitsgerichtsgesetz aufgenommen werden, die anderen Gewerkschaft geregelt ist. eine Reihe von Folgeproblemen sowie mögliche Rechts- streitigkeiten zum Gegenstand haben. Der Gesetzent- (4) Eine Gewerkschaft kann vom Arbeitgeber oder wurf ist mit einer eingehenden Begründung versehen, der Vereinigung der Arbeitgeber die Nachzeichnung die bei der Bestimmung seines Inhalts von erheblicher eines mit ihrem Tarifvertrag kollidierenden Tarifver- Bedeutung ist. trags verlangen. Der Anspruch auf Nachzeichnung beinhaltet den Abschluss eines die Rechtsnormen des I. Festlegung der Tarifeinheit kollidierenden Tarifvertrags enthaltenden Tarifvertrags, soweit sich die Geltungsbereiche und Rechtsnormen 1. Die Grundsatzentscheidung der Tarifverträge überschneiden. Die Rechtsnormen eines nach Satz 1 nachgezeichneten Tarifvertrags gelten Kernstück der vorgeschlagenen Regelung ist ein neuer unmittelbar und zwingend, soweit der Tarifvertrag der § 4a TVG, der den Grundsatz der Tarifeinheit fest- nachzeichnenden Gewerkschaft nach Absatz 1 Satz 2 schreiben will. Seinem Wortlaut nach bestimmt er: nicht zur Anwendung kommt. § 4a (5) Nimmt ein Arbeitgeber oder eine Vereinigung von Ar- Tarifkollision beitgebern mit einer Gewerkschaft Verhandlungen über (1) Zur Sicherung der Schutzfunktion, Verteilungsfunk- den Abschluss eines Tarifvertrags auf, ist der Arbeitge- tion, Befriedungsfunktion sowie Ordnungsfunktion von ber oder die Vereinigung von Arbeitgebern verpflichtet, Rechtsnormen des Tarifvertrags werden Tarifkollisionen dies rechtzeitig und in geeigneter Weise bekanntzu- im Betrieb vermieden. geben. Eine andere Gewerkschaft, zu deren satzungs- gemäßen Aufgaben der Abschluss eines Tarifvertrags (2) 1Der Arbeitgeber kann nach § 3 an mehrere Tarif- nach Satz 1 gehört, ist berechtigt, dem Arbeitgeber oder verträge unterschiedlicher Gewerkschaften gebunden der Vereinigung von Arbeitgebern ihre Vorstellungen sein. 2Soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhalts- und Forderungen mündlich vorzutragen. gleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge), sind im Während Absatz 1 die verschiedenen Zwecke von Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags der- Tarifverträgen aufzählt, die es nach Ansicht der Bundes- jenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt regierung zu beachten gilt, regelt Abs. 2 die Tarifeinheit des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidie- nach dem Mehrheitsprinzip und stellt damit den Kern renden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem des Gesetzgebungsvorhabens dar. Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. 3Kollidieren die Tarifverträge erst zu einem späteren Zeitpunkt, ist 2. Die zulässige Tarifpluralität dieser für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich. 4Als Betriebe gelten auch ein Betrieb nach §1 Absatz 1 Satz § 4a Abs. 2 Satz 1 betont zunächst den Grundsatz, dass 2 des Betriebsverfassungsgesetzes und ein durch Tarif- ein Arbeitgeber auch an mehrere Tarifverträge gebun- vertrag nach § 3 Absatz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 des Betriebsver- den sein kann, die er mit verschiedenen Gewerkschaf- fassungsgesetzes errichteter Betrieb, es sei denn, dies ten abgeschlossen hat. Dies ist etwa dann der Fall, steht den Zielen des Absatzes 1 offensichtlich entgegen. wenn er für zwei Berufsgruppen mit zwei Gewerkschaf- 5Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Betriebe von ten Tarifverträge geschlossen hat, deren Geltungsbe- Tarifvertragsparteien unterschiedlichen Wirtschafts- reiche sich in keiner Weise überschneiden. Als Beispiel zweigen oder deren Wertschöpfungsketten zugeordnet kann etwa das Nebeneinander eines Tarifvertrags für worden sind. Piloten mit der Vereinigung Cockpit und eines Tarifver- trags für das Kabinenpersonal mit der UFO gelten. Mög- lich ist nach Abs. 2 Satz 1 aber auch eine sog. gewillkür- te Tarifpluralität; die beteiligten Gewerkschaften und Arbeitgeber können sich beispielsweise dahingehend verständigen, dass für eine bestimmte Gruppe von Beschäftigten je nach Mitgliedschaft in einer bestimm- ten Gewerkschaft unterschiedliche Tarifverträge gelten sollen. So kann etwa die Deutsche Bahn mit EVG und 5
GDL eine Absprache der Art treffen, dass für die Zugbe- So die Amtliche Begründung, Besonderer Teil, Zu § 4a gleiter, die EVG-Mitglieder sind, die EVG-Tarifverträge, Absatz 2, Abs. 9 und für die Zugbegleiter, die GDL-Mitglieder sind, die GDL-Tarifverträge gelten sollen. Eine Ausnahme gilt nach Abs. 3 nur für betriebsver- fassungsrechtliche Tarifnormen, die lediglich dann Ebenso im Ergebnis die Amtliche Begründung zum Ge- zurücktreten, wenn die Mehrheitsgewerkschaft ihrer- setzentwurf, Besonderer Teil, Zu § 4a Absatz 2, 3. Absatz seits betriebsverfassungsrechtliche Normen vereinbart. Dies soll der »Kontinuität tarifvertraglich geschaffener Über entsprechende Abmachungen wird aus dem Be- betriebsverfassungsrechtlicher Vertretungsstrukturen« reich der Privatbahnen berichtet. dienen. Die Frage, was bei erheblichen inhaltlichen Ab- weichungen durch den zweiten Tarifvertrag geschieht, 3. Unwirksamkeit der Tarifverträge der Minder wird nicht angesprochen. heitsgewerkschaft bei Tarifkollision 4. Der Betrieb als maßgebende Einheit Soweit eine solche Abmachung nicht zustande kommt, ist danach zu fragen, ob eine sog. Tarifkollision besteht. Bezugsgröße für die Bestimmung der Mehrheit ist Diese ist nach § 4a Abs. 2 Satz 2 dann gegeben, wenn der Betrieb. Dieser wird im Gesetz nicht definiert. Die sich die Geltungsbereiche von Tarifverträgen über- Amtliche Begründung ist nicht völlig eindeutig, scheint schneiden, die von verschiedenen Gewerkschaften jedoch in die Richtung zu tendieren, dass der Betriebs- abgeschlossen wurden