Hin sehen - Opferberatung Rheinland

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hin
Nr. 1     August 2020

                                      sehen
                                          Halbjahresmagazin
                                          der Opferberatung Rheinland

WW Themen­schwerpunkt����������������� 2

Was hat Hanau
mit mir zu tun?

WW Perspektiven                                   WW Bildungs­arbeit der OBR�����������18
   von Betroffenen�������������������������� 7
                                                  WW Service�����������������������������������������22
WW Beratung der OBR��������������������� 12

WW Rechte ­Gewalt in NRW�������������16

    OBR    Opferberatung Rheinland
2

                                                             XXXXXX
Themen­
schwerpunkt       Was hat Hanau
                  mit mir zu tun?

Editorial                                          und den Anschlag am 09. Januar 2001 in der
                                                   Probsteigasse bis hin zum Nagelbombenan-
Liebe Kolleg*innen, Leser*innen und                schlag am 09. Juni 2004 in der Keupstraße in
­Interessierte,                                    Köln und der Ermordung von Mehmet Kubaşık
                                                   am 04. April 2006 in Dortmund. Darüber
vor Ihnen liegt das erste Halbjahresmagazin       hinaus erleben zahlreiche Menschen tagtäg-
namens Hinsehen der Opferberatung Rhein-          lich rassistisch und antisemitisch motivierte
land (OBR).                                       Angriffe und Gewalttaten. Viele dieser Taten
                                                  gelangen nicht an die Öffentlichkeit. Doch
Hinsehen — dieser Titel unseres Magazins          reihen sie sich ein in die länger werdende
wurde aus zwei unterschiedlichen Gründen          ­Liste rassistischer, antisemitischer und rech-
gewählt:                                           ter Gewalttaten, deren gesamtes Ausmaß wir
                                                   derzeit nur erahnen können. Mit dem Schwer-
Zum einen möchten wir auf die Vielzahl von         punktthema „Was hat Hanau mit mir zu tun?“
rechten, rassistischen, antisemitischen und        wollen wir den Bogen spannen zwischen
weiteren menschenverachtenden Gewalt­taten         dem Gedenken an die Opfer, Überlebenden
in Nordrhein-Westfalen und Deutschland hin-        und Hinterbliebenen, der gesellschaftlichen
weisen, da diese viel zu oft übersehen werden.     Aufarbeitung des rassistischen Anschlags
Demnach verstehen wir das bewusste Hinse-          in Hanau und dem Kampf gegen Rassismus,
hen als Aufforderung, sich dem erschrecken-        Antisemitismus und rechte Gewalt. In unserer
den Ausmaß von Gewalt als einem gesamt-            Arbeit als Beratungsstelle für Opfer rechter,
gesellschaftlichen Problem zu stellen. Zum         rassistischer und antisemitischer Gewalt im
anderen möchten wir eine Plattform schaffen        Rheinland fordern wir die Stärkung von und
für Perspektiven von Betroffenen dieser            die Solidarisierung mit Betroffenen sowie eine
Gewalt, indem die Arbeit und die Forderungen       klare Haltung und ein konsequentes Handeln
von Selbstorganisationen, Betroffeneninitia­       für unsere vielfältige Gesellschaft. Rassismus
tiven und engagierten Akteur*innen fokus-          und rassistische Anschläge wie in Hanau be-
siert werden. An dieser Stelle ist das Hinsehen    treffen uns alle — wenn auch auf unterschied­
und Hinhören von wichtiger Bedeutung, denn         liche Weise.
es gibt zahlreiche und zunehmend mehr
emanzipatorische Bewegungen, Stimmen und          Wir möchten uns an dieser Stelle ganz herz-
Beiträge. Da diese jedoch oft nicht oder kaum     lichst für das Vertrauen und die zur Ver-
gesehen und gehört werden, möchten wir            fügung gestellten Artikel von Initiativen,
mit diesem Magazin zusätzlich einen Raum          Betroffenen und externen Autor*innen, für
schaffen, indem diese Perspektiven und Stim-      ihre Perspektiven und Worte in dieser ersten      Themenschwerpunkt
men gesehen, gehört, gelesen und verbreitet       Ausgabe unseres Magazins bedanken!
werden.
                                                  Als Team der OBR berichten wir aus ­unserer
Die erste Ausgabe des Magazins widmet sich        Arbeit. Neben dem Schwerpunktthema finden
in ihrem Schwerpunkt dem rassistischen und        Sie in dieser Ausgabe Berichte aus der Be-
rechtsterroristischen Anschlag von Hanau,         ratungs-, Recherche- und Bildungsarbeit der
bei dem am 19. Februar 2020 zehn Menschen         OBR und einen Serviceteil mit Hinweisen
ums Leben kamen. Rechte, rassistische und         zu bevorstehenden Veranstaltungen sowie
antisemitische Gewalttaten sind kein neues        Medientipps und Ratgebern für Betroffene.
Phänomen in unserer Gesellschaft. Auch in         Dabei fokussieren wir immer die Unterstüt-
Nordrhein-Westfalen gibt es eine Kontinuität      zung unserer Beratungsnehmer*innen sowie
solcher Angriffe und Anschläge. Diese reichen     die stärkende Arbeit an der Seite von Betrof-
                                                                                                    hinsehen 1_2020

vom Brandanschlag am 26. August 1984 auf          fenen.
das Wohnhaus der Familie Satır in Duisburg
und dem Brandanschlag am 28./29. Mai 1993         Solidarische und herzliche Grüße
auf das Wohnhaus der Familie Genç in Solin-
gen über den Sprengstoffanschlag am 27. Juli      Ihr Team der OBR
2000 am S-Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf
3

