Deutsch Schweizer Skulptur seit 1945 *Aargauer Kunsthaus 12. 6 26. 9. 2021

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Schweizer Skulptur seit 1945   Deutsch
*Aargauer Kunsthaus
 12. 6. – 26. 9. 2021
Liebe Besucherinnen und Besucher                               Hochglanzoberfläche aufscheinendes Spiegelbild aber
                                                               auch zum Teil des Werks und rührt uns mit der leise
Die aktuelle Ausstellung gibt erstmals einen                   ­erklingenden Spieldosenmusik emotional an.
                                                                   Auch Sylvie Fleury ist eine Meisterin der Oberflä-
Überblick über das vielseitige skulpturale Schaf-
                                                                chen. Sie verwandelt einen trivialen Pilz in ein begehrens-
fen in der Schweiz von 1945 bis heute. 230                      wertes Objekt unserer verführerischen Warenwelt. Oder
Werke von 150 Kunstschaffenden aus allen                        entführt sie uns damit vielmehr in das Reich von Alices
Landesteilen sind in einem spannungsreichen                     Wunderland oder dasjenige halluzinogener Sub­stanzen?
­Parcours zu entdecken. Er führt von den Ausstel-               In ebenso vieldeutiger Weise lässt Not Vital die vier
                                                                Buchstaben des vulgären englischen F-Worts aus einer
 lungsräumen im Erd- und Obergeschoss über
                                                                Jagdtrophäe spriessen – ein Culture Clash mit tiefgründi-
 das Foyer und die Dachterrasse des Aargauer                    gem Witz.
 Kunsthauses bis in den angrenzenden                               Das Spiel mit Versatzstücken und Zitaten erschöpft
 Rathauspark.                                                   sich selten in der Provokation um ihrer selbst willen.
                                                                Es sind vielmehr Hinterfragungen mittels gezielter Kontext-
                                                                verschiebungen, besonders gut nachvollziehbar am Bei-
Orientieren Sie sich in erster Linie am Grund­
                                                                spiel des karikaturesken Golfspielers à la Giacometti von
riss in diesem Handout.                                         Valentin Carron.
                                                                   Die anderen beiden Werke in diesem Raum thematisie-
Die Lebensdaten der Künstlerinnen und Künstler                  ren weitere Varianten der postmodernen Skulptur. Bei
entnehmen Sie dem Namens­verzeichnis auf                        Markus Raetz wird die Skulptur selbst aktiv: Zwei dreh-
                                                                bare zylindrische Formen führen uns einen tanzenden
der letzten Seite. Dort sind auch die Räume auf­
                                                                Akt – ein Zitat einer Fotografie von Man Ray – vor Augen.
geführt, in denen sich die jeweiligen Werke                     Ein Spiel mit Fakt und Fiktion: Der Körper manifestiert
befinden.                                                       sich paradoxerweise als Negativform im Leerraum zwischen
                                                                den Volumen. Und Doris Stauffer involviert uns ganz
Wir wünschen Ihnen einen vergnüglichen und                      direkt: Ihre Tastsäcke wollen zur Erkundung ihrer Inhalte
                                                                eigentlich berührt werden, was heute leider aus konser­
anregenden Ausstellungsbesuch.
                                                                vatorischen Gründen nicht mehr erlaubt ist.

Raum 1                                                         Raum 2

Prolog                                                         1945

Die Ausstellung Schweizer Skulptur seit 1945 breitet           In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
sich weitgehend chronologisch aus. Der Prolog hingegen         entwickelte sich die Kunst in neue Richtungen. Insbeson-
­wartet mit sieben ausgesuchten Werken der jüngeren            dere in der Skulptur wurden die herkömmlichen Tech­
 Vergangenheit auf.                                            niken, Materialien und künstlerischen Denkweisen durch-
      Vor rund vierzig Jahren hat sich das Schlagwort der      brochen und teils radikal erweitert. Gleichwohl erweist
 Postmoderne etabliert. In der Kunstwelt wird damit            sich die künstlerische Situation der Jahre nach 1945 in
 das sich schon länger ankündigende Ende einer linearen        der Schweiz als gar nicht so gespalten wie oft dargestellt.
 ­Abfolge der Stile bezeichnet. Es meint auch das Ende         Lange Zeit bestimmten noch die «Traditionalisten» die
  einer Kunstentwicklung, die unaufhörlich Neuland zu er-      Szene und die öffentliche Wahrnehmung. Zu ihnen gehö-
  obern sucht, indem sie das Althergebrachte überwindet.       ren Hans Aeschbacher, Karl Geiser, Otto Charles
  In der Postmoderne ist alles gleichzeitig möglich, und       Bänninger, Remo Rossi, Giovanni Genucchi. Sie hiel-
  die Künstlerinnen und Künstler befassen sich auf neue,       ten an der figürlichen Darstellung und den klassischen
  unbelastete Weise mit der Geschichte der Kunst und           Materialien Stein und Bronze fest. Mit Ausnahme von
  mit ihrem eigenen Tun.                                       Aeschbacher und Genucchi fanden sie kaum mehr neue
      Dazu gehört die Selbstinszenierung bis hin zur Selbst-   Ausdrucksformen, obwohl sie alle noch längere Karrieren
  stilisierung als Kunstfigur. Urs Lüthi lebt sie in seiner    vor sich hatten.
  Kunst seit fünfzig Jahren mit höchster Konsequenz und           Einen anderen Weg beschritt Germaine Richier,
  treibt sie mit einer brandneuen Skulptur, einem dreidimen-   Schweizerin durch Heirat mit Otto Charles Bänninger. Die
  sionalen Zitat seiner berühmten Fotoarbeit Lüthi weint       einschneidenden Erfahrungen der Kriegszeit waren ein
  auch für Sie von 1971, auf die Spitze.                       Grund, weshalb sie sich von der traditionellen Auffassung
      Ugo Rondinone spielt auf die Strukturen der in der       der menschlichen Figur abwandte und begann, sowohl
  Schweiz besonders hochgehaltenen konkreten Kunst an.         motivisch als auch technisch neue Wege zu gehen. Das
  Sein monumentaler Körper in X-Form, einem Zeichen,           äusserte sich in der Gestaltung dynamischer, oft insekten-
  das sich als Symbol sowohl zur Hervorhebung als auch zur     artiger Wesen, die anatomisch wie materialtechnisch
  Abwehr oder gar Auslöschung eignet, stellt sich aufdring-    bis zu den Grenzen des Möglichen vorstossen.
  lich in den Weg, macht uns über unser auf der schwarzen
Als Avantgardekünstlerin lässt sich Richier aber                     regt hatte, oder Marguerite Saegessers dynamische,
 nicht wirklich bezeichnen, ebenso wenig wie der gleichalt-                 filigrane Kompositionen. Eine andere weit gereiste Künst-
 rige und ebenfalls mehrheitlich in Paris tätige Alberto                    lerin ist die Winterthurerin Rosa Studer-Koch. Ab
­Giacometti. Er hatte sich bereits in den frühen 1930er-­                   1936 lebte sie im Kongo. Politische Wirren zwangen sie
 Jahren von den surrealistischen Konfigurationen und                        1961 zur Flucht zurück in die Schweiz, wo sie ihr skulp­
 der abstrakten Form verabschiedet, um sich wieder der                      turales Schaffen wieder aufnahm, scheinbar im hiesigen
 menschlichen Figur zuzuwenden. Die Umsetzung des                           Zeitgeist; die Erfahrungen im Kongo hinterliessen aber
 Körpers in die Skulptur hatte nichts weniger zum Ziel, als                 motivisch, thematisch und atmosphärisch ihre Spuren
 der puren menschlichen Existenz und ihrem Verhältnis                       [siehe auch das Werk Danse Bashi im Park].
 zum Raum, zur erweiterten Umgebung eine Form zu ver-                            In diesem Kontext mutet Hugo Webers Porträtbüste
 leihen. Nicht zuletzt dank seines unverkennbaren Stils                    Mies van der Rohe in ihrer traditionellen Auffassung
 wurde er in der Nachkriegszeit zum bekanntesten                           fast anachronistisch an. Weber war ein Bewunderer
­Schweizer Künstler.                                                       ­Giacomettis. Die massige Erscheinung des Porträtierten
       Es gab um 1945 in der Schweiz natürlich auch die                     steht hingegen der verschwindenden Körperlichkeit der
 «Avantgardisten» im Wortsinn, allen voran Hans Arp,                        von Giacometti in Bronze gefassten Figuren diametral
 dessen biomorphe Abstraktionen seit den 1930er-Jahren                      entgegen.
