Rechte älterer Menschen - Dokumentation - Deutsches Institut ...

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Dokumentation

Rechte älterer Menschen
Langzeit- und Palliativpflege
Autonomie und Selbstbestimmung
Die Gruppe Älterer: Definitionsmöglichkeiten
Fachgespräche zur Vorbereitung der 9. Sitzung der
UN Open Ended Working Group on Ageing (OEWG-A)
2018
Das Institut                                        Die Autorin

Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist        Dr. Claudia Mahler ist ­wissenschaftliche
die unabhängige Nationale Menschenrechtsinsti­      ­Mitarbeiterin am Deutschen Institut für
tution Deutschlands. Es ist gemäß den Pariser        ­Menschenrechte. Sie ist zuständig für wirtschaft-
Prinzipien der Vereinten Nationen akkreditiert      liche, soziale und kulturelle Rechte. Zu ihren
(A-Status). Zu den Aufgaben des Instituts gehören   Arbeitsschwerpunkten zählen die Menschenrechte
Politikberatung, Menschenrechtsbildung, Informa-    Älterer.
tion und Dokumentation, anwendungsorientierte
Forschung zu menschenrechtlichen Themen sowie
die Zusammenarbeit mit internationalen Organisa-
tionen. Es wird vom Deutschen Bundestag finan-
ziert. Das Institut ist zudem mit dem Monitoring
der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven-
tion und der UN-Kinderrechtskonvention betraut
worden und hat hierfür entsprechende Monitoring-­
Stellen eingerichtet.
Dokumentation

Rechte älterer Menschen
Langzeit- und Palliativpflege
Autonomie und Selbstbestimmung
Die Gruppe Älterer: Definitionsmöglichkeiten

Fachgespräche zur Vorbereitung der 9. Sitzung der
UN Open Ended Working Group on Ageing (OEWG-A)
2018
Inhalt
1     Einleitung                                                     7

2     Menschenrechtlicher Hintergrund                                8

2.1   Menschenrechte Älterer                                         8
      2.1.1 Die UN-Arbeitsgruppe zur Stärkung der Rechte Älterer     8

3     Fachgespräch 4: Langzeit- und Palliativpflege                 10

3.1   Menschenrechtliche Grundlagen                                 10
      3.1.1 Relevante Rechte in der Langzeitpflege                  10

3.2   Ablauf des Fachgesprächs                                      11

3.3   Ergebnisse der Diskussion                                     12
      3.3.1 Entwicklungen in der Pflegeversicherung                 12
      3.3.2 Palliativpflege – ein Menschenrecht?                    12
      3.3.3 Praktische Probleme in Deutschland                      13
      3.3.4 Diskriminierungsschutz                                  14
      3.3.5 Rechtsumsetzung und -durchsetzung                       14

3.4   Ergebnisse der OEWG-A                                         15

4     Fachgespräch 5: Autonomie und Selbstbestimmung                16

4.1   Menschenrechtliche Grundlagen                                 16
      4.1.1 Autonomie und Selbstbestimmung                          16
      4.1.2 Der Menschenrechtsrahmen                                16

4.2   Ablauf des Fachgesprächs                                      17

4.3   Ergebnisse aus der Diskussion                                 17
      4.3.1 Inhaltliche und rechtliche Vorgaben für Autonomie und
            Selbstbestimmung                                        17
      4.3.2 Autonomie und Selbstbestimmung im Alter                 18

4.4   Ergebnisse der OEWG-A                                         20
5     Fachgespräch 6: Die Definition oder Beschreibung
      der Gruppe der Älteren                                       22

5.1   Welche Elemente, Lebenslagen und Bedarfe müssen durch die
      Definition gedeckt sein?                                     23
      5.1.1 Ergänzungen und Überschneidungen im Menschenrechts-
             schutz                                                24
      5.1.2 Regionale Definitionen                                 24
      5.1.3 Heterogenität der verschiedenen Lebenslagen            25
      5.1.4 Vorschläge für Anknüpfungspunkte zu einer Definition
             der Gruppe Älterer                                    26

6     Der weitere internationale Prozess                           28
E I NLEIt UNG                                                                                         7

1 Einleitung
Im Jahr 2018 veranstaltete das Deutsche Institut   der UN-Arbeitsgruppe eingebracht werden
für Menschenrechte (DIMR) gemeinsam mit dem        konnten. Die in den Fachgesprächen entwickel-
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen    ten Eckpunkte waren gute Grundlagen zur Fort-
und Jugend (BMFSFJ) drei Fachgespräche zur         entwicklung der koordinierten Position der
Vorbereitung der 9. Sitzung der UN Open Ended      EU-Mitgliedstaaten.
Working Group on Ageing (OEWG-A). Die Fachge-
spräche bauten auf der guten und erfolgreichen     An den Fachgesprächen nahmen Vertreter_innen
Zusammenarbeit im Rahmen der Vorbereitungen        aus Wissenschaft, Praxis, Zivilgesellschaft, Verbän-
der 8. Sitzung des OEWG-A im Jahr 2017 auf. Die    den, Aufsichtsbehörden, den zuständigen Ressorts
Ergebnisse der Vorbereitungen zu der 8. Sitzung    und dem Deutschen Institut für Menschenrechte
wurden bereits in einer Dokumentation festge-      teil.
halten. Zur Vorbereitung der 9. Sitzung fanden
Fachgespräche zu den themen Langzeit- und          Die vorliegende Dokumentation stellt die Hinter-
Palliativpflege, Autonomie und Selbstbe-           gründe des UN-Prozesses zur Stärkung der
stimmung – sie standen im Fokus der OEWG-A         Menschenrechte Älterer vor, dokumentiert die
Diskussionen – und zur Frage der Definition        Ergebnisse der beiden deutschen thematischen
Älterer statt.                                     Fachgespräche zur Vorbereitung der 9. Sitzung der
                                                   OEWG-A und informiert über die Erkenntnisse des
Es war Ziel der Fachgespräche, Erkenntnisse,       Fachgesprächs zur Definition der Gruppe Älterer.
Erwartungen und gute Beispiele aus Deutsch-        Ergänzt wird die Dokumentation durch einen
land zu bündeln, damit diese dann von den          Überblick über die Ergebnisse der 9. Sitzung der
Vertreter_innen der deutschen Regierung, der       UN-Arbeitsgruppe im Juli 2018.
Zivilgesellschaft und des DIMR in die 9. Sitzung
8                                                                                      MEN S cH EN R EcH t L IcH ER H IN t ERGRUND

2 Menschenrechtlicher Hintergrund
2.1 Menschenrechte Älterer                                          muss man sich nicht verdienen, sie ist unab-
                                                                    hängig vom Lebensalter und der individuellen
Ältere Menschen sind im Rahmen des demografi-                       Leistungsfähigkeit und dementsprechend auch
schen Wandels in den Fokus vielschichtiger Diskus-                  unabhängig von einem Unterstützungsbedarf oder
sionen gerückt. Weltweit, wenn auch nicht auf allen                 möglichen demenziellen Erkrankungen. Die aus
Kontinenten in der gleichen Ausprägung, ist die                     der Menschenwürde entwickelten und verbrieften
Gruppe der Älteren der am stärksten wachsende                       Menschenrechte gelten gleichermaßen auch für
Bevölkerungsteil. In Deutschland sind derzeit etwa                  Ältere und haben kein Ablaufdatum.
20 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt.
Ältere Menschen werden als besonders hetero-                        Sie stellen somit auch einen Bezugsrahmen für
gene Bevölkerungsgruppe beschrieben, dabei ist                      nationale Senior_innenpolitiken dar. Zur Gewähr-
das kalendarische Alter wenig aussagekräftig. Die                   leistung eines menschenrechtlichen Ansatzes
Situation Älterer ist abhängig von ihrer jeweiligen                 müssen Politik und Gesetze mit den bestehenden
wirtschaftlichen und sozialen Lage. Insbesondere                    menschenrechtlichen Verpflichtungen des Staates
der Familiensituation, dem Bildungsgrad, dem                        im Einklang stehen. Politische sowie rechtliche
städtischen oder ländlichen Wohnumfeld, der                         Handlungen und Strategien müssen an Menschen-
Beschäftigungs- sowie den Lebensumständen                           rechten ausgerichtet sein und sich an menschen-
in der Rente. Dementsprechend unterscheiden                         rechtlichen Vorgaben messen lassen.
sich die menschenrechtlichen Gefährdungslagen.
Die Herausforderungen, die sich im Rahmen des                       Menschenrechte und menschenrechtliche Prin-
demografischen Wandels ergeben, werden zwar                         zipien müssen folglich auch Grundlage für die
wahrgenommen und in vielen Foren diskutiert,                        Weiterentwicklungsprozesse in der Senior_innen-
bisher aber noch wenig unter menschenrechtli-                       politik sein. Sie bilden die Ansprüche jedes
chen Gesichtspunkten. Ältere Menschen sind im                       einzelnen Menschen gegenüber dem Staat ab.
Menschenrechtsschutzsystem fast unsichtbar, dies                    Der Einzelne muss daher als Rechtsträger_in im
zeigt sich sowohl in den Staatenberichtsverfahren                   Mittelpunkt staatlicher Politik stehen. Der Staat
als auch im Universellen Berichtsverfahren der                      hat die Verpflichtung, die Achtungs-, Schutz- und
UN.1 Ältere Menschen müssen auch im Menschen-                       Gewährleistungspflichten zu erfüllen.
rechtsschutzsystem Beachtung finden und als
Rechteträger wahrgenommen werden.2                                  2.1.1 Die UN-Arbeitsgruppe zur
                                                                    Stärkung der Rechte Älterer
Fundament der Menschenrechte ist die Menschen-                      Im Jahr 2010 hat die UN-Generalversammlung auf
würde. Alle Menschen sind „gleich an Würde und                      Betreiben von Argentinien und Brasilien mit der
Rechten geboren“ (Art. 1 der Allgemeinen Erklä-                     Resolution A/Res/65/182 eine Arbeitsgruppe zur
rung der Menschenrechte). Die Menschenwürde                         Stärkung der Menschenrechte Älterer (Open ended