In Gedenken an die Opfer von Hanau
Bei dem rassistischen und rechtsterroristischen      ben: „Dass die Namen der Opfer nicht vergessen
Anschlag in Hanau kamen am 19. Februar 2020          werden. Dass wir uns nicht allein lassen. Dass
insgesamt zehn Personen ums Leben. Neun              es nicht bei folgenloser Betroffenheit bleibt.“
­Opfer wurden in und vor zwei Shishabars sowie       (Initiative 19. Februar Hanau)
 auf der Fahrt zwischen den Orten erschossen.
 Später erschoss der Täter außerdem seine            Die Initiative 19. Februar Hanau gründete sich
 Mutter und sich selbst. Aufgrund rassistischer      kurz nach den rassistischen Morden in Hanau,
 Motive mussten vermeintlich Fremde ihr Leben        um Betroffenen und Angehörigen Unterstüt-
 lassen. Doch die Opfer waren entgegen ­einiger      zung anzubieten sowie als kollektiver Zusam-
 Medienberichte keine Fremden, sie waren Men-        menschluss gesellschaftliche Forderungen nach
 schen und Mitbürger*innen. Dies ändert sich         Aufklärung und politischen Konsequenzen zu er-
 auch nicht durch rassistische Zuschreibungen        heben. Seit der Gründung ist die Initiative aktiv
 anhand von Aussehen, Ethnizität, Religion und       in der Öffentlichkeitsarbeit, organisiert bundes-
 Herkunft. Der rassistisch und rechts motivierte     weite Demonstrationen und schafft Räume des
 Anschlag in Hanau zeigt erneut: Rassismus und       Zusammenkommens.
 rechter Terror töten.
                                                     Wir gedenken der Opfer von Hanau und solidari-
Wir (als Mehrheitsgesellschaft) müssen hinse-        sieren uns mit den Überlebenden sowie Hinter-
hen, hinhören und Worte wie auch Taten (von          bliebenen.
rechter Ideologie motiviert) ernst nehmen.
                                                                      Ferhat Unvar
Wir müssen uns normalisierten rassistischen
Denk- und Handlungsmustern bewusst werden.                         Mercedes Kierpacz

Wir müssen anerkennen, dass nicht alle gleich                         Sedat Gürbüz
von Rassismus getroffen werden.
                                                                    Gökhan Gültekin
Wir müssen im Kleinen wie auch im Großen hin-
sehen, mutig sein und aufstehen gegen jegliche                      Hamza Kurtović
Rassismen und Diskriminierungen.
                                                                     Kaloyan Velkov
Wir müssen einstehen für eine offene und tole-
rante, vielfältige Gesellschaft.                                     Vili Viorel Păun

Wir müssen uns aktiv positionieren gegen                          Said Nesar Hashemi
­Rassismus und rechte Gewalt.
                                                                     Fatih Saraçoğlu
Wir dürfen die Opfer nicht vergessen und
­müssen Taten wie die Morde in Hanau aufklären.             #saytheirnames #SagtihreNamen

Damit die Tat nicht ins Vergessen gerät, haben       Weitere Informationen der Initiative 19. Februar
Aktivist*innen in Hanau die Initiative 19. Februar   Hanau finden Sie hier.                              Themenschwerpunkt
gegründet. Sie haben sich ein Versprechen gege-
                                                                                 Das Team der OBR
                                                                                                         hinsehen 1_2020
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Hanau war der eine Tropfen zu viel
Ferda Ataman

Nach dem rechtsterroristischen Anschlag von          soll. Nach jahrelangem staatlichem Ignorieren
Hanau hat sich bundesweit eine neue Bewe-            ist das Problem also immerhin erkannt, das ist
gung gegründet: Migrantifa. Sie ist dezentral        ein wichtiger Fortschritt. Doch leider haben wir
organisiert von jungen, aktiven Menschen, die        es noch mit einem Umsetzungsdefizit zu tun, an
wissen, dass auch sie Ziel von rechtsterroristi-     so vielen Stellen, dass ich sie hier nicht alle auf-
schen Angriffen sein können und dass sie von         zählen kann. Es sind nicht nur offensichtliche
strukturellem Rassismus betroffen sind. Sie          Dinge, sondern auch hintergründige, struktu-
verkörpern, was viele Menschen derzeit spüren:       relle Probleme. Die Abgabenordnung ist zum
Hanau war der eine Tropfen zu viel.                  Beispiel von vorgestern: Engagement gegen
                                                     Rassismus ist nicht ohne weiteres als gemein-
Seit Jahren berichten Einzelpersonen und             nützig anerkannt. Und es gibt kein Demokratie-
Organisationen von Migrant*innen, Jüd*in-            fördergesetz: Opferberatungsstellen und Orga-
nen, Muslim*innen, Sinti*zze und Rom*nja,            nisationen von People of Color und Schwarzen
­Schwarzen Menschen und weiteren People of           Menschen kämpfen um ihre Existenz, weil
 Color, dass sie sich zunehmend bedroht fühlen.      Förderungen unsicher sind oder gestrichen
 Und bedroht werden. Laut einer Studie des           werden. Und für eine konstruktive, politische
 Center for Research on Extremism der Uni-           Debatte fehlt es an etwas Wesentlichem: einer
 versität Oslo verzeichnete Deutschland 2019         offiziellen Definition als Arbeitsgrundlage, die
 im Vergleich zu anderen westeuropäischen            Rassismus nicht nur mit Rechtsextremismus
 Staaten die ­höchste Zahl an rechtsextremen         und individuellem Handeln gleichsetzt, sondern
 Gewalttaten (vgl. Aasland Ravndal/Lygren/           auch strukturelle Phänomene umfasst.
 Ravik Jupskås/Bjørgo 2020). Hinzu kommt eine
 hohe Dunkelziffer.                                  Im Umgang mit Rassismus und Rechtsextremis-
                                                     mus müssen Politik, Medien und Institutionen
Politische Konsequenzen wurden erst verspro-         auf die Neustarttaste drücken. Und sie sollten
chen, nachdem in weniger als einem Jahr der          bei sich selbst anfangen und sich fragen: wie
CDU-Politiker Walter Lübcke hingerichtet wur-        divers und offen sind unsere eigenen Struktu-
de, in Halle ein brutaler antisemitischer und ras-   ren? Wie viele Menschen, die von Rassismus
sistischer Anschlag stattfand und ein Mann in        betroffen sind, gehören bei uns zum Team, wie
Hanau zehn Menschen an einem Tag erschoss.           viele treffe ich in der Kantine? Vielleicht haben
                                                     sie dabei einen Aha-Effekt: 2020 ist ein guter
Hinter all diesen Tätern stehen unzählige Het-       Zeitpunkt, sich zu öffnen.
zer*innen und Einheizer*innen. Seit 2017 sitzen
in fast allen deutschen Parlamenten Politike­r*in­
nen, die man mit gutem Gewissen als faschis­toide      Autorin:
Nationalisten bezeichnen kann. Sie sind nicht          Ferda Ataman ist Publizistin und engagiert sich
zimperlich bei der Formulierung ihrer Pläne.           für eine rassismuskritische Debatte. Sie ist Spre-
„Moslems“, „Afrikaner“ und politische Gegner*in-       cherin des postmigrantischen Netzwerks „neue
nen möchten sie am liebsten entsorgen. Derweil         deutsche organisationen“ und Vorsitzende der
verbreitet ein lauter, rechter Mob im Internet und     „Neuen deutschen Medienmacher*innen“. 2019
                                                                                                                        Themenschwerpunkt
bei öffentlichen Veranstaltungen offen eine anti-      hat sie die Streitschrift „Hört auf zu fragen. Ich
                                                       bin von hier“ veröffentlicht.
semitische und rassistische Stimmung.

