High End. Aktuelle bildhauerische Positionen + Shaped Canvases 2021 18/07 03/10/21 - Museum Villa Rot
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High End. Aktuelle # 01/21 bildhauerische Positionen ¬ Als vor zwei Jahren die ersten Vorbereitungen zur Ausstellung „High End“ begannen, hatte diese noch den etwas spröden Werktitel „Kunst am Rande des Designs“. Der darin angedeutete Brückenschlag von bildender Kunst zu aktuellem Industriedesign war ein Versuch, einer bestimmten ästhetischen Tendenz einen Namen zu geben. Denn bei Ausstellungs- und Akademie- Rundgängen zeigten junge Kunstschaffende immer wieder Werke, die statt des handwerklich „Gemachten“ makellose, glänzende Oberflächen präsen- tierten. Die Skulpturen, Plastiken und deren Präsentationen erinnerten bis- weilen an Erzeugnisse der industriellen Fertigung oder Produkte bekannter Weltkonzerne. Der Schluss lag also nahe, dass hier auf bestimmte ästhetische Qualitäten der gegenwärtigen Warenwelt verwiesen und eine Gemeinsam- keit innerhalb der Herstellungsmethoden gezeigt werden sollte. Doch wozu? Im direkten Austausch mit den für die Ausstellung angedachten Künstler*innen zeigte sich schnell, dass der Werktitel „Kunst am Rande des Designs“ nicht bei allen auf Gegenliebe stieß. Gerade das Wörtchen „Design“ könne, so die Befürchtung, falsche Schlüsse nahelegen. Schließlich gehe es in erster Linie um Bildhauerei, nur eben unter erweiterten Bedingungen und ja, mitunter auch in Bezug auf ästhetische Diskurse, aber eben nicht im Sinne von design- ten Produkten für die Konsumwelt. Der Künstler Andreas Schmitten fasste es stimmig zusammen. Eine Skulptur aus Holz, die manuell geschnitzt oder mit der Kettensäge bearbeitet wurde, würde beim Publikum selbstverständ- lich als Kunstwerk rezipiert. Sobald aber ein Stück Holz auf Hochglanz la- ckiert, poliert und geschliffen wurde und keine Spuren händischer Bearbei- tung mehr aufweist, attestiere man schnell eine Nähe zum Design, so der Künstler.1 Es seien aber, so Schmitten, formale Griffe. Denn im Kern können die lackierte und die manuell bearbeitete Arbeit ganz ähnliche Themen be- handeln. Diese Problematik führte nicht nur zu einer Titeländerung, sondern auch zu mehreren offenen Fragen. Die ersten lauteten: Welche Bandbreite techni- scher Mittel steht Künstler*innen heute zur Verfügung und für welche Aus- 1 Andreas Schmitten in sagen nutzen sie diese? Die Ausstellung mit den einem Telefonat mit Marco gezeigten Werken liefert hierzu vielfältige Ant- Hompes am 20. Oktober 2020. worten. Zum anderen stellte sich die Frage, wa- 03
rum unterschiedliche Materialien und Oberflächen divergierende Vorstel- turhistoriker William Richard Lethaby, man müsse „mit den neuen Produkti- lungen beim Betrachter oder bei der Betrachterin erzeugen. Wie schauen wir onsbedingungen ins Reine kommen.“ 5 ein perfekt lackiertes Werk an, wenn es das Prädikat Kunst trägt? Und schließlich brodelt im Hintergrund auch die Frage, worin genau die Unter- Doch das klingt leichter, als es ist. Es lässt sich nämlich festhalten, dass die High End. schiede zwischen Kunst und Design liegen. Wann haben sich beide Bereiche Abspaltung von Kunst und Design kein schneller, finaler Schnitt und auch voneinander losgekoppelt? Welche Gemeinsamkeiten gibt es, und wie kön- die Entwicklung des Designs im heutigen Sinne keine stringente war. Vor nen beide Disziplinen voneinander lernen? allem die technisierte, industrielle Fertigung und die manuelle, handwerk- liche Produktion erscheinen mitunter als zwei sich abstoßende Pole. Dies Als sich das Design emanzipierte zeigt sich in diversen historischen Gegenpositionen und programmatischen Rückgriffen auf das Handwerk, wie man es bei der Arts and Craft Bewe- Über Jahrhunderte hinweg waren Kunst, Design und Technik keine getrenn- gung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem Alternativen Hand- ten Bereiche. Der altgriechische Begriff techne etwa ist nicht mit dem heu- werk der 1970er Jahre, dem Neuen Deutschen Design der 1980er, dem tigen Technik gleichzusetzen. Vielmehr bezeichnete er Tätigkeiten des prak- DIY, auf Plattformen wie Etsy und den aktuellen Digital Crafts ablesen kann. 6 tischen Hervorbringens, das Können, die Kunstfertigkeit und vor allem das Auch am Bauhaus in Weimar und an der Hochschule für Gestaltung in Ulm Wissen von Handwerker*innen. Als Prototypus dieses Denkens kann etwa war das Verhältnis des Industriedesigns zur bildenden Kunst kein klar abge- Leonardo da Vinci betrachtet werden, da er aus heutiger Sicht sowohl Tech- trenntes. Trotz all der mitunter romantisierten Betonung des Unikats beim niker, Designer und bildender Künstler war. Auch die mittelalterliche Produk- Handwerk lässt sich historisch betrachtet feststellen, dass „die Effizienz tion von Bildern, Schnitzwerk und anderen handwerklichen Erzeugnissen der arbeitsteiligen industriellen Fertigung […] dieser mehr als zwei Jahrhun- hatte wenig mit unserem heutigen Bild freier, kreativer Künstler*innen zu tun. derte einen Konkurrenzvorteil bot, durch den das Handwerk als gesell- Technik, Materialkenntnis und Erfindungsgabe in Form und Inhalt waren jahr- schaftliche Produktionsform in Nischen gedrängt wurde.“ 7 tausendelang nicht losgelöst voneinander zu denken. So heißt es folgerich- tig im ersten Satz des Wikipedia-Artikels zur Designgeschichte: „Die vorin- Was die Diskussionen und Auseinandersetzungen rund ums Thema industri- dustrielle Geschichte kennt keinen Designer.“ 2 elle Fertigung und Handwerk mit sich brachten, war eine Konkretisierung von Begriffen wie Unikat, Serie, Modul und Massenproduktion, die für die bil- Villém Flusser formuliert es wie folgt: „Die neuzeitliche bürgerliche Kultur dende Kunst erst sehr viel später eine Rolle spielen sollten. Das Design hat stellte schroff die Welt der Künste jener der Technik und der Maschinen ge- hierin also einen Vorteil, von dem Künstler*innen durchaus profitieren können. genüber, und daher zersprang die Kultur in zwei voneinander entfremdete Zweige: den wissenschaftlichen, quantifizierbaren, ,harten‘ und den schön- Unterschiede zwischen Kunst und Design geistigen, qualifizierenden, ,weichen‘. Diese verderbliche Scheidung begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts unhaltbar zu werden. Das Wort Design „Gute Kunst inspiriert, gutes Design motiviert”, sagte Otl Aicher und deutet sprang in die Bresche und bildete die Brücke.