Deutsch Schweizer Skulptur seit 1945 *Aargauer Kunsthaus 12. 6 26. 9. 2021
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Schweizer Skulptur seit 1945 Deutsch *Aargauer Kunsthaus 12. 6. – 26. 9. 2021
Liebe Besucherinnen und Besucher Hochglanzoberfläche aufscheinendes Spiegelbild aber auch zum Teil des Werks und rührt uns mit der leise Die aktuelle Ausstellung gibt erstmals einen erklingenden Spieldosenmusik emotional an. Auch Sylvie Fleury ist eine Meisterin der Oberflä- Überblick über das vielseitige skulpturale Schaf- chen. Sie verwandelt einen trivialen Pilz in ein begehrens- fen in der Schweiz von 1945 bis heute. 230 wertes Objekt unserer verführerischen Warenwelt. Oder Werke von 150 Kunstschaffenden aus allen entführt sie uns damit vielmehr in das Reich von Alices Landesteilen sind in einem spannungsreichen Wunderland oder dasjenige halluzinogener Substanzen? Parcours zu entdecken. Er führt von den Ausstel- In ebenso vieldeutiger Weise lässt Not Vital die vier Buchstaben des vulgären englischen F-Worts aus einer lungsräumen im Erd- und Obergeschoss über Jagdtrophäe spriessen – ein Culture Clash mit tiefgründi- das Foyer und die Dachterrasse des Aargauer gem Witz. Kunsthauses bis in den angrenzenden Das Spiel mit Versatzstücken und Zitaten erschöpft Rathauspark. sich selten in der Provokation um ihrer selbst willen. Es sind vielmehr Hinterfragungen mittels gezielter Kontext- verschiebungen, besonders gut nachvollziehbar am Bei- Orientieren Sie sich in erster Linie am Grund spiel des karikaturesken Golfspielers à la Giacometti von riss in diesem Handout. Valentin Carron. Die anderen beiden Werke in diesem Raum thematisie- Die Lebensdaten der Künstlerinnen und Künstler ren weitere Varianten der postmodernen Skulptur. Bei entnehmen Sie dem Namensverzeichnis auf Markus Raetz wird die Skulptur selbst aktiv: Zwei dreh- bare zylindrische Formen führen uns einen tanzenden der letzten Seite. Dort sind auch die Räume auf Akt – ein Zitat einer Fotografie von Man Ray – vor Augen. geführt, in denen sich die jeweiligen Werke Ein Spiel mit Fakt und Fiktion: Der Körper manifestiert befinden. sich paradoxerweise als Negativform im Leerraum zwischen den Volumen. Und Doris Stauffer involviert uns ganz Wir wünschen Ihnen einen vergnüglichen und direkt: Ihre Tastsäcke wollen zur Erkundung ihrer Inhalte eigentlich berührt werden, was heute leider aus konser anregenden Ausstellungsbesuch. vatorischen Gründen nicht mehr erlaubt ist. Raum 1 Raum 2 Prolog 1945 Die Ausstellung Schweizer Skulptur seit 1945 breitet In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sich weitgehend chronologisch aus. Der Prolog hingegen entwickelte sich die Kunst in neue Richtungen. Insbeson- wartet mit sieben ausgesuchten Werken der jüngeren dere in der Skulptur wurden die herkömmlichen Tech Vergangenheit auf. niken, Materialien und künstlerischen Denkweisen durch- Vor rund vierzig Jahren hat sich das Schlagwort der brochen und teils radikal erweitert. Gleichwohl erweist Postmoderne etabliert. In der Kunstwelt wird damit sich die künstlerische Situation der Jahre nach 1945 in das sich schon länger ankündigende Ende einer linearen der Schweiz als gar nicht so gespalten wie oft dargestellt. Abfolge der Stile bezeichnet. Es meint auch das Ende Lange Zeit bestimmten noch die «Traditionalisten» die einer Kunstentwicklung, die unaufhörlich Neuland zu er- Szene und die öffentliche Wahrnehmung. Zu ihnen gehö- obern sucht, indem sie das Althergebrachte überwindet. ren Hans Aeschbacher, Karl Geiser, Otto Charles In der Postmoderne ist alles gleichzeitig möglich, und Bänninger, Remo Rossi, Giovanni Genucchi. Sie hiel- die Künstlerinnen und Künstler befassen sich auf neue, ten an der figürlichen Darstellung und den klassischen unbelastete Weise mit der Geschichte der Kunst und Materialien Stein und Bronze fest. Mit Ausnahme von mit ihrem eigenen Tun. Aeschbacher und Genucchi fanden sie kaum mehr neue Dazu gehört die Selbstinszenierung bis hin zur Selbst- Ausdrucksformen, obwohl sie alle noch längere Karrieren stilisierung als Kunstfigur. Urs Lüthi lebt sie in seiner vor sich hatten. Kunst seit fünfzig Jahren mit höchster Konsequenz und Einen anderen Weg beschritt Germaine Richier, treibt sie mit einer brandneuen Skulptur, einem dreidimen- Schweizerin durch Heirat mit Otto Charles Bänninger. Die sionalen Zitat seiner berühmten Fotoarbeit Lüthi weint einschneidenden Erfahrungen der Kriegszeit waren ein auch für Sie von 1971, auf die Spitze. Grund, weshalb sie sich von der traditionellen Auffassung Ugo Rondinone spielt auf die Strukturen der in der der menschlichen Figur abwandte und begann, sowohl Schweiz besonders hochgehaltenen konkreten Kunst an. motivisch als auch technisch neue Wege zu gehen. Das Sein monumentaler Körper in X-Form, einem Zeichen, äusserte sich in der Gestaltung dynamischer, oft insekten- das sich als Symbol sowohl zur Hervorhebung als auch zur artiger Wesen, die anatomisch wie materialtechnisch Abwehr oder gar Auslöschung eignet, stellt sich aufdring- bis zu den Grenzen des Möglichen vorstossen. lich in den Weg, macht uns über unser auf der schwarzen
Als Avantgardekünstlerin lässt sich Richier aber regt hatte, oder Marguerite Saegessers dynamische, nicht wirklich bezeichnen, ebenso wenig wie der gleichalt- filigrane Kompositionen. Eine andere weit gereiste Künst- rige und ebenfalls mehrheitlich in Paris tätige Alberto lerin ist die Winterthurerin Rosa Studer-Koch. Ab Giacometti. Er hatte sich bereits in den frühen 1930er- 1936 lebte sie im Kongo. Politische Wirren zwangen sie Jahren von den surrealistischen Konfigurationen und 1961 zur Flucht zurück in die Schweiz, wo sie ihr skulp der abstrakten Form verabschiedet, um sich wieder der turales Schaffen wieder aufnahm, scheinbar im hiesigen menschlichen Figur zuzuwenden. Die Umsetzung des Zeitgeist; die Erfahrungen im Kongo hinterliessen aber Körpers in die Skulptur hatte nichts weniger zum Ziel, als motivisch, thematisch und atmosphärisch ihre Spuren der puren menschlichen Existenz und ihrem Verhältnis [siehe auch das Werk Danse Bashi im Park]. zum Raum, zur erweiterten Umgebung eine Form zu ver- In diesem Kontext mutet Hugo Webers Porträtbüste leihen. Nicht zuletzt dank seines unverkennbaren Stils Mies van der Rohe in ihrer traditionellen Auffassung wurde er in der Nachkriegszeit zum bekanntesten fast anachronistisch an. Weber war ein Bewunderer Schweizer Künstler. Giacomettis. Die massige Erscheinung des Porträtierten Es gab um 1945 in der Schweiz natürlich auch die steht hingegen der verschwindenden Körperlichkeit der «Avantgardisten» im Wortsinn, allen voran Hans Arp, von Giacometti in Bronze gefassten Figuren diametral dessen biomorphe Abstraktionen seit den 1930er-Jahren entgegen. zum kunstgeschichtlichen Kanon gehören. Geht es bei Fast schon als ein Urgestein der Schweizer Kunst Giacometti um die menschliche Existenz, so bei Arp um geschichte des 20. Jahrhunderts kann Louis Conne die nie innehaltenden Wandlungsprozesse der Natur. bezeichnet werden. Er verkehrte in der Zwischenkriegs- Eine ganz andere künstlerische Haltung vertrat Max Bill, zeit in der Schweiz und in Paris in fast allen fortschritt prägender Exponent der Gruppe der Zürcher Konkreten. lichen Zirkeln, bis er sich wegen der Zäsur des Kriegs in Anstelle des subjektiven Schöpfergeistes werden nach Zürich niederliess. Er verstand sich stets als Grenzgänger vollziehbare Gesetzmässigkeiten für die Konzeption von zwischen