 zum kunstgeschichtlichen Kanon gehören. Geht es bei                             Fast schon als ein Urgestein der Schweizer Kunst­
 Giacometti um die menschliche Existenz, so bei Arp um                      geschichte des 20. Jahrhunderts kann Louis Conne
 die nie innehaltenden Wandlungsprozesse der Natur.                      bezeichnet werden. Er verkehrte in der Zwischenkriegs-
 Eine ganz andere künstlerische Haltung vertrat Max Bill,                zeit in der Schweiz und in Paris in fast allen fortschritt­
 ­prägender Exponent der Gruppe der Zürcher Konkreten.                   lichen Zirkeln, bis er sich wegen der Zäsur des Kriegs in
  ­Anstelle des subjektiven Schöpfergeistes werden nach­                 Zürich niederliess. Er verstand sich stets als Grenzgänger
   vollziehbare Gesetzmässigkeiten für die Konzeption von                zwischen Tradition und Innovation. So bietet sein Werk
   Kunstwerken beigezogen.                                               denn auch überraschende Anknüpfungspunkte, etwa an
       Schweizer Künstler waren Pioniere in der neuen Diszi-             ­Giacometti, den Surrealisten Serge Brignoni oder Hans
   plin der Eisenplastik. Walter Bodmer fertigte bereits                  Arp, aber genauso Bezüge zur Eisenplastik und gar den
   1936 Skulpturen aus Eisendraht, Robert Müller gelangte                 Materialcollagen der «Nouveaux Réalistes». Conne hat
   mit Assemblagen aus Eisen und Altmetall in den 1950er-                 auch kirchliche Aufträge ausgeführt. Seiner Kreuzigung ist
   Jahren zur Essenz der Eisenplastik und war deshalb schon               hier der Entwurf eines Reliefs für den Hauptaltar der
   damals international gefeiert, während Walter Linck                    ­Kathedrale von Senlis (F) des Bernjurassiers Georges
   sich den neuen Werkstoff erschloss, weil er realisierte,                Schneider zur Seite gestellt, der zwar viel später, aber
   dass die Technik des Bronzegusses seinen Ansprüchen an                  in vergleichbarer Dynamik ausgeführt ist.
   die Darstellung von Bewegung nicht mehr genügen konnte.
   Ohne Verbindung zur Schweizer Kunstszene arbeitete
   Isabelle Waldberg im Exil in New York und nach dem                    Räume 4 und 5
   Krieg zurück in Paris an ihren Constructions, ab­strakten
   Gebilden, die sie zunächst in elastischen Birkenholz­
                                                                         Kinetische Kunst
   stäbchen, später in Draht ausführte.
                                                                          An die Skulptur wird der Anspruch gestellt, «von allen
                                                                          Seiten schön» zu sein. Solange sie unverrückbar auf dem
Räume 3 und 4
                                                                          Boden oder dem Sockel stand, musste man – um diese
                                                                          Vielansichtigkeit zu erkennen – bei der Betrachtung
Die Räume 3 und 4 bilden im Ausstellungsparcours eine Sackgasse,
                                                                          um das Objekt herum gehen. Gewisse Kunstschaffende
d. h. nach Verlassen von Raum 2 durchschreiten Sie die Räume 5 und 4
und setzen den Parcours in Raum 3 in umgekehrter Richtung wieder fort.    wie etwa Raffael Benazzi begannen, ihre Skulpturen
                                                                          drehbar auf den Sockel zu stellen, sodass die Ansicht
Dynamische Figuren                                                        beliebig gewechselt werden kann.
                                                                             Noch weiter geht die kinetische Kunst. Sie wandelt
In den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Krieg lassen                      die Gestalt selbst aus eigenem Antrieb heraus, wie etwa
sich in der Schweiz viele künstlerische Verwandtschaften                  im Fall der Maschinenskulpturen von Jean Tinguely. Die
unter den Kunstschaffenden erkennen. Alle ringen sie                      nach 1960 entstandenen Totems [siehe Raum 5] bewe-
mit den grossen Themen und suchen nach adäquaten                          gen sich, ohne dass die zugrundeliegenden mechanischen
Ausdrucksmitteln. Diese gehen nicht selten auf eine sehr                  Zusammenhänge erfasst werden können. Die wenige
­dynamische Auffassung des Körpers zurück, sodass die                     Jahre später einsetzende Werkgruppe der Bascules ver-
 Figuren mit weit in den Raum ausgreifenden Gliedmassen                   folgt nochmals andere Prinzipien. Mit ihrer Binnenbe­
 schreiten, rennen, tanzen und springen.                                  wegung berauben sich die nun sehr kompakten Plastiken
    Beispiele dafür sind neben Remo Rossis Akrobat                        ihrer eigenen Standfestigkeit.
 [siehe Raum 2] das ungewöhnliche Alltagsmotiv einer                         Auch andere Schweizer Eisenplastiker schufen kineti-
 Waschfrau von Charlotte Germann-Jahn, aber                               sche Werke, etwa Robert Müller mit der Witwe des
 auch Germaine Richiers Nachtmensch oder die tanzen-                     ­Radrennfahrers. Dieses «Fahrrad» provozierte 1961 im
 den Figuren von Emilio Stanzani, zu denen ihn seine                      Amsterdamer Stedelijk Museum einen handfesten
 Freund­schaft mit dem Pantomimen Marcel Marceau ange-
Skandal und gilt heute als Ikone der erotischen Kunst.        riefen Schweizer und französische Künstler 1960 das
Oder B­ ernhard Luginbühl: Er bringt nach ersten frühen       Manifest des «Nouveau Réalisme» aus. Einer der Leit-
Versuchen das Moment der Bewegung auf ganz unter-              sprüche lautete gegenseitige Durchdringung der Kunstdis-
schiedliche Weise in seine Werke [siehe auch seine wei-        ziplinen. Dieter Roth war auch Dichter, André Thomkins
teren Werke in Raum 12 im OG].                                 Jazzmusiker und Wortakrobat – seine Palindrome [siehe
                                                               Raum 5] bilden einen eigenen Werkkomplex –, Daniel
                                                               Spoerri Choreograf, während Eva Aeppli ihre morbiden
Kunst aus Kunststoff                                           Figuren, stummen Wächterinnen gleich, wie auf der
[Raum 5]                                                     ­Theaterbühne inszenierte.
                                                                   André Thomkins’ frühe Assemblagen aus Holz
«Kunststoff ist kein Material, das ich gern habe», meinte      ­weisen auf sein 1959 entwickeltes Labyr-Projekt voraus,
Niki de Saint Phalle, aber dank ihm seien «grosse,              das eine schöpferisch-spielerische, gegen die Konsum­
transportierbare Volumen zu schaffen: leicht und unzer-         gesellschaft gerichtete Wohn- und Lebensweise vorsah.
brechlich». Ihre berühmten poppigen Nanas, aber auch            Mit den «Nouveaux Réalistes» war auch die 1936 mit
die Gemeinschaftsarbeit mit Jean Tinguely für den Park          ihrer Felltasse berühmt gewordene Surrealistin Meret­
bei Fontainebleau, Le Cyclop, sind aus farbigem Polyes-      ­Oppenheim verbunden. Sie hatte sich nach einer Schaf-
terharz geschaffen. Viele Kunstschaffende haben in den          fenskrise neu orientiert, und noch stärker als zuvor
1960er-Jahren aus solchen praktischen Gründen Materia-          offenbarte sich in ihrem Werk ab den 1950er-Jahren ihre
lien aus Kunststoff für sich entdeckt. Fred Perrin er-          Gabe, fundamentale Lebensprinzipien traumwandlerisch
laubten sie auf einfache Weise die Verfertigung komplexer       einfach zur Darstellung zu bringen.
organischer Strukturen. Dank der Schnitte, mit denen               Dieter Roth gilt als der radikalste Schweizer der
Perrin diese Körper wie Anatomiemodelle öffnete, wird         internationalen Fluxus-Gemeinschaft. Er unterminierte mit
das Wechselspiel von Volumen und Leerraum sichtbar.           seinen unbeständigen Arbeiten aus Lebensmitteln –
    Für Wilfrid Moser war die gute Bemalbarkeit ein           ­beispielsweise dem im Verlauf der Zeit verschimmelnden
Grund, sein plastisches Werk hauptsächlich aus Kunstharz       Selbstbildnis aus Schokolade – den traditionellen elitären
zu formen. Der Raum im Bezug zum Menschen war                  Kunstbegriff. Gleichzeitig war das ein Angriff auf die
schon immer ein Kernthema des wohl erfolgreichsten             Werte des damaligen «Wirtschaftswunders».
Schweizer Malers jener Zeit. In der Skulptur konnte Moser          Daniel Spoerri machte 1960 erstmals mit seinen
den Raum im Sinne eines «bewohnbaren Bildes» real in           «Fallenbildern» von sich reden und wurde mit ihnen
die Welt setzen. Verwandt damit sind die ab 1970 ent­          schnell berühmt. Sie bestehen aus den auf Tischplatten
stehenden Raumkonzepte von Michael Grossert, die –             geklebten Überresten kleinerer oder grösserer Tafel­
wie übrigens auch Mosers Skulpturen – in grosser Zahl          runden. 1967 nahm sich Spoerri eine Auszeit auf der grie-
als begehbare vielfarbige Polyesterlandschaften im öffent-     chischen Insel Symi. Dort entstand die aus 25 Objekten
lichen Raum realisiert worden sind.                            bestehende Serie der Zimtzauberkonserven, eine Art
    Für H. R. Giger gehörte der Kunststoff zum Konzept.        Sammlung persönlicher Reliquien. Spoerri spürt darin
Seine apokalyptischen Bildwelten verlangten für ihre           dem Fetischcharakter, sprich der magischen Kraft eigent-
objekthafte Umsetzung geradezu nach der Künstlichkeit          lich wertloser, oft auf der Müllhalde gefundener Gegen-
­synthetischen Materials. Gleichwohl besteht Gigers            stände nach.