“ 3 damit an, dass Kunst eher introspektive Fähigkeiten besitzt, während De- sign nach außen wirkt. Doch welche Unterschiede lassen sich noch nennen? Denn erst mit Aufkommen der industriellen Produktion bröckelte das angeris- 2 https://de.wikipedia.org/ sene, universale Verständnis. Einzelne Disziplinen Denkt man darüber nach, in welchen Punkten sich Design und bildende Designgeschichte [Stand: 2. Februar 2021]. bildeten sich heraus und versuchten, ihre Relevanz Kunst unterscheiden, dann wird einem wohl zuerst der Aspekt der Funktio- 3 Villém Flusser: Vom Stand anderen Bereichen gegenüber durch Abgrenzung nalität in den Kopf kommen. Platt formuliert: Ein Gemälde darf an der der Dinge, Steidl, Göttingen 1993, S. 10 f. zu demonstrieren. Das zeigt sich bereits in der Wand hängen, ohne dabei einen eindeutigen Nutzen zu haben, während eine 4 Der Begriff „Design“ Vielzahl der neuen Begriffe, die in dieser Zeit auf- elektrische Zahnbürste nicht unabhängig von ihrem Gebrauchswert betrach- selbst soll erst in den Design oder Kunst? 1930er Jahren erstmals tauchten: Technische Künste, industrielle Künste, Bellefasts (Max Moormann) tet werden kann. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Zum einen zeigt von Mies van der Rohe gebraucht worden und Kunstgewerbe, Kunstindustrie, angewandte Kunst, Media Robot – Totem sich immer wieder, dass das Narrativ eines l’art auch erst in den 1960ern aus dem Jahr 1982 Ikonen der industriellen als positiv konnotierter Werkkunst und weitere Begriffe lassen erahnen, 5 Zitiert in Dagmar Steffen pour l’art, einer Kunst, die frei und daher funkti- Das Handwerk als Möbelproduktion: Begriff verwendet worden wie schwierig die neuen Bewegungen voneinander Produktions- und onslos ist, einen Mythos darstellt. Ob als Geldan- Bugholzstühle sein. Zuvor waren im Arbeitsstil. Widerstand, deutschen Sprachge- abzugrenzen waren. Mitte des 19. Jahrhunderts Koexistenz und Konver- lage, als Statussymbol, als Auftragsarbeit, als von Michael Thonet brauch die Begriffe genz zur Industriekultur. 1836–1851 Gestalt und Gestaltung beginnt also die eigentliche Geschichte des Desi- in Gerda Breuer, Kunst am Bau oder als Mittel einen Immobilien- prägend. Vgl. Claudia Christopher Oestereich Mareis: Design als gns im heutigen Sinne. 4 Deren Emanzipation von preis hochzutreiben, Kunst hat viele Funktionen. (Hg.), seriell – individuell, Wissenskultur. Interfe- der bildenden Kunst ist folglich eng verknüpft mit Handwerkliches im Auf der Gegenseite sind auch Designprodukte mit- renzen zwischen Design- Design, S. 15. und Wissensdiskursen seit der Entwicklung neuer technischer Möglichkeiten. 6 Ebd. S. 15. unter zweckfrei. In der Retrospektive lassen sich 1960, transcript Verlag, Bielefeld 2011, S.25 f. Bereits 1915 forderte der Architekt und Architek- 7 Ebd. S. 15. immer wieder Ansätze entdecken, die sich von 04 05
einem reinen Formalismus entfernen. Das reicht vom Jugendstildekor bis entstehen, der Normalfall ist das aber nicht. Die Produktions- und Vermark- hin zu radikalen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre wie dem Neuen tungsbedingungen sind komplexer, sodass sich der kreative Prozess meist Deutschen Design 8 oder der Mailänder Memphis-Gruppe, die mit einem in einem Team abspielt. Verschiedene Spezialisierungen innerhalb eines De- provokanten „Anti-Design“ das enge Korsett eines unprätentiösen, praktika- signbüros führen zu weiteren Verzweigungen: von Web- und Printdesign bis High End. blen Designs in Frage stellten. Nicht die beste Form für den jeweiligen zu Corporate-, Produkt- und Schriftdesign. Doch auch weniger kreativ ge- Zweck stand hier im Zentrum, sondern eine Befreiung der Mittel, welche die stalterische Bereiche gehören zum Portfolio großer Büros: Druck- und Wer- bildende Kunst schon viel früher durchlaufen hatte. betechnik über Social-Media-Marketing bis zu Firmenberatungen. Diese Unterschiede im Entwicklungsprozess erklären sich auch durch das Ein weiteres Distinktionsmerkmal bildender Kunst zu Design ist die Unter- Verhältnis von Produzent, Rezipient und Kunde. Design ist ein Motor scheidung von serieller Produktion und Unikat. Angesichts einmaliger der wirtschaftlichen Entwicklung und orientiert sich noch stärker am Neuen Designstücke und serieller Kunstproduktionen lässt sich aber auch dieser als die bildende Kunst. Denn in der Logik der heutigen, fortschrittsorien- Unterschied nicht (mehr) aufrechterhalten. tierten Gesellschaft braucht es das Neue, um Kaufimpulse zu setzen. Smartphones sind in diesem Kontext ein gutes Anschauungsbeispiel. Bei- Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts haben sich weitere Aspekte ver- nahe jedes Jahr bringen die Marktführer*innen neue Designs und Funkti- schoben. Zu nennen sind hier die Bedeutung von emanzipierten Benut- onen auf den Markt, die attraktiver erscheinen als das eigene, nun veraltete zer*innen und eine Erweiterung der Tätigkeitsfelder von Gestal- Telefon. Das Design ist in diesem Prozess eine Schnittstelle zwischen Ver- ter*innen. 9 Denn Design bezeichnet nicht mehr nur das planvolle Gestalten kaufsorientierung, technischem Fortschritt und ästhetischer Gestaltung, von Maschinen und Apparaten, sondern bezieht sich vermehrt auch auf so- wodurch es wesentlich zum Erfolg eines Auftraggebers beiträgt. Hiermit ziale Beziehungen, Prozesse, Informationen, digitale Strukturen und andere einher gehen oftmals ein hohes Finanzvolumen und ein technisches Innova- immaterielle Aspekte. 10 Kurzum: Die „Funktion“ ist also kein ausreichendes tionspotenzial. Aspekte, die der bildenden Kunst oft fehlen. Im Bereich tech- Distinktionsmerkmal mehr. Dafür hat das Design sehr früh Prozesse durch- nischer Möglichkeiten hinkt die bildende Kunst deshalb manchmal hinterher, laufen und es wurden Begrifflichkeiten diskutiert, die im Kunstfeld erst sehr wobei sie sich durch eine Grundoffenheit gegenüber neuen Techniken aus- viel später auftauchten. zeichnet, wie es durch die Ausstellung „High End“ deutlich wird. Im Gegensatz zum Design hat das Wort „Auftragswerk“ in den freien Kün- Zeitlich hinterherhinkend ist die Geschichte des Designs hingegen bei ihrer sten noch immer eine unangenehme Färbung. Immerhin hat sich die bil- eigenen Theoretisierung. 1563 wurde in Florenz die erste Kunstakade- dende Kunst mit der Abkopplung von Königs- und Adelshäusern und von der mie, rund 70 Jahre später die erste deutsche Akademie und 1799 die erste Kirche einen autonomen Status erkämpft, den sie immer wieder aufs Neue Professur für Kunstgeschichte in Deutschland verteidigt. Obwohl die Abhängigkeiten von Galerien, Messen, Museen, öf- 8 Vgl. Tobias Hoffmann (Hrsg.): Schrill Bizarr eingerichtet. Die bildenden Künste beschäftigen fentlichen Auftraggeber*innen und den Medien nicht zu unterschätzen sind, Brachial. Das Neue Deutsche Design der 80er sich also schon seit Jahrhunderten mit ihrem Me- so ist doch das Postulat der freien Kunst eine zentrale Losung. Jahre“, Wienand Verlag tier. Ein theoretisches Fundament zur Ausbildung 2014. 