1   Die Zahlen zu den Empfehlungen zu älteren Menschen der Menschenrechtsgremien beträgt 2400, das sind 0,8 Empfehlungen und die Zah-
    len des UPR der Empfehlungen zu Älteren hat sich zwar verdoppelt, dennoch sind es im Verhältnis zu anderen Gruppen kaum welche, die
    genauen Zahlen finden finden sich im Bericht zur 8. Sitzung der OEWG-A auf Seite 9 http://undocs.org/A/Ac.278/2017/2 (abgerufen
    am 14.12.2018).
2   OHcHR Analytical Paper on Older Persons (2012), https://social.un.org/ageing-working-group/documents/ohchr-outcome-paper-older-
    persons12.pdf (abgerufen am 14.12.2018).
M ENScHENREcHt LI cH E R HI NtE RG RU ND                                                                                                     9

working group on ageing, OEWG-A)3 ins Leben                             geändert. Diese Entwicklungen haben zu mehr
gerufen, um die Sichtbarkeit der Älteren zu erhö-                       Klarheit bezüglich des Inhaltes der Menschen-
hen, die Stärkung ihrer Rechte voranzutreiben und                       rechte für Ältere geführt.
die Rechte klarer zu fassen. Dass hier ein neuer
Fokus erforderlich ist, zeigen auch Forschungs-                         Seit der 8. Sitzung im Juli 2017 wurde die Sitzungs-
ergebnisse von Menschenrechtsexpert_innen,4                             struktur verändert. Die Diskussion wurde auf
demnach finden ältere Menschen im bestehen-                             zwei themen beschränkt und diese wurden durch
den Menschenrechtsschutzsystem und bei den                              Hintergrundpapiere der Geschäftsstelle der OEWG-A
Verbesserungsvorschlägen der Vertragsstaaten                            vorbereitet.7 Im Vorfeld wurden die Staaten auf-
kaum Berücksichtigung. Das Mandat beinhaltet                            gefordert, zu den OEWG-A Hintergrundpapieren
die Überprüfung und Diskussion des bestehenden                          nationale Informationen anhand beantworteter
menschenrechtlichen Rahmens, die Identifizierung                        Fragebögen zur Verfügung zu stellen.8 In der 9. Sit-
und Schließung von Lücken sowie weiterführende                          zung war der thematische Fokus von der Arbeits-
Überlegungen bezüglich eines zukünftigen men-                           gruppe auf Langzeit- und Palliativpflege sowie
schenrechtlichen Instrumentes zum Schutz der                            Autonomie und Selbstbestimmung gelegt worden.
Rechte Älterer. Bis April 2017 haben sieben Sitzun-                     Hinzu kam, dass in dieser Sitzung zum ersten Mal
gen stattgefunden, in denen viele Lebensbereiche                        normative Elemente zu spezifischen Rechten bzw.
und menschenrechtliche Gefährdungslagen Älterer                         Gefährdungslagen diskutiert wurden, nämlich zu den
ausführlich und mehrfach diskutiert wurden, bei-                        Schwerpunktthemen der 8. Sitzung: Altersdiskri-
spielsweise Altersdiskriminierung, Pflege, Gewalt                       minierung und Gewalt, Misshandlung und Vernach-
gegen Ältere, soziale Sicherheit, Gesundheit und                        lässigung Älterer. Damit sollen die themen unter
Autonomie. Andere Elemente – so die Definition                          rechtlichen Gesichtspunkten besprochen werden
der Gruppe Älterer oder Überprüfungsmöglichkei-                         und dadurch für die teilnehmenden Staatenvertre-
ten für die Einhaltung der Menschenrechte Älterer                       ter_innen ein noch klareres Bild schaffen, wie weit
wurden bisher ausgespart. Jede Sitzung endete                           der bestehende menschenrechtliche Schutz zu den
damit, dass von den Staatenvertreter_innen zwei                         themen reicht und wo er noch weiter spezifiziert
unterschiedliche Positionen vertreten wurden: Stär-                     werden muss, um die Menschenrechte Älterer
kung der Rechte Älterer durch bessere Implemen-                         zu schützen. Zu dieser Fragestellung wurden nur
tierung bestehender Menschenrechtsinstrumente                           wenige schriftliche Eingaben von teilnehmenden der
oder neues Instrument zum Menschenrechtsschutz                          OEWG-A gemacht. Auch dieser teil der Diskussio-
für Ältere. Zudem hat sich die Diskussionsgrund-                        nen der Arbeitsgruppe soll in der 10. Sitzung zu den
lage durch die Entwicklung menschenrechtlicher                          themen der 9. Sitzung (Langzeit- und Palliativpflege
Instrumente auf regionaler Ebene5 und die Arbeit                        sowie Autonomie und Selbstbestimmung) fortge-
der Unabhängigen Expertin für die Rechte Älterer6                       führt werden.

3   Offene Arbeitsgruppen werden bei den Vereinten Nationen als zwischenstaatliche Gremien zur vertieften Diskussion neuer menschenrecht-
    lich relevanter themen eingerichtet. Offene Arbeitsgruppen diskutieren mit großer Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure und Expert_
    innen. Die Ergebnisse können unterschiedlich sein, münden aber oft in dem Auftrag, an die Arbeitsgruppe einen Vertragsentwurf zu erstellen.
4   Brownell, Patricia/ Kell, James J. (Hg.) (2013): Ageism and Mistreatment of Older Workers: current Reality, Future Solutions. Springer
    Netherlands; Doron, Israel /Georgantzi, Nena (Hg.) (2018): Ageism, Ageism and the Law. European Perspective on the rights of older
    persons. cheltenham: Edward Elgar Publishing.
5   Die Interamerikanische Konvention zum Schutz der Rechte älterer Menschen (http://www.oas.org/en/sla/dil/inter_american_trea-
    ties_a-70_human_rights_older_persons.asp, abgerufen am 17.12.2018) und das Protokoll zur Afrikanischen Menschenrechtscharta
    (https://au.int/en/treaties/protocol-african-charter-human-and-peoples%E2%80%99-rights-rights-older-persons) wurden 2015 bzw. 2016
    als verbindliche Menschenrechtsverträge verabschiedet. Die Staaten haben bereits 2014 im Rahmen des Europarates ein nicht binden-
    des, ausdifferenziertes Instrument (https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectID=09000016805c649f) erarbeitet.
6   https://www.ohchr.org/en/issues/olderpersons/ie/pages/ieolderpersons.aspx (abgerufen am 14.12.2018).
7   Unter dem Link https://social.un.org/ageing-working-group/eighthsession.shtml/Background Analytical Overview Papers (abgerufen am
    14.12.2018) können die Hintergrundpapiere des Sekretariats abgerufen werden.
8   Unter dem Link https://social.un.org/ageing-working-group/eighthsession.shtml/to submission from sind alle Antworten und State-
    ments der Staaten, Nationalen Menschenrechtsinstitutionen und Nichtregierungsorganisationen zu den Fragebögen des Sekretariats
    einzusehen.
10                                                                         FAcH G ES PR ÄcH 4 : L AN G Z EIt- U N D PAL L IAt IV P F L E GE