Tradition und Innovation. So bietet sein Werk Kunstwerken beigezogen. denn auch überraschende Anknüpfungspunkte, etwa an Schweizer Künstler waren Pioniere in der neuen Diszi- Giacometti, den Surrealisten Serge Brignoni oder Hans plin der Eisenplastik. Walter Bodmer fertigte bereits Arp, aber genauso Bezüge zur Eisenplastik und gar den 1936 Skulpturen aus Eisendraht, Robert Müller gelangte Materialcollagen der «Nouveaux Réalistes». Conne hat mit Assemblagen aus Eisen und Altmetall in den 1950er- auch kirchliche Aufträge ausgeführt. Seiner Kreuzigung ist Jahren zur Essenz der Eisenplastik und war deshalb schon hier der Entwurf eines Reliefs für den Hauptaltar der damals international gefeiert, während Walter Linck Kathedrale von Senlis (F) des Bernjurassiers Georges sich den neuen Werkstoff erschloss, weil er realisierte, Schneider zur Seite gestellt, der zwar viel später, aber dass die Technik des Bronzegusses seinen Ansprüchen an in vergleichbarer Dynamik ausgeführt ist. die Darstellung von Bewegung nicht mehr genügen konnte. Ohne Verbindung zur Schweizer Kunstszene arbeitete Isabelle Waldberg im Exil in New York und nach dem Räume 4 und 5 Krieg zurück in Paris an ihren Constructions, abstrakten Gebilden, die sie zunächst in elastischen Birkenholz Kinetische Kunst stäbchen, später in Draht ausführte. An die Skulptur wird der Anspruch gestellt, «von allen Seiten schön» zu sein. Solange sie unverrückbar auf dem Räume 3 und 4 Boden oder dem Sockel stand, musste man – um diese Vielansichtigkeit zu erkennen – bei der Betrachtung Die Räume 3 und 4 bilden im Ausstellungsparcours eine Sackgasse, um das Objekt herum gehen. Gewisse Kunstschaffende d. h. nach Verlassen von Raum 2 durchschreiten Sie die Räume 5 und 4 und setzen den Parcours in Raum 3 in umgekehrter Richtung wieder fort. wie etwa Raffael Benazzi begannen, ihre Skulpturen drehbar auf den Sockel zu stellen, sodass die Ansicht Dynamische Figuren beliebig gewechselt werden kann. Noch weiter geht die kinetische Kunst. Sie wandelt In den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Krieg lassen die Gestalt selbst aus eigenem Antrieb heraus, wie etwa sich in der Schweiz viele künstlerische Verwandtschaften im Fall der Maschinenskulpturen von Jean Tinguely. Die unter den Kunstschaffenden erkennen. Alle ringen sie nach 1960 entstandenen Totems [siehe Raum 5] bewe- mit den grossen Themen und suchen nach adäquaten gen sich, ohne dass die zugrundeliegenden mechanischen Ausdrucksmitteln. Diese gehen nicht selten auf eine sehr Zusammenhänge erfasst werden können. Die wenige dynamische Auffassung des Körpers zurück, sodass die Jahre später einsetzende Werkgruppe der Bascules ver- Figuren mit weit in den Raum ausgreifenden Gliedmassen folgt nochmals andere Prinzipien. Mit ihrer Binnenbe schreiten, rennen, tanzen und springen. wegung berauben sich die nun sehr kompakten Plastiken Beispiele dafür sind neben Remo Rossis Akrobat ihrer eigenen Standfestigkeit. [siehe Raum 2] das ungewöhnliche Alltagsmotiv einer Auch andere Schweizer Eisenplastiker schufen kineti- Waschfrau von Charlotte Germann-Jahn, aber sche Werke, etwa Robert Müller mit der Witwe des auch Germaine Richiers Nachtmensch oder die tanzen- Radrennfahrers. Dieses «Fahrrad» provozierte 1961 im den Figuren von Emilio Stanzani, zu denen ihn seine Amsterdamer Stedelijk Museum einen handfesten Freundschaft mit dem Pantomimen Marcel Marceau ange-
Skandal und gilt heute als Ikone der erotischen Kunst. riefen Schweizer und französische Künstler 1960 das Oder B ernhard Luginbühl: Er bringt nach ersten frühen Manifest des «Nouveau Réalisme» aus. Einer der Leit- Versuchen das Moment der Bewegung auf ganz unter- sprüche lautete gegenseitige Durchdringung der Kunstdis- schiedliche Weise in seine Werke [siehe auch seine wei- ziplinen. Dieter Roth war auch Dichter, André Thomkins teren Werke in Raum 12 im OG]. Jazzmusiker und Wortakrobat – seine Palindrome [siehe Raum 5] bilden einen eigenen Werkkomplex –, Daniel Spoerri Choreograf, während Eva Aeppli ihre morbiden Kunst aus Kunststoff Figuren, stummen Wächterinnen gleich, wie auf der [Raum 5] Theaterbühne inszenierte. André Thomkins’ frühe Assemblagen aus Holz «Kunststoff ist kein Material, das ich gern habe», meinte weisen auf sein 1959 entwickeltes Labyr-Projekt voraus, Niki de Saint Phalle, aber dank ihm seien «grosse, das eine schöpferisch-spielerische, gegen die Konsum transportierbare Volumen zu schaffen: leicht und unzer- gesellschaft gerichtete Wohn- und Lebensweise vorsah. brechlich». Ihre berühmten poppigen Nanas, aber auch Mit den «Nouveaux Réalistes» war auch die 1936 mit die Gemeinschaftsarbeit mit Jean Tinguely für den Park ihrer Felltasse berühmt gewordene Surrealistin Meret bei Fontainebleau, Le Cyclop, sind aus farbigem Polyes- Oppenheim verbunden. Sie hatte sich nach einer Schaf- terharz geschaffen. Viele Kunstschaffende haben in den fenskrise neu orientiert, und noch stärker als zuvor 1960er-Jahren aus solchen praktischen Gründen Materia- offenbarte sich in ihrem Werk ab den 1950er-Jahren ihre lien aus Kunststoff für sich entdeckt. Fred Perrin er- Gabe, fundamentale Lebensprinzipien traumwandlerisch laubten sie auf einfache Weise die Verfertigung komplexer einfach zur Darstellung zu bringen. organischer Strukturen. Dank der Schnitte, mit denen Dieter Roth gilt als der radikalste Schweizer der Perrin diese Körper wie Anatomiemodelle öffnete, wird internationalen Fluxus-Gemeinschaft. Er unterminierte mit das Wechselspiel von Volumen und Leerraum sichtbar. seinen unbeständigen Arbeiten aus Lebensmitteln – Für Wilfrid Moser war die gute Bemalbarkeit ein beispielsweise dem im Verlauf der Zeit verschimmelnden Grund, sein plastisches Werk hauptsächlich aus Kunstharz Selbstbildnis aus Schokolade – den traditionellen elitären zu formen. Der Raum im Bezug zum Menschen war Kunstbegriff. Gleichzeitig war das ein Angriff auf die schon immer ein Kernthema des wohl erfolgreichsten Werte des damaligen «Wirtschaftswunders». Schweizer Malers jener Zeit. In der Skulptur konnte Moser Daniel Spoerri machte 1960 erstmals mit seinen den Raum im Sinne eines «bewohnbaren Bildes» real in «Fallenbildern» von sich reden und wurde mit ihnen die Welt setzen. Verwandt damit sind die ab 1970 ent schnell berühmt. Sie bestehen aus den auf Tischplatten stehenden Raumkonzepte von Michael Grossert, die – geklebten Überresten kleinerer oder grösserer Tafel wie übrigens auch Mosers Skulpturen – in grosser Zahl runden. 