Wer etwas genauer hinschaut, wird es längst          Quellen:
festgestellt haben: Wir befinden uns in einer
                                                     Aasland Ravndal, Jacob/Lygren, Sofia/Ravik Jupskås, Anders/
Rassismus-Krise — ähnlich der Klima-Krise.           Bjørgo, Tore (Hg.) (2020): RTV Trend Report 2020. Right-
Auch hier sind die Folgen längst sichtbar und        Wing Terrorism and Violence in Western Europe, 1990-2019.
wir müssen schnell handeln. Ähnlich wie beim         ­Published by: Center for Research on Extremism: The E  ­ xtreme
                                                      Right, Hate Crime and Political Violence. University of Oslo.
Klimathema hat die Bundesregierung einen              Online: www.sv.uio.no/c-rex/english/topics/online-resources/
Kabinettsauschuss eingerichtet, der sich mit          rtv-dataset/rtv_trend_report_2020.pdf; letzter Abruf:
Rechtsextremismus und Rassismus befassen              21.08.2020.
                                                                                                                        hinsehen 1_2020
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10 Forderungen nach Hanau
Stellungnahme der Amadeu Antonio Stiftung vom 6. März 2020

1. Rassismus benennen                                  werden. Es dürfen nicht noch mehr Menschen
                                                       der Beratungsresistenz der deutschen Justiz
Noch immer wird } Rassismus verharmlost.               und Strafverfolgung geopfert werden.
Es ist Zeit, ihn als solchen zu benennen und
nicht als Phänomen am rechten Rand abzutun.            3. Rechte Gewalt konsequent
Rassismus ist tief in der Mitte unserer Gesell-        ­verfolgen
schaft verankert. Das anzuerkennen ist Grund-
lage, um wertvolle Präventionsarbeit zu leisten.       Noch immer fühlen sich Rechtsextreme allzu
Rassismus zu benennen bedeutet auch, die               sicher, wenn sie Straftaten begehen — und das
rassistische Stigmatisierung vermeintlich oder         mit gutem Grund. Viel zu oft werden Strafver-
tatsächlich migrantischer Orte anzuerkennen.           fahren in Fällen von Hasskriminalität frühzeitig
So wurden Shisha-Bars im Kontext von Diskur-           eingestellt, sei es aufgrund von mangelnder
sen der organisierten Kriminalität verortet und        Sensibilität für Gruppenbezogene Menschen-
als anders markiert.                                   feindlichkeit oder gezielt rassistischen Prakti-
                                                       ken in den Behörden. Und selbst wenn Täter*in-
2. Forderungen der NSU-­                               nen verurteilt werden, bleibt die Durchführung
Unter­suchungsausschüsse umsetzen                      der Haftbefehle mangelhaft. Erscheinen die
                                                       Verurteilten nicht zu ihrer Haftstrafe, passiert
Noch immer warten zahlreiche Empfehlungen              häufig schlichtweg nichts. So kann es nicht
der NSU-Untersuchungsausschüsse auf ihre               weitergehen. Der Verfolgungsdruck bei rechter
Umsetzung. Die offen gebliebenen Forderungen           Gewalt muss höher werden, um Rassist*innen
müssen umgehend evaluiert und zur Praxis               vor weiteren Taten abzuschrecken.

  } Rassismus (Rassifizierung) = Rassismus ist der     die konstruierten Gruppen als naturgegebene Ein-
 Prozess, in dem Menschen aufgrund tatsächlicher       heiten, die sich biologisch reproduzieren. In einem
 oder vermeintlicher körperlicher oder kultureller     zweiten Schritt der Bedeutungszuweisung wird das
 Merkmale (z. B. Hautfarbe, Herkunft, Sprache,         Wesen der konstruierten Fremdgruppe(n) bestimmt
 ­Religion) als homogene Gruppen konstruiert,          und werden ihnen stereotype Eigenschaften zu­
  hierarchisierend bewertet und ausgegrenzt werden.    geschrieben (Stereotypisierung) — auch diese kön-
  Der klassische Rassismus behauptet eine Ungleich-    nen wieder der Kategorisierung dienen. Durch die
  heit und Ungleichwertigkeit von Menschengruppen      Stereotypisierung wird spiegelbildlich das Wesen
  („Rassen“) auf Grundlage angeblicher biologischer    der konstruierten Eigengruppe festgeschrieben.
  Unterschiede. Im Neorassismus wird die Ungleich-
  heit und Ungleichwertigkeit mit angeblichen          Rassismus und Rassifizierung lassen sich nicht
  Unterschieden zwischen „Kulturen“ zu begründen       ­voneinander trennen. Denn im Prozess der Rassi-
  versucht. Rassismus ist die Summe aller Verhal-       fizierung ist die hierarchisierende Bewertung der
  tensweisen, Gesetze, Bestimmungen und Anschau-        konstruierten Gruppen implizit enthalten — und
  ungen, die den Prozess der Hierarchisierung und       zwar sowohl in den Merkmalen, mit deren Hilfe die
  Ausgrenzung unterstützen. Sie beruhen auf un­         Gruppen unterschieden werden, als auch in den
  gleichen Machtverhältnissen.                          Eigenschaften, die den Gruppen zugeschrieben         Themenschwerpunkt
                                                        werden. Denn in der Wahl der Merkmale und der
 Rassifizierung — auch bezeichnet als Rassialisie­      Maßstäbe, nach denen die Gruppen verglichen
 rung oder Rassisierung — bezieht sich auf die          ­werden (z. B. nach Schönheitsidealen oder nach
 Wissensebene von Rassismus. Rassifizierung              dem erreichten Stand kapitalistischer „Entwick-
 beschreibt sowohl einen Prozess, in dem rassisti-       lung“), liegt bereits ein Akt der Macht. In ihm
 sches Wissen erzeugt wird, als auch die Struktur        verbergen sich Herrschaftsinteressen. Denn das
 dieses rassistischen Wissens. Im Einzelnen um-          erzeugte Wissen rechtfertigt rassistische Hand-
 fassen Prozess und Struktur die Kategorisierung,        lungen und verarbeitet sie gleichzeitig gleichsam
 Stereotypisierung und implizite Hierarchisierung        „theoretisch“. (vgl. IDA e.V. Glossar: Rassismus;
 von Menschen. Dabei werden historisch variablen         Rassifizierung)
 wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren körper­
 lichen (z. B. Hautfarbe, Schädelform), soziologi-     Die Beschreibung „rassifizierte Menschen“ meint
                                                                                                             hinsehen 1_2020