 Kosmos aus einer einzigartigen Verschmelzung des Tech-            Doris Stauffers Werke aus der Zeit um 1960, etwa
 nischen mit dem Organischen. Gigers frühe Skulptur Bio-       der ironisch als Kulturrevolution betitelte, an der Wand
 mechanoid kann als ein Prototyp des zwischen Mensch           hängende Besteckeinsatz, mögen wie «Fallenbilder»
 und M­ aschine, zwischen Trieb und Erstarrung pendelnden       daherkommen, stehen aber Spoerris Zimtzauberkonserven
 Wesens gesehen werden. Schon lange vor seinem oscar-          viel näher. Es sind Äusserungen mit Bannkraft, die im
 gekrönten Welterfolg als Designer von Ridley Scotts Film      Zusammenhang mit den persönlichen Lebensumständen
 Alien (1979) vermochte Giger den unterdrückten Ängsten        der damals in der Mutter- und Hausfrauenrolle gefangenen
 der Zeit der Wohlstandseuphorie, die mit der Ära des          jungen Künstlerin zu betrachten sind.
 Kalten Krieges und der frischen, oftmals verdrängten Er-          Für einen anderen Weg entschied sich zur gleichen
 innerungen an die Schrecken des Holocaust zusam­              Zeit Niki de Saint Phalle. Sie trennte sich 1960 von Mann
 menfiel, Ausdruck zu verleihen.                               und Familie, um sich ganz der Kunst widmen zu können.
                                                               Sie lernte die «Nouveaux Réalistes» kennen. Mit Tinguely,
                                                               den sie 1971 heiratete, pflegte sie auch eine intensive
Raum 6                                                        Arbeitsbeziehung. Bevor sie mit den Nanas [siehe Der
                                                              Teufel in Raum 7] berühmt wurde, kreierte sie Assem­
                                                              blagen wie etwa das eher unansehnliche Gebilde aus al-
Die Kunst und das Leben
                                                              lerlei Gegenständen aus dem Haushalt und der Spielzeug-
                                                              kiste in Gestalt eines Nashorns – für Saint Phalle ein
Einer der vielen künstlerischen Aufbrüche in den 1960er-
                                                              Sinnbild für Monstrosität und Triebhaftigkeit.
Jahren ist eng verwandt mit dem Gedankengut der Dada-­
Bewegung und der Surrealisten. Die Verbindung von Kunst
und Leben wird nun aber noch konsequenter um­gesetzt
– es gibt keine Grenzen mehr zwischen den beiden. In den
USA hiess die neue Kunstbewegung «Fluxus», in E   ­ uropa
Raum 7                                                               Die in Japan geborene Leiko Ikemura kam 1979 in
                                                               die Schweiz, wo sie als Malerin grosse Beachtung fand.
                                                               Ende der 1980er-Jahre wandte sie sich auch der Skulptur
Zu den Ursprüngen
                                                               zu. Ihre «Häuser» aus Keramik sind nicht nur physische
                                                               Objekte, sondern Sinnbilder für Möglichkeiten, die aus
Mit dem Begriff «Individuelle Mythologien» bezeichnete
                                                               dem Innern, der Verborgenheit, dem Dunkel ans Licht und
Harald Szeemann im Zusammenhang mit der von ihm
                                                               ins Leben kommen. In ähnlicher Weise – noch verstärkt
1972 kuratierten documenta 5 die zeitgenössische Kunst-
                                                               durch das ungewöhnliche organische Material und dessen
praxis, mittels Gegenständen und Stimmungen in zumeist
                                                               haptische Präsenz – scheinen Corsin Fontanas
installativen Settings eigene, persönliche Welten zur
                                                               Schweinsblasenskulpturen Eigenschaften von Kultgegen-
­Darstellung zu bringen. Daniel Spoerris Zimtzauberkon-
                                                               ständen zu besitzen. Sie nehmen zugleich Werte wie
 serven [siehe Raum 6] stehen beispielhaft für diese
                                                               ­Vergänglichkeit oder Prozessualität auf.
 Herangehensweise. In diesen Kontext gehören auch Eva
                                                                     Mit Papierfaltungen erschuf Marguerite Saegesser
 Wipfs wie religiöse Schreine anmutenden Werke oder
                                                                in den 1970er-Jahren körperhafte Objekte, die sich
 die kulissenhaften Skulpturen von Friedrich Kuhn, die
                                                                in kühn-trapezförmigen Plexiglasvitrinen ausdehnen, wäh-
 einen ausgelassenen, farbenfrohen Lebenskosmos wider­
                                                                rend Lucie Schenker mit Werkstoffen aus dem Textil­
 spiegeln, in dem die Palme immer wieder als triviales
                                                                bereich arbeitet. Sie betreibt ein Spiel mit dem Innen und
 Sehnsuchtsmotiv aufscheint.
                                                                Aussen und der Wandlungsfähigkeit von Körpern bis hin
    Oft ging es den Künstlerinnen und Künstlern um die
                                                                zu deren Auflösung in abstrakten Formen.
 Suche nach dem Allgemeingültigen. Dies bedeutet auch
                                                                     Heidi Bucher ist mit den «Häutungen», wie sie ihre
 eine Besinnung auf die eigenen Wurzeln, Rückzug zu
                                                                Latex-Abgüsse der Oberflächen von Innenräumen oder
 den Ursprüngen, in die Geborgenheit. Auch Not Vital ver-
                                                                Einrichtungsgegenständen nannte, bekannt geworden.
 fügt über eine starke Beziehung zu seiner Herkunft. Alltag,
                                                                Sie sind die Frucht anhaltender Auseinandersetzungen mit
 Brauchtum und Natur des Unterengadins prägen sein
                                                                unserem körperlichen Dasein und dessen Umraum. Alles
 Frühwerk – es steht der Konzeptkunst, der Land Art und
                                                                dreht sich um Komplementaritäten von innen und aussen,
 der Arte Povera nahe. Rudolf Blättler schuf in den 1970er-
                                                                Fläche und Volumen oder um das Detail als Teil des
 Jahren utopische Architekturen. Es sind keine wirklichen
                                                                ­grossen Ganzen. Bucher lebte in den frühen 1970er-­
 Bauten – der Künstler konzipierte sie bewusst nur als
                                                                 Jahren in den USA. Die materielle und konzeptuelle Insta­
 Modelle. Sie sollen uns zu unserer eigenen Vorstellung
                                                                 bilität ihres Werks ist denn auch im Kontext einer Bewe-
 dieser Orte, zur geistigen, schamanischen Reise dort-
                                                                 gung vornehmlich von Künstlerinnen zu sehen, die sich als
 hin anleiten. Inspiriert von den Hochkulturen Mittelameri-
                                                                 Gegenpol zur angesagten, vermeintlich faktenbasierten
 kas, sind es Orte der Kraft, genährt vom allum­fassenden
                                                                 Minimal Art herausgebildet hat.
 Prinzip der Mutter Erde.

                                                               Assoziationen und Analogien
Haus, Schoss, Gedächtnis
                                                               [auf dem zweiten Ecktisch]
[auf dem ersten Ecktisch]

                                                               Seit der Einführung des Mobiles als Kunstform durch
Isabelle Waldberg, 1936 nach Paris gezogen, bewegte
                                                               ­Alexander Calder ist die Schwerkraft auf neue Art Thema
sich während des Kriegs im New Yorker Exil und danach
                                                                der Bildhauerei. Bei den schwebenden Streifzügen geht
zurück in Paris mitten in den angesagten Kunstzirkeln.
                                                                es Thea Weltner um die fehlende Bodenhaftung im über-
Künstlerisch ging sie dennoch unbeirrt ihren eigenen Weg.
                                                                tragenen Sinne. Ihre zumeist in weiss gehaltenen Environ-
Ab 1960 ist in ihrem Werk ein Hang zu architektonischen
                                                                ments und Objekte sind eigentliche Gedenk- und Mahn-
Formen zu beobachten. Das Haus als Metapher für den
                                                                male für nicht darstellbare Ereignisse, welche die Biogra-
Körper, ein sehr alter Topos in der Kunst, erhält im Zusam-
                                                                fie der tschechischen Künstlerin während der Zeit des
menhang mit der Thematisierung der Innenwelten im
                                                                Nationalsozialismus geprägt haben.