1967 nahm sich Spoerri eine Auszeit auf der grie- als begehbare vielfarbige Polyesterlandschaften im öffent- chischen Insel Symi. Dort entstand die aus 25 Objekten lichen Raum realisiert worden sind. bestehende Serie der Zimtzauberkonserven, eine Art Für H. R. Giger gehörte der Kunststoff zum Konzept. Sammlung persönlicher Reliquien. Spoerri spürt darin Seine apokalyptischen Bildwelten verlangten für ihre dem Fetischcharakter, sprich der magischen Kraft eigent- objekthafte Umsetzung geradezu nach der Künstlichkeit lich wertloser, oft auf der Müllhalde gefundener Gegen- synthetischen Materials. Gleichwohl besteht Gigers stände nach. Kosmos aus einer einzigartigen Verschmelzung des Tech- Doris Stauffers Werke aus der Zeit um 1960, etwa nischen mit dem Organischen. Gigers frühe Skulptur Bio- der ironisch als Kulturrevolution betitelte, an der Wand mechanoid kann als ein Prototyp des zwischen Mensch hängende Besteckeinsatz, mögen wie «Fallenbilder» und M aschine, zwischen Trieb und Erstarrung pendelnden daherkommen, stehen aber Spoerris Zimtzauberkonserven Wesens gesehen werden. Schon lange vor seinem oscar- viel näher. Es sind Äusserungen mit Bannkraft, die im gekrönten Welterfolg als Designer von Ridley Scotts Film Zusammenhang mit den persönlichen Lebensumständen Alien (1979) vermochte Giger den unterdrückten Ängsten der damals in der Mutter- und Hausfrauenrolle gefangenen der Zeit der Wohlstandseuphorie, die mit der Ära des jungen Künstlerin zu betrachten sind. Kalten Krieges und der frischen, oftmals verdrängten Er- Für einen anderen Weg entschied sich zur gleichen innerungen an die Schrecken des Holocaust zusam Zeit Niki de Saint Phalle. Sie trennte sich 1960 von Mann menfiel, Ausdruck zu verleihen. und Familie, um sich ganz der Kunst widmen zu können. Sie lernte die «Nouveaux Réalistes» kennen. Mit Tinguely, den sie 1971 heiratete, pflegte sie auch eine intensive Raum 6 Arbeitsbeziehung. Bevor sie mit den Nanas [siehe Der Teufel in Raum 7] berühmt wurde, kreierte sie Assem blagen wie etwa das eher unansehnliche Gebilde aus al- Die Kunst und das Leben lerlei Gegenständen aus dem Haushalt und der Spielzeug- kiste in Gestalt eines Nashorns – für Saint Phalle ein Einer der vielen künstlerischen Aufbrüche in den 1960er- Sinnbild für Monstrosität und Triebhaftigkeit. Jahren ist eng verwandt mit dem Gedankengut der Dada- Bewegung und der Surrealisten. Die Verbindung von Kunst und Leben wird nun aber noch konsequenter umgesetzt – es gibt keine Grenzen mehr zwischen den beiden. In den USA hiess die neue Kunstbewegung «Fluxus», in E uropa
Raum 7 Die in Japan geborene Leiko Ikemura kam 1979 in die Schweiz, wo sie als Malerin grosse Beachtung fand. Ende der 1980er-Jahre wandte sie sich auch der Skulptur Zu den Ursprüngen zu. Ihre «Häuser» aus Keramik sind nicht nur physische Objekte, sondern Sinnbilder für Möglichkeiten, die aus Mit dem Begriff «Individuelle Mythologien» bezeichnete dem Innern, der Verborgenheit, dem Dunkel ans Licht und Harald Szeemann im Zusammenhang mit der von ihm ins Leben kommen. In ähnlicher Weise – noch verstärkt 1972 kuratierten documenta 5 die zeitgenössische Kunst- durch das ungewöhnliche organische Material und dessen praxis, mittels Gegenständen und Stimmungen in zumeist haptische Präsenz – scheinen Corsin Fontanas installativen Settings eigene, persönliche Welten zur Schweinsblasenskulpturen Eigenschaften von Kultgegen- Darstellung zu bringen. Daniel Spoerris Zimtzauberkon- ständen zu besitzen. Sie nehmen zugleich Werte wie serven [siehe Raum 6] stehen beispielhaft für diese Vergänglichkeit oder Prozessualität auf. Herangehensweise. In diesen Kontext gehören auch Eva Mit Papierfaltungen erschuf Marguerite Saegesser Wipfs wie religiöse Schreine anmutenden Werke oder in den 1970er-Jahren körperhafte Objekte, die sich die kulissenhaften Skulpturen von Friedrich Kuhn, die in kühn-trapezförmigen Plexiglasvitrinen ausdehnen, wäh- einen ausgelassenen, farbenfrohen Lebenskosmos wider rend Lucie Schenker mit Werkstoffen aus dem Textil spiegeln, in dem die Palme immer wieder als triviales bereich arbeitet. Sie betreibt ein Spiel mit dem Innen und Sehnsuchtsmotiv aufscheint. Aussen und der Wandlungsfähigkeit von Körpern bis hin Oft ging es den Künstlerinnen und Künstlern um die zu deren Auflösung in abstrakten Formen. Suche nach dem Allgemeingültigen. Dies bedeutet auch Heidi Bucher ist mit den «Häutungen», wie sie ihre eine Besinnung auf die eigenen Wurzeln, Rückzug zu Latex-Abgüsse der Oberflächen von Innenräumen oder den Ursprüngen, in die Geborgenheit. Auch Not Vital ver- Einrichtungsgegenständen nannte, bekannt geworden. fügt über eine starke Beziehung zu seiner Herkunft. Alltag, Sie sind die Frucht anhaltender Auseinandersetzungen mit Brauchtum und Natur des Unterengadins prägen sein unserem körperlichen Dasein und dessen Umraum. Alles Frühwerk – es steht der Konzeptkunst, der Land Art und dreht sich um Komplementaritäten von innen und aussen, der Arte Povera nahe. Rudolf Blättler schuf in den 1970er- Fläche und Volumen oder um das Detail als Teil des Jahren utopische Architekturen. Es sind keine wirklichen grossen Ganzen. Bucher lebte in den frühen 1970er- Bauten – der Künstler konzipierte sie bewusst nur als Jahren in den USA. Die materielle und konzeptuelle Insta Modelle. Sie sollen uns zu unserer eigenen Vorstellung bilität ihres Werks ist denn auch im Kontext einer Bewe- dieser Orte, zur geistigen, schamanischen Reise dort- gung vornehmlich von Künstlerinnen zu sehen, die sich als hin anleiten. Inspiriert von den Hochkulturen Mittelameri- Gegenpol zur angesagten, vermeintlich faktenbasierten kas, sind es Orte der Kraft, genährt vom allumfassenden Minimal Art herausgebildet hat. Prinzip der Mutter Erde. Assoziationen und Analogien Haus, Schoss, Gedächtnis [auf dem zweiten Ecktisch] [auf dem ersten Ecktisch] Seit der Einführung des Mobiles als Kunstform durch Isabelle Waldberg, 1936 nach Paris gezogen, bewegte Alexander Calder ist die Schwerkraft auf neue Art Thema sich während des Kriegs im New Yorker Exil und danach der Bildhauerei. Bei den schwebenden Streifzügen geht zurück in Paris mitten in den angesagten Kunstzirkeln. es Thea Weltner um die fehlende Bodenhaftung im über- Künstlerisch ging sie dennoch unbeirrt ihren eigenen Weg. tragenen Sinne. Ihre zumeist in weiss gehaltenen Environ- Ab 1960 ist in ihrem Werk ein Hang zu architektonischen ments und Objekte sind eigentliche Gedenk- und Mahn- Formen zu beobachten. Das Haus als Metapher für den male für nicht darstellbare Ereignisse, welche die Biogra- Körper, ein sehr alter Topos in der Kunst, erhält im Zusam- fie der tschechischen Künstlerin während der Zeit des menhang mit der Thematisierung der Innenwelten im Nationalsozialismus geprägt haben. Surrealismus ganz neue Aktualität. Waldbergs in Lehm Die Wolke war für Meret Oppenheim ein Sinnbild für oder Gips geformte, danach oft in Bronze gegossene das Unfassbare, von dem sich die Künstlerin immer wie- «Häuser» entpuppen sich als rätselhafte Gebilde mit einem der von Neuem zur bildlichen Darstellung herausfordern körperlichen, nicht selten erotisierten Innenleben. Die liess. Ungewohnte, oft durch Träume angeregte Bild Zuwendung zum zutiefst Menschlichen fand bei Waldberg findungen operieren mit dem Moment der Verfremdung. immer auch unter spirituellen, teils mythologisch herge Dazu gesellt sich ein enger Bezug zur Natur und zu deren leiteten Vorzeichen statt. Ihre Bronzeskulptur Lugdus von nicht beeinflussbaren Prinzipien, etwa in Die Spirale 1977 – eine Referenz an die gallische Gottheit Lug, (Gang der Natur). Schirmherr der Künste und Wanderer zwischen Licht und Franz Eggenschwiler pflegte Kontakte mit Dunkelheit – ist in Waldbergs Vorstellung ein Mischwesen Oppenheim und auch mit den Exponenten des «Nouveau aus gebauter Struktur und sinnlicher Körperlichkeit in Réalisme». Die Stücke seiner ausufernden Sammlung an der Schwebe zwischen gängigen Dichotomien wie etwa Schrottgegenständen erklärte er zu autonomen Werken, Tier und Mensch oder männlichem und weiblichem Ge- oder er kombinierte sie in scheinbar absurder Weise schlecht. Eine künstlerische Verwandtschaft mag zwischen zu neuen Gebilden. Christian Rothacher war seit deren Waldberg und Robert Müller bestehen, dessen plasti- Gründung im Jahr 1967 Mitglied der Aarauer Atelier sches Spätwerk das Spiel der Verschränkungen in gerade- gemeinschaft Ziegelrain, die schon bald über die Region zu vollkommener Weise vorführt.