9 Vgl. Andreas Reckwitz: Die von Designer*innen und ein Diskursrahmen über Der Philosoph Boris Groys macht in seinem Text „Art and Activism“ auf ei- Erfindung der Kreativität – Zum Prozess gesell- Mittel und Ausrichtungen des Metiers sind jünger. nen ganz zentralen Unterschied aufmerksam. Er beschreibt, dass sowohl schaftlicher Ästhetisie- Hier zu nennen sind vor allem die Hochschule für Design als auch Kunst den Begriff Ästhetisierung für sich beanspruchen, rung, suhrkamp-Verlag, Berlin 2012, S.179 f. Gestaltung in Ulm und die britische Design Me- dabei aber gänzlich unterschiedliche Dinge meinen. Bei der bildenden Kunst 10 Vg. Friedrich von Borries: Weltentwerfen. Eine thods Movement, die eine „Verwissenschaftlichung impliziert der Begriff, so Groys, ein Defunktionalisieren.13 Sobald ein Ge- politische Designtheorie, des Designprozesses“ anstrebten, wobei Dag- mälde, ein Objekt, ein Möbelstück oder ähnliches ästhetisiert wird und im edition suhrkamp, Berlin 2016. mar Steffen betont, dass dieses Ziel nie erreicht Museum landet, wird es unbrauchbar. Es wird zum unantastbaren Ausstel- 11 Dagmar Steffen: Handwerk und Denkwerk. wurde, die Versuche aber weiter ausstrahlten. 11 lungsstück erkoren, historisiert und für die Zukunft bewahrt, die anhand des Zwei komplementäre jeweiligen Objekts einen Blick in die Vergangenheit werfen kann. Seiten des Designs Nr. 7, Handwerker, Es gibt noch einen weiteren, wichtigen Unter- Design hingegen, so der Philosoph weiter, sei dazu da, die Realität zu än- Visionäre, Weltgestalter?, 2017. schied, nämlich die jeweiligen Produktionsbe- dern oder zu verbessern. Die Ästhetisierung der Kunst ist also eine rück- 12 Natürlich gibt es auch dingungen. In der Regel entstehen Gemälde, wärtsgewandte, während die Ästhetisierung des Designs eine zukunftsori- Künstler*innen, etwa Takashima Murakami oder Skulpturen und Zeichnungen im Atelier. Die schaf- entierte ist.14 Olafur Eliasson, die regelrechte Büros fende Künstlerin oder der Künstler ist dabei unterhalten, die modernen meist alleine.12 Wie lange ein Werk zur Fertigstel- 13 Boris Groys: In the Flow, Designstudios ähneln, und Verso Books, London und in denen Mitarbeiter*innen lung braucht, ist oft nicht von Bedeutung. Moder- New York 2017, S. 47. im Team Werke produzie- ren. nes Produktdesign mag auch in Personalunion 14 Ebd. S.54. 06 07
Gemeinsamkeiten lung sein. Es reichen kleine Änderungen, Anpassungen, Rückgriffe auf Ver- gangenes, das neu interpretiert wird. Eine weitere Kameralinse, ein kleine- Da Design und bildende Kunst gemeinsame Ursprünge haben, lassen sich res oder geschwungenes Display; einen nennenswerten Mehrwert bieten auch viele Parallelen ziehen. Ein wichtiger Aspekt der frühen Jahre des De- viele der Smartphone-Neuerscheinungen nicht. Es geht vielmehr um „die High End. signs im heutigen Sinne ist sicher das Handwerk, mit dem Richard Sennett Herstellung symbolisch-affektiver Identifizierung“ und um die „Sicherung Selbstgenügsamkeit, Stolz und Hingabe assoziiert, bei dem Kopf und Kör- von Unterscheidbarkeit“.17 Es werden nicht mehr Dinge gekauft, sondern per, implizites und explizites Wissen einfließen.15 Symbole, Emotionen und die Möglichkeit, nicht nur zu konsumieren, sondern sich „einen individuellen Lebensstil“ 18 [Lifestyle] zusammenzustellen. Genau Damit einher geht auch die Bedeutung von Material und dessen Nutz- diese Fähigkeit haben sich Design und Management, die sich zunehmend barkeit. Sennett spricht von Materialneugier und Materialwissen, Paul Car- vermischen, von der Kunst abgeschaut. Denn auch sie verkauft keine mate- ter von Material Thinking. Wie ein Material sich verhält, welche Effekte sich riellen Werte. Der Wert eines Gemäldes bemisst sich nicht am Materialein- damit erzielen lassen und welche Formen es annehmen kann, all das sind satz oder am praktischen Nutzen, sondern an ganz anderen Parametern. Fragen, die für Designer*innen und Künstler*innen gleichermaßen von Be- deutung sind. Die Entwicklung vollständig synthetischer Materialien um Ebenfalls eine Gemeinsamkeit ist eine zunehmende Betonung des Poli- 1900 hat das Produktdesign jedoch schnell ein breiteres Portfolio an tech- tischen. Im Kern ist der Kreativsektor, sowohl Design als auch bildende nischen Möglichkeiten entwickeln lassen, was die bildende Kunst erst mit ei- Kunst, apolitisch. Zunehmend sprechen wir jedoch von Gesellschaftsdesign ner zeitlichen Verzögerung getan hat. und politisch aktiver oder aktivistischer Kunst. Beide Disziplinen versuchen, aus dem eigenen Schatten herauszutreten, größere Kontexte zu betrachten Beide Disziplinen arbeiten sich an den Kategorien „gut“ und „schön“ so- und zu behandeln. Das hat, wie Boris Groys herausgestellt hat (s.oben), wie ihren jeweiligen Gegenstücken ab. Egal ob Antidesign oder Bad Painting, das Design schon lange getan. Die bildende Kunst versucht es ihr gleichzutun der Angriff auf die Grenzen von Hoch- und Subkultur und anderer einschrän- und ihre Relevanz auch außerhalb eines introspektiven Blicks zu rechtfertigen. kender Faktoren wird in beiden Disziplinen mit Hingabe betrieben. Der Hin- tergrund ist die Bewahrung von Freiheiten, die für den kreativ-künstlerischen Exkurs: Design als dritte Kultur Bereich als essenziell betrachtet werden. Deshalb sucht das Design gerne die Nähe zur Kunst, welche spätestens seit den klassischen Avantgardebe- Wie bereits beschrieben wurde, hat das Design eine starke Nähe zur Indus- wegungen die Freiheit zu einem ihrer obersten Gebote erhoben hat. trie und zur Wirtschaft. Gleichzeitig hat es als kreative Disziplin, die aus der bildenden Kunst erwuchs, viel mit ihr gemein. Aus dieser unklaren Perspek- Claudia Mareis unterscheidet in ihrem Buch „Design als Wissenskultur“ tive heraus bezeichnete Charles P. Snow Design als „dritte Kultur“19, ähnlich verschiedene Tendenzen innerhalb des Designdiskurses: zum einen Design- wie auch Villém Flusser sie als synthetisierende Kraft zwischen zwei ausein- wissen als spezifische Art des Denkens, dann die Synthese als vermittelnde andergedrifteten Kulturen sah. Das mag auch das große Potenzial des Desi- Instanz zwischen verschiedenen Disziplinen, Innovation als Merkmal des De- gns sein. Es kann zwischen verschiedenen Polen hin- und herwechseln, signs und zuletzt das Motiv eines „impliziten Wissens“. Erstaunlicherweise reine Dienstleistung, politisch aktiv oder künstlerisch afunktional sein. Die- sind dies alles Kriterien, die auch die kunstwissenschaftlichen Debatten prä- ses Potenzial ist aber auch ein Makel, was sich zum einen in den Auseinan- gen. In der Theoretisierung der Disziplinen hat also in den letzten Jahr- dersetzungen rund um Designauffassungen zeigt (s. HfG Ulm und das Bau- zehnten zumindest sprachlich eine Annäherung stattgefunden. haus), zum anderen aber auch in der Aversion vieler Kunstschaffender, ihre Werke in Verbindung mit Design zu sehen. Nicht zu vergessen ist auch der Innovationsanspruch, der Design und Kunst vereint. Rein faktisch gibt es „das Neue“ allerdings gar nicht. Andreas Wenn Design zwischen verschiedenen Polen steht und dazwischen chan- Reckwitz weist darauf hin, dass es viel entscheidender ist, wie stark die giert, kann man auch danach fragen, wie sich die jeweiligen Pole zum De- emotionale Ansprache ist. Diesen Umstand umschreibt der Soziologe mit sign verhalten. Die Wirtschaft jedenfalls nimmt gerne Impulse aus der Krea- dem Begriff „ästhetische Ökonomie“. In dieser ist „das Neue“ zum Standard tivwirtschaft auf. Die wirtschaftlichen Auswüchse geworden, ohne dabei allerdings eine Entwicklung anzustreben. Vielmehr ist 17 Ebd., S.181. in creative industries, creative cities oder der In- 18 Ebd., S.143. es eine „Abfolge von Reizen“.16 Anders, aber nicht unbedingt besser als das novationsökonomie zeigen, dass die Anforderung 19 Vgl. Charles P. Snow: Die Alte, ist hier die Losung. Besonders lässt sich zwei Kulturen. In: Helmut kreativ zu sein zu einem regelrechten Imperativ Kreuzer & Wolfgang Klein 15 Richard Sennett: diese kontinuierliche, am Markt orientierte Ab- (Hrsg.): Literarische und geworden ist. Doch wie verhält es sich mit der Handwerk, Berlin Verlag, naturwissenschaftliche Berlin 2009. folge von Neuerungen in der Welt der Smartphones Intelligenz. Dialog über die Kunst? 