 schen (z. B. Kleidung), symbolischen und geistigen    insofern Personen, die von Rassismus negativ
 (z. B. Einstellungen und Lebensauffassungen) sowie    betroffen sind und Menschen mit Rassismuserfah-
 imaginären Merkmalen (z. B. okkulte Fähigkeiten)      rungen. Dabei soll die Andersmachung von außen
 Bedeutungen zugewiesen. Dies geschieht, indem         hervorgehoben werden. Der Fokus liegt folglich auf
 erstens mit Hilfe dieser Merkmale gesellschaftliche   dem Blick von außen auf diese Menschen, denn von
 Gruppen definiert — also kategorisiert — werden.      außen betrachtet ist die politische Position einer
 Aufgrund der ausgewählten Merkmale erscheinen         Person immer eine Zuschreibung.
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4. Betroffene digitaler Gewalt s
                               ­ tärken            weise durch die dauerhafte Präsenz von Poli-
                                                   zist*innen vor Moscheen und Synagogen. Erst
Indes trägt der digitale Raum massiv zur Ra-       vor w­ enigen Monaten wurde ein ­Massaker an
dikalisierung bei. Dabei spielen Algorithmen       der jüdischen Gemeinde von Halle nur verhin-
den Rechtsextremen in die Hände: Je radikaler      dert, weil die Eingangstür dem Beschuss des
der Post, desto öfter wird er ausgespielt. In      ­Terroristen standhielt. ­Sicherheitspolitische
der Anonymität der Sozialen Medien können          Maß­nahmen können aber nur ein Teil der Ant-
Rassist*innen ihrem Hass beinahe einhaltslos       wort sein.
freien Lauf lassen. Und selbst wenn es zum
Prozess kommt, können sie sich — wie die            } Migrant*innen = Für den Begriff Migrant*in-
jüngsten Urteile gegen Sawsan Chebli und            nen wird häufig synonym die Bezeichnung
Renate Künast demonstrieren — auf einen             „Menschen mit Migrations­hintergrund“ verwen-
überaus umfassenden Begriff der Meinungsfrei-       det. Beide Begriffe sind Fremdzuschreibungen
heit berufen. Das ermutigt, weiter zu hassen.       für Menschen, die mit einem Blick von außen
Betroffene von Hass­rede hingegen bleiben mit       als nicht-deutsch, als Personen mit anderer
ihren Erfahrungen viel zu oft allein. Spezia­li­    Staatsangehörigkeit und als ausländisch gelesen
sierte Beratungsstellen für digitale Gewalt gibt    werden. Die Begriffe werden häufig als Stigmati-
es bisher nur sporadisch. Die Mittel fehlen,        sierungen empfunden, da mit ihnen sogenannte
um flächendeckende, professionelle Arbeit zu        „Problemgruppen“ assoziiert werden. Folglich
leisten. Hier muss dringend Abhilfe geschaffen      sind mit beiden Fremdzuschreibungen negative
werden. Zudem gilt es, Projekte zur Deradika-       Bewertungen verbunden. Als Fremdzuschrei-
lisierung von potenziellen Täter*innen im Netz      bungen dienen sie dazu, Personen als „anders“
zu unterstützen.                                    und „nicht-zugehörig“ zu markieren. (vgl.
                                                    NdM, Glossar: Migranten/Menschen mit Migra­
                                                    tionshintergrund)
5. Demokratie wehrhaft machen
 Klein klein hilft nicht mehr, unsere Demokratie
 muss endlich systematisch geschützt werden.         } Gelesen werden = Um ­Fremdzuschreibungen
Brandenburg hat bereits 2013 vorgemacht, wie         transparent zu machen ist es wichtig, den
das gehen kann: Das Bundesland hat den Kampf         ­eigenen Blick sprachlich offenzulegen. Daher
gegen Rechtsextremismus und Rassismus in              wird mit einer rassismuskritischen Sprache
seine Verfassung geschrieben. Auch Sachsen-­          vermehrt davon gesprochen, dass Menschen
                                                      „als xy gelesen“ und „als xy markiert“ werden:
Anhalt hat seine Verfassung modernisiert. Das
                                                      Zum B ­ eispiel wird von „als Migrant*innen oder
muss nun auch auf Bundesebene passieren. Es
                                                      als B
                                                          ­ IPoC gelesenen” Personen gesprochen.
ist an der Zeit, Antirassismus und Demokratie-
                                                    ­Dadurch wird deutlich, dass die Beschreibung
förderung als Staatsauftrag ins Grundgesetz
                                                     von außen geschieht. So wird herausgestellt,
mit aufzunehmen. Gleichzeitig ist eine Novel-        dass dies nicht beschreibt, wie die Menschen
 lierung des Allgemeinen Gleichbehandlungs­          selbst sind oder sich identifizieren, sondern es
 gesetzes erforderlich. Zentral ist hier die         eine gesellschaftliche „Lesart”, eine Interpreta­
­Einführung des Verbandsklagerechts. Nur so          tion der Menschen aufgrund äußerlicher Merk-
 kann Menschen, die ohnehin schon von Dis­           male gibt.
 kriminierung betroffen sind, die emotionale
 Belastung eines Gerichtsverfahrens erspart
 werden.                                           7. Null Toleranz für Rechtsextreme in                 Themenschwerpunkt
                                                   Sicherheitsbehörden und Bundeswehr
6. Schutz für gefährdete Orte
­ausbauen                                           Denn Sicherheitsbehörden sind Teil des Pro-
                                                    blems. Die mehrfachen Drohschreiben an die
In der Folge von Hanau warnen Expert*innen          Frankfurter Anwältin Seda Bas˛ay-Yıldız wurden
vor Nachahmertaten: Rechtsextreme würden            von einem Polizeicomputer aus dem Frank­
durch den Anschlag inspiriert und motiviert,        furter 1. Revier verschickt. Die Zahl der Rechts­
es dem Attentäter gleich zu tun. Bereits jetzt     extremen in der Bundeswehr ist laut Zahlen des
zeigt sich, dass die Expert*innen Recht be-        militärischen Abschirmdienstes im Jahr 2019
hielten. Seit Hanau wurden bereits mehrere         massiv gestiegen. Unabhängig davon, ob der
Shisha-Bars beschossen, der Vorsitzende des        sprunghafte Anstieg tatsächlich auf steigende
Moscheenverbands Ditib angegriffen und eine        Zahlen oder auf eine bis dato unzureichende
                                                                                                         hinsehen 1_2020