hinaus Erfolge feierte. Nach Erkundungen der Pop-Art führen aber dank ihrer Experimentierfreude und einer Art wandte er sich dem Prozesshaften zu. Mit organischen heiterer Irrationalität weit über den Kosmos Müllers Materialien wie Fell oder Holz, aber auch der gezielten hinaus. Verwendung anorganischer Roh- und Werkstoffe wie Für den Binnenraum der Skulptur und dessen Verhält- Gesteine und Mineralien lenkte er das Augenmerk auf die nis zum Umraum interessiert sich Jean Mauboulès. Mit komplexe Beschaffenheit von Dingen und zugleich auf seinen Konstruktionen erzeugt er Momente zwischen die Wechselwirkungen zwischen Natur und Zivilisation. Spannung, Gleichgewicht und dem Zufall. Andere Künst- Im Ziegelrain arbeitete von 1968 bis 1974 auch Hugo lerinnen und Künstler suchen nach neuen geeigneten Suter. Seine künstlerische Haltung ist von wissenschaft- Materialien, um den Raum einzubeziehen. So verwenden lich orientiertem Forschen durchdrungen: Es geht ihm um Nelly Rudin oder Carlo Cotti Glas, während Christian Fragen der Wahrnehmung und um Bedeutungsverschie- Megert seit 1961 mit Spiegeln arbeitet [siehe seine bungen, so auch im Beispiel der modellhaften, aus einzel- grosse Installation im Treppenhaus]. Dabei spielt die im- nen Backsteinen gefertigten Häusergruppe Architektur. materielle Erscheinung des Lichts eine wichtige Rolle. So finden auch elektrische Lichttechniken wie die Neon- röhre Eingang in die Kunst. Christian Herdeg ist ein Raum 8 Pionier dieser Kunstform. Alles zugleich: Materialien, Stile, Haltungen Raum 9A Hierarchien punkto Materialien und Ausdrucksweisen wurden obsolet, als Künstlerinnen und Künstler begannen, Postminimalistische Befragungen der Skulptur anstelle der eigentlichen materiellen Umsetzung das Konzept zum Werk zu erklären. Aldo Walker war ein früh- Die strengen Konzepte der Minimal Art, die sich in den er Vertreter der Konzeptkunst. Seine Logotypen wollte 1960er-Jahren in den USA entwickelt hatte, liessen viele er nicht als Gegenstände verstanden wissen, sondern als Kunstschaffende hinter sich, ohne sich aber vom Interesse Anlass für ein freies Assoziieren durch die Betrachterin- für die Grundstrukturen eines Kunstwerks abzuwenden. nen und Betrachter. Anton Egloff, neben Walker eine Gianfredo Camesi untersucht in Espace total, welche weitere prägende Figur für die Zentralschweizer Kunst- Räume eine Skulptur zu besetzen vermag. Den physisch landschaft, verfolgt dieselbe Strategie: Die Bilder auf den erfahrbaren Raum stellt er stets in Beziehung zu mentalen Würfeln seines Atlas Würfeltischs sind in ihrer Anord- Räumen und den grösseren Dimensionen der Zeit und nung dem Zufall unterworfen. Ungeachtet ihres ursprüng- des Universums. Für René Zäch ist die Verbindung der lichen Kontexts können sie in immer wieder neue gegen- Skulptur mit den Bestandteilen eines Innenraums, insbe- seitige Beziehungen treten. Ganz ähnlich – wenn auch mit sondere der Wand, ein wichtiger Aspekt. Daniel Berset umgekehrten Vorzeichen – funktionieren Liliane Csukas beschäftigt sich mit der Skulptur zwischen Schein und Geflechte. Sie bestehen aus mit winzigen ausgeschnitte- Sein. Im Spannungsfeld von Zwei- und Dreidimensionalität nen Druckzeilen beklebten Schnüren. Die Textflut ver inszeniert er visuelle Spielereien, lässt seine Objekte mittelt keine Inhalte mehr, sondern nur noch ihre eigene Schatten werfen und Perspektiven vortäuschen. Unfassbarkeit. Die Minimal Art hat den Sockel aus dem Repertoire Andere gehen unbeirrt ihren traditionellen Weg, etwa verbannt. Václav Pozárek treibt diese Geste ad absurdum: Gottfried Honegger, einer der bedeutendsten Vertreter Die beiden Hauptelemente von Swiss Made verkörpern der konkreten Kunst und Schöpfer vieler Werke im öf- den Sockel und die Skulptur zugleich, während die Melk fentlichen Raum, oder Annemie Fontana mit ihren unge- stühle dem Werk eine feine Ironisierung verleihen. Eine wöhnlichen Materialkombinationen. Und die Genferin noch radikalere Sockellösung schlägt Beat Zoderer vor. Nicole Martin-Lachat machte sich für ihre Konstruktio- Sein Werk ist, wie der Titel Konsolidierter Sockel schon nen, die stets auch menschliche Züge tragen, die Technik besagt, nichts anderes als das Produkt seiner selbst, der Schieferbearbeitung zunutze. d. h. Zoderer zersägt fein säuberlich einen Museumssockel, Otto Müller, Autodidakt und 1953 Mitbegründer des giesst ihn mit Beton aus und setzt ihn wieder zusammen. berühmten Atelierhauses Wuhrstrasse in Zürich, hat sich Zu den weiteren Parametern der Skulptur gehört besonders in seinem Spätwerk wieder ganz der Figur die Beschaffenheit ihrer Materialien. Dichte, Härte und zugewandt und sich mit reduzierten Mitteln dem Ausdruck Farbigkeit beeinflussen die Möglichkeiten der Bearbeitung des existenziellen Ausgesetztseins gewidmet. Im Werk und das Aussehen. Carmen Perrin verfolgt solche von Müllers Schüler Hans Josephsohn spiegelt sich der Fragestellungen kontinuierlich in ihrem Schaffen. In der Einfluss des Lehrmeisters, am deutlichsten in seiner Affi- gezeigten Arbeit von 1994 bestimmt der Werkstoff nität zur Kunstform des Reliefs, aber auch in den existen- Gummi nicht nur die äussere Erscheinung, sondern auch ziellen Grundthemen. Allerdings emanzipierte sich die Art der Formung der Skulptur durch die Künstlerin. Josephsohn vom Lehrmeister, indem er der Körperlichkeit Das Werk wird zum reinen Ausdruck seines Materials. und dem in die Oberflächen seiner Skulpturen eingearbei- Eine ähnliche Ausgangslage haben Jürg Stäubles Styro- teten haptisch-gestischen Duktus Hauptrollen zuwies. porarbeiten. Der erste Eindruck einer streng minimalisti- Auch zwischen Müller und seiner Schülerin und Lebens- schen Form wird gebrochen, sobald das billige, leicht gefährtin Trudi Demut mögen auf den ersten Blick künst- gewichtige Material erkennbar wird. Verstärkt wird dieses lerische Verwandtschaften bestehen. Demuts Skulpturen Irritationsmoment durch die organisch-ornamentale