16 Vgl. Andreas Reckwitz: Die erleben. Ein neues iPhone muss nicht unbedingt zwei Kulturen, Klett Erfindung der Kreativität, Verlag, Stuttgart 1969, S.45. eine neue Revolution in der technischen Entwick- S. 11–25. 08 09
Künstler*innen im Design Zwar kämpfte die bildende Kunst im 20. Jahrhundert um die Befreiung der High End. Mittel, doch die Tatsache, bei einem Werk nicht selbst Hand angelegt zu ha- Aktuelle bildhauerische High End. ben, erscheint vielen noch als Makel. Während dem Produktdesign die tech- nische Entwicklung zuspielte und es das Handwerk in eine Nische verdrängte, sieht es bei der bildenden Kunst anders aus. Hier legitimierten die Fähigkei- ten eines kreativ-schöpferischen, handwerklich begabten Kunstschaffenden Positionen ¬ die Qualität eines Werks. Doch in Zeiten, in denen die Möglichkeiten tech- nischer Produktion dermaßen perfekt sind, dass sie nahezu jedes Handwerk in den Schatten stellen, stellt sich auch die Frage, warum Künstler*innen Oliver Laric ihre Ideen unbedingt mit den eigenen Händen umsetzen müssen. Diese Frage prägt etwa die Werke der Minimal Art, die mitunter industriell gefer- Wenn wir heute Museen besuchen, sehen wir in aller Regel Werke, die als tigt wurden. einmalige Meisterwerke namentlich bekannter Urheber*innen präsentiert werden. Originalitäts- und Unikatsansprüche sind jedoch Themen, die in frü- Jeff Koons Deutlich heftiger an den gewohnten Kategorien der Bildhauerei rüttelte der heren Zeiten und in anderen Kulturkreisen nicht unbedingt zu finden sind.20 Ballon Dog (Yellow) 1993, amerikanische Künstler Jeff Koons. Er zitiert in seinen Arbeiten nicht nur Oliver Laric öffnet mit seinen Arbeiten ein diskursives Feld zur Neubewer- Metropolitan Museum of Art, New York scheinbar banale, alltägliche Motive wie einen zu einem Hund verknoteten tung der Kopie in der bildenden Kunst. Im Zentrum dieses Interesses ste- Luftballon, sondern er lässt diese auch industriell fertigen. Die Verarbeitung hen die recht jungen Methoden des 3D-Scans, des 3D-Drucks sowie weitere ist im wahrsten Sinne des Wortes „High End“ und lässt keinerlei Spuren hän- moderne bildgebende Verfahren. Gut nachvollziehen lässt sich der künstle- discher Bearbeitung erkennen. Hinzu kommt, dass er viele seiner Werke rische Ansatz bei dem Werk St. Veronica. Das Vorbild für die Arbeit findet nicht als Unikate herstellt, sondern häufig in Serien produzieren lässt und sich an einer Straßenecke in Wien.21 Es wurde von Laric digital vermessen. gleiche Motive in unterschiedlichen Größen und Farben durchspielt. Kaum Aus den gewonnenen Daten ließ er eine Negativform produzieren, die er mit jemand könnte weiter weg vom Bild des einsam vor sich hin arbeitenden einer Mischung aus Kunststoffen ausgoss. So entstand eine detailgetreue Künstlers im Atelier sein, als es Koons ist. Replik, bei der Material, Inhalt und Herstellung vom Original abweichen. Auf der Webseite threedscans.com stellt Laric die zu Grunde liegenden Da- Doch man muss nicht erst in die USA reisen, um diese Fragen zu diskutie- ten öffentlicher Statuen oder solcher in Kirchen und Museen, wie dem Bode ren. Bei der Retrospektive des Werks von Willi Siber im Museum Villa Rot Museum, dem Kunsthistorischen Museum Wien oder dem Musée Guimet 1919/20 kam es immer wieder zu Gesprächen, die genau diese Themen Paris, zum rechtefreien und kostenlosen Download bereit. Dadurch möchte aufgriffen. Die in der Kunsthalle gezeigten Wandarbeiten des Künstlers ba- der Künstler soziale, geografische und kulturelle Grenzen überwinden und sieren zwar auf Entwürfen des Künstlers. Die Fertigung des Holzunter- eine neue Form digitaler Teilhabe ermöglichen. Auf besagter Internetseite grundes übernimmt jedoch eine Firma, ebenso wie die spätere Lackierung stellen Kreative zudem ihre Ergebnisse vor und befördern so den schöpfe- von Experten durchgeführt wird. Der Künstler überwacht alle diese Ferti- rischen Austausch. gungsstufen, greift gegebenenfalls ein, bestimmt Layout, Farbe, Form und Oliver Laric ist damit einem Designer nicht unähnlich, mit dem Unterschied, dass einma- St. Veronica 2016 Museen stellt dieser Ansatz bisweilen vor Herausforderungen, ist die Arbeit Polyurethan, Perlglanz- lige Unikate entstehen, die losgelöst von jeglicher Funktion ihre Berechti- pigment, Glasfaser, mit Unikaten doch essenziell für sie. Viele Ausstellungshäuser haben bisher gung haben. Epoxydharz, keine eindeutige Lösung für den Umgang mit Urheber- und Nutzungs- 150×52×19 cm rechten, vor allem im digitalen Raum, gefunden. Dass Laric ausgerechnet © Oliver Laric & Tanya Sein Werk markiert folgerichtig auch den Auftakt der Ausstellung „High End. Leighton Gallery die Figur der Heiligen Veronika reproduziert, ist kein Zufall. Schließlich steht Aktuelle bildhauerische Positionen“. Er teilt sich den ersten Raum mit Oliver das Schweißtuch der Veronika für ein „Vera Icon“, ein wahres, authentisches Laric, der sich des 3D Drucks bedient, um alte Skulpturen zu reproduzie- Bild. Nach orthodoxer Tradition kann eine wahre, wundertätige Ikone auch ren, und Ivo Rick, der dezidiert Bildsprachen des Designs aufgreift, um de- mehrfach kopiert werden, ohne dass deren Wirkkraft dadurch verloren ren Ästhetik zu analysieren. Diese drei eröffnen den Diskursrahmen der ginge. Die Fragen, was als wahres und authentisches Bild gesehen werden Ausstellung, die danach über die Verbindung von Technik und Körper hin zu kann und inwiefern es sich im Wert vom Vorbild Werken führt, die ausdrücklich Techniken verwenden, die eher der Industrie 20 Weitere Ausführungen unterscheidet, sind bis heute aktuell geblieben. hierzu siehe Textheft zur zugerechnet werden. Ausstellung „Inspiration — Meisterwerk“. 21 Sank Veronika, Ottakringer — Straße 24. 10 11