Surrealismus ganz neue Aktualität. Waldbergs in Lehm
                                                                    Die Wolke war für Meret Oppenheim ein Sinnbild für
oder Gips geformte, danach oft in Bronze gegossene
                                                                das Unfassbare, von dem sich die Künstlerin immer wie-
«Häuser» entpuppen sich als rätselhafte Gebilde mit einem
                                                                der von Neuem zur bildlichen Darstellung herausfordern
körperlichen, nicht selten erotisierten Innenleben. Die
                                                                liess. Ungewohnte, oft durch Träume angeregte Bild­
Zuwendung zum zutiefst Menschlichen fand bei Waldberg
                                                                findungen operieren mit dem Moment der Verfremdung.
immer auch unter spirituellen, teils mythologisch herge­
                                                                Dazu gesellt sich ein enger Bezug zur Natur und zu deren
leiteten Vorzeichen statt. Ihre Bronzeskulptur Lugdus von
                                                                nicht beeinflussbaren Prinzipien, etwa in Die Spirale
1977 – eine Referenz an die gallische Gottheit Lug,
                                                                (Gang der Natur).
Schirmherr der Künste und Wanderer zwischen Licht und
                                                                    Franz Eggenschwiler pflegte Kontakte mit
Dunkelheit – ist in Waldbergs Vorstellung ein Mischwesen
                                                                ­Oppenheim und auch mit den Exponenten des «Nouveau
aus gebauter Struktur und sinnlicher Körperlichkeit in
                                                                 Réalisme». Die Stücke seiner ausufernden Sammlung an
der Schwebe zwischen gängigen Dichotomien wie etwa
                                                                 Schrottgegenständen erklärte er zu autonomen Werken,
Tier und Mensch oder männlichem und weiblichem Ge-
                                                                 oder er kombinierte sie in scheinbar absurder Weise
schlecht. Eine künstlerische Verwandtschaft mag zwischen
                                                                 zu neuen Gebilden. Christian Rothacher war seit deren
Waldberg und Robert Müller bestehen, dessen plasti-
                                                                 Gründung im Jahr 1967 Mitglied der Aarauer Atelier­
sches Spätwerk das Spiel der Verschränkungen in gerade­-
                                                                 gemeinschaft Ziegelrain, die schon bald über die Region
zu vollkommener Weise vorführt.
hinaus Erfolge feierte. Nach Erkundungen der Pop-Art          führen aber dank ihrer Experimentierfreude und einer Art
wandte er sich dem Prozesshaften zu. Mit organischen          heiterer Irrationalität weit über den Kosmos Müllers
Materialien wie Fell oder Holz, aber auch der gezielten       hinaus.
Verwendung anorganischer Roh- und Werkstoffe wie                  Für den Binnenraum der Skulptur und dessen Verhält-
­Gesteine und Mineralien lenkte er das Augenmerk auf die      nis zum Umraum interessiert sich Jean Mauboulès. Mit
 komplexe Beschaffenheit von Dingen und zugleich auf          seinen Konstruktionen erzeugt er Momente zwischen
 die Wechselwirkungen zwischen Natur und Zivilisation.        Spannung, Gleichgewicht und dem Zufall. Andere Künst-
     Im Ziegelrain arbeitete von 1968 bis 1974 auch Hugo      lerinnen und Künstler suchen nach neuen geeigneten
 Suter. Seine künstlerische Haltung ist von wissenschaft-     ­Materialien, um den Raum einzubeziehen. So verwenden
 lich orientiertem Forschen durchdrungen: Es geht ihm um       Nelly Rudin oder Carlo Cotti Glas, während Christian
 Fragen der Wahrnehmung und um Bedeutungsverschie-             Megert seit 1961 mit Spiegeln arbeitet [siehe seine
 bungen, so auch im Beispiel der modellhaften, aus einzel-     grosse Installation im Treppenhaus]. Dabei spielt die im-
 nen Backsteinen gefertigten Häusergruppe Architektur.         materielle Erscheinung des Lichts eine wichtige Rolle.
                                                               So finden auch elektrische Lichttechniken wie die Neon-
                                                               röhre Eingang in die Kunst. Christian Herdeg ist ein
Raum 8                                                         Pionier dieser Kunstform.

Alles zugleich: Materialien, Stile, Haltungen
                                                              Raum 9A
Hierarchien punkto Materialien und Ausdrucksweisen
wurden obsolet, als Künstlerinnen und Künstler begannen,      Postminimalistische Befragungen der Skulptur
anstelle der eigentlichen materiellen Umsetzung das
Konzept zum Werk zu erklären. Aldo Walker war ein früh-       Die strengen Konzepte der Minimal Art, die sich in den
er Vertreter der Konzeptkunst. Seine Logotypen wollte         1960er-Jahren in den USA entwickelt hatte, liessen viele
er nicht als Gegenstände verstanden wissen, sondern als       Kunstschaffende hinter sich, ohne sich aber vom Interesse
Anlass für ein freies Assoziieren durch die Betrachterin-     für die Grundstrukturen eines Kunstwerks abzuwenden.
nen und Betrachter. Anton Egloff, neben Walker eine                 Gianfredo Camesi untersucht in Espace total, welche
weitere prägende Figur für die Zentralschweizer Kunst-        Räume eine Skulptur zu besetzen vermag. Den physisch
landschaft, verfolgt dieselbe Strategie: Die Bilder auf den   erfahrbaren Raum stellt er stets in Beziehung zu mentalen
Würfeln seines Atlas Würfeltischs sind in ihrer Anord-        Räumen und den grösseren Dimensionen der Zeit und
nung dem Zufall unterworfen. Ungeachtet ihres ursprüng-       des Universums. Für René Zäch ist die Verbindung der
lichen Kontexts können sie in immer wieder neue gegen-        Skulptur mit den Bestandteilen eines Innenraums, insbe-
seitige Beziehungen treten. Ganz ähnlich – wenn auch mit      sondere der Wand, ein wichtiger Aspekt. Daniel Berset
um­gekehrten Vorzeichen – funktionieren Liliane Csukas        beschäftigt sich mit der Skulptur zwischen Schein und
Geflechte. Sie bestehen aus mit winzigen ausgeschnitte-       Sein. Im Spannungsfeld von Zwei- und Dreidimensionalität
nen Druckzeilen beklebten Schnüren. Die Textflut ver­         inszeniert er visuelle Spielereien, lässt seine Objekte
mittelt keine Inhalte mehr, sondern nur noch ihre eigene      Schatten werfen und Perspektiven vortäuschen.
Unfassbarkeit.                                                      Die Minimal Art hat den Sockel aus dem Repertoire
      Andere gehen unbeirrt ihren traditionellen Weg, etwa    verbannt. Václav Pozárek treibt diese Geste ad absurdum:
Gottfried Honegger, einer der bedeutendsten Vertreter         Die beiden Hauptelemente von Swiss Made verkörpern
der konkreten Kunst und Schöpfer vieler Werke im öf-          den Sockel und die Skulptur zugleich, während die Melk­
fentlichen Raum, oder Annemie Fontana mit ihren unge-         stühle dem Werk eine feine Ironisierung ver­leihen. Eine
wöhnlichen Materialkombinationen. Und die Genferin            noch radikalere Sockellösung schlägt Beat ­Zoderer vor.
­Nicole Martin-Lachat machte sich für ihre Konstruktio-       Sein Werk ist, wie der Titel Konsolidierter Sockel schon
 nen, die stets auch menschliche Züge tragen, die Technik     besagt, nichts anderes als das Produkt ­seiner selbst,
 der Schieferbearbeitung zunutze.                             d. h. Zoderer zersägt fein säuberlich einen Museumssockel,
      Otto Müller, Autodidakt und 1953 Mitbegründer des       giesst ihn mit Beton aus und setzt ihn wieder zusammen.
 berühmten Atelierhauses Wuhrstrasse in Zürich, hat sich            Zu den weiteren Parametern der Skulptur gehört
 besonders in seinem Spätwerk wieder ganz der Figur           die Beschaffenheit ihrer Materialien. Dichte, Härte und
 zugewandt und sich mit reduzierten Mitteln dem Ausdruck      ­Farbigkeit beeinflussen die Möglichkeiten der Bearbeitung
 des existenziellen Ausgesetztseins gewidmet. Im Werk          und das Aussehen. Carmen Perrin verfolgt solche
 von Müllers Schüler Hans Josephsohn spiegelt sich der         Fragestellungen kontinuierlich in ihrem Schaffen. In der
 Einfluss des Lehrmeisters, am deutlichsten in seiner Affi-    ­gezeigten Arbeit von 1994 bestimmt der Werkstoff
 nität zur Kunstform des Reliefs, aber auch in den existen-     Gummi nicht nur die äussere Erscheinung, sondern auch
 ziellen Grundthemen. Allerdings emanzipierte sich              die Art der Formung der Skulptur durch die Künstlerin.