nmutung der mit Heissdraht herausgeschnittenen Leer- A Reihe künstlerischer Medien und Strategien: Sie kommt räume. Primär materialbestimmt sind auch die Skulpturen als Rauminstallation, Skulptur, kinetisches Objekt und als von Pierre-Alain Zuber. Sie erzählen davon, wie und Performance daher. Ausserdem verschränkt sie die woraus sie gemacht sind. Mit wenigen gezielten Eingriffen G attungen des Videos und der Zeichnung. Und im Objet hebt der Künstler die Eigenschaften des Holzes wie Ge- trouvé des Fahrrad-Rades erkennen wir eine H ommage wicht, Spannung, Elastizität oder Energie hervor. an Marcel Duchamps erstes Readymade. Ingeborg Lüschers Schwefelskulpturen liegt ein kla- Dem Hang zu Auslegeordnungen, Zuordnungen, zur res formales Konzept zugrunde. Die Farbigkeit des einen Auslotung von Möglichkeiten innerhalb gegebener Systeme Quaders rührt von reinem Schwefel her, diejenige des lebt auch der Basler Künstler Eric Hattan nach. Seine anderen von Asche. Der Kontrast von Leuchtkraft und ab- Werke sind Versuchsanordnungen und im Rahmen von sorbierender Dunkelheit erweist sich als überaus span- experimentellen Prozessen gewonnene Objekte. Die «Baste- nungsvoll. Lüschers Werk positioniert sich damit gleichsam leien» geraten für den Künstler ebenso zur Sehschule in einem alchemistischen Experimentierfeld, und seine wie für diejenigen, die sich darauf einlassen. Wirkung ist ganz der Betrachterin oder dem Betrachter überlassen. Die Beschäftigung mit dem Gewicht von Kunstwerken Raum 9B mag durchaus im Interessensbereich der Minimal Art liegen. Christoph Rütimann zielt mit seinen «Kunst nachäffen» Waagenskulpturen aber weit über ihre Grundsätze hinaus. Er stellt die Messinstrumente selbst ins Zentrum seiner Guillaume Pilet gehört einer Generation Kunstschaffen- Untersuchungen und ordnet sie als Wandskulptur seriell der an, die vom Aufbruch der Westschweizer Kunst an, sodass sie ihr eigenes, sich vervielfachendes Gewicht schulen und Kunstszene seit den 1990er-Jahren profitiert anzeigen. Rütimann lässt uns damit auch über das haben. Sie sind gut in den internationalen und nationalen Gewicht der Kunst im übertragenen Sinne nachdenken. Kunstdiskurs eingebunden und erkunden das ganze Spek- trum des skulpturalen Schaffens, sodass mehr denn je den beiden Devisen «Alles hängt zusammen» und «Alles Intermedialität ist möglich» nachgelebt wird. Pilets Diktum «Kunst nach- äffen» («Aping») ist denn auch weniger despektierlich Die Verbindung der Künste wurde von der Fluxus-Bewe- gemeint, sondern vielmehr als lustvoll zu verstehen. gung eindringlich gefordert und gehört zur gängigen Auch Christian Gonzenbach gewinnt der klassischen Kunstpraxis wie auch zum Lebensgefühl dieser und der Skulptur mittels Umkehrungen und spiegelnden Ober nachfolgenden Künstlergenerationen. So war – und ist flächen neue Inspirationen ab, während Shahryar Nashat bis heute – eine sehr grosse Zahl von Künstlerinnen und – nicht anders als Pilet oder auch Augustin Rebetez Künstlern auch musikalisch tätig. Der in Genf aufgewach- [siehe Raum 10] – seine Arbeit als Gesamtkunstwerk ver- sene Christian Marclay tritt häufig als Musiker auf. steht, und zwar im Sinne der Fluxus-Bewegung und ihrer Zugleich erhebt er die Welt der Musik und die mit ihr ver- Intermedialität, nun aber durchaus unter Einbezug des bundene visuelle Ästhetik auch zum Thema seines künstle- Mainstream-Lifestyles und seiner Ästhetik. rischen Schaffens. Seine Installationen und Skulpturen Claudia Comte hingegen scheint in ihrem Werk das bestehen aus den materiellen Produkten der Musik: ganze klassische Repertoire von Stilen und bildhauerischen Instrumente, Lautsprecher, Vinylschallplatten oder Techniken auszuschöpfen. Dies in grosser Virtuosität, Plattencover. ohne aber je Humor und Witz zu verlieren. Besonderes Andrea Wolfensberger nutzt Schallwellenkurven Augenmerk legt sie auf die Wahl des Materials. Aufgrund von Tonaufzeichnungen als Grundlage für die Entwicklung seiner Eigenschaften für die Bearbeitung und seiner Eig- ihrer plastischen, in Wellkarton geschnittenen Formen. nung zur Verkörperung von Motiven wird es zum wesentli- Dank der totalen räumlichen Dimension akustischer chen Bedeutungsträger. Signale kann so das beschränkte Wahrnehmungsfeld un- Solche Haltungen sind stets Gratwanderungen zwi- seres Sehsinns erweitert werden. Ausserdem erhalten schen Affirmation und Dekonstruktion. So erklärt der die Klangstrukturen dadurch eine sicht- und greifbare Walliser Künstler Valentin Carron nicht nur Ikonen der Gestalt. Heute kennt der Skulpturenbegriff keine Grenzen Konsumwelt wie etwa ein Ciao-Mofa der Marke Piaggio mehr. Kunstwerke mit Raum-, Körper- oder auch zur Skulptur, sondern scheut sich auch nicht vor der Handlungsbezügen werden ohne Weiteres als Skulpturen Verwendung kulturell aufgeladener Symbole wie dem bezeichnet. Dazu gehören Rauminstallationen, Perfor- christlichen Kreuz [siehe Foyer]. mances, aber auch fotografische und filmische Werke. So unterwirft Delphine Reist ihre Installationen und zu Kunstwerken erklärten Objekte zumeist strukturierten, Stiller Nachmittag oder also in gewissem Sinne ritualisierten Handlungsabläufen, Saus und Braus? etwa in Discours, einer automatisch gesteuerten, absurd anmutenden Revue sich verselbständigter Luftrüsseltröten Erst im Verlauf der 1980er-Jahre begann Zürichs Bedeu- – eine Parodie auf die immergleichen nichtssagenden tung für die Gegenwartskunst zu wachsen. Zeichen öffentlichen Ansprachen und Verlautbarungen. Yves Netz- des Aufbruchs waren zwei denkwürdige Ausstellungen: hammers Wandarbeit mit dem geheimnisvollen Titel 1980im Strauhof Saus und Braus, kuratiert von Bice Sprechen vor weggedrehten Bäumen vereint in sich eine
uriger, und 1987 im Kunsthaus Stiller Nachmittag, C Im neoexpressionistischen Umfeld der 1980er Jahre kuratiert von Toni Stooss. Beide boten, auch wenn sie ist auch Anselm Stalder bekannt geworden. Nebst ganz unterschiedlich konzipiert waren, jungen Kunst- dem unmittelbaren Ausdruck ist sein Schaffen ebenso sehr schaffenden eine wirkungsvolle Plattform. Bis zur Jahr Reflexion, sowohl was die Prozesse der Entstehung wie tausendwende sollte sich Zürich gar zu einem Mekka der der Rezeption von Kunst betrifft. Sein Werk handelt des- internationalen Gegenwartskunst entwickeln. Die jungen halb stets von Bipolaritäten. Stalder selbst spricht von Schweizer Künstlerinnen und Künstler agierten plötz- der «Verdoppelung der Möglichkeit» lich in einem internationalen Umfeld und profitierten von entsprechender Aufmerksamkeit und Inspiration. Auch künstlerisch fand ein Umbruch statt. Das Duo Raum 9C Peter Fischli und David Weiss machte den Alltag kunst- würdig. Poetisch, mit hintergründigem Witz und Gespür Grenzen, Reisen und für die geeignete handwerkliche oder mediale Technik andere Ungewissheiten transformierten sie vermeintlich unspektakuläre Gegen- stände, Situationen und Anekdoten zu faszinierenden Von der Relativität kultureller Muster sprechen die Skulp- Kunstwerken. Mit Serien wie der 350-teiligen Arbeit aus turen von Leiko Ikemura. Sie vereinen in sich japanische ungebranntem Ton Plötzlich diese Übersicht (1981) sind und westliche, teils konträre ästhetische Vorstellungen, Fischli/Weiss zu Stars der internationalen Kunstszene wodurch sie vermeintliche Gewissheiten unterlaufen, etwa geworden. dass der Tod nicht in Form eines zierlichen muschel Parallelen bestehen zur Karriere von Roman Signer. förmigen Mädchenkörpers erscheinen könne, wie es die Die Arbeit des St. Galler Aktionskünstlers entspricht Skulptur Memento mori, eine Reaktion auf die Fukushima- einem erweiterten Skulpturenbegriff. So zeigt das Werk Katastrophe von 2011, vorgibt. Velo mit dem zerlegten Fahrrad im Blechfass das Resultat Metaphern wie das Haus mit seinem archetypischen eines Ereignisses, ohne dass sich jenes klar erschliesst. Symbolgehalt einer Ur-Geborgenheit, wie sie in den Ein Zeichen für die Öffnung der Kunst setzt auch Ueli 1970er-Jahren in die Kunst Eingang