3 Fachgespräch 4: Langzeit- und Palliativpflege
3.1 Menschenrechtliche                                                nicht der Folter oder grausamer, unmenschlicher
                                                                      oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu
Grundlagen                                                            werden (Artikel 7) und das Recht auf Privat- und
                                                                      Familienleben (Artikel 17). Der Schutz wirtschaft-
3.1.1 Relevante Rechte in der                                         licher, sozialer und kultureller Rechte für ältere
Langzeitpflege                                                        Personen in Pflegeheimen ist hier von besonderer
International anerkannte Menschenrechtsnormen                         Bedeutung. Aufgrund diverser gesundheitlicher
und -grundsätze, wie die, die in internationalen                      Beeinträchtigungen sind Pflegeheimbewohnerin-
Menschenrechtskernverträgen enthalten sind,                           nen und -bewohner davon abhängig, dass Pflege-
beziehen sich auf ältere Personen und schüt-                          kräfte sie beim Essen oder der täglichen Hygiene
zen sie. trotz dieses impliziten Schutzes wurde                       unterstützen, Grundlagen eines würdevollen
festgestellt, dass Ältere im internationalen Men-                     Lebens.
schenrechtssystem unsichtbar sind und Rege-
lungslücken vorhanden sind, da es aktuell kein                        Im Internationalen Pakt über wirtschaftliche,
universell gültiges Menschenrechtsinstrument                          soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt, cEScR)11
bezüglich der Rechte Älterer gibt.                                    heißt es in Artikel 12: „Die Vertragsstaaten erken-
                                                                      nen das Recht eines jeden auf das für ihn erreich-
Die Arbeit der Unabhängigen Expertin9 ist auch für                    bare Höchstmaß an körperlicher und geistiger
die Stärkung der Menschenrechte älterer Men-                          Gesundheit an“, während Artikel 11 „das Recht
schen in der Pflege von zentraler Bedeutung. Zum                      eines jeden auf einen angemessenen Lebens-
thema Autonomie und Langzeitpflege hatte die                          standard für sich und seine Familie, einschließlich
Unabhängige Expertin 2015 einen eigenen Bericht                       ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unter-
verfasst.10                                                           bringung“ vorsieht.

Ein Recht auf Langzeitpflege für Ältere sehen die                     Die Inanspruchnahme der in den unterschiedli-
Internationalen Menschenrechtsverträge nicht                          chen Menschenrechtskonventionen dargelegten
explizit vor. Allerdings enthalten Artikel in diversen                Rechte und Freiheiten muss ohne Diskriminierung
Übereinkommen Bestimmungen zum Recht auf                              gesichert werden. Dies ist von zentraler Bedeu-
den gleichberechtigten Zugang zu Gesundheits-                         tung, damit älteren Personen Dienste, Unter-
diensten sowie Bestimmungen zum Recht auf die                         bringungen oder Behandlungen nicht versagt
Wahl eines Langzeitpflegeumfeldes.                                    werden. Die Umsetzung der Rechte im Zivil- und
                                                                      Sozialpakt wird jeweils von einem Fachausschuss
Der Internationale Pakt über bürgerliche und poli-                    überwacht. Beide Ausschüsse haben ihre Sorge
tische Rechte (Zivilpakt, IccPR) enthält zahlreiche                   über die verletzliche Situation älterer Menschen
Bestimmungen, die für Menschen in der Langzeit-                       in Pflegeheimen zum Ausdruck gebracht und in
pflege von besonderer Bedeutung sind, beispiels-                      ihren an Deutschland gerichtete Abschließende
weise das Recht auf Leben (Artikel 6), das Recht,                     Bemerkungen wiederholt darauf hingewiesen,

9    2014 wurde die erste Unabhängige Expertin für die Menschenrechte Älterer (Independent Expert on the enjoyment of all human rights by
     older persons), Rosa Kornfeld-Matte aus chile, gewählt.
10   https://www.ohchr.org/EN/Issues/OlderPersons/IE/Pages/Reports.aspx (abgerufen am 14.12.2018).
11   https://www.ohchr.org/EN/ProfessionalInterest/Pages/cEScR.aspx (abgerufen am 14.12.2018).
FAcHGESPRÄcH 4: L A NG Z E I t- U ND PA LLI AtI V P F LE G E                                                                       11

dass es bei der Gewährleistung dieser Rechte                       Die Inter-American convention regelt in ihrem
zu Verletzungen von Menschenrechten kommen                         Artikel 12 explizit das Recht älterer Menschen,
kann. Darüber hinaus äußerte der Fachausschuss                     Langzeitpflege zu erhalten. Die Regelung vertritt
zur Überwachung des Sozialpaktes, dass Deutsch-                    einen ganzheitlichen Ansatz von Gesundheit bis
land größere Anstrengungen unternehmen solle,                      hin zur Versorgung mit Kleidung. Die Unterstüt-
um den Pflegesektor neu zu strukturieren, mehr                     zung sowohl Einzelner als auch von Familien ist ein
qualifiziertes Personal auszubilden und zur Ver-                   zentrales Anliegen. Hinzu kommt die Einbeziehung
besserung des Pflegestandards einzubinden sowie                    der Älteren und Wahrung ihrer autonomen Ent-
notwendige Mittel zu Verfügung zu stellen. Bei der                 scheidungen, sodass der informierte Wille älterer
Anwerbung von Pflegepersonal im Ausland muss                       pflegebedürftiger Personen im Zentrum steht. Des
der WHO-Verhaltenskodex eingehalten und in                         Weiteren wird vorgegeben, dass die Staaten eine
Pflegeheimen häufiger und gründlicher kontrolliert                 ausreichende Struktur zur Versorgung älterer Men-
werden.12 Der Ausschuss forderte Deutschland im                    schen vorsehen müssen und die entsprechenden
Oktober 2018 auf, über die Umsetzung der Maß-                      Einrichtungen regelmäßig überprüft werden sollen
nahmen zur Verbesserung der Situation für ältere                   und die Pflege von dafür ausgebildeten Personen
Menschen in Pflege innerhalb von 24 Monaten zu                     durchgeführt werden muss.
berichten.
                                                                   Die nicht verbindlichen Empfehlungen des Europa-
Der Ausschuss zur Überprüfung der Umsetzung                        rates enthalten ausführliche Regelungen, Regelun-
der Rechte aus der UN-Behindertenrechtskon-                        gen zu Betreuungsleistungen, der Zustimmung zur
vention (UN-BRK) hat klargestellt, dass Ältere in                  medizinischen Versorgung und zur Betreuung in
Langzeitpflege aufgrund ihrer Beeinträchtigungen                   Pflegeeinrichtungen und Heimen sowie zur Pallia-
unter den Schutz der UN-BRK fallen. Das Recht auf                  tivversorgung. Aus diesen – nicht verbindlichen –
Selbstbestimmung und Freiheit gilt als Ausgangs-                   Regelungen ist abzulesen, dass sich die Vertreter
punkt für die freie Wahl jeder Art von Langzeit-                   in den Verhandlungen sehr intensiv mit dem
pflege. Artikel 19 der UN-BRK legt Vertragsstaaten                 menschenrechtlichen Rahmen und den Klarstel-
die allgemeine Verpflichtung auf, es Menschen mit                  lungen aufgrund von Lücken in den bestehenden
Beeinträchtigungen zu ermöglichen, unabhängig                      Regelungen auseinandergesetzt haben. Durch die
in der Gemeinschaft zu leben und frei zu wählen,                   explizite Berücksichtigung und den Verweis auf die
wo und mit wem sie leben wollen. Zusätzlich muss                   Bedürfnisse Älterer erhalten die Regelungen einen
die Regierung sicherstellen, dass ältere Personen                  neue spezifische Schwerpunktsetzung. Auffällig
mit Beeinträchtigungen Unterstützung bekommen,                     ist, dass die familiale Pflege nicht erwähnt wird.
die es ihnen ermöglicht, unabhängig und selbstbe-
stimmt zu leben.
                                                                   3.2 Ablauf des
3.1.1.1 Regionale Regelungen                                       Fachgesprächs
Spezifische Regelungen zum Recht auf Pflege und
Rechte in der Langzeit- und Palliativpflegesitua-                  Das Fachgespräch am 15. Dezember 2017
tion finden sich hingegen in den Inter-American                    wurde durch Begrüßung und Einleitung von Prof.
convention on Protecting the Human Rights of                       Dr. Matthias von Schwanenflügel (BMFSFJ) und
Older Persons13 und der Europarats-Empfeh-                         Dr. Petra Follmar-Otto (DIMR) mit einem Vortrag
lung des Ministerkomitees an die Mitgliedstaa-                     von Dr. christian Berringer (BMG) eröffnet. In
ten zur Förderung der Menschenrechte älterer                       seiner Präsentation führte der Leiter des Refe-
Menschen.14                                                        rats medizinischer und pflegerischer Fragen in