und die inhaltlich nicht identisch begriff des BetrVG maßgebend sein soll. So heißt es in sind. Abs. 12 der Erläuterungen zu § 4a Abs. 2: Beispiel: Für die angestellten Krankenhausärzte gibt es »Der Betriebsbegriff, der für die Ermittlung der Mehr- einen Tarifvertrag des Marburger Bundes, doch bezieht heitsverhältnisse zugrunde zu legen ist, ist tarifrechtlich auch der von Ver.di abgeschlossene TVöD die Ärzte mit zu bestimmen. Danach ist ein Betrieb diejenige organi- ein. satorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber mit seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Hilfe In diesem Fall soll allein der Tarifvertrag der Gewerk- von technischen und immateriellen Mitteln bestimmte schaft gelten, die im Betrieb die meisten in einem Ar- arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Damit beitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Der Tarifver- entspricht der tarifrechtliche Betriebsbegriff in seiner trag der Minderheitsgewerkschaft kann keine Wirkung grundsätzlichen Ausrichtung dem betriebsverfassungs- mehr entfalten. Maßgebend für die Bestimmung der rechtlichen Betriebsbegriff, der infolge seiner Kontu- Mehrheit ist der Zeitpunkt, in dem der jüngere Tarifver- rierung durch die Rechtsprechung einen für die Praxis trag abgeschlossen wurde. Kommt die Kollision erst praktikablen Rahmen setzt. Damit dient als Anknüpfungs- später zustande, so ist nach Satz 3 dieser spätere Zeit- punkt für das Mehrheitsprinzip die Solidargemeinschaft, punkt maßgebend. Erfasst der ältere Tarifvertrag nicht die infolge der Zusammenfassung von Arbeitnehmerin- die gesamte Belegschaft, klammert er beispielsweise nen und Arbeitnehmern zur Verfolgung arbeitstechni- Führungskräfte aus, so kann eine Führungskräftege- scher Zwecke entsteht.« werkschaft für diesen Bereich weiterhin Tarifverträge abschließen. Für eine solche Übereinstimmung spricht weiter die ausdrückliche Erwähnung des gemeinsamen Betriebes So auch die Amtliche Begründung, Besonderer Teil, Zu § nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BetrVG und der tariflich errich- 4a Absatz 2, Abs. 8 teten betriebsverfassungsrechtlichen Einheit nach § 3 Abs. 1 Nummer 1 bis 3 BetrVG; beide werden durch Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass jede Absatz 2 Satz 4 ausdrücklich einem »Betrieb« im hier Gewerkschaft ihren Zuständigkeitsbereich selbst relevanten Sinne gleichgestellt. Damit ist zugleich die bestimmen kann und deshalb ggf. in der Lage ist, einen These abgelehnt, dass die Mehrheit in dem Bereich Tarifvertrag auch auf eine bisher ausgeklammerte Grup- zu bestimmen ist, in dem sich die beiden Tarifverträge pe auszudehnen. überschneiden. Darauf verweist auch Konzen, Die Kodifikation der Ta- So ausdrücklich auch die Amtliche Begründung, Allge- rifeinheit im Betrieb, JZ 2010, 1036, 1038 meiner Teil, III, 2. Abs. Soweit wie im Beispielsfall der Kliniken eine Über- Geht es beispielsweise um die Überschneidung zwi- schneidung des Geltungsbereichs von Tarifverträgen schen einem Ärztetarif und einem anderen für das gan- verschiedener Gewerkschaften besteht, treten die ze Krankenhaus geltenden Tarif, so wäre allein danach Tarife der Minderheitsgewerkschaft generell zurück. zu fragen, welche Organisation in dem (in den Regel Welche Gegenstände tariflich geregelt sind, spielt keine einen Betrieb darstellenden) Krankenhaus die Mehrheit Rolle. Würde die Mehrheitsgewerkschaft beispielsweise hat. nur einen Lohntarif schließen, die Arbeitszeit aber un- geregelt lassen, würde ein Arbeitszeittarif der Minder- Der Unternehmer kann durch organisatorische Maßnah- heitsgewerkschaft gleichwohl verdrängt. men in gewissem Umfang bestimmen, welche Einhei- ten als Betrieb zu qualifizieren sind. Hier könnte eine 6
Versuchung bestehen, die Einheiten so zuzuschneiden, II. Flankierende Bestimmungen dass die weniger »angesehene« Gewerkschaft typi- scherweise in der Minderheit bleibt. Der Gesetzentwurf 1. Publizität nimmt zu solchen Gefahren nicht Stellung, wohl aber zu einem möglichen Missbrauch der Gestaltungsbe- Welcher Tarifvertrag im Betrieb anwendbar ist, muss fugnis nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 – 3 BetrVG. So betont § 4a dort bekannt gemacht werden. Dies kommt in der Abs. 2 Satz 4, die Festlegung der Einheit nach § 3 Abs. Neufassung des§ 8 TVG zum Ausdruck und soll der 1 BetrVG sei dann nicht maßgebend, wenn dadurch den Rechtssicherheit dienen. Im Einzelnen lautet die geplan- Zwecken der tariflichen Rechtsetzung im Sinne des § te Bestimmung: 4a Abs. 1 zuwidergehandelt werde. Dies soll nach § 4a Abs. 2 Satz 5 insbesondere dann der Fall sein, wenn die §8 tariflich geschaffene Einheit Betriebe unterschiedlicher Bekanntgabe des Tarifvertrags Wirtschaftszweige zusammenfasst oder wenn der Tarif Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die im Betrieb anwend- dies in Bezug auf Teile der Wertschöpfungsketten von baren Tarifverträge sowie rechtskräftige Beschlüsse Betrieben unterschiedlicher Branchen macht. Damit nach § 99 des Arbeitsgerichtsgesetzes über den nach soll vermutlich einer Dienstleistungsgewerkschaft die § 4a Absatz 2 Satz 2 anwendbaren Tarifvertrag im Be- Möglichkeit genommen werden, Industriedienstleis- trieb bekanntzumachen. tungsunternehmen mit sonstigen Dienstleistungsbetrie- ben zusammenzufassen, um sich so eine Mehrheit zu Besondere Interpretationsprobleme sind nicht ersicht- sichern. lich. 5. Anhörungs- und Nachzeichnungsrecht 2. Bestandsschutz Eine Gewerkschaft kann zwar für ihre Mitglieder in den Bestehen schon bei Inkrafttreten des Gesetzes in einem Betrieben, in denen sie Minderheit ist, keine wirksa- Betrieb zwei Tarifverträge nebeneinander, die mit zwei men Tarifverträge mehr abschließen, doch gibt ihr der verschiedenen