fanden [siehe Raum Bergers Werkgruppe der Twins. Die optisch nicht von 8], unterliegen angesichts der aktuellen weltpolitischen einander unterscheidbaren Objektpaare bestehen aus ei- Verhältnisse Bedeutungsverschiebungen. Sie werden nem originalen Gegenstand und einer von Hand gefertigten, plötzlich zu einem Ausdruck schierer existenzieller täuschend echt wirkenden Kopie des Künstlers. Original Bedürfnisse. Viele Menschen befinden sich in der heuti- und Kopie, echt und falsch, Kunst und Leben – Gegen- gen Welt auf freiwilliger oder erzwungener (Dauer-) sätze verschmelzen und verlieren ihre Wertigkeiten. Ähnli- Wanderschaft. Kunstwerke wie Fabrice Gygis Grosses che Fragen, nun zum Verhältnis von Abbild und Realität, Zelt, Maia Aeschbachs Bleikoffer oder Isabelle Kriegs werfen die illusionistischen Kastenbilder von Hugo Suter Life Jacket können dementsprechend gelesen werden, auf. wenngleich letzteres auch die Geschichte von Lebens Der erwähnte Ausstellungstitel Stiller Nachmittag spielt zyklen in sich trägt und damit ein Moment der Kontinuität weniger auf eine beschauliche Idylle an als vielmehr auf vermittelt. Carl Bucher errichtete 1979 in Genf für das ein Innehalten in der Hitze des Gefechts. So waren mit Rote Kreuz mit einer Gruppe von Versteinerten ein erstes Martin Disler oder Klaudia Schifferle auch «junge Wilde» Mahnmal für die Menschlichkeit, während der in Bagdad vertreten, die bereits 1980 an der punkigen Ausstellung geborene und seit 1981 im Tessin lebende Selim Saus und Braus dem Titel alle Ehre gemacht hatten. Abdullah das Elend der Bootsflüchtlinge in feingliedrigen Ab 1978 arbeitete Martin Disler an seinen neoexpres- Skulpturen verarbeitet. Passend zur Thematik setzt er sich sionistischen Malereien. Später weitete er sein Schaffen in Navigante mit der Art der Verbindung seiner Skulptur auf die Skulptur aus, was ihm ermöglichte, die Zerrissen- mit dem Boden auseinander und konzipiert den Sockel als heit und Verletzlichkeit des Menschen, die er selbst eigenständiges Werk. hautnah erlebte, noch unmittelbarer in die Kunst zu über- In dieser Nachbarschaft scheinen in Sylvie Fleurys setzen. Einfache Materialien wie Holzlatten, Gipsbinden First Spaceship on Venus unweigerlich koloniale Themen oder Tierhaare erlaubten schnelles, spontanes Arbeiten, auf, auch wenn das überaus komplexe Werk viele weitere sodass die Figur gleichsam aus ihrer eigenen inneren Bedeutungszusammenhänge herstellt: zum postfeminis Notwendigkeit heraus Form werden konnte. tischen Spiel mit Geschlechteridentitäten – es manifestiert Klaudia Schifferle besuchte die F+F Schule für Kunst sich unter anderem in der phallischen Formgebung und und Mediendesign, war bis 1983 Musikerin in der Post- dem leise erklingenden Girlie-Sound – oder etwa zur Punk-Frauenband Kleenex (später LILIPUT) und erlangte Frage nach Originalität in der Kunst und im Alltag. Alle im Klima der Zürcher Jugendunruhen als eine der weni- Exemplare dieser Raketenserie wurden von verschiedenen gen Frauen in der Männerdomäne der Malerei internatio- Konstrukteuren nach einer vorgegebenen Grundform nale Anerkennung. Zur gleichen Zeit wie Martin Disler hergestellt. fand auch sie in der Skulptur Möglichkeiten zur Erweite- Von Identität handeln auch die Géants der Wahl- rung ihres künstlerischen Ausdrucks. schweizerin Latifa Echakhch. Sie gehen auf die Em Der St. Galler Josef Felix Müller schuf in den bleme für Repräsentanten der Macht zurück, die in der 1980er-Jahren ausdrucksstarke, zumeist mit der Motor- romanischen Volkstradition in Prozessionen mitgetragen säge behandelte und danach bemalte Holzskulpturen, wurden. Das Identifikationsmoment eines gemeinschaft eigentliche Figurationen der triebhaften, exzessiven, dunk- lichen Selbstverständnisses wird von Echakhch aber len Seite des Menschen, insbesondere des Mannes.
ewusst unterwandert, indem sie Geschlecht, Herkunft b Ein weiteres prominentes Aushängeschild der Schwei- und Hautfarbe dieser Riesen nicht eindeutig kennzeichnet. zer Kunst ist John M Armleder. Er ist seit den 1960er-Jahren in allen Disziplinen der bildenden Kunst, aber auch in der Musik aktiv. Als eine der prägendsten Raum 10 Persönlichkeiten der Westschweizer Kunstlandschaft stellt er für die jüngeren Kunstschaffenden dieser Region eine Art Vaterfigur dar. Armleder errang in den 1980er-Jahren Wunderkammern und Museumsmodelle internationale Anerkennung, unter anderem mit seinen Furniture Sculptures, Untersuchungen der Wechselwirkun- Im 20. Jahrhundert hat sich ein eigener Werktypus ent gen von Malerei, Objekt und Raum. wickelt, der sich dem Sammeln und Vermitteln widmet. Als berühmtestes Beispiel gilt Marcel Duchamps Boîte en valise (ab 1941). In direkter Referenz stellte Ben Vautier Formen – Finden – Passierenlassen 1972 sein Musée de Ben zusammen. Verkleinerte Repliken der eigenen Werke geben Einblick in sein Kunstverständ- Trotz des anhaltenden Höhenflugs industrieller Ferti- nis. Als Mitbegründer der Fluxus-Bewegung hob Vautier gungsmethoden gewinnt das unmittelbare Moment einer die Grenzen zwischen Kunst und Leben auf und erklärte skulpturalen Tätigkeit für viele Kunstschaffende aktuell menschliche Handlungen zur Kunst. wieder an Bedeutung. Die Nähe zum Material, zum Eine Retrospektive im Miniaturformat hält die Vitrine Gegenstand, die Möglichkeit, den eigenen Fingerabdruck von Katharina Sallenbach bereit. Die Fundstücke, – im Fall von Sara Masüger noch mehr, nämlich Abfor- Modelle und Kleinplastiken spannen einen Bogen über mungen ganzer Körperteile – im Werk zu hinterlassen, Sallenbachs Gesamtwerk. Sie zeigen das für viele Kunst- werden zu wichtigen Bestandteilen der Werkgenese, die schaffende ihrer Generation typische Nebeneinander bei Masüger oft in einer Reihe von performativen Akten figürlicher und abstrakter Werkstränge. prozesshaft und in grosser Ergebnisoffenheit passiert. Ihre Der Luzerner Bildhauer Rolf Brem setzte ab den Skulpturen sind Körper und Architekturen zugleich, ver späten 1960er-Jahren klassische Ateliersituationen in fügen also über ein Innenleben wie auch ein dialogisches Bronzen um. Der später entwickelte Werktypus Bacheca Potenzial. Noch bedeutungsvoller wird der Akt der For- vermittelt die Atmosphäre seines Ateliers mit den in mung bei den Wälzkörpern von Barbara Heé. In einem grosser Zahl dort lagernden Modellen und Skulpturen. aufwendigen Prozess verarbeitet die Künstlerin Tonklum- Brems Motivwelt zeugt vom Bemühen des Künstlers – er pen zu gleichsam energiegeladenen Körpern. Oftmals war in den 1950er-Jahren Gehilfe von Karl Geiser –, sich seriell angeordnet, treten sie zueinander über Ähnlich allen Avantgardeströmungen zum Trotz mit der unspek keiten und Unterschiede vielfältig in Beziehung. takulären sichtbaren Welt auseinanderzusetzen. Angesichts seiner oft riesigen, technisch anspruchsvoll 1987 wandte sich Paolo Bellini dem Werkstoff Eisen produzierten Werke mag es erstaunen, dass auch Ugo zu und bringt seither der Kleinskulptur