 ­Josephsohn vom Lehrmeister, indem er der Körperlichkeit       Das Werk wird zum reinen Ausdruck seines Materials.
  und dem in die Oberflächen seiner Skulpturen eingearbei-      Eine ähnliche Ausgangslage haben Jürg Stäubles Styro-
  teten haptisch-gestischen Duktus Hauptrollen zuwies.          porarbeiten. Der erste Eindruck einer streng minimalisti-
  Auch zwischen Müller und seiner Schülerin und Lebens-         schen Form wird gebrochen, sobald das billige, leicht­
  gefährtin Trudi Demut mögen auf den ersten Blick künst-       gewichtige Material erkennbar wird. Verstärkt wird dieses
  lerische Verwandtschaften bestehen. Demuts Skulpturen         Irritationsmoment durch die organisch-ornamentale
­ nmutung der mit Heissdraht herausgeschnittenen Leer-
A                                                             Reihe künstlerischer Medien und Strategien: Sie kommt
räume. Primär materialbestimmt sind auch die Skulpturen       als Rauminstallation, Skulptur, kinetisches Objekt und als
von Pierre-Alain Zuber. Sie erzählen davon, wie und           Performance daher. Ausserdem verschränkt sie die
woraus sie gemacht sind. Mit wenigen gezielten Eingriffen     ­G attungen des Videos und der Zeichnung. Und im Objet
hebt der Künstler die Eigenschaften des Holzes wie Ge-         trouvé des Fahrrad-Rades erkennen wir eine H    ­ ommage
wicht, Spannung, Elastizität oder Energie hervor.              an Marcel Duchamps erstes Readymade.
    Ingeborg Lüschers Schwefelskulpturen liegt ein kla-             Dem Hang zu Auslegeordnungen, Zuordnungen, zur
res formales Konzept zugrunde. Die Farbigkeit des einen        ­Auslotung von Möglichkeiten innerhalb gegebener Systeme
Quaders rührt von reinem Schwefel her, diejenige des            lebt auch der Basler Künstler Eric Hattan nach. Seine
anderen von Asche. Der Kontrast von Leuchtkraft und ab-         Werke sind Versuchsanordnungen und im Rahmen von
sorbierender Dunkelheit erweist sich als überaus span-          experimentellen Prozessen gewonnene Objekte. Die «Baste-
nungsvoll. Lüschers Werk positioniert sich damit gleichsam      leien» geraten für den Künstler ebenso zur Sehschule
in einem alchemistischen Experimentierfeld, und seine           wie für diejenigen, die sich darauf einlassen.
Wirkung ist ganz der Betrachterin oder dem Betrachter
überlassen.
    Die Beschäftigung mit dem Gewicht von Kunst­werken        Raum 9B
mag durchaus im Interessensbereich der Minimal Art
liegen. Christoph Rütimann zielt mit seinen                   «Kunst nachäffen»
­Waagenskulpturen aber weit über ihre Grundsätze hinaus.
 Er stellt die Messinstrumente selbst ins Zentrum seiner      Guillaume Pilet gehört einer Generation Kunstschaffen-
 Untersuchungen und ordnet sie als Wandskulptur seriell       der an, die vom Aufbruch der Westschweizer Kunst­
 an, sodass sie ihr eigenes, sich vervielfachendes Gewicht    schulen und Kunstszene seit den 1990er-Jahren profitiert
 anzeigen. ­Rütimann lässt uns damit auch über das            haben. Sie sind gut in den internationalen und nationalen
 Gewicht der Kunst im übertragenen Sinne nachdenken.
                                                              Kunstdiskurs eingebunden und erkunden das ganze Spek-
                                                              trum des skulpturalen Schaffens, sodass mehr denn je
                                                              den beiden Devisen «Alles hängt zusammen» und «Alles
Intermedialität                                               ist möglich» nachgelebt wird. Pilets Diktum «Kunst nach-
                                                              äffen» («Aping») ist denn auch weniger despektierlich
Die Verbindung der Künste wurde von der Fluxus-Bewe-          gemeint, sondern vielmehr als lustvoll zu verstehen.
gung eindringlich gefordert und gehört zur gängigen               Auch Christian Gonzenbach gewinnt der klassischen
Kunstpraxis wie auch zum Lebensgefühl dieser und der          Skulptur mittels Umkehrungen und spiegelnden Ober­
nachfolgenden Künstlergenerationen. So war – und ist          flächen neue Inspirationen ab, während Shahryar Nashat
bis heute – eine sehr grosse Zahl von Künstlerinnen und       – nicht anders als Pilet oder auch Augustin Rebetez
Künstlern auch musikalisch tätig. Der in Genf aufgewach-      [siehe Raum 10] – seine Arbeit als Gesamtkunstwerk ver-
sene Christian Marclay tritt häufig als Musiker auf.          steht, und zwar im Sinne der Fluxus-Bewegung und ihrer
­Zugleich erhebt er die Welt der Musik und die mit ihr ver-   Intermedialität, nun aber durchaus unter Einbezug des
 bundene visuelle Ästhetik auch zum Thema seines künstle-     Mainstream-Lifestyles und seiner Ästhetik.
 rischen Schaffens. Seine Installationen und Skulpturen           Claudia Comte hingegen scheint in ihrem Werk das
 bestehen aus den materiellen Produkten der Musik:            ganze klassische Repertoire von Stilen und bildhauerischen
 ­Instrumente, Lautsprecher, Vinylschallplatten oder          Techniken auszuschöpfen. Dies in grosser Virtuosität,
  Plattencover.                                               ohne aber je Humor und Witz zu verlieren. Beson­deres
      Andrea Wolfensberger nutzt Schallwellenkurven           Augenmerk legt sie auf die Wahl des Materials. Aufgrund
  von Tonaufzeichnungen als Grundlage für die Entwicklung     seiner Eigenschaften für die Bearbeitung und seiner Eig-
  ihrer plastischen, in Wellkarton geschnittenen Formen.      nung zur Verkörperung von Motiven wird es zum wesentli-
  Dank der totalen räumlichen Dimension akustischer           chen Bedeutungsträger.
  ­Signale kann so das beschränkte Wahrnehmungsfeld un-           Solche Haltungen sind stets Gratwanderungen zwi-
   seres Sehsinns erweitert werden. Ausserdem erhalten        schen Affirmation und Dekonstruktion. So erklärt der
   die Klangstrukturen dadurch eine sicht- und greifbare      Walliser Künstler Valentin Carron nicht nur Ikonen der
   Gestalt. Heute kennt der Skulpturenbegriff keine Grenzen   ­Konsumwelt wie etwa ein Ciao-Mofa der Marke Piaggio
   mehr. Kunstwerke mit Raum-, Körper- oder auch               zur Skulptur, sondern scheut sich auch nicht vor der
   Handlungs­bezügen werden ohne Weiteres als Skulpturen       Verwendung kulturell aufgeladener Symbole wie dem
   bezeichnet. Dazu gehören Rauminstallationen, Perfor-        christlichen Kreuz [siehe Foyer].
   mances, aber auch fotografische und filmische Werke.
   So unterwirft Delphine Reist ihre Installationen und zu
   Kunstwerken erklärten Objekte zumeist strukturierten,      Stiller Nachmittag oder
   also in gewissem Sinne ritualisierten Handlungsabläufen,   Saus und Braus?
   etwa in Discours, einer automatisch gesteuerten, absurd
   anmutenden Revue sich verselbständigter Luftrüsseltröten   Erst im Verlauf der 1980er-Jahre begann Zürichs Bedeu-
   – eine Parodie auf die immergleichen nichtssagenden        tung für die Gegenwartskunst zu wachsen. Zeichen
   öffentlichen Ansprachen und Verlautbarungen. Yves Netz­-   des Aufbruchs waren zwei denkwürdige Ausstellungen:
   hammers Wandarbeit mit dem geheimnisvollen Titel           1980im Strauhof Saus und Braus, kuratiert von Bice
   Sprechen vor weggedrehten Bäumen vereint in sich eine
­ uriger, und 1987 im Kunsthaus Stiller Nachmittag,
  C                                                                  Im neoexpressionistischen Umfeld der 1980er Jahre
  ­kuratiert von Toni Stooss. Beide boten, auch wenn sie         ist auch Anselm Stalder bekannt geworden. Nebst
   ganz unterschiedlich konzipiert waren, jungen Kunst-          dem unmittelbaren Ausdruck ist sein Schaffen ebenso sehr
   schaffenden eine wirkungsvolle Plattform. Bis zur Jahr­       Reflexion, sowohl was die Prozesse der Entstehung wie
   tausendwende sollte sich Zürich gar zu einem Mekka der        der Rezeption von Kunst betrifft. Sein Werk handelt des-
   internationalen Gegenwartskunst entwickeln. Die jungen        halb stets von Bipolaritäten. Stalder selbst spricht von
   Schweizer Künst­lerinnen und Künstler agierten plötz-         der «Verdoppelung der Möglichkeit»
lich in einem inter­nationalen Umfeld und profitierten von
entsprechender Aufmerksamkeit und Inspiration.
      Auch künstlerisch fand ein Umbruch statt. Das Duo          Raum 9C
Peter Fischli und David Weiss machte den Alltag kunst-
würdig. Poetisch, mit hintergründigem Witz und Gespür            Grenzen, Reisen und
für die geeignete handwerkliche oder mediale Technik             andere Ungewissheiten
transformierten sie vermeintlich unspektakuläre Gegen-
stände, Situationen und Anekdoten zu faszinierenden               Von der Relativität kultureller Muster sprechen die Skulp-
Kunstwerken. Mit Serien wie der 350-teiligen Arbeit aus           turen von Leiko Ikemura. Sie vereinen in sich japanische
ungebranntem Ton Plötzlich diese Übersicht (1981) sind            und westliche, teils konträre ästhetische Vorstellungen,
Fischli/Weiss zu Stars der internationalen Kunstszene             wodurch sie vermeintliche Gewissheiten unterlaufen, etwa
geworden.                                                         dass der Tod nicht in Form eines zierlichen muschel­
      Parallelen bestehen zur Karriere von Roman Signer.          förmigen Mädchenkörpers erscheinen könne, wie es die
Die Arbeit des St. Galler Aktionskünstlers entspricht             Skulptur Memento mori, eine Reaktion auf die Fukushima-­
­einem erweiterten Skulpturenbegriff. So zeigt das Werk           Katastrophe von 2011, vorgibt.