Gewerkschaften abgeschlossen wurden, neue § 4a Abs. 4 und 5 zum (scheinbaren) Ausgleich so bleiben diese bestehen. Für die Minderheitsgewerk- bestimmte Rechte. Nach § 4a Abs. 5 hat sie ein Recht schaft bedeutet dies, dass ihr Tarifvertrag auf dem auf Anhörung durch die Arbeitgeberseite, wenn diese bisher erreichten Stand »eingefroren« wird. Dies ist in mit einer konkurrierenden Gewerkschaft in Verhandlun- einem neuen § 13 Abs. 3 TVG festgelegt, der lautet: gen über den Abschluss eines Tarifvertrags eintritt. Die Gewerkschaft kann allerdings lediglich ihre Auffassung § 13 mündlich darlegen; ein Erörterungs- oder Verhandlungs- Inkrafttreten recht besteht nicht. (3) § 4a ist nicht auf Tarifverträge anzuwenden, die am So ausdrücklich die Amtliche Begründung, Besonderer [einsetzen: Tag nach der Verkündung dieses Gesetzes) Teil, Zu § 4a Absatz 5, letzter Absatz gelten. Diese Möglichkeit dürfte insbesondere von Kleinst- 3. Verfahrensrechtliche Umsetzung gewerkschaften (etwa aus dem Bereich des CGB) in Anspruch genommen werden. a) Zuständigkeit Der Gesetzentwurf will auch Änderungen im Arbeitsge- Nach Abs. 4 steht der Minderheitsgewerkschaft ein richtsgesetz (ArbGG) vornehmen, um die neuen Regeln sog. Nachzeichnungsrecht zu, sofern ein bestehender wirksam werden zu lassen. Besteht Streit oder Unge- und von ihr abgeschlossener Tarifvertrag verdrängt wissheit über den im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag, wird. Sie kann auf diese Weise die unmittelbare und soll dies im Rahmen eines Beschlussverfahrens geklärt zwingende Wirkung des Tarifvertrags auf ihre Mitglie- werden. Insoweit wird § 2a ArbGG um diesen neuen der erstrecken. In der Praxis ist dies von eher geringer Anwendungsfall ergänzt. Der Gesetzentwurf bestimmt Bedeutung, da Arbeitgeber typischerweise im Arbeits- insoweit: vertrag den im Betrieb (allein) anwendbaren Tarifvertrag in Bezug nehmen und so auch für Nicht- oder Andersor- § 2a Absatz 1 wird wie folgt geändert: ganisierte verbindlich machen. a) In Nummer 5 wird der Punkt am Ende durch ein Semikolon ersetzt. Vgl. auch Hufen, Gesetzliche Tarifeinheit und Streiks im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der verfas- b) Folgende Nummer 6 wird angefügt: sungsrechtliche Rahmen, NZA 2014, 1237, 1239/40: Nur bei Beteiligung an Tarifverhandlungen entsprechend der »6. die Entscheidung über den nach § 4a Absatz 2 Satz Mitgliederzahl ist Art. 9 Abs. 3 GG gewahrt. Ebenso im 2 des Tarifvertragsgesetzes im Betrieb anwendbaren Ergebnis Schliemann NZA 2014, 1250, 1252; ähnlich Hro- Tarifvertrag.« madka, Wiederherstellung der Tarifeinheit – Die Quadra- tur des Dreiecks, NZ 2014, 1105, 1109 b) Beweismittel Um festzustellen, welche Gewerkschaft im Betrieb die höhere Mitgliederzahl hat, sind alle zulässigen Beweis- 7
mittel möglich. Allerdings besteht ein vom Gesetzgeber eines Beschlussverfahrens sichern. Zentrale Bedeutung anerkanntes Interesse daran, dass die Gewerkschaft hat dabei die Vorschrift des Abs. 3, die der getroffenen die Namen ihrer Mitglieder dem Arbeitgeber gegenüber Entscheidung Rechtskraftwirkung gegenüber jeder- nicht aufdecken muss. Deshalb wird ausdrücklich die mann zuweist. Abs. 4 lässt unter erleichterten Voraus- Möglichkeit geschaffen, die Zahl der Mitglieder durch setzungen eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu. eine notarielle Tatsachenbescheinigung zu belegen. In Keine Aussage wird zu der Frage getroffen, wann verän- § 58 ArbGG soll deshalb ein Absatz 3 angefügt werden, derte Umstände (z. B. ein gestiegener oder gefallener der bestimmt: Mitgliederbestand) eine Abänderung der Entscheidung ermöglichen sollen. Auch die Begründung enthält dazu »(3) Insbesondere über die Zahl der in einem Arbeits- keine Aussagen. Der neue § 99 soll lauten: verhältnis stehenden Mitglieder oder das Vertretensein einer Gewerkschaft in einem Betrieb kann Beweis auch »§ 99 durch die Vorlegung öffentlicher Urkunden angetreten Entscheidung über den nach § 4a Absatz 2 Satz 2 werden.« des Tarifvertragsgesetzes im Betrieb anwendba ren Tarifvertrag Aus der Begründung wird deutlich, dass es sich dabei (1) In den Fällen des § 2a Absatz 1 Nummer 6 wird das in der Regel um eine notarielle Erklärung handeln wird. Verfahren auf Antrag einer Tarifvertragspartei eines Ausdrücklich wird betont, dass der Notar nach § 18 Abs. kollidierenden Tarifvertrags eingeleitet. 1 Bundesnotarordnung zur Verschwiegenheit verpflich- tet ist. (2) Für das Verfahren sind die §§ 80 bis 82 Absatz 1 Satz 1, §§ 83 bis 84 und §§ 87 bis 96a entsprechend anzu- Amtliche Begründung, Besonderer Teil, Zu Artikel 2, Zu wenden. Nummer 2, 4. Absatz (3) Der rechtskräftige Beschluss über den nach § 4a Zahlreiche Folgefragen wie z. B. das Problem, wie der Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes im Betrieb an- Notar ausgesucht wird, wer als »Arbeitnehmer« zählt wendbaren Tarifvertrag wirkt für und gegen jedermann. und wie der Notar die Richtigkeit der eingereichten Mit- gliederliste überprüfen kann, sind nicht angesprochen. (4) In den Fällen des § 2a Absatz 1 Nummer 6 findet eine Wiederaufnahme des Verfahrens auch dann statt, wenn Zu diesen Problemen insbesondere Bayreuther, Funkti- die Entscheidung über den nach § 4a Absatz 2 Satz 2 onsfähigkeit eines Tarifeinheitsgesetzes in der arbeits- des Tarifvertragsgesetzes im Betrieb anwendbaren rechtlichen Praxis? NZA 2013, 1395 ff. Tarifvertrag darauf beruht, dass ein Beteiligter absicht- lich unrichtige Angaben oder Aussagen gemacht hat. c) Durchführung des Beschlussverfahrens § 581 der Zivilprozessordnung findet keine Anwendung.« Ein neuer § 99 ArbGG soll die praktische Durchführung 8