grosse Aufmerk- Rondinone Wert auf haptische Qualitäten legt. Die 64 samkeit entgegen. Sein Projekt Lilliputs – der Künstler Wolkenformationen von Diary of Clouds erweisen sich bei nennt es das «Tagebuch eines Bildhauers» – ist bis heute genauem Hinschauen als Wachsabgüsse von eigenhändig auf mehr als 200 Objekte angewachsen. geformten Tonobjekten. Wie so oft in Rondinones Werk Das Zürcher Künstlerduo Lutz & Guggisberg baut sind es Momentaufnahmen; im Fall der Wolken – wie schon seit über zwanzig Jahren Museumsmodelle. In ihrer Meret Oppenheim schon bemerkte [siehe Raum 7] – von neuesten Skulpturenhalle werfen sie in ebenso lust- wie eigentlich unfassbaren Zuständen. liebevoller Zelebrierung des Alltagsdesigns einen ironischen Als eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Kunst Blick auf den Waren- und Fetischcharakter von hielt Hans Josephsohn zeit seines Schaffens, also von Kunstwerken. den 1950er-Jahren bis ins neue Jahrtausend hinein, an der Wie der Titel The Magic Cupboard verspricht, birgt der figürlichen Plastik fest. Ab 1990 wandte er sich von der Schrank von Augustin Rebetez lauter magische, ge- Ganzkörperfigur ab. Die Auffassung des Körpers verdichtet heimnisvolle Sachen. Dieses mystische Universum erweist sich, der zum Teil heftige Modellierungsprozess bestimmt sich als ein überbordender Fundus, aus dem man sich die Oberflächen, sodass die Skulpturen keine Abbilder die Bestandteile für eigene Geschichten und Erzählungen von Körpern mehr sind, sondern – ganz und gar denjeni- zusammensuchen kann. gen Giacomettis verwandt – Verkörperungen des Wesens des Menschseins. Dieselbe amorphe Form, die Josephsohn seinen Skulp- Raum 11 turen entlockte, sucht Peter Regli auf seinen Streifzügen durch die Steinbrüche dieser Welt zu finden. Unverändert Die für raumgreifende Installationen bekannte Videokünst- stellt er seine Fundstücke auf einen Sockel und legt mit lerin Pipilotti Rist inszeniert Körperlichkeit in ihren V ideos wenigen Kreidestrichen die darin schlummernde Essenz mittels einer Kameraführung, die an die bildhauerische frei. Die Werke heissen Raw Stones oder Sleeping Stones Tätigkeit gemahnt – Video wird zur Skulptur. In Werken und sind Teil von Reglis lebenslangem Projekt Reality wie beispielsweise der Zweistein-Serie unterwirft sie auch Hacking: Kunst zu schaffen durch minimale Eingriffe in die Gegenstände im realen Raum durch eine Videoprojektion reale Welt. einer Gestaltung und haucht ihnen ein Leben ein, das Einen Schritt weiter im Spiel mit Realität und Fiktion geradezu aus ihrem Innern heraus zu leuchten scheint. ging die Genfer Künstlerin Mai-Thu Perret im Werk
zyklus Sculptures of Pure Selfexpression. Er entstand im Energieflüssen; die leichte Vibration weist den Frauen Zusammenhang mit ihrem utopischen Konstrukt der radi- körper gar selbst als eine Art Maschine aus. kalfeministischen Kommune «New Ponderosa». Die Kera- Die Kunstwerke von Julian Charrière sind zumeist mikskulpturen sind «hypothetische Produkte», angeblich voller Schönheit, im Grunde aber eigentliche Mahnmale. aus der Hand der Kommunardinnen stammend. Die be- Sie entspringen dem Wunsch, unsere Umwelt und die hauptete Autorschaft zielt geradezu auf die Kernfragen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur zu begrei- der Kunst, nämlich was ein Kunstwerk ist, was es mit sich fen. Dafür unternimmt Charrière Forschungsreisen in trägt und wer darüber bestimmt. ökologisch bedeutsame Regionen der Welt. Die dort Urs Fischer ist weltberühmt für seine abbrennenden gesammelten Erkenntnisse und Materialien verdichtet er Wachsskulpturen. 2001 realisierte er mit einem im Stil in seinen Arbeiten. So stammen im Beispiel des Werks von «Bad Painting» verfertigten stehenden Akt seine erste Future Fossil Spaces das säulenförmig geschichtete Salz- solche Skulptur. Der Begriff der Plastik – sie definiert gestein sowie die in den eingepassten Behältern enthal- sich durch das Zufügen von Material – wird in sein Ge- tene Lithiumsole aus der grössten Salzwüste der Welt in genteil verkehrt. Das Werk schmilzt wegen des brennen- den bolivianischen Anden, die ein Drittel der weltweiten den Dochts im Lauf der Zeit, und das Ursprungsmaterial Lithiumreserven enthält und entsprechend intensiv ausge- Wachs sammelt sich formlos am Boden. beutet wird. Das Spiel mit sämtlichen Parametern der Kunst voll- Einer der eindringlichsten Streiter für die soziale Ein- zieht auch Frantiček Klossner, im Vergleich zu Fischer mischung der Kunst ist der in Paris lebende Thomas am entgegengesetzten Ende des physikalischen Spekt- Hirschhorn. Seine Installation Über Katalog, Text, Edition rums. Seine vollplastisch in Eis abgegossenen Selbstbild- von 1998 steht nicht zufällig auf wackligen Füssen. Auch nisbüsten schmelzen langsam dahin. Auch hier findet wenn der provisorisch gezimmerte Schaukasten selbstbe- ein Prozess der Rückführung des Materials in seinen Ur- wusst in grellem Rot leuchtet, spricht er in allen seinen sprungszustand statt, Klossners Konzept geht aber über anderen Aspekten eher von der Gewissheit, dass es keine kunsttheoretische Überlegungen hinaus. Er bezeichnet die Gewissheit gibt. Die Ansammlung von eigenen Katalogen, 1990 begonnene Werkreihe der Melting Selves als Textfragmenten, Bilddokumenten und Kommentaren un- «infinite Performance» und thematisiert damit die Instabi- terstreicht Hirschhorns Bemühungen um die Entmystifizie- lität des Ichs und dessen Abhängigkeit von den Gesetzen rung der Kunst und seine Forderung nach deren gesell- immerwährender Veränderung. schaftlicher Relevanz. Sich einmischen Raum 12 [OG] Im aktuellen Zeitalter des Anthropozäns muss sich die Menschheit zunehmend Prozessen stellen, die ursächlich Die Eisenplastik im eigenen Verhalten wurzeln und zugleich die natürliche wie die gesellschaftliche Welt in existenzieller Weise Picassos kubistische Assemblagen aus Blech und Draht bedrohen. Als bewährter Seismograf für Befindlichkeiten von 1914 gelten als die frühesten Beispiele für den eignet sich die Kunst auch dafür, diese grossen, viel- Werkstoff Metall in der modernen Kunst. Die eigentliche schichtigen Zusammenhänge sichtbar zu machen. So be- Gattung der Eisenplastik hat sich aber erst ab den fähigt gerade das starke Bewusstsein für Prozessualität 1930er-Jahren allmählich etabliert. Auch Schweizer die Künstlerinnen und Künstler, sich dazu mehr oder weni- Künstlerinnen und Künstler hatten Anteil an der Entwick- ger explizit zu äussern. lung der Gattung, allen voran Walter Bodmer [siehe Unter diesem Aspekt lässt sich die prozesshaft funktio- Raum 2], Max Bill und Serge Brignoni [siehe Raum 4] nierende Tischskulptur Bergunfall des Künstlerduos mit ihren konstruktivistischen und surrealistischen Assem- Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger ganz neu lesen. blagen der späten 1920er- und 1930er-Jahre. Nach Sicher verblüfft sie mit ihrem vordergründigen Witz. dem Krieg wurde die Technik von vielen Kunstschaffenden Im Sinne