Willi Siber Warum sollte ein so banales Objekt eine derart auratische Präsentation erfah- ren? Stammt er von einem berühmten Designbüro oder gehörte er einer pro- Der Künstler Willi Siber beschäftigt sich seit mehreren Jahrzehnten mit den minenten Person? Ist das überhaupt ein Hocker aus Holz? Und warum ist die ästhetischen Möglichkeiten von Oberflächen. Hierzu experimentiert er mit Vitrine so hoch? Der Blick auf die oftmals aufklärenden Erklärungsschilder im High End. changierenden Lacken, Epoxydharzen, polierten Metallen und anderen Ma- Museum hilft hier nur bedingt weiter. Der Titel „Stehend auf dem Hocker“ ver- terialien, die der Künstler virtuos einsetzt, sodass am Ende des Werkpro- ursacht mehr Fragen, als dass er helfen würde. Und auch die Materialangabe zesses sinnliche Werke entstehen, die aber keinerlei händische Bearbeitungs- PMMA wird den meisten nichts sagen. Es ist die Kurzform für Polymethylmeth- spuren mehr aufweisen. Beispielhaft für seine Arbeiten sind die Wandobjekte acrylat, ein transparenter thermoplastischer Kunststoff. Ist also vielleicht die mit Interferenzlack. Hierfür fertigt der Künstler zunächst eine Entwurfszeich- Vitrine das eigentliche Kunstwerk und nicht der Hocker? Oder fragt Schmit- nung an, auf deren Basis eine MDF-Platte CNC-gefräst wird. Die Rohformen tens Arbeit danach, wie wir Dinge mit Bedeutung versehen? Der Künstler werden anschließend nachgeschliffen, um so perfekte, weiche Übergänge zu selbst formuliert es so: „Skulptur sublimiert, was in der Welt passiert, […] erhalten. Die darauffolgende Behandlung mit unterschiedlichen Lacken wird sollte aber nicht darauf beschränkt sein.“ 22 von Fachleuten übernommen, immer im Beisein des Künstlers, der die genaue — Ausrichtung der Farben kontrolliert. Diese Vorgehensweise, bei der tech- nisches Wissen, fachmännische Ausführung und künstlerischer Entwurf inein- Blick in die Ausstellung andergreifen, ist der Arbeit einer Designerin oder eines Designers nicht un- Jens Kothe Willi Siber – der weg 1980–2020 ähnlich, nur loten die Ergebnisse genuin künstlerische Phänomene aus, wie © der Künstler & VG Bild-Kunst, etwa das Verhältnis von Körper und Raum, die Interferenzen von Licht und Jens Kothes Wand- und Raumobjekte spielen mit der Gegenüberstellung Bonn 2021, Foto: Henry M. Linder Farbe, die Suche nach der idealen Form sowie das Auslösen sinnlicher Reize. von Materialien und den damit verbundenen Erinnerungen, Vorstellungen — und Implikationen. Immer wieder treffen hierbei industriell gefertigte Pro- dukte auf körperbezogene, eher sinnlich erfahrbare Stoffe. Ein Blick auf die Materialangaben der beiden ausgestellten Werke macht dies deutlich: Pol- Andreas Schmitten sterwatte, Sand, Silikon und Textil stehen Zement, Stahl oder Konstrukti- onsholz gegenüber. Kothe gelingt es, die Vielzahl an Materialien miteinan- In vielen seiner aufwendigen skulpturalen Arbeiten greift Andreas Schmitten der zu vereinen, ohne sie dabei in eine inhaltliche Harmonie zu bringen. alltägliche Objekte und deren Inszenierungen auf. Es gelingt ihm hierbei, diese Stattdessen bleiben ihre konträren, vielleicht widersprüchlichen Wirkungen Fragmente des Realen so umzuformulieren, dass sie einen erzählerisch anmu- in einem dezidierten Spannungsverhältnis. Hart und weich, technisch und tenden Charakter erhalten, gleichzeitig jedoch auch den Blick der Besu- organisch, geöffnet und geschlossen, warm und kalt und weitere Gegen- cher*innen irritieren. satzpaare definieren die Werke. Der menschliche Körper steht inmitten die- Das Werk Nach innen gerichteter Blick etwa erinnert an Vitrinen, wie man ser Kräfte, wird aber nie vollständig dargestellt, sondern in Material über- sie aus Modehäusern, Schmuck- oder Brillengeschäften kennt. Fein säuberlich setzt oder lediglich in schwer benennbaren Ausschnitten gezeigt. aufgereiht und durch Glas vor Diebstahl geschützt, wirken die darin präsen- Kothes Werke sind Sinnbilder für den Wandel des Körpers in der aktuellen tierten Objekte wertvoll und erstrebenswert. Einzig benennen lassen sie sich Zeit. Dass dieses sehr ambivalent ist, wird schnell deutlich und zeigt sich nicht. Was sind das für schwarze Kästchen, die teilweise mit Tüchern umhüllt Jens Kothe auch daran, dass die Objekte des Bildhauers auf der einen Seite befremd- scheinen? Wozu könnten sie nützlich sein? Gekonnt spielt Schmitten mit un- stand I 2021 lich wirken, auf der anderen aber immer wieder auch den Reiz in uns auslö- seren Seherfahrungen: Durch Schaufenster und geschützte Auslagen schauen Sand, Zement, Stahl, sen, sie zu berühren, um sie sinnlich zu erfahren. Polsterwatte, Konstruktionsholz, wir für gewöhnlich von außen auf etwas im Inneren, das uns anlocken soll. Klarlack, Tackernadeln, Nägel, — Hier jedoch sind Objekte zu sehen, die wiederum etwas in ihrem Inneren be- Silikon, Pigment, Faden © Jens Kothe herbergen könnten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich zudem, dass die Materialien nicht unbedingt dem entsprechen, was sie zu sein scheinen. Die Adrian Kiss weichen, weißen Tücher sind in Wirklichkeit feste Bildkörper. Dadurch be- kommt die Arbeit etwas Kulissenhaftes und Artifizielles. Ein wiederkehrendes Thema in den Arbeiten des Künstlers Adrian Kiss ist Andreas Schmitten Nach innen gerichteter Blick 2020 Durch sein Spiel mit Materialien, Titeln, Vertrautem und Unvertrautem sowie die Verbindung des menschlichen Körpers zur Technik. Ausgehend von der Metall, Glas, Holz, Stoff, Kunststoff, Zeigen und Verbergen, öffnet Andreas Schmitten Assoziationsräume, die über Frage, wie unterschiedliche Materialien auf den menschlichen Körper einwir- Lack, 240 x 125 x 23 cm Courtesy the artist & König Galerie unseren Umgang mit der Umwelt nachdenken lassen. ken und welche Formen sie dabei annehmen, 22 Andreas Schmitten in Berlin/London Das gilt auch für Stehend auf dem Hocker. Zu sehen ist ein Hocker, der in einem Telefonat mit Marco kombiniert der Ungar unterschiedliche Werk- Hompes am 20. Oktober einer Art Museumsvitrine steht und von oben beleuchtet wird. Auf den ersten 2020. stoffe. Das Textile spielt hierbei eine zentrale Blick ist das kein ungewöhnliches Motiv. Doch vieles daran bleibt rätselhaft. Rolle, da es nah am Körper ist und dadurch von 12 13