III. Aussagen zum Arbeitskampfrecht IV. Fragestellungen Der Gesetzeswortlaut erwähnt das Arbeitskampfrecht Im Folgenden stellt sich zunächst die Frage nach der nicht. Allerdings stellt sich die Frage, ob ein Streik für gesellschaftspolitischen Einordnung: Was kann die Re- einen Tarifvertrag zulässig ist, der im Ergebnis gar keine alisierung des Gesetzentwurfs bewirken, wie sehen die Wirkung entfalten kann, da der von einer Gewerkschaft Konsequenzen des geplanten Gesetzes für die industri- mit größerer Mitgliederzahl abgeschlossene Tarifvertrag ellen Beziehungen in Deutschland aus? Dazu unten B. den Vorrang besitzt. Denkbar und durchaus nahelie- gend ist allerdings die Situation, dass im Zeitpunkt Weiter ist dem Problem nachzugehen, ob der Grundsatz des Arbeitskampfes noch gar nicht feststeht, welcher der Tarifeinheit in der geplanten Form mit der Koali- Tarifvertrag der »repräsentative« und deshalb allein tionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar ist. Dazu wirksame sein wird. Die Amtliche Begründung hat das unten C. Problem gesehen. In den Erläuterungen zu § 4a Abs. 2 ist im 5. Absatz ausgeführt: »Die Regelungen zur Tarifeinheit ändern nicht das Arbeitskampfrecht. Über die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen, mit denen ein kollidierender Tarifvertrag erwirkt werden soll, wird allerdings im Einzelfall im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit zu entscheiden sein. Der Arbeitskampf ist Mittel zur Sicherung der Tarifautonomie. Der Arbeitskampf dient nicht der Sicherung der Tarifau- tonomie, soweit dem Tarifvertrag, der mit ihm erwirkt werden soll, eine ordnende Funktion offensichtlich nicht mehr zukommen würde, weil die abschließende Gewerk- schaft keine Mehrheit der organisierten Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer im Betrieb haben würde. Im Rah- men der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Dazu können auch Strukturen des Arbeitgebers und die Reichweite von Tarifverträgen gehören.« Die bestehenden richterrechtlichen Regeln des Arbeits- kampfrechts werden durch den Entwurf in der Tat nicht formal geändert, doch wird eine Situation geschaffen, durch die unter Anwendung der schon bisher anerkann- ten Grundsätze Streiks von Minderheitengewerkschaf- ten rechtswidrig werden. Dieser Fall ist – wenn man der wiedergegebenen Formulierung folgt – jedenfalls dann gegeben, wenn sich eine Gewerkschaft »offensichtlich« in einer betrieblichen Minderheitenposition befindet. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn sie nur eine kleinere Berufsgruppe organisiert und die zahlenmäßig bei weitem überwiegenden sonstigen Beschäftigten einen durchschnittlichen gewerkschaftli- chen Organisationsgrad von 15 bis 20 % aufweisen. Erst recht gilt dies, wenn durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung festgestellt ist, dass eine andere Gewerk- schaft die Mehrheitsposition im Betrieb innehat. In vie- len Fällen wird die »Offensichtlichkeit« zweifelhaft sein, weshalb die Gewerkschaft wegen des Haftungsrisikos lieber auf einen Arbeitskampf verzichtet. Darauf verweist Löwisch. BB Heft 48/2014 Die Erste Sei- te, der im Übrigen auf die Möglichkeit eines Sympathie- streiks verweist, wenn die Minderheitsgewerkschaft in einzelnen Betrieben ausnahmsweise die Mehrheit stellt. 9
B. Die erwartbaren Konsequenzen des Tarifeinheitsgesetzes 1. Verhinderung von Streiks durch kleine Grup- Nach der amtlichen Statistik der Bundesagentur für pen, die Sondervorteile für sich herausholen Arbeit gingen in dem fraglichen Zeitraum pro Jahr wollen? zwischen 11.000 und 429.000 Arbeitstage durch Streik verloren. Die Dimension dieser Ausfälle wird deut- Das am häufigsten geäußerte Argument zugunsten der lich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass bei einer gesetzlichen Schaffung der Tarifeinheit ist die Verhin- Gesamtzahl von ca. 36 Mio. abhängig Erwerbstätiger derung von Streiks kleiner Gruppen, die ihre Schlüssel- 36.000.000 Arbeitstage verloren gegangen wären, wenn position ausnutzen könnten, um auf Kosten der Allge- jeder Arbeitnehmer einen Tag lang gestreikt hätte. Im meinheit die eigenen wirtschaftlichen Interessen zu Einzelnen verteilten sich die streikbedingten Ausfalltage befriedigen. Die Tatsache, dass 200 Vorfeldmitarbeiter wie folgt: den ganzen Flugverkehr auf dem Frankfurter Flughafen lahm legen können, vermag diese Befürchtung beson- ders realistisch erscheinen zu lassen. Zahlen bei Däubler, Arbeitskampfrecht, 3. Aufl., Baden- Bevor man die These von dem »Egoistentrip« auf Kosten Baden 2011, § 8 Rn 30; WSI-Tarifarchiv, Tariftaschenbuch der Übrigen vertritt, sollte man zunächst die Erfahrun- 2014, Abschnitt 4.2, abrufbar unter www.boeckler.de gen berücksichtigen, die bisher mit Spartenorganisatio- nen und ihrer Tarifpolitik gemacht wurden. Die »neuen« 2000 11.000 Gewerkschaften existieren nicht erst seit einigen Mona- 2001 27.000 ten; wäre dies der Fall, müsste man für Spekulationen 2002 310.000 Verständnis haben. Vielmehr bestehen sie als selbstän- 2003 163.000 dig agierende Tarifparteien zum Teil schon länger als 2004 51.000 zehn Jahre. 2005 19.000 2006 429.000 - Die Vereinigung Cockpit kündigte im Jahr 1999 die 2007 286.000 tarifpolitische Vertretung durch die DAG auf und ver- 2008 132.000 folgte von da an selbständig ihre Ziele. 2009 64.000 2010 26.000 - Im Jahre 2001 löste die GDL die Tarifgemeinschaft mit 2011 70.000 der damaligen GdED auf und tritt seither als eigen- 2012 86.000 ständige Tarifpartei in Erscheinung. Damit sind allerdings kurzfristige Arbeitsniederlegun- - Im Jahre 2002 kündigten die Fluglotsen die Zusammen- gen von bis zu einem Tag nicht erfasst. Bezieht man sie arbeit mit ver.di auf und gründeten 2004 die GdF. ein, so erhöhen sich die Streiktage um das Zwei- bis Dreifache, - Seit 2005 kämpft der Marburger Bund für eigene Tarif- verträge, nachdem er zuvor die Kooperation mit ver.di WSI-Tarifarchiv, Tariftaschenbuch 2012, a. a. O., Abschnitt beendet hatte. 