12   Entnommen aus den Abschließenden Bemerkungen zum sechsten Staatenbericht Deutschlands des Ausschusses über wirtschaftliche,
     soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen (E/c.12/DEU/cO/6) vom 12. Oktober 2018, Abs. 48-49.
13   http://www.oas.org/en/sla/dil/docs/inter_american_treaties_A-70_human_rights_older_persons.pdf (abgerufen am 14.12.2018).
14   https://rm.coe.int/1680695bce (abgerufen am 13.12.2018).
12                                                                          FAcH G ES PR ÄcH 4 : L AN G Z EIt- U N D PAL L IAt IV P F L E GE

der Pflegeversicherung des BMG in das thema                             auch die der Angehörigen durch ein breiteres Ange-
des Fachgesprächs ein, er stellte die neuesten                          bot von Entlastungsmöglichkeiten und weitergefä-
Entwicklungen in der Pflegeversicherung vor,                            cherte Beratung gefördert.
erläuterte sie und beschrieb an ihrem Beispiel die
Perspektiven für Menschenrechte in der Pflege.                          So sollen beispielsweise Pflegebedürftige, die
                                                                        unter Inkontinenz leiden, nicht allein physische
Im zweiten einführenden Vortrag stellte Prof. Dr.                       Hilfe zur Bekämpfung der Symptome bekommen,
Lukas Radbruch von der Universitätsklinik Bonn                          gleichermaßen soll auf die Menschen persönlich
für Palliativmedizin und Malteser Krankenhaus                           und respektvoll eingegangen werden, um bei-
Seliger Gerhard, der auch der Vorsitzendende der                        spielsweise Schamgefühle zu vermeiden. Pfle-
Internationalen Vereinigung für Hospiz und Palli-                       gebedürftige Menschen sollen stets und überall
ativpflege (chair of the International Association                      würdevoll behandelt werden, um einer möglichen
for Hospice and Palliative care) ist, Palliativpflege                   Exklusion aus der Gesellschaft vorzubeugen oder
als Menschenrecht sowohl aus nationaler als auch                        sie zu verhindern.
internationaler Perspektive vor. Er thematisierte,
dass vor allem der Zugang zur Palliativpflege, der                      Als eine weitere menschenrechtliche Hilfestellung
Diskriminierungsschutz und die Qualitätssicherung                       auf nationaler Ebene wurde die nicht bindende
von Pflege in der Diskussion um Palliativpflege                         Pflegecharta genannt. Durch die Überarbeitung
als Menschenrecht aufgegriffen werden. An die                           der Pflegecharta soll aus Sicht der Bundesregie-
Vorträge schloss sich eine Diskussion der versam-                       rung das neue Konzept der Pflegebedürftigkeit
melten Expert_innen anhand von Leitfragen an.                           abgebildet werden. Im Vordergrund steht nun
                                                                        nicht mehr allein die medizinische Pflege, sondern
3.3 Ergebnisse der                                                      vor allem die Inklusionsfrage der pflegedürftigen
                                                                        Person. Das Gesetz zur Verbesserung der Hospiz-
Diskussion                                                              und Palliativversorgung (2015) soll den Ausbau der
                                                                        Palliativversorgung voranbringen.
3.3.1 Entwicklungen in der
Pflegeversicherung                                                      3.3.2 Palliativpflege – ein
Während der 18. Legislaturperiode wurden meh- 15
                                                                        Menschenrecht?
rere neue Gesetze, beispielsweise die Pflegestär-                       Ein ausdrückliches Menschenrecht auf Palliativ-
kungsgesetze und das Präventionsgesetz, erlassen,                       pflege existiert nicht, es ist lediglich über das
um qualitative hochwertige Pflege sicherzustellen.                      Menschenrecht auf ein Höchstmaß an Gesundheit
Dies hat aus Sicht der Bundesregierung dazu beige-                      herzuleiten. Dies bedarf jedoch der Auslegung
tragen, dass mehr pflegebedürftigen Personen ein                        und lässt großen Interpretationsspielraum für den
verbesserter Zugang zur Pflege ermöglicht wurde.                        Begriff der Palliativpflege und -versorgung, ähn-
Nun stehen knapp 3,3 Millionen pflegebedürftige                         lich wie Art. 2 Grundgesetz (Recht auf Leben und
Personen im Leistungsbezug, während es im Jahr                          körperliche Unversehrtheit).
2017 noch weniger als 3 Millionen waren. Das Pfle-
gestärkungsgesetz bezweckt unter anderem einen                          In vielen Ländern ist das Sterben ein thema,
verbesserten Zugang von Einzelnen zu Leistungen                         über das in der Öffentlichkeit nicht gesprochen
und Unterstützungen im Gesundheitssystem.                               wird. Der stigmatisierende Sprachgebrauch kann
Zudem wurde der Begriff der Pflegebedürftigkeit                         problematisch sein. Schmerzmedikamente werden
neu definiert.16 Darüber hinaus wird nicht allein                       beispielsweise als Droge bezeichnet und hierdurch
die Unterstützung des Pflegebedürftigen, sondern                        mit negativen Zuschreibungen verbunden. Anhand

15   Die 18. Legislaturperiode von 22. Oktober 2013 bis zum 24. Oktober 2017.
16   Noch in den 90er Jahren bezog sich die Pflegeversicherung ausschließlich auf Pflegebedürftige, Beratung und Unterstützung sowohl der
     Pflegenden als auch des sozialen Umfeldes werden zurzeit weiter ausgebaut. Durch den neu definierten Pflegebedürftigkeitsbegriff, hat
     sich nicht nur die Begrifflichkeit, sondern auch die Art und Weise der Pflege verändert.
FAcHGESPRÄcH 4: L A NG Z E I t- U ND PA LLI AtI V P F LE G E                                                                           13

internationaler Beispiele wurde aufgezeigt, dass                      Älterer, ebenso wenig enthalten die allgemeinen
oft Barrieren beim Zugang zu Palliativversorgung                      Menschenrechtsverträge ein spezielles Recht,
bestehen, es aber auch niedrigschwellige Lösungs-                     welches das Recht auf Langzeitpflege und Palli-
ansätze geben kann.                                                   ativpflege vollständig abdeckt. Das zuständige
                                                                      BMFSFJ will den internationalen Prozess zur
Als Beispiel wurde in dem Vortrag von Prof. Rad-                      Stärkung der Rechte Älterer durch die inhaltliche
bruch17 die Beschriftung eines Apothekenschranks                      Diskussion voranbringen, daher befürwortet es
in Soweto genannt, der als Poison Cupboard                            die Vertiefung der Diskussionen und Verbreitung
gekennzeichnet ist, dies hat bereits eine negative                    der Informationen innerhalb der Bundesrepublik
Konnotation. In Südafrika werden die Patienten                        Deutschland. Auf diesem Weg sollen Regelungen,
nicht nur mit Schmerzmitteln, sondern auch mit                        die bereits in der 18. Legislaturperiode vereinbart
Reis und Wasser versorgt, da das Krankenhaus                          wurden, zügiger und umfassender durchgesetzt
so weit entfernt liegt, dass die Patient_innen                        und die Pflege in Deutschland optimiert werden.
teilweise mehrere tage lang unterwegs sind. Eine
positive Entwicklung wurde aus Uganda berichtet,                      Der internationale Rahmen, in dem die Diskussi-
es wurde erreicht, dass mobile Krankenschwes-                         onen zur Weiterentwicklung der Menschenrechte
tern auf dem Land Patient_innen mit Schmerzmit-                       geführt werden, darf nicht außer Acht gelassen
teln versorgen können. Dabei führen sie lediglich                     werden, Deutschland sollte als Mitgliedstaat
einen kleinen Koffer mit Medikamenten mit sich.                       der Vereinten Nationen bei den Diskussionen
                                                                      im Rahmen der OEWG-A diejenigen Positionen
Im November 2017 wurde die Häusliche Kran-                            einbringen, die auf nationaler Ebene ausgehandelt
kenpflege-Richtlinie geändert18 und enthält                           worden sind. Im internationalen Vergleich findet
nun den Begriff der Palliativversorgung, für die                      Langzeit- und Palliativpflege in Deutschland auf
allerdings keine Qualitätskontrolle vorgesehen                        einem anderen Niveau statt, als beispielweise in
ist. Im Rahmen der Diskussionen zu nationalen                         Ländern des Südens. Dabei kann das unterschied-
Rahmenbedingungen wurde darauf verwiesen,                             liche Verständnis der Mitgliedstaaten über die
dass die Palliativpflege von älteren an Demenz                        konkrete Ausgestaltung von Langzeitpflege und
erkrankten Menschen äußerst schwierig ist, da                         Palliativpflege durchaus zu Spannungen auf inter-
die Einschätzung der Schmerzen des Erkrank-                           nationaler Ebene führen.
ten problematisch sein kann. Ebenso ist es in
diesem Zusammenhang schwer, den Willen der                            3.3.3 Praktische Probleme in
Patient_innen zu ermitteln, da die Methoden zur                       Deutschland
Willensermittlung noch nicht ausgereift sind. Bei                     In Deutschland besteht ein zentrales Problem
näherer Betrachtung der Palliativversorgung aus                       im Rahmen der Palliativpflege in einer zeitnahen
menschenrechtlicher Perspektive stellt sich neben                     Sicherstellung von sowohl qualifiziertem als auch
einer expliziten Regelung ebenfalls die Frage nach                    zahlenmäßig ausreichendem Personal. Mitarbei-
Vorgaben für die Qualität.                                            ter_innen in Krankenhäusern und Pflegeheimen
                                                                      sind durch die neuen, in der 18. Legislaturperiode
3.3.2.1 Perspektiven für Menschenrechte in                            beschlossenen Regelungen und ihren Auswir-
der Pflege                                                            kungen auf die Praxis oft sehr überlastet. Vieles
Im internationalen Menschenrechtssystem gibt                          muss erst erprobt werden, die Umsetzungsmög-
es aktuell kein explizites und universell gültiges                    lichkeiten – beispielsweise die neue Definition
Menschenrechtsinstrument bezüglich der Rechte                         von Pflegebedürftigkeit oder die Neuerungen