Moschee mit Hakenkreuzen beschmiert. Orte,         Überprüfung durch die Sicherheitsbehörden
die als } migrantisch } gelesen werden, sind       ­zurückzuführen ist, ist diese Entwicklung
jetzt besonders gefährdet. Deswegen gilt es,        besorgniserregend. Rechtsextreme Strukturen
sie verstärkt unter Polizeischutz zu stellen.       in der Bundeswehr müssen konsequent auf-
Zudem müssen muslimische und jüdische               gedeckt und verfolgt werden. Zudem müssen
Einrichtungen und ihre Repräsentant*innen in        rassistische Routinen in Sicherheitsbehörden
besonderem Maß geschützt werden — beispiels-        und Bundeswehr durchbrochen werden.
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8. Zivilgesellschaft stärken                          tenz, um rassistisches Verhalten und diskrimi-
                                                      nierende Strukturen zu erkennen. Zivilgesell-
In diesen Zeiten sollte die Stärkung all jener, die   schaftliche Akteure stellen bereits seit Jahren
sich gegen Gruppenbezogene Menschenfeind-             ihre Expertise zur Rassismusprävention zur
lichkeit engagieren, eine Selbstverständlichkeit      Verfügung. Diese muss genutzt und Rassis-
sein. Die Realität sieht anders aus: Mehr als 120     musprävention zur gesamtgesellschaftlichen
Initiativen mussten Ende letzten Jahres gegen         Querschnittsaufgabe werden.
die Umstrukturierung des Bundesprogramms
Demokratie leben! kämpfen. Anstatt ­wertvolle         10. Partizipation von Menschen mit
Projektarbeit leisten zu können, bangten sie um       Einwanderungsgeschichte stärken
ihre Weiterfinanzierung. Ende Februar kam dann
die nächste Hiobsbotschaft. Der Nichtregie-           In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin
rungsorganisation Attac wurde die Gemeinnüt-          Angela Merkel prangern Migrant*innenorganisa­
zigkeit entzogen. Für andere zivilgesellschaft-       tionen an, dass Menschen mit Einwanderungs­
liche Organisationen bedeutet das vor allem           geschichte im gesellschaftlichen Leben ins-
eines: Rechtsunsicherheit. Finanziell hätte der       gesamt und in politischen Institutionen im
Verlust der Gemeinnützigkeit für die meisten          Besonderen massiv unterrepräsentiert sind. Die
Initiativen und Organisationen massive Folgen.        Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisatio-
Bereits im Jahr 2013 forderte der NSU-Untersu-        nen fordert unter anderem einen Patizipations-
chungsausschuss ein Demokratiefördergesetz,           rat mit umfangreichen Befugnissen ähnlich zum
mit dem Antidiskriminierungsprojekte endlich          deutschen Ethikrat. So gelangt Rassismusprä-
langfristig und nachhaltig unterstützt werden         vention endlich dauerhaft ganz oben auf die
können. Ein solches Gesetz ist längst überfällig,     politische Agenda. Dieser Forderung schließt
damit die Rechtsextremismusprävention nicht           sich die Amadeu Antonio Stiftung an. Struktu-
an finanziellen Unwägbarkeiten scheitert. Dar-        reller Rassismus, der den geistigen Nährboden
über hinaus ist eine Novellierung des Gemein­         für Hasskriminalität bildet, kann nur beseitigt
nützigkeitsrechts dringend notwendig.                 werden, wenn Menschen mit Einwanderungs-
                                                      geschichte in allen Sphären des gesellschaft-
9. Diversitätskompetenz                               lichen und politischen Lebens adäquat reprä-
auf die Agenda setzen                                 sentiert sind. Ein Kabinettsausschuss gegen
                                                      Rechtsextre­mismus und Rassismus ist gut, wenn
In Verwaltung und Polizei, Schule und Betrieb,        er nicht reine Symbolpolitik bleibt. Was wir
Zivilgesellschaft und unter Medienschaffenden         brauchen, ist eine systematische Auseinander­
fehlt es häufig schlicht an Diversitätskompe-         setzung mit Rassismus.

                                                                                                        Themenschwerpunkt
                                                                                                        hinsehen 1_2020
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                        Perspek­
                        tiven von
                        Betroffenen

                       „Der Täter hat nicht nur das Leben der ­Menschen
                       ausgelöscht, sondern auch das der Angehörigen
                       langfristig geschädigt“
                       Aynur Satır Akça ist 1984 Opfer eines               ausgesprochen. Jetzt sind weite Fahrten und
                       mutmaßlich rassistisch motivierten Brand­           große Menschenmassen aufgrund Ihrer eige-
                       anschlags geworden. Sie wohnte damals mit           nen Erfahrungen für Sie ja eher abschreckend
                       ihrer 12-köpfigen Familie in der Wanheimer          und mit viel Stress und Bedenken verbunden.
                       Straße 301 in Duisburg. In der Nacht vom            Wie kam es dazu, dass Sie diese Bedenken
                       26. auf den 27. August wurde das vor allem          über Bord geworfen haben und trotz eigener
                       von Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei             Trauma­folgen den Weg nach Hanau auf sich
                       bewohnte Haus in Brand gesetzt. Ihre Mutter         genommen haben?
                       und sechs weitere Familienmitglieder starben
                       in den Flammen. Frau Satır Akça war zu dem          Wie gesagt, ich fühlte so viel Hass und Wut und
                       Zeitpunkt 13 Jahre alt. Nach dem Attentat           konnte kaum still sitzen. Wichtig ist aber auch,
                       von Hanau reiste sie trotz eigener Trauma­          dass mein Mann mich begleitet hat. Ansonsten
                       folgen zu der ersten großen Gedenkveranstal-        hätte ich das niemals geschafft. Zudem waren
                       tung nach Hanau, um den Hinterbliebenen             Ceren und Bengü von der Initiative Duisburg
                       und Angehörigen beizustehen.                        1984 mit dabei. Von denen wurden wir auch ab-
                                                                           geholt und die ganze Zeit begleitet. Es war aber
                       OBR: Vielen Dank, Frau Satır Akça, dass Sie         trotzdem die ganze Zeit eine starke Belastung
                       sich für dieses Interview Zeit genommen haben       für mich. Aber ich hatte irgendwie das Gefühl,
                       und bereit sind, unsere Fragen zu beantworten.      dass ich das machen sollte. Gerade weil ich es
                       Der rassistisch motivierte, rechtsterroristische    so wichtig finde, dass die Menschen, die ihre
                       Anschlag von Hanau ist nun knapp fünf Monate        Familie und Freunde verloren haben, merken,
                       her. Wie präsent ist dieses Ereignis noch bei       dass sie nicht alleine sind.
                       Ihnen?
                                                                           Können Sie uns ein wenig Ihre Eindrücke vom