4.3 - Die UFO wurde als eigenständige Organisation schon doch ist zu berücksichtigen, dass damit auch Arbeits- im Jahre 1992 gegründet, ohne dass es zu einer länger- niederlegungen von ein oder zwei Stunden Dauer so fristigen Bindung an eine größere Organisation gekom- mitgezählt werden, als wenn sie einen Tag gedauert men wäre. Ihre eigenständige Tarifpolitik begann 1999. hätten. Sogar auf dieser Grundlage gehört die Bun- desrepublik weiter zu den streikärmsten Ländern in - Seit 1997 verhandelt die VAA allein mit dem BAVC Europa. Bezieht man die verlorenen Arbeitstage auf über den Akademiker-Tarifvertrag, wobei es allerdings jeweils 1.000 Beschäftigte (wie dies den auch in andern primär um Konzessionen ging, die die IG Chemie- Ländern praktizierten statistischen Methoden ent- Papier-Keramik (heute: IG BCE) nicht als akzeptabel spricht), so liegt Deutschland selbst nach den WSI- betrachtete. Kriterien im Durchschnitt der Jahre 2005 – 2012 bei 16 Tagen, während Großbritannien bei 26, Norwegen bei Darstellung im Anschluss an Hensche, Hände weg von 59, Spanien bei 65 und Belgien bei 73 liegen. Spitzenrei- Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie und Streikrecht! Über ter sind Finnland mit 84, Dänemark mit 106, Kanada mit das Gesetz der Bundesregierung zur Tarifeinheit, Schrif- 117 Tagen und Frankreich mit 150 Tagen. tenreihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2014, S. 9 f. Angaben nach Bispinck/WSI-Tarifarchiv (Hrsg.), WSI- Im Zeitraum zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2010 Tarifhandbuch 2014, Düsseldorf 2013, Abschnitt 4.4 haben die Arbeitsniederlegungen trotz der »Ausdiffe- renzierung der Gewerkschaftslandschaft« nicht zuge- Eine Steigerung der Streikhäufigkeit im Vergleich zu nommen. Vielmehr bewegten sie sich wie schon zuvor den 1990-er und 1980-er Jahren ist nicht feststellbar. weiter in einem recht bescheidenen Rahmen. 10
Ebenso im Ergebnis der Abg. Kolb (FDP) und der Abg. zung der Lohnpolitik durch die Deutsche Bundesbank, Vogel (FDP) in der Aktuellen Stunde des Bundestags vom die die Gewerkschaften zu höheren Lohnabschlüssen 7.3.2012, Protokolle des Deutschen Bundestags, 17. WP, aufgefordert hat, s. https://magazin.spiegel.de/digital/ 164. Sitzung S. 19484 bzw. S. 19488 index_SP.html#SP/2014/30/128239323 Im Gegenteil: Zahlen wie im Jahre 1997 (534.000), 1993 Bei rein abstrakter Betrachtung wäre es sicherlich (593.000), 1992 (1.545.000) und 1984 (5.617.595) wurden denkbar, dass eine kleine Gruppe von Beschäftigten während des ganzen Jahrzehnts von 2000 bis 2010 und ihre Schlüsselposition dazu benutzt, um ausschließlich auch in den folgenden Jahren bei weitem nicht erreicht. für sich ungewöhnlich gute Vergütungen und Arbeits- bedingungen zu erzwingen. Etwas Derartiges ist jedoch Auch die These, »kleine Gruppen« würden Sondervor- bisher nicht geschehen und wird aller Voraussicht teile für sich herausholen und ihre Marktmacht rück- nach auch in Zukunft nicht eintreten. Dies hängt damit sichtslos ausnutzen, lässt sich empirisch nicht belegen. zusammen, dass die Gewerkschaftsmitglieder sowie die Streikenden generell darauf angewiesen sind, für ihre Ebenso Henssler RdA 2011, 65, 70: Ein allgemeiner Trend Forderungen Unterstützung auch in der Öffentlichkeit zu rücksichtslosem Gruppenegoismus ist bislang nicht zu finden. Würde es daran völlig fehlen, würde im Ge- erkennbar. Abwegig Hufen, Gesetzliche Tarifeinheit und genteil die Öffentlichkeit bis hin zu den Arbeitskollegen Streiks im Bereich der öffentlichen Infrastruktur: Der ihr Verhalten deutlich ablehnen, wäre auch für »Schlüs- verfassungsrechtliche Rahmen, NZA 2014, 1237: Spezialis- selkräfte« kein Erfolg erreichbar. Die Gegenseite wäre tengewerkschaften können »ohne eigenes Risiko« ganze nicht zu einem Kompromiss bereit, die eigene Aktion Bereiche der Infrastruktur lahmlegen. stünde noch stärker als sonst in der Gefahr, im Wege der einstweiligen Verfügung verboten zu werden. Es Nur der Vereinigung Cockpit, dem Marburger Bund, der verwundert daher nicht, dass sich die Forderungen der GDL und der GdF ist es bislang gelungen, Tarifverträge »neuen« Gewerkschaften nicht qualitativ von denen der abzuschließen, die über das von den DGB-Gewerkschaf- DGB-Gewerkschaften unterscheiden; in der Regel geht ten erreichte Niveau hinausgehen. es nur darum, die vorhandenen wirtschaftlichen Spiel- räume etwas stärker auszuschöpfen und sich weniger So die zusammenfassende Darstellung bei Schroeder/ durch Loyalitäten binden zu lassen. Kalass/Greef, Berufsgewerkschaften in der Offensive. Vom Wandel des deutschen Gewerkschaftsmodells, Auch der Egoismus-Vorwurf hat somit keine Grundlage. Wiesbaden 2011, S. 262. Die Angaben zur GdF beruhen Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die Gewerk- auf einer Auskunft an den Verf. Dazu weiter Hensche, a. schaft der Flugsicherung (GdF) Tarifverträge nicht nur a. O., S. 10 f. für ihre Kerntruppe, die Lotsen, abschließt, sondern auch für die bei der DFS beschäftigten Verwaltungs- Der »Vorsprung« führte aber nicht dazu, dass die kräfte, die ihrerseits nicht dieselbe starke Verhand- Arbeitgeberseite in wirtschaftliche Schwierigkeiten lungsposition wie die Lotsen besitzen. Das Argument gekommen wäre. Vielmehr liegt der Schluss nahe, »Es wird nur um Privilegien gestreikt.« geht daher ins dass lediglich die Verteilungsspielräume ausgeschöpft Leere. wurden. Ebenso Henssler RdA 2011, 65, 70: Ausgleich »eines ge- wissen Rückstaus in der Lohnentwicklung«. Zur Einschät- 11
II. Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip als Auch im Bereich der Zeitungsredaktionen hat nach Mittel zur Stabilisierung des Tarifsystems? verbreiteter Einschätzung der Deutsche Journalisten- Verband (DJV) mehr Mitglieder als ver.di. Mit dem Gedanken, das Erstreiken von Sondervorteilen zu vermeiden, ist das Argument verwandt, die industri- Mitgeteilt bei Hensche, Wider die Tarifeinheitsfront, Blät- ellen Beziehungen könnten in der Bundesrepublik nur ter für deutsche und internationale Politik, Heft 8/2010 dann stabil bleiben, wenn auf Arbeitnehmerseite nicht S. 13,16 eine Vielzahl von Organisationen existieren würde: Wä- ren beispielsweise fünf verschiedene Gewerkschaften Weiter lässt sich nicht ausschließen, dass die gesetz- zu unterschiedlichen Zeiten in der Lage, für ihre Mit- liche Einführung der Tarifeinheit nach dem Mehrheits- glieder Tarifverhandlungen zu beginnen und ggf. einen prinzip zu einem Zusammenschluss der bestehenden Streik zu organisieren, so würde das Unternehmen in Berufsgewerkschaften bei den Fluggesellschaften eine Situation des permanenten Verhandeln-Müssens und Flughafenbetreibern führen könnte, sodass am versetzt. Dies würde im Vergleich zum Status quo viele Ende des Tages die »Flugverkehrsgewerkschaft« mehr Dispositionen erschweren und sich ggf. negativ auf die Mitglieder als die DGB-Gewerkschaft ver.di aufweisen Rentabilität auswirken. Hätte man dagegen nur einen würde. Partner, so ließe sich eine Einigung erreichen, die für ein bis zwei Jahre jede weitere Auseinandersetzung S. den Vorschlag der Flugbegleiter-Gewerkschaft UFO ausschließt. Dabei mag in der Regel die Vorstellung vom 4. November 2014, wiedergegeben bei http://www. eine Rolle spielen, dass die Funktion des einheitlichen zeit.de/news/2014-11/04/gewerkschaften-flugbegleiter- Ansprechpartners von einer DGB-Gewerkschaft, und wollen-neue-gewerkschaft-fuerluftverkehr-04131213 nicht von einer der »lästigen« Spartengewerkschaften wahrgenommen würde. Neustrukturierungen dieser Art stellen keinen Beitrag zur Stabilität der Arbeitsbeziehungen dar, weil ggf. neue Schon die Annahme, die DGB-Gewerkschaften würden Verhaltensmuster auf beiden Seiten dominieren, die zu durchweg vom Mehrheitsprinzip profitieren, lässt sich unerwarteten Konflikten führen können. empirisch nicht belegen. So ist es etwa denkbar, dass in einem Krankenhaus der Marburger Bund und nicht Im Bereich der Eisenbahn befindet sich zwar die GDL etwa Ver.di die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder in einer strukturellen Minderheitenposition, doch wird stellt. es ihr voraussichtlich gelingen, eine Abgrenzung der Tätigkeitsfelder im Verhältnis zur EVG und damit eine Unterstellt, in einem großen Klinikum seien 200 Ärzte und »gewillkürte Tarifpluralität« zu erreichen. Diese kann 800 Pflege- und Verwaltungskräfte tätig. Der Marburger auch die Variante einschließen, dass es für die Zugbe- Bund habe einen Organisationsgrad von 80 %, so dass gleiter eine Doppelzuständigkeit von GDL und EVG gibt. sich 160 »Organisierte« ergeben. Die Gewerkschaft ver.di Abmachungen dieser Art sollen weiterhin den Vorrang habe jedoch nur einen Organisationsgrad von 15 %, was vor dem gesetzlichen Prinzip der Tarifeinheit haben. 120 Personen ergibt. Gemäß dem Grundsatz der Tarifein- heit nach dem Mehrheitsprinzip gelten die Tarifverträge Dazu oben A I 2 des Marburger Bundes. 12
III. Durchlöcherung des Flächentarifs Statt des berechenbaren einheitlichen Flächentarifs könnte ein Flickenteppich unterschiedlicher Abmachun- Eine weitere Folge der Tarifeinheit nach dem Mehrheits- gen entstehen. Im einen Betrieb würde der Branchen- prinzip liegt in der Gefahr, dass der Flächentarif zahlrei- tarif der Gewerkschaft A, im anderen der der Gewerk- che Durchbrechungen erfährt. Insbesondere in Betrie- schaft B gelten. Dies wäre auch innerhalb desselben ben mit geringem Organisationsgrad kann unschwer Unternehmens denkbar, was eine neue Form von »Tarif- die Situation eintreten, dass eine an sich mitglieder- pluralität« darstellen würde. Dazu kämen Firmentarife, schwache Organisation, die in der Branche eine eher die je nach Mehrheitsverhältnissen die Flächentarife unbedeutende Rolle spielt, plötzlich die Mehrheit der verdrängen würden. Gewerkschaftsmitglieder stellt. Da der Gesetzentwurf nicht zwischen »Mehrheit« und »starker Mehrheit« diffe- Auch für die Arbeitgeberseite würde dies wenig über- renziert, könnte dieser Fall schon dann eintreten, wenn zeugende Resultate hervorbringen, soweit eine Steue- die Gewerkschaft A vier, die Gewerkschaft B dagegen rung der Mitgliederentwicklung nicht beabsichtigt ist nur drei Mitglieder hat. Außerdem ist auch an den Fall oder misslingt. In die Arbeitsverträge eine Bezugnah- zu denken, dass der Arbeitgeber unter solchen Umstän- meklausel aufzunehmen, die immer auf denselben Flä- den einigen ihm wohl gesonnenen Arbeitnehmern nahe chentarif verweist, hätte ggf. kostspielige Nebenfolgen: legt, sich der für ihn »pflegeleichteren« Gewerkschaft Würde ein anderer Tarif wegen des Grundsatzes der anzuschließen und sich so die bisherigen Mehrheiten Tarifeinheit eingreifen, könnte die Verweisung nur im verschieben. Rahmen des Günstigkeitsprinzips wirksam bleiben. Da- bei müsste man die einzelnen Sachgruppenregelungen Beispiel: Im Betrieb sind 200 Arbeitnehmer beschäftigt. in beiden Tarifverträgen vergleichen – eine schwierige 20 von ihnen gehören der IG Metall, 8 der CGM an. Eini- und »streitanfällige« Angelegenheit. ge leitende Angestellte rühren die Werbetrommel für die CGM; im Betrieb verbreitet sich das Gerücht, wenn die Zur Handhabung des Günstigkeitsprinzips nach dem CGM »an die Macht käme«, sei das 13. Monatsgehalt für Sachgruppenvergleich s. Däubler-Deinert, TVG, 3. Aufl., alle Zeiten gesichert. Daraufhin treten 15 Arbeitnehmer Baden-Baden 2012, § 4 Rn 657 ff.; Wiedemann-Wank, TVG, (darunter 10 AT-Angestellte) der CGM bei, die damit zur 7. Aufl., München 2007 § 4 Rn 470 ff Mehrheitsgewerkschaft wird. Die gewünschte Stabilität würde unter diesen Bedin- Es erstaunt, dass in den Stellungnahmen der IG Metall gungen nicht eintreten, sondern im Gegenteil unter der zu dem Gesetzentwurf an keiner Stelle eine solche durch Gesetz eingeführten Tarifeinheit leiden. Konstellation bedacht wird, obwohl sie sich im Kfz- Handwerk unschwer realisieren lässt. Erst recht gilt dies für viele Dienstleistungsbetriebe. 13