diesem sinnlich wahrgenommen wird. In Kombination mit synthetischen Katharina Beilstein Stoffen, futuristischen Formen und industriellen Erzeugnissen entstehen sinnbildhafte Werke, die den Einfluss der Technik auf den Menschen wider- Katharina Beilstein studierte Bildhauerei an der Kunstakademie in Düssel- spiegeln. Ein gutes Beispiel für diese Herangehensweise ist das großforma- dorf. Schon während des Studiums interessierte sie sich für die Grenzbe- High End. tige Werk Untitled (Durva kosci) (dt. etwa: grobes Auto; grob hier im reiche von autonomer Skulptur und nutzbaren Objekten. Unter anderem in- Sinne von rau, derb, brutal). Das Werk entstand während des ersten Lockdo- spiriert durch die tragbaren Werke des Künstlers Franz West, begann sie, wns in Ungarn, einer Zeit, in der sich Kiss mit Archäologie und Ausgrabungen diesen Grenzbereich auszuloten und danach zu fragen, wie man sich For- menschlicher Zeugnisse befasste. Die Frage, wie Objekte ihre Bedeutung men körperlich aneignen und sie gleichzeitig visuell betrachten kann. Nach- oder ihren Nutzen verlieren, brachte ihn dazu, ein Relief aus „maskulinen For- dem sie bei einer Ausstellung in der Kunstakademie einen Schuhmacher men, futuristischem Autodesign und primitiver Stammesästhetik“23 zu kombi- aus Mettmann kennengelernt hatte, wurden ihre Werke zunehmend tragbar nieren. Die weiß lackierten Elemente erinnern an Bilder von menschlichen bis sie selbst die Kunst des Schuhmachens erlernte. Konsequent löst Beil- Skeletten in archäologischen Museen. Doch sind es keine menschlichen Kno- stein die Grenzen zwischen Design, bildender Kunst und Mode auf. Ihre chen, sondern die Überreste eines modernen Fahrzeugs. Werke funktionieren als Skulpturen, manche sind jedoch auch tragbar, alle Adrian Kiss — sind allerdings Unikate, mit denen Beilstein die Qualitäten und Haptiken von Untitled (Durva kocsi) 2020, Materialien erkundet. Polystyrolschaum, Fliesenkleber, Polyureaharz, Lack, Autostoff und Das Wechselspiel zwischen Funktionalität, bloßer formeller Referenz und au- Papier auf Holzplatte, Sophia Mainka tonomem Kunstwerk sind bei Beilstein fließend. Ein gutes Beispiel ist das 290 x 140 x 213 cm © Adrian Kiss Werk 27.5. Das organisch geschwungene Objekt erinnert durch seine sich In ihrer künstlerischen Praxis beschäftigt sich Sophia Mainka mit unserem verjüngende Spitze, die den Boden berührt, an den Stöckel eines High Heels. Verhältnis zu Dingen, welches bisweilen so stark ist, dass man von einer Fe- Die gegenüberliegende Seite des Bildkörpers ist stärker geometrisch ge- tischisierung sprechen kann. In diesem Zusammenhang kam die Künstlerin formt und enthüllt an den innenliegenden Ecken seinen hölzernen Kern. Ge- auch auf das Thema Auto. Es faszinierte sie, welche engen Bindungen manche konnt spielt Beilstein mit unserer Bildvorstellung und den Bildern, die wir Menschen mitunter zu ihren Fahrzeugen aufbauen. Sie geben ihnen (Frauen-) mit Schuhen verbinden, verhindert in diesem konkreten Fall aber ein tatsäch- Namen, sprechen mit ihnen und gehen mit ihnen um wie mit einer geliebten liches Tragen des Schuhs. Genau in dem Moment, in dem das Kleidungs- Person. Die Münchnerin reflektiert in ihren Skulpturen und Videos diese Bin- stück seine Funktion verliert, wird es zur Skulptur, was aber nicht heißt, dungen zwischen Maschine und Mensch. Ihre Werke sind Hybride, die beide dass nicht Bilder von einer potenziellen Benutzung im Kopf entstehen. Poin- Bereiche miteinander vereinen und mit denen sie die Zukunft des Designs und tiert positioniert Beilstein ihre Arbeit zwischen Design und Kunst, Nutzbar- der Mobilität reflektiert. Im ausgestellten Video erzählt Mainka von einer Frau, Katharina Beilstein keit und Unnutzbarkeit, Vorstellung und sinnlichem Begreifen und rüttelt da- 27.5. 2015 die in ihrem Auto lebt und sich langsam mit diesem vermischt. Holz, Lack, mit an den Kategorien. Wie Jens Kothe und Adrian Kiss vernäht auch Mainka Textilien und setzt diese in 30,3 x 8,8 x 28,5 cm — © Katharina Beilstein Relation zu anderen Materialien. Gut zu beobachten ist dies bei dem Werk „Autoscooter“ im Windfang der Villa Rot. Die äußere Form ist ein Acrylguss, der mit Autolack überzogen wurde. Einzelne Elemente fertigte sie aus orgi- Stefan Wissel nalem Armaturenleder und bockte das Werk auf einem zweiten Acrylguss auf. So entstand ein freies, abstrahiertes Modell, das sowohl organische als auch Stefan Wissels Arbeiten spielen mit alltäglichen Phänomenen, deren Bedeu- technoide Komponenten vereint und gleichzeitig ein wenig wie ein Monument tung oder Erscheinung der Bildhauer durch künstlerische Eingriffe ver- wirkt. Letzteres kommt nicht von ungefähr, immerhin erinnern Monumente an schiebt, um so ein Spannungsfeld von Alltäglichem und Außergewöhnlichem etwas Vergangenes. Auch die Mobilität ändert sich aktuell und die Künstlerin zu schaffen und daran Aspekte der Bildhauerei zu untersuchen. empfindet, dass wir an einem Wendepunkt sind. Die Assoziationen an Status, Häufig bestehen seine Arbeiten aus industriell gefertigten Einzelteilen oder Luxus und Freiheit, die ein Auto bei uns auslöst, sind zwar noch präsent, doch werden, diese zitierend, nach seinen Anweisungen gefertigt. Das mehrtei- wird im Zusammenhang mit der Klimakrise das Auto auch zu einem Feind- lige Werk Shuttle ist hierfür ein gutes Beispiel. Es besteht aus einzelnen, bild. Die Vergänglichkeit der Form scheint in gefalteten Aluminiumelementen. Diese sind in zwei versetzt zueinander ange- 23 “My initial plan to paint, Sophia Mainka quickly turned into an Mainkas Arbeiten immer wieder durch, wenn sie ordneten Reihen in exakten, gleichbleibenden Abständen hintereinanderge- Carmen 2020 assemble relief piece of Installation [Detail] masculine shapes, subtil auf das Thema Verkehrsunfall hinweist. Im stellt. Durch die sich wiederholenden Formen, die strenge Reihung, das kühle ©Sophia Mainka futuristic automotive design mixed with Video und durch die Leitplanken wird die Fehlbar- metallene Material und die industriell wirkende Fertigung erinnert Wissels Ar- primitive tribal aesthe- keit der vom Menschen konstruierten und ge- tics.” beit an Werke der amerikanischen Minimal Art. Durch die glatten Oberflächen Adrian Kiss in Mail an lenkten Technik sichtbar. treten die einzelnen Elemente in einen Dialog miteinander, sie spiegeln sich Marco Hompes, am 6. Januar 2021. — ineinander, reflektieren das Licht, werfen Schatten und werden durch die Be- 14 15
schaffenheit des Umraums akzentuiert. Den gebürtigen Hamburger in die Ivo Rick Schublade der Minimal Artists zu stecken, wäre jedoch falsch. Bei Shuttle lässt sich erkennen, dass der Bildhauer mit unserem Vorstellungsvermögen Mit ihren makellosen Oberflächen, den perfekten Formen und ihrer modul- spielt. Sowohl die Form der Teile, deren Reihung und der Werktitel rufen Er- haften Gestalt erinnern Ivo Ricks Skulpturen an Geräte großer Weltkon- High End. innerungen an Sitze in öffentlichen Verkehrsmitteln, Flugzeugen oder ande- zerne. Betrachtet man die ausgestellten Werke genauer, wird man immer ren Fortbewegungsmitteln hervor. Dass diese jedoch nur wenig Beinfreiheit wieder Einzelteile entdecken, die eine Benutzung andeuten. Mal wirkt ein lassen, darf durchaus als humorvolle Setzung gelesen werden. Knopf, als könne man mit ihm die Lautstärke einstellen, mal erinnert eine — Vertiefung an ein Ablagefach, mal glaubt man ein Lüftungsgitter zu erken- nen. Während ein Produkt von Apple, Microsoft oder Samsung aber tatsäch- lich solche oder andere Funktionen aufweist, die möglichst intuitiv von den Nicolas Pelzer Nutzer*innen ausgeführt werden können, simulieren Ricks Objekte diese Bedienbarkeit