                                                                                                                                 Perspektiven von Betroffenen
                       Aynur Satır Akca: Ich denke immer noch sehr         21.02.2020 schildern?
                       häufig an Hanau. Als ich von dem Anschlag das
                       erste Mal gehört habe, war ich wirklich sehr        Als wir da ankamen und ich die Menschenmen-
                       traurig und habe einfach nicht v ­ erstanden,       ge gesehen habe, war ich schon sehr einge-
                       ­warum diese Menschen sterben mussten und           schüchtert. Dazu kam dieses seltsame Gefühl,
                        dann kam auch immer mehr diese Wut. Ich            dass genau hier so eine furchtbare Tat passiert
                        konnte kaum in der Wohnung bleiben. Ich            ist. Dass hier Menschen getötet wurden, weil sie
                        musste immer hin- und hergehen und war ein-        nicht in das Weltbild des Täters gepasst haben.
                        fach wütend. Es ist auch heute noch sehr sehr      Hier haben Eltern ihre Kinder verloren. Das war
                        traurig. Ich verstehe einfach nicht, warum diese   ein sehr komisches Gefühl. Die Hinterbliebenen
                        jungen Menschen sterben mussten. Die Wut           gehen ja immer noch die Straße entlang und er-
                       lodert auf jeden Fall immer noch in mir.            innern sich vielleicht, dass sie hier oder dort mit
                                                                           einem jetzt getöteten Menschen Zeit verbracht
                       Wenn ich heute in den Nachrichten von Hanau         haben. Der Täter hat nicht nur das Leben der
                       höre, bin ich sofort voll da und angespannt und     Menschen ausgelöscht, sondern auch das der
                       will auch unbedingt wissen, was da los ist. Auch    Angehörigen langfristig geschädigt.
                       zu Hause ist das immer noch ein Thema zwi-
                                                                                                                                 hinsehen 1_2020

                       schen mir und meinem Mann.                          Als wir dann an dem Platz der Veranstaltung
                                                                           ankamen, kam erstmal die Moderatorin der
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                       Am 21. Februar, zwei Tage nach dem Anschlag,        Veranstaltung zu mir und hat mich umarmt und
                       sind Sie mit Ihrem Mann und Mitgliedern der         gedrückt. Das war alles sehr emotional für alle.
                       Initiative Duisburg 1984 zu der Gedenkveran-        Bevor ich auf die Bühne gegangen bin, hatte
                       staltung nach Hanau gefahren und haben auf          ich sehr große Sorgen und Zweifel, ob ich das
                       der Bühne den Hinterbliebenen Ihre Solidarität      überhaupt schaffe. Gerade meine Vorrednerin
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Candan hat so viel gesagt, auch krasse Sachen.       Der rechtsterroristische Anschlag in Hanau
Da war ich mir dann sehr unsicher. Mir wurde         steht nun leider nicht allein in der deutschen
dann von ihr selbst und anderen ganz viel Mut        Nachkriegsgeschichte. Rassismus ist bei weitem
zugesprochen. Auf der Bühne dachte ich dann          kein Randproblem und tief in der Gesellschaft
kurz, dass ich umkippen werde. Ich habe dann         verankert. Menschen müssen wegen ihrer
auch nicht viel sagen können, aber danach            (vermeintlichen) Herkunft sterben und auch
­haben ganz viele Leute zu mir gesagt, wie toll      Menschen, die sich gegen Rassismus engagie-
 ich das gemacht habe. Allgemein konnte ich          ren, werden immer wieder angegriffen. Wie
 leider nicht all das sagen, was ich sagen wollte.   haben Sie — seitdem Sie mit Ihrer Familie die
                                                     Türkei verlassen haben — bis heute das Leben in
Sie selbst sind ja auch Betroffene eines mut-        Deutschland wahrgenommen?
maßlich rassistischen Anschlags. Nun haben Sie
beschrieben, wie solidarisch die Veranstaltung       Ich bin hier zur Schule gegangen, ich bin hier
in Hanau ablief. Haben Sie selber damals 1984        groß geworden, ich fühle mich hier zu Hause.
ähnliche Erfahrungen gemacht?                        Doch dieser Rassismus um mich herum ist
                                                     furchtbar. Auch wenn ich mich hier zu Hause
Nein. Leider gar nicht. Ich hätte mir ähnliche       fühle, habe ich Angst. Und das nicht nur ab
Unterstützung gewünscht. Unser Fall wurde ja         und zu, sondern ich habe an sich immer Angst,
mehr oder weniger totgeschwiegen. Über Ras-          wenn ich auf die Straße gehe. Manchen Men-
sismus hat ja eh keiner reden wollen. Ich habe       schen auf der Straße sehe ich einfach richtig
zudem über mehrere Tage im Krankenhaus ja            an, dass sie mich hier nicht wollen. Dass sie
nicht mal erfahren, dass meine Mama und ein          mich rassistisch anschauen. Daher bleibe ich
Teil meiner Geschwister gestorben sind, weil         auch meistens zu Hause, damit mir nichts pas-
niemand es mir sagen wollte. Hätten sich zu          siert. Mein Mann muss mich manchmal richtig
dem Zeitpunkt und auch danach die Politik oder       überreden, damit ich mit ihm raus gehe. Es ist
andere Leute für unser Schicksal interessiert,       zwar sehr schade, aber leider ist es so, dass ich
hätten ich und meine Geschwister vielleicht          mich da, wo ich zu Hause bin, nicht sicher fühle.
auch psychische Unterstützung bekommen. So
wurden wir 35 Jahre mit dem, was wir erlebt          Wir danken Frau Satır Akça für das Interview
haben, mehr oder weniger alleingelassen. Mit         mit dem Beratungsteam der OBR.
allen Folgen für unsere Gesundheit. Eigentlich
hätte — wie in Hanau — ganz Duisburg sofort          Weiterführende Informationen zur Initiative
hören sollen, was passiert ist.                      Duisburg 1984 finden Sie hier.