IV. Gefährdung bestehender Tarifgemeinschaf- V. Die »neue Unübersichtlichkeit« – absehbare ten Streitigkeiten über die Feststellung der Mehr- heitsgewerkschaft Die Diskussion um die Tarifeinheit ist durchweg von dem Gedanken bestimmt, potentielle Störungen vom Im deutschen Recht gibt es wie auch in anderen euro- System der industriellen Beziehungen fernzuhalten. päischen Ländern aus guten Gründen kein staatliches Dabei fällt völlig unter den Tisch, dass es funktionieren- Register, aus dem Zahl und Namen der Gewerkschafts- de Kooperationsbeziehungen zwischen verschiedenen mitglieder ersichtlich sind. Eine solche »Publizität« wür- gewerkschaftlichen Organisationen gibt, die durch das de die Autonomie der gewerkschaftlichen Organisation geplante gesetzliche Prinzip der Tarifeinheit in Frage aufs schwerste beeinträchtigen und die Mitglieder ggf. gestellt wären. Reichold hat in seiner Studie repressiven Maßnahmen aussetzen. Gelebte Tarifpluralität statt verordneter Tarifeinheit. Die Mitglieder der Gewerkschaften sind in (unterschied- Zu den Auswirkungen gesetzlicher Tarifeinheit auf die lichen) Betrieben als abhängig Beschäftigte tätig. Ihr vorhandene Tarifpluralität in der Praxis des Öffentlichen von der Verfassung, d. h. von Art. 9 Abs. 3 GG aus- Dienstes, herausgegeben von dbb tarifunion, Berlin 2010, drücklich akzeptiertes Grundanliegen ist die »Wahrung S. 6 ff und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedin- gungen«, die sich häufig nur durch Konzessionen der zwei Beispiele aus dem öffentlichen Dienst genannt, Arbeitgeberseite realisieren lässt, die Kosten verursa- nämlich den Flughafen Frankfurt-Hahn und den Nah- chen. Von daher besteht die nahe liegende Gefahr, dass verkehr in Bayern, in denen zwei Gewerkschaften ohne das Management die Mitgliedschaft in der Gewerk- größere Konflikte zusammengearbeitet haben, um den schaft wenig schätzt und ggf. Maßnahmen ergreift, Interessen ihrer Mitglieder zum Erfolg zu verhelfen. Mit die die Beschäftigten von einem Engagement in der Recht weist er auf die allgemeine und nie auszuschlie- Gewerkschaft abhalten sollen. Selbst wenn eine solche ßende Gefahr hin, dass die Interessen bestimmter Teile Entwicklung im konkreten Fall nicht droht und die des Mitgliederspektrums nicht ausreichend berücksich- Arbeitgeberseite die gewerkschaftliche Interessenver- tigt werden. Diese Personengruppen müssten deshalb tretung im Grundsatz akzeptiert, besteht gleichwohl die die Chance haben, sich nach alternativen Möglichkeiten Gefahr, dass einzelne Arbeitnehmer Nachteile auf sich umzusehen. zukommen sehen, wenn sie sich als Gewerkschaftsmit- glieder zu erkennen geben. Der Einzelne befindet sich Reichold, a. a. O., S. 9 ersichtlich in einer asymmetrischen Machtbeziehung. Würden sie sich in einem eigenen Verband organisie- Dies hat auch die Rechtsprechung des BAG im Zusam- ren, könnten sie gemeinsam mit ihrer ursprünglichen menhang mit der Frage anerkannt, wie die Gewerk- Gewerkschaft ein Forderungspaket in die Verhandlun- schaft den Beweis führen kann, dass sie »im Betrieb gen einbringen, das ihre Interessen sehr viel besser vertreten« ist, also dort zumindest über ein Mitglied abbildet als dies eine einzige Organisation tun könnte. verfügt. Würde das Prinzip der Tarifeinheit nach dem Mehrheits- prinzip gelten, würde eine in den meisten Betrieben BAG 25. 3. 1992 – 7 ABR 65/90 – DB 1993, 95 ff dominierende Gewerkschaft das Interesse verlieren, mit einer Minderheitsgewerkschaft zu kooperieren. Wer Ihr wird in diesem Zusammenhang das Recht zu- allein handeln kann, wird bei Meinungsverschieden- erkannt, das Mitglied als solches nicht namhaft zu heiten keine Kompromisse eingehen, sondern sich auf machen, sondern die Tatsachenbescheinigung eines sein einseitiges Entscheidungs- und Gestaltungsrecht Notars vorzulegen, aus der sich ergibt, dass jedenfalls zurückziehen. ein Beschäftigter aus dem Betrieb gleichzeitig über eine gewerkschaftliche Mitgliedschaft verfügt. Daneben Reichold, a. a. O., S. 11 kann das »Vertreten-Sein« auch auf anderem Wege wie z. B. durch Vernehmung eines Gewerkschaftssekretärs Die Kooperation, die unterschiedlich akzentuierte Inte- bewiesen werden. Das BVerfG hat diese Vorgehens- ressen zusammen führt, würde zerstört. Im besten Fall weise gebilligt und das Grundrecht des Arbeitgebers könnte sie einige Zeit als »Kooperation bis auf Widerruf« auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG als nicht weiterexistieren. verletzt angesehen. BVerfG 21. 3. 1994 – 1 BvR 1485/93 – AP Nr. 4a zu § 2 BetrVG 1972 = AuR 1994, 313 Was bei der Feststellung eines einzelnen Gewerk- schaftsmitglieds gut funktionieren kann, ist deshalb noch lange nicht geeignet, gewissermaßen flächende- ckend das Vorhandensein von Gewerkschaftsmitglie- dern mit Verbindlichkeit zu klären. Der BDA/DGB-Vor- schlag war davon ausgegangen, bei der Feststellung der Mehrheitsverhältnisse gleichfalls einen Notar einzu- 14