 Velo mit dem zerlegten Fahrrad im Blechfass das Resultat              Metaphern wie das Haus mit seinem archetypischen
 eines Ereignisses, ohne dass sich jenes klar erschliesst.        Symbolgehalt einer Ur-Geborgenheit, wie sie in den
      Ein Zeichen für die Öffnung der Kunst setzt auch Ueli       1970er-Jahren in die Kunst Eingang fanden [siehe Raum
 Bergers Werkgruppe der Twins. Die optisch nicht von­             8], unterliegen angesichts der aktuellen weltpolitischen
 einander unterscheidbaren Objektpaare bestehen aus ei-           Verhältnisse Bedeutungsverschiebungen. Sie werden
 nem originalen Gegenstand und einer von Hand gefertigten,        plötzlich zu einem Ausdruck schierer existenzieller
 täuschend echt wirkenden Kopie des Künstlers. Original           ­Bedürfnisse. Viele Menschen befinden sich in der heuti-
 und Kopie, echt und falsch, Kunst und Leben – Gegen-              gen Welt auf freiwilliger oder erzwungener (Dauer-)
 sätze verschmelzen und verlieren ihre Wertigkeiten. Ähnli-        Wanderschaft. Kunstwerke wie Fabrice Gygis Grosses
 che Fragen, nun zum Verhältnis von Abbild und ­Realität,          Zelt, Maia Aeschbachs Bleikoffer oder Isabelle Kriegs
 werfen die illusionistischen Kastenbilder von Hugo Suter          Life Jacket können dementsprechend gelesen werden,
 auf.                                                              wenngleich letzteres auch die Geschichte von Lebens­
      Der erwähnte Ausstellungstitel Stiller Nachmittag spielt     zyklen in sich trägt und damit ein Moment der Kontinuität
 weniger auf eine beschauliche Idylle an als vielmehr auf          vermittelt. Carl Bucher errichtete 1979 in Genf für das
 ein Innehalten in der Hitze des Gefechts. So waren mit            Rote Kreuz mit einer Gruppe von Versteinerten ein erstes
 Martin Disler oder Klaudia Schifferle auch «junge Wilde»          Mahnmal für die Menschlichkeit, während der in Bagdad
 vertreten, die bereits 1980 an der punkigen Ausstellung           geborene und seit 1981 im Tessin lebende Selim
 Saus und Braus dem Titel alle Ehre gemacht hatten.              ­Abdullah das Elend der Bootsflüchtlinge in feingliedrigen
      Ab 1978 arbeitete Martin Disler an seinen neoexpres-         Skulpturen verarbeitet. Passend zur Thematik setzt er sich
 sionistischen Malereien. Später weitete er sein Schaffen          in Navigante mit der Art der Verbindung seiner Skulptur
 auf die Skulptur aus, was ihm ermöglichte, die Zerrissen-         mit dem Boden auseinander und konzipiert den Sockel als
 heit und Verletzlichkeit des Menschen, die er selbst              eigenständiges Werk.
 ­hautnah erlebte, noch unmittelbarer in die Kunst zu über-            In dieser Nachbarschaft scheinen in Sylvie Fleurys
  setzen. Einfache Materialien wie Holzlatten, Gipsbinden          First Spaceship on Venus unweigerlich koloniale Themen
  oder Tierhaare erlaubten schnelles, spontanes Arbeiten,          auf, auch wenn das überaus komplexe Werk viele weitere
  sodass die Figur gleichsam aus ihrer eigenen inneren             Bedeutungszusammenhänge herstellt: zum postfeminis­
  Notwendigkeit heraus Form werden konnte.                         tischen Spiel mit Geschlechteridentitäten – es manifestiert
      Klaudia Schifferle besuchte die F+F Schule für Kunst         sich unter anderem in der phallischen Formgebung und
  und Mediendesign, war bis 1983 Musikerin in der Post-            dem leise erklingenden Girlie-Sound – oder etwa zur
  Punk-Frauenband Kleenex (später LILIPUT) und erlangte            Frage nach Originalität in der Kunst und im Alltag. Alle
  im Klima der Zürcher Jugendunruhen als eine der weni-            Exemplare dieser Raketenserie wurden von verschiedenen
  gen Frauen in der Männerdomäne der Malerei internatio-           Konstrukteuren nach einer vorgegebenen Grundform
  nale Anerkennung. Zur gleichen Zeit wie Martin Disler            hergestellt.
  fand auch sie in der Skulptur Möglichkeiten zur Erweite-             Von Identität handeln auch die Géants der Wahl-
  rung ihres künstlerischen Ausdrucks.                             schweizerin Latifa Echakhch. Sie gehen auf die Em­
      Der St. Galler Josef Felix Müller schuf in den               bleme für Repräsentanten der Macht zurück, die in der
  1980er-Jahren ausdrucksstarke, zumeist mit der Motor-            romanischen Volkstradition in Prozessionen mitgetragen
  säge behandelte und danach bemalte Holzskulpturen,               wurden. Das Identifikationsmoment eines gemeinschaft­
  eigentliche Figurationen der triebhaften, exzessiven, dunk-      lichen Selbstverständnisses wird von Echakhch aber
  len Seite des Menschen, insbesondere des Mannes.
­ ewusst unterwandert, indem sie Geschlecht, Herkunft
b                                                                    Ein weiteres prominentes Aushängeschild der Schwei-
und Hautfarbe dieser Riesen nicht eindeutig kennzeichnet.         zer Kunst ist John M Armleder. Er ist seit den
                                                                  1960er-Jahren in allen Disziplinen der bildenden Kunst,
                                                                  aber auch in der Musik aktiv. Als eine der prägendsten
Raum 10                                                           Persönlichkeiten der Westschweizer Kunstlandschaft stellt
                                                                  er für die jüngeren Kunstschaffenden dieser Region eine
                                                                  Art Vaterfigur dar. Armleder errang in den 1980er-Jahren
Wunderkammern und Museumsmodelle                                  internationale Anerkennung, unter anderem mit seinen
                                                                  Furniture Sculptures, Untersuchungen der Wechselwirkun-
Im 20. Jahrhundert hat sich ein eigener Werktypus ent­            gen von Malerei, Objekt und Raum.
wickelt, der sich dem Sammeln und Vermitteln widmet.
Als berühmtestes Beispiel gilt Marcel Duchamps Boîte en
valise (ab 1941). In direkter Referenz stellte Ben Vautier        Formen – Finden – Passierenlassen
1972 sein Musée de Ben zusammen. Verkleinerte Repliken
der eigenen Werke geben Einblick in sein Kunstverständ-           Trotz des anhaltenden Höhenflugs industrieller Ferti-
nis. Als Mitbegründer der Fluxus-Bewegung hob Vautier             gungsmethoden gewinnt das unmittelbare Moment einer
die Grenzen zwischen Kunst und Leben auf und erklärte             skulpturalen Tätigkeit für viele Kunstschaffende aktuell
menschliche Handlungen zur Kunst.                                 wieder an Bedeutung. Die Nähe zum Material, zum
      Eine Retrospektive im Miniaturformat hält die Vitrine       ­Gegenstand, die Möglichkeit, den eigenen Fingerabdruck
 von Katharina Sallenbach bereit. Die Fundstücke,                  – im Fall von Sara Masüger noch mehr, nämlich Abfor-
 ­Modelle und Kleinplastiken spannen einen Bogen über              mungen ganzer Körperteile – im Werk zu hinterlassen,
  Sallenbachs Gesamtwerk. Sie zeigen das für viele Kunst-          werden zu wichtigen Bestandteilen der Werkgenese, die
  schaffende ihrer Generation typische Nebeneinander               bei Masüger oft in einer Reihe von performativen Akten
  ­figürlicher und abstrakter Werkstränge.                         prozesshaft und in grosser Ergebnisoffenheit passiert. Ihre
      Der Luzerner Bildhauer Rolf Brem setzte ab den               Skulpturen sind Körper und Architekturen zugleich, ver­
späten 1960er-Jahren klassische Ateliersituationen in              fügen also über ein Innenleben wie auch ein dialogisches
­Bronzen um. Der später entwickelte Werktypus Bacheca              Potenzial. Noch bedeutungsvoller wird der Akt der For-
 vermittelt die Atmosphäre seines Ateliers mit den in              mung bei den Wälzkörpern von Barbara Heé. In einem
 grosser Zahl dort lagernden Modellen und Skulpturen.              aufwendigen Prozess verarbeitet die Künstlerin Tonklum-
 Brems Motivwelt zeugt vom Bemühen des Künstlers – er              pen zu gleichsam energiegeladenen Körpern. Oftmals
 war in den 1950er-Jahren Gehilfe von Karl Geiser –, sich          seriell angeordnet, treten sie zueinander über Ähnlich­
 allen Avantgardeströmungen zum Trotz mit der unspek­              keiten und Unterschiede vielfältig in Beziehung.