17   Der Vortrag von Prof. Radbruch ist auf https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/rechte-aelterer/nationale-aktivitae-
     ten-zur-oewg-a/#c21957 abrufbar. (abgerufen am 14.12.2018)
18   Bundesministerium für Gesundheit (16.03.2017): Bekanntmachung eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine
     Änderung der Häusliche Krankenpflege-Richtlinie: Belange von Palliativpatientinnen und -patienten im Rahmen der häuslichen Kranken-
     pflege. BAnz At 24.11.2017 B1.
14                                                        FAcH G ES PR ÄcH 4 : L AN G Z EIt- U N D PAL L IAt IV P F L E GE

der Pflegegrade – sind teilweise noch nicht klar.      der die Bedarfe der unterschiedlichen pflegebe-
Die Ausbildung ist nicht einheitlich geregelt, die     dürftigen Personen in Betracht zieht, ist noch
unterschiedlichen Ausbildungsstandards führen          fraglich. Konkret wird ein ungleicher Zugang zur
zu Qualitätsunterschieden, die sich nicht selten       Pflege als Diskriminierung bezeichnet. Vom Bun-
in Wissenslücken und unterqualifizierten Pfle-         desministerium für Gesundheit wurde für Men-
gekräften widerspiegeln. Der Begriff der Pflege        schen mit Migrationshintergrund, Alleinstehende
umfasst wesentlich mehr, als der aktuelle gesetz-      und Menschen mit Behinderungen untersucht, ob
liche Rahmen vorsieht, beispielsweise finden           ihnen der Zugang zu Pflege diskriminierungsfrei
ganzheitliche Ansätze keine Berücksichtigung. Um       gewährt wird.
einen verbindlichen Pflegestandard bei der Ver-
sorgung zu gewährleisten, wird das Konzept einer       Für diese Personengruppen fehlen allerdings
einheitlichen Grundausbildung zum Pfleger oder         empirische Untersuchungen zu Diskriminierung,
zur Pflegerin begrüßt. Aktuell besteht bereits die     dies wird äußerst kritisch gesehen. Der Zugang
Möglichkeit, eine Zusatzausbildung zum qualifiziert    zur Pflege wird ebenso durch Ängste und Scham
Pflegenden durch einen 160-Stunden-Kurs in der         behindert, auch innerhalb der LGBt community
Palliativpflege zu erlangen.                           und religiöser Gruppen. Diskriminierungsfreie
                                                       Pflege soll den Zugang zu ganzheitlicher Pflege
Speziell bei diesem Diskussionspunkt wird hervor-      gewähren, der auch die Palliativversorgung in
gehoben, dass die Ursache der unterschiedlichen        sich trägt. Die deutsche Delegation solle dies als
Ausbildungs- und Qualifikationsgrade des Pflege-       Mitgliedstaat in der 9. Sitzung der OEWG-A erneut
personals in den fehlenden Gesetzesvorgaben für        vorbringen und konkretisieren.
die Qualifikation der Pfleger_innen liegt. Überein-
stimmend wurde festgestellt, dass der Gesetzgeber      3.3.5 Rechtsumsetzung und
nicht alles regeln kann und soll, es liegt im Ermes-   -durchsetzung
sen der jeweiligen Behörden, funktionstüchtigere       Neben dem Diskussionspunkt der unzureichenden
Konzepte zu erstellen. Die zuständigen Behörden        Regelungen wird auch das Problem der Rechtsum-
sind mit den alltäglichen Problemen vertrauter als     setzung erkannt. Denn selbst gute Regelungen
der Gesetzgeber und können schwierige Situatio-        müssen konsequent umgesetzt werden.
nen gegebenenfalls nachvollziehen. Nicht zuletzt
müssen finanzielle Gesichtspunkte beachtet werden      Beispielhaft wird hier die Pflege-charta erwähnt.
und die kommunale Finanzierung geklärt werden.         Während einige Einrichtungen sie in ihre Leitli-
                                                       nien aufgenommen haben, bleibt sie in anderen
Somit besteht weiterhin sowohl in rechtlicher          vollkommen unberücksichtigt. Die Einrichtungen
als auch konzeptioneller Hinsicht wesentlicher         haben als Adressaten der Pflege-charta eine
Klärungsbedarf darüber, wie die Pflege qualitativ      wichtige Rolle. Da es sich bei der Berücksichtigung
verbessert und umgestaltet werden kann. Denn           der charta lediglich um eine Selbstverpflichtung
die neuen Qualitätskriterien zur Pflege müssen         handelt, kann sie nicht rechtsverbindlich durchge-
anhand des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und      setzt werden. Hier muss durch eine breite öffent-
den Pflegestärkungsgesetz noch erstellt werden.        liche Diskussion Aufmerksamkeit hergestellt und
                                                       Förderung unterstützt werden.
Hinzukommt, dass eine neue, generalistische Aus-
bildung in der Pflege erst in Zukunft zeigen wird,     In der Diskussion wird gefordert, dass den Kom-
wie welche Qualitätsstandards in den curricula         munen mehr Verantwortung für Pflege im weiten
verankert werden und ob es nach wie vor große          Sinn (Organisation kommunaler teilhabeangebote,
Unterschiede in der Ausbildung – je nach Schule –      Qualitätskontrolle) übertragen werden sollte und
geben wird.                                            so Zuständigkeiten klarer ersichtlich und durch die
                                                       Öffnung in die Gemeinden der menschliche Bezug
3.3.4 Diskriminierungsschutz                           der Pflege innerhalb der Gesellschaft verstärkt
Schutz vor Diskriminierung muss auch in der            wird. Die Gesellschaft sollte in die Umsetzung der
Pflege gewährleistet sein. Ob bereits ein ausrei-      Pflege miteinbezogen werden, Wissen und Verant-
chender Schutz vor Diskriminierung geboten wird,       wortung könnten so breiter verteilt werden. Die
FAcHGESPRÄcH 4: L A NG Z E I t- U ND PA LLI AtI V P F LE G E                                                          15

Verbreitung über die Menschenrechte in der Pflege                    strukturelle Mängel aber durchgängig erkennbar
könnte beispielsweise durch einfache Innovatio-                      seien: beispielsweise fehlendes Monitoring, das an
nen – die Schaffung einer Website zur aktualisier-                   Menschenrechten ausgerichtet ist oder nicht aus-
ten Pflege-charta – unterstützt werden, sodass                       reichende Aus- und Fortbildung von Beschäftigten
sich jeder darüber informieren kann.                                 in der Pflege. Darüber hinaus findet Pflegearbeit
                                                                     immer öfter in einem informellen Sektor statt. Das
Idealerweise müssen alle relevanten Akteure zu                       Fehlen internationaler Definitionen und Standards
einem Konsens auf nationaler Ebene finden, um                        wurde ebenso kritisiert wie die fehlende Partizipa-
diesen dann auf internationaler Ebene in den Ver-                    tion älterer Menschen – obwohl diese die Expert_
handlungen zu vermitteln.                                            innen in eigener Sache seien. Auch Missbrauch
                                                                     und Gewalt gegen Ältere in der Pflege wurden als
3.4 Ergebnisse der OEWG-A                                            länderübergreifende Phänomene identifiziert.