eines Modells scheint sie aber auch die Entfrem- mit Begeisterung aufgenommen. Sie ermöglichte einen dung des modernen Menschen gegenüber der Natur zu wirkungsvollen, augenfälligen Bruch mit den traditionellen widerspiegeln. Künstlich erzeugte felsähnliche Formatio- Verfahren der Bildhauerei und stellte ganz neue hand- nen, teils mit Zivilisationstrümmern durchsetzt, imitieren werkliche und konzeptuelle Anforderungen. die erhabene Schönheit der Natur. Das untaugliche Zur ersten Nachkriegsgeneration der Schweizer Eisen- Experiment bleibt ein Unfall. Zivilisation und Natur finden plastiker gehören u. a. Robert Müller [siehe Raum 2], nicht mehr zusammen. Jean Tinguely [siehe Räume 4 und 5], Bernhard Die gebürtige Genfer Künstlerin Vanessa Billy hebt Luginbühl und Erwin Rehmann. Ihr Schaffen wurde den Menschen und seinen Umgang mit Ressourcen, aufgrund der Rohheit, des Aggressionspotenzials und der Materialien, der Technik und schlussendlich der Umwelt provokativen Anmutung dilettantischer Basteleien in den ins Zentrum ihres Werks. Dear Life versinnbildlicht diese 1950er-Jahren als neue Avantgarde gefeiert, und zwar Zusammenhänge in der zugespitzten symbiotischen weit über die Schweiz hinaus. Die Eisenplastik hatte sich Verbindung eines in weiches Kunstharz gegossenen Frau- schon bald ins allgemeine Kunstempfinden der Schweiz enkörpers mit einem gebrauchten Automotor. Die irritie- eingeschrieben, auch weil Eisen und Stahl sich wie keine rende Paarung spricht von Abhängigkeiten, aber auch von anderen Werkstoffe für Grossplastiken eignen, und diese
haben den öffentlichen Raum der Schweiz seit den in diesem Fall durch die nationalsozialistisch motivierten 1960er-Jahren geradezu überzogen. «grossdeutschen Eroberungen der Berge» jener Zeit. In der nachfolgenden Generation gibt es diejenigen, Mit ihrer Nacktheit löst Markowitsch die Figuren allerdings die in der eingeschlagenen Traditionslinie weiterfahren: aus dem Anekdotischen heraus. Sie wirken wie zeitlose Oscar Wiggli [siehe Park], Louis Conne, Silvio Schmerzensmänner. Mattioli, Gillian White [siehe Park]. Andere hingegen Das Fliegen ist ein grosses Thema der Kunstgeschichte. suchen dem Material neue Ausdrucksqualitäten abzurin- Es zieht sich wie ein Leitmotiv auch durch das Werk gen. Sie messen sich nicht mehr an den expressionisti- von Erica Pedretti. Trotz ihres früheren bildhauerischen schen oder existenzialistischen Vorbildern eines Luginbühl Schaffens ist die Künstlerin zuerst als Literatin bekannt oder eines Tinguely. Ihre Referenz sind die neuen Avant- geworden. Die beiden Tätigkeiten sind bis heute eng ver- garden, sei es die Minimal Art – etwa im Fall von Henri woben. Insofern liegt das Sinnbild des Flügels nahe: als Presset, Peter Hächler [siehe Park], James Licini, Instrument gegen die Erdenschwere, als Mittel für Inspira- Gianfredo Camesi [siehe Raum 9], Gunter Frentzel, tion und gedankliche Höhenflüge. Aber auch – zusammen Jürg Altherr, Vincenzo Baviera [siehe Park]) – oder wie mit ihren Behausungen – als Metapher für die existen im Fall von Josef Maria Odermatt die Arte Povera. ziellen Bedürfnisse in den heutigen Zeiten der Flüchtlings- Der Raumbezug bleibt sehr wichtig, sowohl bei den ströme. Pedretti kennt sie aus der eigenen Erfahrung ihrer Vorgenannten als auch bei Kunstschaffenden wie Matias Flucht in einem Rotkreuzzug 1945 aus der damaligen Spescha, der mit wenigen, schlicht gebogenen Eisen- Tschechoslowakei in die Schweiz. stangen eine Zeichnung im Raum umsetzt. In jüngerer Zeit gewinnen industriell gefertigte Metalle für die künstleri- sche Verwendung an Bedeutung. So spielen die Reliefs Dachterrasse und Rathausgarten (Park) von Daniel Robert Hunziker nicht nur mit den Refle xionseigenschaften pulverbeschichteter Metalle, sondern Auf der Dachterrasse – zugänglich über die Aussentreppe stiften mit den vielen denkbaren Gebrauchszusammen- direkt neben dem Eingang des Kunsthauses – und im hängen dieser Materialien neue Kontexte in Kombination dahinterliegenden Park des Rathauses sind weitere Kunst- mit Architektur, Design und auch rein funktionalen Indust- werke installiert. rieprodukten. Der Obwaldner Kurt Sigrist bezeichnet Zwei Werke wurden speziell für die konkrete Situation seine Behausungen und seine Schreine zur Bewahrung geschaffen. In Zusammenarbeit mit Herzog & de Meuron, geheimnisvoller Gegenstände dementsprechend als den Architekten des Museumsneubaus, zu dem auch Zeiträume. die Dachterrasse gehört, hat Rémy Zaugg 2003 an zwei Flavio Paoluccis an der hinteren Stirnwand ange- Positionen der Aussenfassade eine jeweils zweiteilige brachtes Wildes Alphabet, dessen Buchstaben aus Zwei- permanente Neonschrift angebracht. Sie weist dem Kunst- gen von Wildpflanzen gebogen sind, bildet einen reiz werk ein Subjekt zu: Die Kunst spricht in Ich-Form und vollen Kontrast zu den in diesem Raum versammelten somit spricht sie uns direkt an. Die zweite ortsspezifische «Schwergewichten», während Christian Megerts Arbeit ragt aus dem Innenhof heraus. Charles de von der Decke hängendes Spiegelmobile sie in einen Montaigu verbindet mittels eines einfachen, in Zimmer- Schwebezustand versetzt. mannsarbeit konstruierten Körpers den Innen- mit dem Aussenraum. Die weiteren Skulpturen im Freien korrespondieren Foyer in der einen oder anderen Weise mit Themen, die auch in den Ausstellungsräumen aufscheinen. Unter gattungstheo- Das Kreuz des Walliser Künstlers Valentin Carron be- retischen Aspekten der «Skulptur» interessiert die Frage, grüsst und verabschiedet die Besucherinnen und Besucher inwiefern die Begegnung mit den Werken draussen am Ein- und Ausgang des Kunsthauses. In seiner Klarheit anders vor sich geht als im neutralen Museumsraum. Die und Farbgebung – es ist seitlich blau bemalt – könnte Werke treten hier in einen Dialog mit einer städtebaulich es als Paradebeispiel für die geometrische Kunst herhal- gestalteten oder naturhaften Umgebung, und diese wirkt ten. Seine Form ist aber auch ein uraltes Symbolzeichen unweigerlich auch auf das Empfinden der Betrachterinnen und als solches seit 2000 Jahren durch das Christentum und Betrachter ein. vereinnahmt. Das Kreuz hängt jedoch in einem Museum, Die Standorte der Werke und deren Legenden finden Sie auf dem Plan, folglich will es als Kunstwerk verstanden werden. Carrons der diesem Handout beiliegt. Werk gibt Anlass, über die Bedeutung von Formen und Farben nachzudenken, aber auch über die Bedeutung der Kontexte von Kunst und von allem, was wir wahrnehmen. In der spitzen verglasten Ecke des Foyers spielt sich gerade ein Bergdrama ab. Rémy Markowitsch hat die vier abstürzenden Figuren aus Ferdinand Hodlers Ge- mälde Absturz (1894) in Balsaholz geschnitzt und ihnen den 1936 beim Versuch einer Erstbesteigung der Eiger- nordwand im Seil hängend zu Tode gekommenen deutschen Bergsteiger Toni Kurz beigegeben – ein feiner Hinweis auf die ideologische Vereinnahmung der Alpen,
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