 takulären sichtbaren Welt auseinanderzusetzen.                         Angesichts seiner oft riesigen, technisch anspruchsvoll
      1987 wandte sich Paolo Bellini dem Werkstoff Eisen           produzierten Werke mag es erstaunen, dass auch Ugo
 zu und bringt seither der Kleinskulptur grosse Aufmerk-           Rondinone Wert auf haptische Qualitäten legt. Die 64
 samkeit entgegen. Sein Projekt Lilliputs – der Künstler           Wolkenformationen von Diary of Clouds erweisen sich bei
 nennt es das «Tagebuch eines Bildhauers» – ist bis heute          genauem Hinschauen als Wachsabgüsse von eigenhändig
 auf mehr als 200 Objekte angewachsen.                             geformten Tonobjekten. Wie so oft in Rondinones Werk
      Das Zürcher Künstlerduo Lutz & Guggisberg baut
                                                                   sind es Momentaufnahmen; im Fall der Wolken – wie
 schon seit über zwanzig Jahren Museumsmodelle. In ihrer           ­Meret Oppenheim schon bemerkte [siehe Raum 7] – von
 neuesten Skulpturenhalle werfen sie in ebenso lust- wie            eigentlich unfassbaren Zuständen.
 liebevoller Zelebrierung des Alltagsdesigns einen ironischen           Als eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Kunst
 Blick auf den Waren- und Fetischcharakter von                      hielt Hans Josephsohn zeit seines Schaffens, also von
 Kunstwerken.                                                       den 1950er-Jahren bis ins neue Jahrtausend hinein, an der
      Wie der Titel The Magic Cupboard verspricht, birgt der        figürlichen Plastik fest. Ab 1990 wandte er sich von der
 Schrank von Augustin Rebetez lauter magische, ge-                  Ganzkörperfigur ab. Die Auffassung des Körpers verdichtet
 heimnisvolle Sachen. Dieses mystische Universum erweist            sich, der zum Teil heftige Modellierungsprozess bestimmt
 sich als ein überbordender Fundus, aus dem man sich                die Oberflächen, sodass die Skulpturen keine Abbilder
 die Bestandteile für eigene Geschichten und Erzählungen            von Körpern mehr sind, sondern – ganz und gar denjeni-
 zusammensuchen kann.                                               gen Giacomettis verwandt – Verkörperungen des Wesens
                                                                    des Menschseins.
                                                                        Dieselbe amorphe Form, die Josephsohn seinen Skulp-
Raum 11                                                             turen entlockte, sucht Peter Regli auf seinen Streifzügen
                                                                    durch die Steinbrüche dieser Welt zu finden. Unverändert
Die für raumgreifende Installationen bekannte Videokünst-           stellt er seine Fundstücke auf einen Sockel und legt mit
lerin Pipilotti Rist inszeniert Körperlichkeit in ihren V
                                                        ­ ideos     wenigen Kreidestrichen die darin schlummernde Essenz
mittels einer Kameraführung, die an die bildhaue­rische             frei. Die Werke heissen Raw Stones oder Sleeping Stones
Tätigkeit gemahnt – Video wird zur Skulptur. In Werken            und sind Teil von Reglis lebenslangem Projekt Reality
wie beispielsweise der Zweistein-Serie unterwirft sie auch        Hacking: Kunst zu schaffen durch minimale Eingriffe in die
Gegenstände im realen Raum durch eine Videoprojektion             reale Welt.
einer Gestaltung und haucht ihnen ein Leben ein, das                    Einen Schritt weiter im Spiel mit Realität und Fiktion
geradezu aus ihrem Innern heraus zu leuchten scheint.             ging die Genfer Künstlerin Mai-Thu Perret im Werk­
zyklus Sculptures of Pure Selfexpression. Er entstand im       Energieflüssen; die leichte Vibration weist den Frauen­
Zusammenhang mit ihrem utopischen Konstrukt der radi-          körper gar selbst als eine Art Maschine aus.
kalfeministischen Kommune «New Ponderosa». Die Kera-               Die Kunstwerke von Julian Charrière sind zumeist
mikskulpturen sind «hypothetische Produkte», angeblich         voller Schönheit, im Grunde aber eigentliche Mahnmale.
aus der Hand der Kommunardinnen stammend. Die be-              Sie entspringen dem Wunsch, unsere Umwelt und die
hauptete Autorschaft zielt geradezu auf die Kernfragen         Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur zu begrei-
der Kunst, nämlich was ein Kunstwerk ist, was es mit sich      fen. Dafür unternimmt Charrière Forschungsreisen in
trägt und wer darüber bestimmt.                                ökologisch bedeutsame Regionen der Welt. Die dort
     Urs Fischer ist weltberühmt für seine abbrennenden        gesammelten Erkenntnisse und Materialien verdichtet er
Wachsskulpturen. 2001 realisierte er mit einem im Stil         in seinen Arbeiten. So stammen im Beispiel des Werks
von «Bad Painting» verfertigten stehenden Akt seine erste      ­Future Fossil Spaces das säulenförmig geschichtete Salz-
solche Skulptur. Der Begriff der Plastik – sie definiert        gestein sowie die in den eingepassten Behältern enthal-
sich durch das Zufügen von Material – wird in sein Ge-          tene Lithiumsole aus der grössten Salzwüste der Welt in
genteil verkehrt. Das Werk schmilzt wegen des brennen-          den bolivianischen Anden, die ein Drittel der weltweiten
den Dochts im Lauf der Zeit, und das Ursprungsmaterial          Lithiumreserven enthält und entsprechend intensiv ausge-
Wachs sammelt sich formlos am Boden.                            beutet wird.
     Das Spiel mit sämtlichen Parametern der Kunst voll-           Einer der eindringlichsten Streiter für die soziale Ein-
zieht auch Frantiček Klossner, im Vergleich zu Fischer         mischung der Kunst ist der in Paris lebende Thomas
am entgegengesetzten Ende des physikalischen Spekt-             Hirschhorn. Seine Installation Über Katalog, Text, Edition
rums. Seine vollplastisch in Eis abgegossenen Selbstbild-       von 1998 steht nicht zufällig auf wackligen Füssen. Auch
nisbüsten schmelzen langsam dahin. Auch hier findet             wenn der provisorisch gezimmerte Schaukasten selbstbe-
ein Prozess der Rückführung des Materials in seinen Ur-         wusst in grellem Rot leuchtet, spricht er in allen seinen
sprungszustand statt, Klossners Konzept geht aber über          anderen Aspekten eher von der Gewissheit, dass es keine
kunsttheoretische Überlegungen hinaus. Er bezeichnet die        Gewissheit gibt. Die Ansammlung von eigenen Katalogen,
1990 begonnene Werkreihe der Melting Selves als                 Textfragmenten, Bilddokumenten und Kommentaren un-
­«infinite Performance» und thematisiert damit die Instabi-     terstreicht Hirschhorns Bemühungen um die Entmystifizie-
 lität des Ichs und dessen Abhängigkeit von den Gesetzen        rung der Kunst und seine Forderung nach deren gesell-
 immerwährender Veränderung.                                    schaftlicher Relevanz.

Sich einmischen                                                Raum 12
                                                               [OG]
Im aktuellen Zeitalter des Anthropozäns muss sich die
Menschheit zunehmend Prozessen stellen, die ursächlich
                                                               Die Eisenplastik
im eigenen Verhalten wurzeln und zugleich die natürliche
wie die gesellschaftliche Welt in existenzieller Weise
                                                                Picassos kubistische Assemblagen aus Blech und Draht
­bedrohen. Als bewährter Seismograf für Befindlichkeiten
                                                                von 1914 gelten als die frühesten Beispiele für den
 eignet sich die Kunst auch dafür, diese grossen, viel-
                                                                ­Werkstoff Metall in der modernen Kunst. Die eigentliche
 schichtigen Zusammenhänge sichtbar zu machen. So be-
                                                                 ­Gattung der Eisenplastik hat sich aber erst ab den
 fähigt gerade das starke Bewusstsein für Prozessualität
                                                                  1930er-Jahren allmählich etabliert. Auch Schweizer
 die Künstlerinnen und Künstler, sich dazu mehr oder weni-
                                                                  Künstlerinnen und Künstler hatten Anteil an der Entwick-
 ger explizit zu äussern.
                                                                  lung der Gattung, allen voran Walter Bodmer [siehe
     Unter diesem Aspekt lässt sich die prozesshaft funktio-
                                                                  Raum 2], Max Bill und Serge Brignoni [siehe Raum 4]
 nierende Tischskulptur Bergunfall des Künstlerduos
                                                                  mit ihren konstruktivistischen und surrealistischen Assem-
 Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger ganz neu lesen.