„Wir wurden allein gelassen“
Dieser Vorwurf musste in der Geschichte der
                                                      } Initiativen, die den Fokus ihrer politischen und

                                                                                                           Perspektiven von Betroffenen
Bundesrepublik Deutschland leider immer wie-
der ausgesprochen werden. Ausgesprochen               öffentlichen Arbeit auf die Perspektiven von
von Menschen, die in einem Land ihr ­Zuhause          Betroffenen ausrichten, nennen wir — in Ab-
                                                      grenzung zu anderen Initiativen — Betroffenen­
gefunden haben und dennoch aufgrund ihrer
                                                      initiativen.
vermeintlichen Herkunft von rassistischer
Diskriminierung und Gewalttaten bis hin zu
Morden betroffen sind. Nach dem rechts­terro­        Betroffeneninitiativen, die sich nach trauma-
ristischen, rassistisch moti­vierten ­Anschlag       tisierenden Ereignissen für die Rechte der
in Hanau am 19. Februar wurde schnell deut­          Betroffenen und/oder Hinterbliebenen ein-
lich, wie enorm wichtig das Vorhanden­sein           setzen, sind heutzutage aus der politischen
einer } Betroffenen­initiative vor Ort direkt        Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken. Sie alle
nach einer so grausamen Tat ist. Eine dieser         eint, dass sie die Perspektiven von Betroffe-
Betroffenen­initiativen ist die Initiative Duis-     nen in den gesellschaftlichen und individuellen
burg 1984. Sie gründete sich 2018 in Folge           Aufarbeitungsdiskurs einbringen. Innerhalb
eines wahr­scheinlich rassistischen Brandan-         der Politik und dem Großteil medialer Bericht-
schlags im Jahre 1984. Diese zeigte sich auch        erstattung wird klassischerweise das Täter*in-
in Folge des rechtsterroristischen Anschlags         nenumfeld bis ins kleinste Detail beleuchtet und
                                                                                                           hinsehen 1_2020

in Hanau aktiv soli­darisch mit den Betroffenen.     Nachbar*innen, Freund*innen und Familie der
Die Vorstellung der Initiative Duisburg 1984         Täter*innen können öffentlich ihr Erstaunen
verstehen wir auch als ein Plädoyer für die          darüber ausdrücken, dass diese oder jene Per-
wichtige Arbeit und die notwendige Unterstüt-        son zu einer solchen Tat fähig war. In Talkshows
zung von Betroffe­nen­initiativen. Der folgende      sitzt dann bei den aufgekommenen Diskus-
Text gibt die Sicht der Initiative wieder (kennt-    sionen über Rassismus die klassische weiße
lich gemacht durch kursiv gesetzte Zitate).          Männerriege, mittendrin ein Abgeordneter der
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AfD und kaum ein Mensch, der negativ von             Das zentrale Selbstverständnis der Initiative
Rassismus betroffen ist oder tatsächlich eine        Duisburg 1984 ist, dass sie stets auf der Seite
Fachexpertise auf­weisen kann, kommt zu Wort.        der Betroffenen steht, ihnen zuhört, Wissen
Betroffeneninitiativen hingegen verzichten           vermittelt und gleichzeitig das Expert*innen­
zwar nicht auf die Skandali­sierung der Tat als      wissen der Betroffenen sieht und schätzt. Sie
politisches Mittel, jedoch immer unter Einbe-        sucht zudem nach Gedenkformen, die denen
zug der Stimmen der direkt Betroffenen, der          der Betroffenen entsprechen, und vernetzt die
Hinterbliebenen oder zumindest der indirekt          Initiative mit weiteren Menschen, die Gewalt­
Betroffenen.                                         erfahrungen durchleben mussten. „Wenn
                                                     Betroffene sich untereinander vernetzen,
Die Initiative Duisburg 1984 gründete sich im        empowern sie sich als Peer-Group in einem ge-
Jahr 2018, nachdem eher durch Zufall bei einer       schützten Rahmen, der der beste Heilungs- und
Recherche zu einer anderen Thematik das              Politisierungsort ist. Wenn es möglich ist ohne
Ereignis rund um den Brandanschlag 1984 ins          Hemmungen Fragen zu stellen und zu lernen,
Auge fiel. Die Mitglieder der späteren ­Initiative   dann findet an der Stelle kollektive Selbst­
hatten trotz ihrer zum Teil Duisburger Vergan-       ermächtigung statt.“
genheit keinerlei Kenntnis über den Vorfall.
Während intensiver Recherchen wurden immer           Auch die Mitglieder der Initiative Duisburg
mehr Widersprüche deutlich, die an der be-           1984 waren und sind nach dem Anschlag in
haupteten Tat­motivation einer unpolitischen         Hanau schwer erschüttert. Gleichzeitig betonen
Pyromanie zweifeln ließen und auf Rassismus          sie, dass ein solcher Anschlag nicht wirklich
hinweisen. Für alle Beteiligten der Initiative war   unerwartet kam. Dass es in Deutschland ein
dabei von vornherein klar, dass eine Aufklärung      Rassismus-Pro­blem gibt, wird nicht nur durch
der Hintergründe des Brandanschlags von 1984         Taten eines rechtsextremen Terroristen deut-
nur zusammen mit den Betroffenen erfolgen            lich, sondern auch in den alltäglichen Äußerun-
konnte.                                              gen und Handlungen (bzw. dem Nicht-­Handeln)
                                                     der breiten Mehrheitsgesellschaft. „Am 19.
„Die zivilgesellschaftliche Aufarbeitung, die        Februar 2020 schunkelten viele Menschen
Anklage gegenüber der Politik, den Sicherheits-      in Deutschland in den Karneval. Rassismus­
behörden und Medien findet erst heute durch          betroffene waren hingegen in einem kollekti-
die Arbeit der Initiative und der Betroffenen        ven Schockzustand. Der Anschlag hat Brüder,
statt. Erst das Vertrauen, die Solidarität und das   Schwestern, Freunde und Kinder getroffen und
Einverständnis der Betroffenen hat unsere Initi-     neun konkrete Leben und Familien zerstört.“
ative dazu ermächtigt, eine zivilgesellschaftliche   Daher war es für die Initiative recht schnell
Intervention, Aufarbeitung und Erinnerungs-          klar, dass sie am 21.02. zu der ersten großen
politik zu beginnen, die im Sinne und aus der        Gedenkveranstaltung nach Hanau fahren wird.
Perspektive der Betroffenen organisiert wird“.       Sie wollten den Betroffenen und Hinterbliebe-
Nicht nur bei der Aufarbeitung und Erinnerung        nen vor Ort solidarisch zur Seite stehen. „Alle
in Folge des Brandanschlags sieht die Initiative     vor Ort in Hanau und die, die in ihren Gedan-