lediglich. Sie bleiben museale Ausstellungsstücke, die man Stefan Wissel Nicolas Pelzer interessiert sich in seiner künstlerischen Praxis für industri- nicht berühren darf. Dadurch entsteht ein interessantes Spannungsverhält- Shuttle 2017 elle Verfahren und damit einhergehend für den Übergang von digitalen zu nis: Man ist gewillt, die ausgestellten Objekte zu berühren und zu benutzen, gefaltetes Aluminium, Maße variabel physischen Produktionsformen. Folgerichtig lässt sich seine Arbeitsweise darf es aber nicht. Den Besucherinnen und Besuchern bleibt also nur sich © Stefan Wissel, auch als „analogital“, also gleichermaßen analog und digital, bezeichnen. die Benutzbarkeit, den dazugehörigen Klang und die Haptik der Oberflächen Courtesy der Künstler & VAN HORN, Seine Skulpturen entstehen als Entwürfe am Computer. Danach müssen sie vorzustellen. Das wird jedoch nie zur Gänze gelingen. Schließlich können Düsseldorf jedoch den Weg in die physische, materielle Welt finden. Dies kann durch manche Formen nicht mit einer eindeutigen Funktion benannt werden, son- 3D-Druck, Wasser-, Laserstrahl oder manuell geschehen. Fragen innerhalb dern bleiben abstrakt und dadurch skulptural. Es ist dann so, als würde ein dieses Übersetzungsprozesses sind essenziell zum Verständnis der Werke Mensch aus der Vergangenheit plötzlich vor einem Macbook stehen. Ohne ein des Berliners. Wie findet eine Idee ihre Form? Welches Material bietet sich an, erlerntes, intrinsisches Designwissen würde ihm das Objekt fremd bleiben. wenn etwas Virtuelles Gestalt annehmen soll und wie werden die unterschied- Die enge „Analogie zu Vertrautem“, wie der Kunsthistoriker Jochen Meister lichen Aggregatzustände einer Arbeit rezipiert? es nannte, ist also ein künstlerisches Vexierspiel, das von einer ästhe- Allgemeiner formuliert geht es Pelzer dabei um die Evolution von Technik. tischen Betrachtung hin zu funktionalen Überlegungen und letztlich dazu Der Mensch nutzte nicht nur seine Hand, sondern ging schnell dazu über, führt, dass man über die Erscheinungen unserer Alltagswelt nachdenkt. Werkzeuge als Erweiterungen seines Körpers zu nutzen. Aus den Werkzeu- Die Entstehungsweise von Ricks Objekten sieht wie folgt aus: In einem CAD- gen wurden Maschinen und aus den Maschinen autonom agierende, künst- Programm entwirft der Bildhauer digitale Versionen der späteren Skulptur. liche Intelligenzen. Pelzer beschreibt diese Vorgehensweise als Exterrorisie- Diese werden dann mit 3D-Druckern oder CNC-Fräsen in eine materielle rungsprozess, der sich immer weiter vom Menschen entfernt. Form gebracht und anschließend lackiert oder pulverbeschichtet. Am Im Zusammenhang mit diesem Themenkomplex hat sich Pelzer unter ande- Ivo Rick Schluss folgt eine händische Bearbeitung, um den Arbeiten den letzten rem mit dem Motiv des Cockpits beschäftigt. Für ihn sind Cockpits hochin- model_shlf 2016, Schliff zu geben. Das Interesse an modernen Verfahrungsweisen sieht man Kunststoff, Stahl, Pulverlack, telligente, automatisierte Maschinen, die auf der einen Seite Wissen um de- 22,5 x 15 x 12 cm auch an Arbeiten aus der Serie cups_gum_straw_pills_cigs. Hierbei han- ren Bestandteile erfordern, auf der anderen Seite aber auch intuitive © Ivo Rick delt es sich um gefundene Plastikbecher, die er in Zusammenarbeit mit Steuerung ermöglichen. Pelzer übersetzt das Motiv in Skulpturen, entkernt dem Künstler Nikola Arthen im 3D-Druckverfahren reproduziert und damit in jedoch Knöpfe, Warnhinweise und ähnliche Bediener*innenoberflächen, so- Kunstwerke verwandelt hat. So wird das Alltägliche ästhetisiert. dass nur eine skeletthafte Hülle des Technischen bleibt. Die Aussparungen — an den eloxierten Aluminiumobjekten werden zum gestalterischen Element. Nicolas Pelzer Die Betrachter*innen kennen die Zusammenhänge nicht, sodass sie versu- Cockpit Rule – chen, die Fehlstellen mit Funktionen zu besetzen. Genau an diesem Punkt Lukas Hoffmann Counterbalance, 2017 werden sie jedoch scheitern, da die Werke Pelzers natürlich Skulpturen blei- eloxiertes Aluminium, 57 x 178 x 105 cm ben. Die geschwungenen Formen und ihre unterschiedlichen Farben haben Lukas Hoffmanns Arbeiten spielen mit dem Vorstellungsvermögen der Be- © Nicolas Pelzer keinen funktionalen, sondern einen ästhetischen Wert. Pelzer arbeitet also sucher*innen. Hierfür entwickelt er Raumbilder, die bisweilen an Moment- nicht nur an der Schnittstelle von digital und analog, sondern auch von aufnahmen aus einem Szenario, an eine leere Filmkulisse oder eine Szene Skulptur und Maschine. aus einem Computerspiel erinnern. Obwohl Menschen oder Interaktions- möglichkeiten fehlen, besitzen die Werke ein erzählerisches Potenzial. Die- — ser Umstand gelingt dem gebürtigen Aalener durch die Wahl der Materi- alien, die mit Vorstellungen und Erinnerungen verbunden sind, sowie mit den gewählten Formen. 16 17
Shaped Canvases Das Werk im letzten Ausstellungsraum der Villa etwa weckt durch die 56 x 70 cm großen Betonklötze Assoziationen zur Architektur. Diese sind modu- lar zu einer Form zusammengestellt, auf deren Oberseite ein gelb lackiertes Stahlblech mit einem Loch eingesetzt ist. Diese Konstellation lässt viele Be- 2021 Shaped Canvases 2021 züge zu und kann an einen Sarkophag, einen Abstieg oder eine Tür erin- nern. Pointiert spielt Hoffmann mit dem Geheimnisvollen, vielleicht sogar Unheimlichen. Man beginnt sich zu fragen, was sich hinter der gelben Form verbirgt. Kann man durch das Loch etwas hineinwerfen, etwas herausholen oder ist es nur als Schauloch gedacht? Durch das Loch kann ein Blick ins In- nere geworfen werden. Dabei können die Besucher*innen Wasser erahnen, wodurch ein endloser Raum erträumt werden kann. Neben dem Becken auf den Betonklötzen zeigt Hoffmann in der Ausstellung Lukas Hoffmann eine Tasche mit drei metallenen Objekten. Die Tasche erinnert an Teile eine Eisenbahn zum Mond 2018 eines sogenannten Tactical Gear Systems, an Zubehör, welches man im Beton, Stahlblech, Lack, Wasser, Sand, Textil, PVC, PP, Schnallen, Faden, Waffen-, Sport- oder Survivalladen erwerben kann. Den glänzenden Ob- Druckknöpfe, Reißverschluss, jekten darin kommt dadurch eine praktische Funktion zu. Sie verweisen auf Schrauben, Edelstahl, Stahl, Aluminium- eine Handlung. Doch welcher Art diese ist, bleibt unklar. Gekonnt macht bronze, Neusilber, 784cm x 420cm © Lukas Hoffmann sich der Bildhauer unterschiedliche Materialien zu Nutze, um mit den Mo- tiven unseres kollektiven Bildwissens zu spielen, uns zu irritieren und moti- viert uns dadurch, die ausgestellten Werke mit Geschichten zu füllen. — Felicien Myrbach-Rheinfeld Um 1900 zeichnet der österreichische Künstler Felicien Myrbach-Rheinfeld Candidates for Admission to the Paris Salon [Kandidaten ein ungewöhnliches Motiv: Drei Herren (und ein Vögelchen) befinden sich in für die Zulassung zum Pari- einem Raum, der voll von Gemälden ist. Dicht an dicht sind die Kunstwerke ser Salon] um 1900 Tinte und Grafit auf Papier, in Reihen aufgestellt und der Größe nach sortiert. Ein wenig erinnern die 33,5 x 49,2 cm auf- und absteigenden Zeilen an Wellen, was sinnbildlich die „Flut“ an Bildern Metropolitan Museum of Art verdeutlicht. Die drei Männer begutachten systematisch jedes einzelne Bild, um aus der Unmenge an Einreichungen jene auszuwählen, die sie als geeig- net für die Präsentation im Pariser Salon erachten. Welche das sein könnten, verrät Myrbach-Rheinfeld nicht. Das Einzige, was die Betrachterinnen und Betrachter sehen können, sind die Rahmen der Gemälde. Was auf den ein- zelnen Werken zu sehen ist, bleibt also der eigenen Vorstellung anheim, weshalb das finale Urteil den Fachleuten überlassen werden muss. Schließ- lich können nur sie die Vorderseiten sehen. Ein Umstand, der bis heute Jury- sitzungen oder Auswahlkomitees umweht. 18 19