Die themen Langzeitpflege und Palliativpflege                        In den nachfolgenden Diskussionen, die wieder
wurden in der 9. Sitzung der OEWG-A in Vorträ-                       interaktiv gestaltet wurden, meldeten sich sowohl
gen von Expert_innen ausführlich vorgestellt, die                    der Delegationsleiter Matthias von Schwanenflü-
komplexen themen wurden aus sehr unterschied-                        gel, christian Berringer (BMG), Heidrun Mollenkopf
lichen Perspektiven präsentiert. Die einführenden                    für die BAGSO als auch das DIMR zu Wort. Viele
Vorträge wurden von der Unabhängigen Expertin,                       Beiträge und gute Beispiele der deutschen Ver-
einem Vertreter des OHcHR, der ehemaligen                            treter_innen beruhten auf dem vorbereitenden
Vorsitzenden des Ausschusses zur Prüfung der                         Fachgespräch.
UN-BRK, einem Staatenvertreter der Niederlande,
der Menschenrechtskommissarin der Philippinen                        Die Vorträge und Präsentationen sowie vorab ein-
und einem Professor für Geriatrie der Universität                    gereichte Stellungnahmen sind auf der Homepage
Haifa gehalten. Als Ergebnis der anschließenden                      der OEWG-A zu finden.19 Die Zusammenfassung
interaktiven Diskussion wurde festgestellt, dass                     der Sitzung ist sowohl im allgemeinen Bericht zur
die nationalen Gegebenheiten in der Langzeit-                        Sitzung als auch in der Zusammenfassung des
und Palliativpflege zwar sehr unterschiedlich,                       Vorsitzenden der Arbeitsgruppe zu finden.

19   https://social.un.org/ageing-working-group/eighthsession.shtml (abgerufen am 20.12.2018).
16                                                    FAcH G ES PR ÄcH 5 : AU tO N O MIE U N D S EL B St B ESt IM M UNG

4 Fachgespräch 5: Autonomie und
Selbstbestimmung
4.1 Menschenrechtliche                                 gelebt werden kann. Sie ist relational konzipiert.
                                                       Autonomie bedeutet also nicht, dass Menschen
Grundlagen                                             auf sich alleine gestellt sind oder dass es um
                                                       Durchsetzungsvermögen oder Selbstständigkeit
Das Recht auf Autonomie und Selbstbestim-              geht. Vielmehr geht es um eine selbstbestimmte
mung speziell für ältere Menschen ist im bisher        Lebensführung, die ohne fördernde und unter-
bestehenden menschenrechtlichen Schutzsys-             stützende soziale Strukturen nie gelingen kann.
tem lediglich auf regionaler Ebene zu finden. Die      Selbstbestimmung als Prinzip der Konvention
UN-Behindertenrechtskonvention hat sich ausführ-       stellt daher nicht nur ein grundsätzliches Ziel dar,
lich mit diesem thema befasst und betont, dass         sondern gleichzeitig auch immer einen Maßstab
Autonomie ein menschenrechtliches Prinzip ist,         für die Bewertung angemessener Unterstützung,
das bei der Umsetzung jedes Rechtes berücksich-        bei der die Willensäußerungen von Personen ohne
tigt werden muss. Dieses Prinzip ist in seiner Wir-    Einschränkung geachtet werden. Als Prinzip ist
kung sehr eng mit der Menschenwürde verbunden.         Selbstbestimmung also, genau wie alle anderen
                                                       Prinzipien, bei der Umsetzung der Konvention ins-
Die UN-BRK hat das Prinzip der Autonomie fest-         gesamt zu berücksichtigen und ist für alle Artikel
geschrieben. Es wird in Art. 3 der Konvention          relevant.
unter den acht allgemeinen Prinzipien genannt.
Der Autonomiebegriff der UN-BRK wird mit dem           4.1.1 Autonomie und
Anspruch gekoppelt, eine inklusive Gesellschaft        Selbstbestimmung
für alle Menschen zu schaffen. Daraus folgt, dass      Ältere Menschen haben, wie alle anderen Men-
Autonomie im Sinne der Konvention nur in sozialen      schen auch das Recht, unabhängig, selbstbe-
Beziehungen erlebt wird. In diesen sozialen Bezie-     stimmt und autonom zu leben. Das bedeutet unter
hungen muss Selbstbestimmung – wenn erforder-          anderem auch, dass sie unabhängige Entschei-
lich – mit Unterstützungsleistungen gewährleistet      dungen zu allen sie betreffenden Fragen, insbe-
sein. Damit eng verbunden ist auch die Möglich-        sondere bezüglich ihrer Besitzstände, Einkommen,
keit der eigenen Zustimmung, die beispielsweise        Finanzen, Wohnort, Gesundheit, medizinischen
zur Gestaltung des eigenen Lebensendes durch           Behandlung oder Betreuung sowie Vorkehrungen
Unterstützung gewährleistet werden soll und –          zur Gestaltung ihres Lebensendes und zu ihrer
wenn möglich – nicht durch Zustimmung anderer          Bestattung selbst treffen können.
ersetzt werden soll. Mit diesem Prinzip hat sich
der zuständige Ausschuss in seiner Allgemeinen         4.1.2 Der Menschenrechtsrahmen
Bemerkung zum Recht auf gleiche Anerkennung            Die Anforderungen hinsichtlich der Autonomie
vor dem Recht, Art. 12, auseinandergesetzt.            und Selbstbestimmung älterer Menschen werden
                                                       vermehrt sowohl in nationalen als auch internatio-
An der Spitze der Prinzipien steht die Menschen-       nalen Diskussionen von Wissenschaft und Zivil-
würde, ergänzt um Autonomie, Entscheidungsfrei-        gesellschaft aufgegriffen. So soll beispielsweise
heit und Selbstbestimmung. Die Menschenwürde           ein selbstbestimmtes Leben im familiären Umfeld
wird in Art. 3 der UN-BRK um die individuelle Auto-    möglich bleiben.
nomie und die Selbstbestimmung ergänzt. Dem
liegt die Annahme zu Grunde, dass Autonomie nur        Deutschland hat sich durch Ratifizierung verschie-
durch gesellschaftliche Unterstützungsleistungen       dener Menschenrechtsverträge dazu verpflichtet,
FAcHGESPRÄcH 5: AU tONOM I E U ND SE LB StB E StIMMU N G                                                    17

Menschenrechte auch umzusetzen. Deshalb muss               Deutschland in den internationalen Diskurs in New
der Staat auch seiner Pflicht nachkommen, die              York einbringen kann.
Menschenrechte aller in seinem Hoheitsbereich
lebenden Personen zu achten, zu schützen und zu
gewährleisten. Dies beinhaltet auch die gesetzli-
                                                           4.3 Ergebnisse aus der
che Rahmensetzung, die dem Schutz der Autono-              Diskussion
mie und Selbstbestimmung Älterer hinreichend
dient.                                                     4.3.1 Inhaltliche und rechtliche
                                                           Vorgaben für Autonomie und
Die unterstützende Hilfe zur Gestaltung der Auto-          Selbstbestimmung
nomie und Selbstbestimmung wird daher immer                Während der gesamten Diskussionen zur Behin-
bedeutender. Der Schutz älterer Menschen mit               dertenrechtskonvention entzündeten sich am
Beeinträchtigungen erfolgt größtenteils im Rah-            thema Autonomie die intensivsten Kontrover-
men der UN-Behindertenrechtskonvention, die                sen. Letztendlich wurde eine Kompromissformel
neue Anforderungen bezüglich des Abbaus von                hinsichtlich der Definition erzielt. Autonomie ist
Barrieren formuliert und den Gedanken der Unter-           in der in der UN-BRK an verschiedenen Stellen zu
stützung bzw. Assistenz im Kontext von Selbstbe-           finden. Bereits in Art. 3 UN-BRK ist die individu-
stimmung fördert.                                          elle Autonomie explizit erwähnt und als eines der
                                                           Konventionsprinzipien festgeschrieben.
Zudem ist der Staat angehalten, gerichtliche Mög-
lichkeiten zu bieten, damit die Betroffenen vollen         Autonomie stellt kein Menschenrecht dar, viel-
Zugang zum Recht haben und sie ihre Rechte                 mehr handelt es sich um ein menschenrechtliches
vollumfänglich ausüben können.                             Prinzip. Ein solches Prinzip bestimmt die Ausle-
                                                           gung aller Menschenrechte und wird umgekehrt
4.2 Ablauf des                                             durch ausformulierte Menschenrechte näher
                                                           spezifiziert.
Fachgesprächs
                                                           In den Artikeln 9 (Zugänglichkeit) und 12 (Rechts-
Das Fachgespräch am 18. Januar 2018 wurde                  und Geschäftsfähigkeit) wird das Autonomiever-
durch die Begrüßung und Einleitung von Prof.               ständnis der Konvention erkennbar. Auch wenn in
Dr. Matthias von Schwanenflügel (BMFSFJ) und               diesen Artikeln das Wort Autonomie nicht genannt
Michael Windfuhr (DIMR) eröffnet. In seinem                wird, lässt sich durch die dortigen Formulierungen
Vortrag über die Behindertenrechtskonvention               erkennen, dass die Autonomie untrennbar mit der
der Vereinten Nation und Autonomie widmete                 Menschenwürde und dem Gleichheitssatz verwo-
sich Dr. Leander Palleit (DIMR) der Frage, welche          ben ist: Autonomie ist allen Menschen gleicher-
inhaltlichen und rechtlichen Vorgaben die UN-BRK           maßen gegeben, sie kann weder verdient werden,
für den Begriff der Autonomie vorgesehen hat.              noch muss man fähig zu ihr sein. Autonomie kann
Anschließend thematisiert Prof. Dr. Susanne                nicht in unterschiedlichen Lebensphasen variieren
Kümpers, Professorin für qualitative Gesund-               und nicht geringer werden.
heitsforschung, soziale Ungleichheit und Public
Health-Strategien von der Hochschule Fulda den             Autonomie hat einen relationalen charakter, die
Zusammenhang von Autonomie, Selbstbestim-                  Grenze der Autonomie ist die Autonomie des
mung und Alter.                                            Anderen und kann nur in Interaktion bestehen
                                                           und setzt somit Unterstützung und soziale Struk-
An beide Vorträge schloss sich eine Diskussion             turen voraus. Dabei darf sie jedoch nicht mit der
anhand von Leitfragen an. Hier wurde die Bedeu-            bloßen Unabhängigkeit verwechselt werden, denn
tung involvierter Akteur_innen und insbesondere            entscheidend ist die Steuerungshoheit des Ein-
ihre Rolle bei der Umsetzung und beim Schutz               zelnen. Autonomie ist ein Konstrukt, das sowohl
der Autonomie und Selbstbestimmung diskutiert.             Optionen als auch Informiertheit voraussetzt und
Zuletzt widmet sich die Diskussion den Erfahrun-           somit nur durch Inklusion ermöglicht werden
gen, Herausforderungen und gute Beispiele, die             kann.
18                                                     FAcH G ES PR ÄcH 5 : AU tO N O MIE U N D S EL B St B ESt IM M UNG