                                                                  blagen der späten 1920er- und 1930er-Jahre. Nach
 Sicher verblüfft sie mit ihrem vordergründigen Witz.
                                                                  dem Krieg wurde die Technik von vielen Kunstschaffenden
 Im Sinne eines Modells scheint sie aber auch die Entfrem-
                                                                  mit Begeisterung aufgenommen. Sie ermöglichte einen
 dung des modernen Menschen gegenüber der Natur zu
                                                                  wirkungsvollen, augenfälligen Bruch mit den traditionellen
 widerspiegeln. Künstlich erzeugte felsähnliche Formatio-
                                                                  Verfahren der Bildhauerei und stellte ganz neue hand-
 nen, teils mit Zivilisationstrümmern durchsetzt, imitieren
                                                                  werkliche und konzeptuelle Anforderungen.
 die erhabene Schönheit der Natur. Das untaugliche
                                                                     Zur ersten Nachkriegsgeneration der Schweizer Eisen-
 Experiment bleibt ein Unfall. Zivilisation und Natur finden
                                                                  plastiker gehören u. a. Robert Müller [siehe Raum 2],
 nicht mehr zusammen.
                                                                  Jean Tinguely [siehe Räume 4 und 5], Bernhard
     Die gebürtige Genfer Künstlerin Vanessa Billy hebt
                                                               ­Luginbühl und Erwin Rehmann. Ihr Schaffen wurde
 den Menschen und seinen Umgang mit Ressourcen,
                                                                  aufgrund der Rohheit, des Aggressionspotenzials und der
 ­Materialien, der Technik und schlussendlich der Umwelt
                                                                  provokativen Anmutung dilettantischer Basteleien in den
  ins Zentrum ihres Werks. Dear Life versinnbildlicht diese
                                                                  1950er-Jahren als neue Avantgarde gefeiert, und zwar
  Zusammenhänge in der zugespitzten symbiotischen
                                                                  weit über die Schweiz hinaus. Die Eisenplastik hatte sich
  Verbindung eines in weiches Kunstharz gegossenen Frau-
                                                                  schon bald ins allgemeine Kunstempfinden der Schweiz
  enkörpers mit einem gebrauchten Automotor. Die irritie-
                                                                  eingeschrieben, auch weil Eisen und Stahl sich wie keine
  rende Paarung spricht von Abhängigkeiten, aber auch von
                                                                  anderen Werkstoffe für Grossplastiken eignen, und diese
haben den öffentlichen Raum der Schweiz seit den              in diesem Fall durch die nationalsozialistisch motivierten
 1960er-Jahren geradezu überzogen.                             «grossdeutschen Eroberungen der Berge» jener Zeit.
      In der nachfolgenden Generation gibt es diejenigen,      Mit ihrer Nacktheit löst Markowitsch die Figuren allerdings
 die in der eingeschlagenen Traditionslinie weiterfahren:      aus dem Anekdotischen heraus. Sie wirken wie zeitlose
 Oscar Wiggli [siehe Park], Louis Conne, Silvio                Schmerzensmänner.
­Mattioli, Gillian White [siehe Park]. Andere hingegen            Das Fliegen ist ein grosses Thema der Kunstgeschichte.
 suchen dem Material neue Ausdrucksqualitäten abzurin-         Es zieht sich wie ein Leitmotiv auch durch das Werk
 gen. Sie messen sich nicht mehr an den expressionisti-        von Erica Pedretti. Trotz ihres früheren bildhauerischen
 schen oder existenzialistischen Vorbildern eines Luginbühl    Schaffens ist die Künstlerin zuerst als Literatin bekannt
 oder eines Tinguely. Ihre Referenz sind die neuen Avant-      geworden. Die beiden Tätigkeiten sind bis heute eng ver-
 garden, sei es die Minimal Art – etwa im Fall von Henri       woben. Insofern liegt das Sinnbild des Flügels nahe: als
 Presset, Peter Hächler [siehe Park], James Licini,            Instrument gegen die Erdenschwere, als Mittel für Inspira-
 ­Gianfredo Camesi [siehe Raum 9], Gunter Frentzel,            tion und gedankliche Höhenflüge. Aber auch – zusammen
  Jürg Altherr, Vincenzo Baviera [siehe Park]) – oder wie      mit ihren Behausungen – als Metapher für die existen­
  im Fall von Josef Maria Odermatt die Arte Povera.            ziellen Bedürfnisse in den heutigen Zeiten der Flüchtlings-
      Der Raumbezug bleibt sehr wichtig, sowohl bei den        ströme. Pedretti kennt sie aus der eigenen Erfahrung ihrer
  Vorgenannten als auch bei Kunstschaffenden wie Matias        Flucht in einem Rotkreuzzug 1945 aus der damaligen
  Spescha, der mit wenigen, schlicht gebogenen Eisen-          Tschechoslowakei in die Schweiz.
  stangen eine Zeichnung im Raum umsetzt. In jüngerer Zeit
  gewinnen industriell gefertigte Metalle für die künstleri-
  sche Verwendung an Bedeutung. So spielen die Reliefs         Dachterrasse und Rathausgarten (Park)
  von Daniel Robert Hunziker nicht nur mit den Refle­
  xionseigenschaften pulverbeschichteter Metalle, sondern       Auf der Dachterrasse – zugänglich über die Aussentreppe
  stiften mit den vielen denkbaren Gebrauchszusammen-
                                                                direkt neben dem Eingang des Kunsthauses – und im
  hängen dieser Materialien neue Kontexte in Kombination        ­dahinterliegenden Park des Rathauses sind weitere Kunst-
  mit Architektur, Design und auch rein funktionalen Indust-     werke installiert.
  rieprodukten. Der Obwaldner Kurt Sigrist bezeichnet                Zwei Werke wurden speziell für die konkrete Situation
  seine Behausungen und seine Schreine zur Bewahrung             geschaffen. In Zusammenarbeit mit Herzog & de Meuron,
  geheimnisvoller Gegenstände dementsprechend als                 den Architekten des Museumsneubaus, zu dem auch
  Zeiträume.                                                      die Dachterrasse gehört, hat Rémy Zaugg 2003 an zwei
      Flavio Paoluccis an der hinteren Stirnwand ange-            Positionen der Aussenfassade eine jeweils zweiteilige
  brachtes Wildes Alphabet, dessen Buchstaben aus Zwei-           permanente Neonschrift angebracht. Sie weist dem Kunst-
  gen von Wildpflanzen gebogen sind, bildet einen reiz­           werk ein Subjekt zu: Die Kunst spricht in Ich-Form und
  vollen Kontrast zu den in diesem Raum versammelten              somit spricht sie uns direkt an. Die zweite ortsspezifische
  «Schwergewichten», während Christian Megerts                    Arbeit ragt aus dem Innenhof heraus. Charles de
  von der Decke hängendes Spiegelmobile sie in einen           ­Montaigu verbindet mittels eines einfachen, in Zimmer-
­Schwebezustand versetzt.                                         mannsarbeit konstruierten Körpers den Innen- mit dem
                                                                  Aussenraum.
                                                                     Die weiteren Skulpturen im Freien korrespondieren
Foyer                                                            in der einen oder anderen Weise mit Themen, die auch in
                                                                 den Ausstellungsräumen aufscheinen. Unter gattungstheo-
Das Kreuz des Walliser Künstlers Valentin Carron be-             retischen Aspekten der «Skulptur» interessiert die Frage,
grüsst und verabschiedet die Besucherinnen und Besucher          inwiefern die Begegnung mit den Werken draussen
am Ein- und Ausgang des Kunsthauses. In seiner Klarheit          ­anders vor sich geht als im neutralen Museumsraum. Die
und Farbgebung – es ist seitlich blau bemalt – könnte             Werke treten hier in einen Dialog mit einer städtebaulich
es als Paradebeispiel für die geometrische Kunst herhal-          gestalteten oder naturhaften Umgebung, und diese wirkt
ten. Seine Form ist aber auch ein uraltes Symbolzeichen           unweigerlich auch auf das Empfinden der Betrachterinnen
und als solches seit 2000 Jahren durch das Christentum            und Betrachter ein.
vereinnahmt. Das Kreuz hängt jedoch in einem Museum,
                                                               Die Standorte der Werke und deren Legenden finden Sie auf dem Plan,
folglich will es als Kunstwerk verstanden werden. Carrons      der diesem Handout beiliegt.
Werk gibt Anlass, über die Bedeutung von Formen und
Farben nachzudenken, aber auch über die Bedeutung der
Kontexte von Kunst und von ­allem, was wir wahrnehmen.
   In der spitzen verglasten Ecke des Foyers spielt sich
gerade ein Bergdrama ab. Rémy Markowitsch hat die
vier abstürzenden Figuren aus Ferdinand Hodlers Ge-
mälde Absturz (1894) in Balsaholz geschnitzt und ihnen
den 1936 beim Versuch einer Erstbesteigung der Eiger-
nordwand im Seil hängend zu Tode gekommenen
deutschen Bergsteiger Toni Kurz beigegeben – ein feiner
Hinweis auf die ideologische Vereinnahmung der Alpen,
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