Die Zeichnung Myrbach-Rheinfelds unterscheidet sich jedoch massiv von El Lissitzky, den dieser für die Große Berliner Kunstausstellung 1923 entwi- vergleichbaren Situationen der Gegenwart: Keine Installationen, keine Skulp- ckelt hatte. Die Grenzen zwischen Bild, Bildträger, Raum und autonomem turen, keine losen Leinwände oder Videobildschirme, keine Mappen oder Werk verschwinden. konzeptuellen Werke sind hier zu sehen. Vielmehr ist jedes einzelne Kunst- Shaped Canvases 2021 werk von einem zu ihm passenden Rahmen gefasst. Das ist erst einmal nicht Während die restriktive, propagandistische Kulturpolitik der Nationalsozia- verwunderlich, sagt jedoch gleichzeitig viel über das Kunstverständnis jener list*innen im Deutschen Reich, die Deklarierung des sozialistischen Realis- Epoche aus. Jedes Gemälde ist eine Welt für sich. Der Rahmen schützt mus als Staatskunst in der Sowjetunion, die Wirren des Zweiten Weltkriegs diese Welt und grenzt sie von der Umgebung ab. Er wird zum Fenster, durch in allen europäischen Ländern und weitere gesellschaftliche und politische das man auf eine Landschaft, eine Geschichte, ein Porträt oder eine religi- Unruhen die Fortführung der avantgardistischen Kunstentwicklungen lähm- öse Szene, auf einen bestimmten Inhalt blickt. ten, fanden diese eine Fortführung in den USA. Sowohl die Immigration eu- ropäischer Künstler*innen als auch Ausstellungen beziehungsweise Ausstel- lungsprojekte mit europäischer Kunst waren Inspirationsquellen für junge US-amerikanische Kunstschaffende und führten zu Bewegungen, die unter anderem mit dem Sammelbegriff „New York School“ zusammengefasst wurden. Gemälde wurden zunehmend abstrakter, sowohl expressiv- gestisch, aber auch streng geometrisch. Schon bald trieb der Wunsch, die Bedingungen der klassischen Malerei zu hinterfragen, ganz andere Blüten. Farbe wurde nicht mehr nur mit dem Pinsel aufgetragen, sondern getropft, El Lissitzky geschossen oder geschüttet. Alternative Bildträger und Materialien wurden Prounenraum für ausprobiert, der umgebende Raum wurde sichtbar gemacht. Um 1960 ge- die Große Berliner Kunstausstellung 1923 riet die Selbstverständlichkeit der rechteckigen Leinwand in den Fokus ei- Rekonstruktion des Stedelijk Van ner Reihe junger Künstler und Künstlerinnen. Keneth Noland, Morris Louis, Abbemuseums Eindhoven Lee Bontecou, Carmen Herrera oder Ron Gorchov experimentierten mit neuen Formaten. Mit besonderer Konsequenz widmeten sich die Künstler Ellsworth Kelly und Frank Stella der Neuausrichtung der Leinwand. Ihre Na- men sind eng verbunden mit dem Begriff der „Shaped Canvases“ [dt. ge- 24 Gemeint ist das Kunstgeschichtlich betrachtet lässt sich festhal- formte Leinwände]. Stella passte die Form seiner Leinwände den Motiven monumentale Werk „Le ten, dass in dem Moment, in dem der abbildhafte an, sodass Form und Inhalt ineinander fielen. Die Leinwand wurde damit es- Bassin aux Nymphéas“, um 1917–1920. Inhalt beginnt sich aufzulösen, auch der Rahmen senzieller, gestalterischer Teil des Werks. 25 Paysage intime [dt.: vertraute oder intime in die Krise gerät. Erste Tendenzen dazu zeigen Landschaft] ist eine sich bereits im Impressionismus. Wenn etwa Auch für Ellsworth Kelly sollten die Wirkung und der Ausdruck eines Bildes Stilrichtung, die sich in der Mitte des 19. Claude Monet einen mehr als drei Meter breiten in dessen Form liegen. Er gestaltete polygonal oder geometrisch geformte Jahrhunderts entwickelte. Sie steht in enger Seerosenteich malt oder gleich ein Triptychon Bildkörper (panels), zum Teil mit abgerundeten Seiten, die er monochrom Verbindung zur Bewegung der Künstler*innenkolo- gestaltet, dessen Gesamtbreite neun Meter über- bemalte. So findet sich in seinem Œuvre beispielsweise ein gleichschenk- nien. Im Zentrum der schreitet 24, wird deutlich, dass keine kleine, ab- liges Dreieck mit abgerundeten Seiten, ein sogenanntes Reuleaux-Dreieck, künstlerischen Bewegung standen schlichte, oft geschirmte Bildwelt, keine Paysage intime25 mehr in einem leuchtenden Orange. Allein formal ist der Bildkörper schon span- kleinformatige Land- schaftsgemälde, die gezeigt wird. Vielmehr wächst die sich in Farbstri- nend, da er geometrische und organische, ruhige und dynamische Effekte häufig direkt in der Natur entstanden. che auflösende, zunehmend abstrakt werdende vereint. Doch die Änderungen sind weitreichender: Die weiße Wand, vorher 26 Die Auswirkungen auf den Landschaft in den Ausstellungsraum hinein. neutraler Untergrund, wird zum Teil des Bildes. Hängen mehrere ungerahmte Raum zeigen sich am stärksten in räumlichen Die Entwicklungslinien dieser Tendenz sind ver- „Shaped Canvases“ nebeneinander, beginnen diese miteinander zu korre- Inszenierungen des Surrealismus, wie etwa bei zweigt. Deutlich zu erkennen ist jedoch, dass der spondieren und entwickeln einen Rhythmus. Auch der umliegende Raum der von Friedrich Kiesler Rahmen zunehmend an Bedeutung verliert, wo- und die Positionierung der Werke haben einen Einfluss auf die Wirkung. Auf für Peggy Guggenheim gestalteten „Art of this hingegen der Ausstellungsraum und die Bildfor- welcher Höhe hängt das Bild? Welche Drehung hat das Dreieck? All diese Century“, der Ausstellung „First Papers of mate an Relevanz gewinnen.26 Fragen zeigen: Dadurch, dass Form und Inhalt identisch sind, kann die Wand Surrealism“, die 1942 im Whitelaw Reid Mansion Ohne Rahmen verliert das Gemälde seinen Schutz zum Bildträger und der Umraum zum potenziellen Bestandteil des Werks stattfand, oder der in Paris in der Galerie zur Umgebung und beginnt in Dialog mit ihr zu werden. All diese Aspekte führen dazu, dass man nicht eindeutig sagen Beaux-Arts gezeigten treten. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel für diese kann, ob die Panels Kellys nun Objekte, Skulpturen, Gemälde, Installationen Exposition Internationale du Surréalisme 1938. Entwicklung ist der sogenannte Prounenraum von oder Formen auf der Wand sind. 20 21
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