schalten, der von der fraglichen Gewerkschaft eine Notar beauftragen? Gibt es hier besondere Vorausset- Mitgliederliste erhält und deren Richtigkeit dadurch zungen für die Unparteilichkeit? Wie lange kann das überprüft, dass er stichprobenweise einzelne Personen »Feststellungsverfahren« durch den Notar dauern? Was anruft. Er sollte über die Identität der fraglichen Per- geschieht, wenn eine beträchtliche Zahl von Arbeitneh- sonen Stillschweigen bewahren. Dies scheint auf den mern von ihrem informationellen Selbstbestimmungs- ersten Blick ein plausibles Vorgehen zu sein, weshalb recht Gebrauch macht und jede Auskunft verweigert? es auch durch den Gesetzentwurf aufgegriffen wird. Welche Kosten sind mit dem Verfahren verbunden? Was soll während seiner Dauer geschehen? Müssen S. oben A II 3 b beide Gewerkschaften oder muss zumindest die sich der Zählung entziehende auf Arbeitskampfmaßnahmen Bei näherem Hinsehen ergeben sich gewichtige Beden- verzichten? ken. Zum einen ist denkbar, dass sich einzelne Perso- nen nicht oder nicht direkt telefonisch erreichen lassen. Die Dinge komplizieren sich weiter, wenn zwei ver- Innerbetriebliche Recherchen (etwa eine Anfrage an schiedene Notare eingeschaltet werden, um den einen Abteilungsleiter: »Gibt es bei Ihnen einen Franz X. Mitgliederbestand ein und derselben Gewerkschaft Müller?«) verbieten sich, weil dies den Rückschluss auf festzustellen. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass eine potentielle Gewerkschaftsmitgliedschaft zulassen eine Gewerkschaft freiwillig einen Notar beauftragt, würde. Hausbesuche wären außerordentlich aufwendig das Gericht im Beschlussverfahren aber einen zweiten und deshalb kostenintensiv. Zum zweiten ist es denk- Notar heranzieht, um den Verdacht einer Beeinflussung bar, dass einzelne im Rahmen einer Stichprobe Be- auszuschließen. Was geschieht, wenn beide zu unter- fragte falsche oder kein Angaben machen, weil sie die schiedlichen Ergebnissen kommen? Während beispiels- Vertraulichkeit nicht als garantiert ansehen, da ihnen weise der eine bei bloßen Stichproben stehen blieb, da der Notar in aller Regel nicht persönlich bekannt ist. Er alle telefonisch Angerufenen ihre Mitgliedschaft ohne wird also ggf. seine Mitgliedschaft der Wahrheit zuwi- Einschränkung bejahten, traf der andere auf Organisati- der in Abrede stellen und so das Ergebnis verfälschen. onsunwillige oder Furchtsame, die die Mitgliedschaft in Möglich ist auch, dass er die Auskunft verweigert. Abrede stellten, und nahm so eine umfassende Befra- Ungeklärt ist zum dritten, wie sich der Notar verhalten gung vor, die zu zahlreichen »Ausfällen« auf der Liste soll, wenn er durch Rückfragen einige (richtige oder führte. Wem ist zu glauben? Muss ein dritter Notar als unrichtige) Antworten erhält, wonach die befragte »Obergutachter« eingeschaltet werden? Person zu Unrecht auf der Liste Der Gewerkschafts- mitglieder stehe und in Wirklichkeit kein Mitglied sei. Das alles bezieht sich nur auf den einzelnen Betrieb. Sagen dies beispielsweise vier von zehn Personen – Nun ist aber der Flächentarif noch immer die beherr- muss er dann die gesamte Liste überprüfen, weil die schende Form des Tarifvertrags, der sich (beispiels- zunächst anzunehmende Vermutung ihrer Richtigkeit weise) auf 100 oder mehr Betriebe erstrecken kann. und Vollständigkeit erschüttert ist? Welcher Zeitraum Wie will man hier in überschaubarer Zeit eine Klärung steht ihm zur Verfügung, wenn es um einen Betrieb mit herbeiführen? Auch ein Blick in ausländisches Recht 500 oder 1000 Beschäftigten (oder gar um eine noch viel führt nicht weiter, weil dort keine »Mitgliederzählung« größere Einheit) geht? Welche Folgen hat es – viertens stattfindet, sondern z. B. in Frankreich darauf abgestellt –, wenn jemand auf der Liste steht, der keine Beiträge wird, wie die Wahlergebnisse der einzelnen Gewerk- mehr bezahlt hat, so dass die Mitgliedschaft nach der schaften bei der letzten Wahl zu den betrieblichen Satzung an sich erloschen ist, die Gewerkschaft sich Interessenvertretungen (oder zur Arbeitnehmerseite bei darauf aber nicht beruft? Müssen solche »Karteilei- den Arbeitsgerichten) beschaffen waren. chen« mitgezählt werden? Wer gehört – fünftens – zu den Arbeitnehmern? Zählen auch Leiharbeitnehmer Zu weiteren Modellen s. Waas, Der Regelungsentwurf oder Beschäftigte mit, die sich in der Freizeitphase der von DGB und BDA zur Tarifeinheit – Verfassungs- und Altersteilzeit befinden? Wie steht es mit Beurlaubten internationalrechtliche Aspekte – AuR 2011, 93, 98 f. oder ins Ausland Entsandten? Sind auch Personen zu berücksichtigen, die sich in Elternzeit befinden? Anders Dies lässt sich ersichtlich unschwer durch Dokumente als bei Betriebsratswahlen, wo sich ähnliche Probleme nachweisen, während der Gesetzentwurf auf eine Art stellen können, gibt es keinen »Wahlvorstand«, der Volkszählung im Kleinformat setzt, die jedoch auf frei- gemeinsam mit dem Arbeitgeber eine rasche Klärung williger Mitwirkung der beteiligten Arbeitnehmer beruht. herbeiführen kann. Auf diese Probleme verweist nachhaltig auch Bayreuther, Die Schwierigkeiten potenzieren sich, wenn man be- a. a. O., NZA 2013, 1395 ff. S. auch Löwisch, Referenten- denkt, dass mindestens zwei dieser Verfahren durch- entwurf eines Tarifeinheitsgesetzes – hofft Nahles auf geführt werden müssen, damit die »Mehrheitsorgani- das Bundesverfassungsgericht? BB 48/2014 Die Erste sation« festgestellt werden kann. Was geschieht, wenn Seite die zweite Organisation sich dem Verfahren entzieht und lediglich behauptet, die Zahl ihrer Mitglieder sei so Die Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip schafft groß, dass sie selbstredend mehr Organisierte als die also nicht die erwünschten und erhofften klaren Ver- »kleine« Konkurrenz habe? In solchen Fällen hilft nur hältnisse. Sie führt im Gegenteil zu einer Unzahl von eine gerichtliche Klärung im Beschlussverfahren. Kann Zweifelsfragen, über die sich trefflich streiten lässt. Die das Gericht auch für die zweite Organisation einen Rechtsunsicherheit würde alle bisherigen Erfahrungen 15
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