4.3.1.1 Die Grenzen der Autonomie                       Option der Hilfe und Unterstützung erschwert zu
Zum einem ist die immanente Grenze zu beach-            erreichen sind.
ten, die sich durch die Autonomie und Rechte
anderer begründet. Zum anderen wird oft in der          Dabei sollen die Fähigkeiten der Generationen
Praxis die Autonomie eines Menschen unter               gestärkt werden, vor allem Ältere sollen mobil und
Verweis auf seine Fähigkeiten oder sein objektives      stark bleiben, um laut einer Stellungnahme der
Wohl beschränkt. Dies ist äußerst problematisch,        Bundesregierung aus dem Jahr 2010 weiterhin
denn die UN-BRK etabliert die Bedeutsamkeit             einen Beitrag für die Wirtschaft und Gesellschaft
des Willens und setzt voraus, dass der zu ermit-        zu leisten. Diese Aussage ist eng mit der stigma-
telnde Wille des Einzelnen gewichtiger ist, als sein    tisierenden Vorstellung von Altersschwachen
objektives Wohl. Zwar hat die UN-BRK das Prinzip        verknüpft.
der Autonomie festgeschrieben und dient sowohl
rechtlich als auch inhaltlich als beispielhafte Vor-    Die Kehrseite der Autonomie besteht aus Abhän-
gabe, doch ist nicht außer Acht zu lassen, dass die     gigkeit, Passivität, Unproduktivität und Nichterfolg.
UN-BRK nur für ältere Menschen mit Beeinträch-          Autonomie ist letztendlich im Spannungsfeld zwi-
tigungen anwendbar ist, nicht für alle Älteren. Die     schen Bezogenheit und Abtrennung zu verorten.
UN-BRK dient nämlich gerade nicht zum Schutz            Es handelt sich um einen Ansatz zur Überwindung
vor Altersdiskriminierung.                              internalisierter und faktischer Exklusion, insbeson-
                                                        dere für Menschen aus benachteiligten Gruppen.
4.3.2 Autonomie und                                     Dabei soll die einseitige Perspektive des erfolgrei-
Selbstbestimmung im Alter                               chen Alters gemieden werde, da sich dies diskri-
Im zweiten teil des Fachgespräches setzten sich         minierend auf schwächere Randgruppen auswirkt.
die teilnehmenden mit Autonomie und Alter aus-          Zudem berechtigt beschädigte Autonomie (bei-
einander. In einem ersten Schritt wird die histori-     spielsweise von Demenzerkrankten) keine stellver-
sche Herleitung des Begriffs vorgenommen.               tretende Entscheidung, es gilt der subjektive Wille
                                                        der Betroffenen.
4.3.2.1 Begriff der Autonomie
Autonomie kommt aus dem Griechischen und                4.3.2.2 Altern und Stereotype
bedeutet Eigengesetzlichkeit. Diese hat sich mitt-      Altern ist nicht allein ein biologischer Prozess,
lerweile zu einer Subjektkonzeption der Moderne         hinzukommen Aspekte der Stereotypisierung und
entwickelt. Das Subjekt, der Mensch, ist der Sou-       soziokulturellen Etikettierung, die einen bemer-
verän seiner Selbst und der Individualität. Daher       kenswerten Einfluss haben. Bloßes Altern an sich
kann Autonomie in einem entscheidungsfreien             führt nicht zum Verlust der Fähigkeit, von seiner
Vakuum nicht existieren.                                Autonomie Gebrauch zu machen, sondern durch
                                                        soziale Konstrukte wird der Anschein vermittelt,
In den politischen Diskursen zu Älteren geht es         dies zu tun. Eine Konvention für Rechte Älterer
oft um die Übernahme von Verantwortung. In              würde dem Schutz vor der Stigmatisierung dienen
diesem Zusammenhang kann Autonomie dem                  und präventiv rechtsfortbildend wirken.
Einzelnen auch aufgezwungen werden, wenn der
Gesellschaft mehr Verantwortung abgesprochen            Hinsichtlich des stigmatisierenden Sprachge-
wird und dem Individuum im Umkehrschluss mehr           brauchs wird Besorgnis geäußert, dass eine
zugesprochen wird. Dies wird häufig als Wunsch          Konvention für Rechte Älterer die negative Eti-
Älterer kundgetan. Wenn durch die gesellschaftlich      kettierung als soziales Konstrukt verstärkt. Dies
getragene Verantwortung keine Hilfeleistungen           wird jedoch kritisch gesehen, da es sich bei einer
mehr ermöglicht werden, wird dem Einzelnen              Menschenrechtskonvention um Mindeststan-
der Entscheidungsspielraum aus Optionen und             dards handelt und eine theoretische Forderung
Unterstützung beschnitten und somit auch seine          als Grundlage jeder praxisbezogenen Umset-
Autonomie beeinträchtigt Durch eine steigende           zung dient. Ohne eine Konvention drohen Ältere
Regelungsdichte soll zwar autonomes Leben               unsichtbar zu bleiben und nicht über einen ausrei-
gefördert werden, doch gerade dadurch wird die          chenden Menschenrechtsschutz zu verfügen.
Autonomie in ihrem Gehalt geschwächt, da die
FAcHGESPRÄcH 5: AU tONOM I E U ND SE LB StB E StIMMU N G                                                                              19

4.3.2.3 Abgrenzung zur                                              menschenrechtsbasierter Dienste nachgedacht
UN-Behindertenrechtskonvention                                      werden, die Älteren die Kontrolle über das eigene
Es wurde diskutiert, ob eine Konvention für                         Leben auch in schwierigen Situationen ermögli-
Rechte Älterer eine Doppelstruktur zur UN-BRK                       chen. Der Pflege kommt beispielsweise gerade
darstellen könne. Das Fehlen eines hinreichenden                    dann große Bedeutung zu, wenn der subjektive
Menschenrechtsrahmens ist sehr bedenklich, da                       Wille Betroffener berücksichtigt werden soll,
die Umsetzung und Überprüfung von Reformen                          anstatt des bereits näher erörterten objektiven
anhand der menschenrechtlichen Grundsätze                           Wohls.
gemessen werden soll. Es wird betont, dass es
sich beim Altern gerade nicht um eine Beeinträch-                   Betreuer_innen sind gewichtige Akteur_innen in
tigung im Sinne der UN-BRK handelt und dies auch                    diesem Feld, da sie bei der Willensermittlung der
nicht so gehandhabt werden sollte. Dadurch bleibt                   Betroffenen in deren Autonomie eingreifen. Das
jedoch die schutzwürdige Gruppe der Älteren ohne                    Paradigma des subjektiven Interesses des Einzel-
expliziten menschenrechtlichen Schutz, und die                      nen muss an die Stelle seines Wohles treten. In
Frage, ob der Staat seiner Schutzpflicht Genüge                     der alltäglichen Praxis stellt sich eine Willenser-
getan hat, bleibt weiterhin unbeantwortet. Autono-                  mittlung bei Älteren oft als zeitaufwendiger und
mie spielt eine sehr große Bedeutung im Alter, es                   mühseliger Prozess dar, der aufgrund fehlenden
sprechen gute Gründe dafür, dies durch ein men-                     Personals häufig nicht gewährleistet werden kann.
schenrechtliches Fundament zu festigen – abgese-                    Durch die strukturelle Barriere des Pflegenot-
hen davon, ob eine Beeinträchtigung gegeben ist                     stands ist die Autonomie und Selbstbestimmung
oder nicht. Dieser Ansicht schließen sich weitere                   der Betroffenen besonders gefährdet, hierbei
teilnehmende mit dem Argument an, dass Autono-                      handelt es sich nicht um etwas Biologisches,
mie im Alter auch jenseits einer Beeinträchtigung                   sondern um etwas gesellschaftlich Hergestelltes/
gefährdet ist.                                                      Verursachtes. Dieser menschenrechtlich prekäre
                                                                    Umstand könnte gerade durch staatliche Akteur_
In diesem Zusammenhang wurden Beispiele von                         innen und politische Maßnahmen aufgehoben
Ungleichbehandlung eingebracht: Einem Mann                          werden.
wurde der Dispokredit von seiner Bank verkürzt,
mit der Begründung er befinde sich mit 65 Jahren                    Durch staatliche Maßnahmen kann Autonomie und
in einem Alter, das auf das Lebensende zusteuere                    Selbstbestimmung in Sozialräumen verbessert
und somit nicht auf die hinreichende Zurückzah-                     werden. Dabei ist Barrierefreiheit und eine funkti-
lung vertraut werden könnte. Ein weiteres Beispiel                  onierende Infrastruktur, besonders bei der Bera-
der Altersdiskriminierung liefert die Rosenbladtent-                tung und Versorgung durch Betreuer_innen, sowie
scheidung, in der vom EuGH entschieden wurde,                       kulturelle teilhabe von großer Bedeutung. Es muss
dass die Zwangsbeendigung eines tarifvertrages                      sowohl die Sicherheit und Mobilität der Einzelnen
ab einem bestimmten Alter zulässig sei.20                           gewährleistet und vor allem eine gesellschaftliche
                                                                    Exklusion von Gruppen in verletzlichen Lebensla-
4.3.2.4 Bedeutung von Akteur_innen                                  gen vermieden werden.
Unklar bleibt, welche Bedeutung Akteur_innen
bei der Umsetzung und dem Schutz der Autono-                        Der Staat als Akteur hat einen Bildungsauftrag, in
mie und Selbstbestimmung Älterer haben. Um                          dessen Rahmen er ältere Menschen aufklärend
deren Autonomie und Selbstbestimmung besser                         unterstützen soll, damit sie von ihrer Autonomie
gesellschaftlich und rechtlich zu verankern, muss                   Gebrauch machen. So haben viele Ältere Angst,
über eine De-Institutionalisierung21 und Schaffung                  medizinischer Behandlung hilflos ausgeliefert zu

20   https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/tXt/HtML/?uri=cELEX:62009cJ0045&from=de (abgerufen am 20.12.2018).
21   Deinstitutionalisierung ist ein Begriff, der vor allem im Zusammenhang mit dem Wohnen von Menschen mit Behinderungen verwendet
     wird. Damit gemeint ist der Prozess der Umwandlung von Unterstützungsangeboten: Statt in Heimen und Wohneinrichtungen sollen
     Menschen mit Behinderungen so wohnen wie alle anderen Menschen auch. Ausführlich https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/
     monitoring-stelle-un-brk/themen/deinstitutionalisierung/ (abgerufen am 17.12.2018).
20                                                    FAcH G ES PR ÄcH 5 : AU tO N O MIE U N D S EL B St B ESt IM M UNG

sein. Hier zeigt sich ein deutlicher Informations-     in New York, die Unabhängige Expertin für die
bedarf der Betroffenen, der eng mit der Willens-       Menschenrechte Älterer, Vertreter des türkischen
bildung einer selbstbestimmten Entscheidung            Sozialministeriums sowie die Vorsitzende des
verknüpft ist. Im Alltag kommt es häufig zu einem      Zentrums für Menschenrechte und Entwicklung
sanften Paternalismus, indem der Einzelne – ein        aus der Mongolei. An der Diskussion beteiligten
Subjekt – in ein Objekt der Pflege und Versorgung      sich sowohl die Bundesarbeitsgemeinschaft der
verwandelt wird. Die Autonomie des Einzelnen           Senioren-Organisationen (BAGSO) als auch das
wird weder durch das Altern noch durch sonstige        Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR).
Beeinträchtigungen geringer.
                                                       In den Vorträgen wurde betont, dass rechtliche
Als nichtstaatliche Akteure werden Angehörige          Grundlagen durch die UN-Behindertenrechts-
genannt, die eine große Rolle in der Caring Com-       konvention vorgegeben sind. Wahlmöglichkeiten
munity spielen. Durch sie kann die soziale teilhabe    stellten eine Voraussetzung für autonome Ent-
sowie kulturelle Inklusion der Betroffenen gestärkt    scheidungen dar. Die Möglichkeit, frei zu entschei-
werden.                                                den, hängt nicht zuletzt von den Informationen ab,
                                                       die einem älteren Menschen zur Verfügung gestellt
Weiterhin wurde die willentliche Abgabe von            werden. Eine bindende Konvention wurde von den
Autonomie und Selbstbestimmung an betreuende           meisten Vortragenden als stärkster Schutz für die
Dritte diskutiert. Speziell die willentliche Abgabe    Menschenrechte Älterer identifiziert. Unabhängige
der Autonomie an Angehörige soll ebenfalls             Lebensweisen können durch technologien unter-
geschützt bleiben, sie kann eine autonome Hand-        stützt werden, dieser Bereich muss ausgebaut
lung darstellen. Ein weiteres Dilemma der Auto-        werden. Abschließend stellten die Vortragenden
nomie wird angesprochen: Während oft auf die           fest, dass Behinderung und Alter nicht zwangsläu-
Unabhängigkeit und Selbstbestimmung abgestellt         fig miteinander verbunden seien und deshalb die
wird, wird die Sehnsucht nach Bedeutung des            UN-BRK auch nicht für alle Älteren gelte.
Einzelnen übersehen.
                                                       In der anschließenden Diskussion wurde darauf
Bei der Realisierung der eigenen Autonomie ent-        verwiesen, dass Autonomie in den bestehenden
steht ein Spannungsfeld zwischen sozialen Konst-       Menschenrechtsschutzsystemen bisher nicht
rukten und dem menschenrechtlichen Prinzip. Es         ausreichend definiert sei. Die Barrieren für Ältere
ist zwischen den Beeinträchtigungen des Alters,        beim Zugang zu ihren Rechten würden aber bei
die eventuell unter die UN-BRK fallen, und anderen     weitem noch überwiegen. Dies werde durch das
Aspekten, die menschliche Autonomie einschrän-         weltweit verbreitete Phänomen von ageism (der
ken (Ageism), zu differenzieren.                       Altersdiskriminierung) noch verstärkt.

4.4 Ergebnisse der OEWG-A                              Es wurde festgestellt, dass die Autonomie als Ach-
                                                       tungsanspruch eines oder einer Älteren nicht auto-
Das Fachgespräch zu Autonomie und Selbstbe-            matisch mit zunehmendem Lebensalter oder durch
stimmung diente zur Vorbereitung der interna-          Krankheit geringer werde. Die mögliche Finanzie-
tionalen Diskussion im Rahmen der 9. Sitzung.          rung von Unterstützung wurde diskutiert. Neue
Die Ergebnisse des nationalen Austausches              technische Entwicklungen könnten – speziell bei
waren dort deutlich in den Beiträgen des BMFSFJ        personellen Engpässen – Entlastung für Pflegende
abgebildet.                                            bieten. Erforderlich sei nach wie vor ein Paradig-
                                                       menwechsel, da negative Einstellungen hinsicht-
Zum Schwerpunktthema Autonomie und Unabhän-            lich der Kapazitäten Älterer in den Gesellschaften
gigkeit diskutierten Vertreter_innen. aus dem Bun-     immer noch überwiegen würden. Hierfür müssten
desministerium für Familie, Senioren, Frauen und       strukturelle Änderung vorgenommen werden. Ins-
Jugend Deutschlands (BMFSFJ), eine Vertreterin         besondere in Ländern des Westens werde älteren
der Global Alliance of National Human Rights Ins-      Menschen beim Übergang in Pflege sehr schnell
titutions (GANHRI), der Direktor des Office of the     ihre Autonomie entzogen, obwohl in diesen Staaten
High commissioner for Human Rights (OHcHR)             oft gute gesetzliche Rahmen vorhanden seien.
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