                                                                                                        Perspektiven von Betroffenen
große Versäumnisse. „Gesellschaftspolitische         ken bei den Betroffenen waren, versuchten an
Konsequenzen werden selten gezogen, weil             diesem Tag nur eines: Ihre tiefe Angst, Trauer
rassistische Gewalttaten als Einzelfälle abgetan     und Wut in ein solidarisches Zusammensein
oder allgemein entpolitisiert werden. Die Betrof-    umzu­wandeln und sich zu organisieren. Das
fenen wissen oft deutlich besser, mit welcher        zeigt nochmal, wie wichtig die Vernetzung und
Form der Gewalt sie konfrontiert werden. Ihnen       Verbindung antirassistischer Initiativen und
wird aber weder zugehört, noch wird in ihrem         migrantischer Kämpfe ist, die sich gemeinsam
Sinne ermittelt“. Des Weiteren prangert die          mit Betroffenen rassistischer Gewalt für Ge-
Initiative Duisburg 1984 an, dass die Betroffe-      rechtigkeit, Aufklärung und würdiges Gedenken
nen auch bei der Last, die sie zu tragen haben,      stark machen.“
nicht genügend unterstützt werden. Vor allem
die hohen Hürden, einen ausreichenden Über-          In Hanau konnten die Mitglieder der Initiative
blick über ihre Rechte zu erlangen — während         selbst erfahren, was Solidarität nach einer Tat
der gleichzeitigen Belastung durch die trauma-       ausmachen und Betroffene stärken kann. Ins-
tischen Gewalterfahrungen — beurteilt die Initia-    besondere unter dem Aspekt, dass rassistische
tive als äußerst problematisch. Die Aufgabe die      Gewalt auch immer } Botschaftstaten sind, ist
Betroffenen hierbei bestmöglich zu unterstüt-        ein breites solidarisches Bündnis für sie von so
                                                                                                        hinsehen 1_2020

zen, können Betroffeneninitia­tiven nicht allein     enormer Bedeutung. Für ihre eigene Arbeit war
bewältigen. Hier ist für die Initiative Duisburg     Hanau nochmal ein zusätzlicher Antrieb sich in
1984 die Zusammenarbeit mit der Opferbe-             Zukunft weiter zu vernetzen, um dann zu „ver-
ratung Rheinland sehr wichtig, da hierdurch          suchen gemeinsam zu verstehen, was die Muster
der notwendige Kontakt zu Behörden und ein           und Strukturen der Tat sind, was möglicherweise
großer Teil einer psychosozialen Begleitung der      Parallelen zum eigenen Fall sind. Während die
Betroffenen professionell abgedeckt ist.             Behörden weiterhin auf dem rechten Auge blind
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sind und keine ganzheitliche antirassistische       Neben der Initiative Duisburg 1984 nahmen
Aufklärung leisten, können und müssen Betroffe-     noch viele weitere Initiativen an der Gedenk-
neninitiativen die ganze Wahrheit kritisch äußern   veranstaltung am 21.02. in Hanau teil und viele
und Rassismus beim Namen nennen.“                   sind weiterhin unterstützend vor Ort aktiv.
                                                    Auch wenn es den Hinterbliebenen des Brand­
 } Botschaftstaten = Bei rassistischen, antisemi­   anschlags von 1984 verwehrt blieb, in Hanau
 tischen und rechtsextremen Gewalttaten ­handelt    konnten die Betroffenen zumindest partiell die
 es sich um sogenannte Botschaftstaten. Die         Solidarität einiger Menschen erleben.
 Taten treffen gleichermaßen die direkt Betroffe-
 nen wie auch die Gruppe, für die sie stehen. Die   Letztendlich bleiben es jedoch zu wenig. ­Daher
 Angegriffenen werden als Repräsentant*innen        wird der Kampf der Betroffeneninitiativen
 einer marginalisierten Gruppe wahrgenommen         weiter­gehen müssen. Die Initiative Duisburg
 und deshalb angegriffen. Dies führt zu Ohn-        1984 hat dies kurz nach dem Anschlag in Hanau
 machtsgefühlen, Unsicherheit und Angst bei         auch auf ihrer Facebook-Seite deutlich ge-
 den Betroffenen und Zeug*innen sowie bei der       macht. „Die Jugendlichen in Hanau wohnen in
 gesamten marginalisierten Gruppe (kollektive       denselben Hochhäusern, in denen auch wir in
 Viktimisierung). Somit übermitteln die Taten       Duisburg wohnen. Die Geschichte der Migration
 eine „Botschaft“: Sie sollen bei der marginali-    und des Rassismus verbindet uns als Menschen,
 sierten Gruppe Angst und Schrecken verbrei-        die vom Täter gemeint waren. Deshalb halten
 ten. Daher führen diese Gewalttaten nicht nur      wir migrantifaschistisch zusammen. Das ist das
 zu physischen und psychischen Verletzungen,        politische Ziel!“
 sondern gelten auch als politische Gewalt im
 Kampf um Macht und Herrschaft in der Gesell-       Vielen Dank an die Initiative Duisburg 1984
 schaft. Ziel ist es, Einzelne und Gruppen aus
                                                    für den anregenden Austausch mit dem
 der Gesellschaft auszuschließen, diese politisch
                                                    ­Beratungsteam der OBR und die bereichernde
 zu bekämpfen und ihnen die Berechtigung zu
                                                     Perspektive auf ihre Arbeit als Betroffenen­
 einem gleichberechtigten Leben abzusprechen.
                                                     initiative.
 Für viele Betroffene gehört diese psychische
 und physische Gewalt zum Alltag, während
 weiße Menschen oft ratlos schweigen, die Taten
 damit dulden oder auch legitimieren und die
 Ange­griffenen letztendlich allein lassen. (vgl.
 Bell­tower.News der Amadeu Antonio Stiftung:
 Rechte Gewalt/Botschaftstaten)

Nicht länger ohne uns, sondern mit uns!
­Keupstraße ist überall!

                                                                                                       Perspektiven von Betroffenen
Am 9. Juni 2004 explodierte eine Nagel­bombe        überlassen. Keine offiziellen Vertreter*innen
auf der Keupstraße in Köln-Mülheim, einer über-     aus der Politik oder den Ermittlungsbehörden,
regional bekannten Geschäftsstraße, die mehr-       kein sozialer Dienst kam, um sich nach ihnen zu
heitlich von Migrant*innen bewohnt wird. Über       erkundigen oder Hilfe anzubieten. Ein Betroffe-
25 Menschen wurden verletzt, unzählige weitere      ner beschreibt die Folgen so: „Dieser psychische
schwer traumatisiert. Es war Zufall, dass bei       Druck ruinierte mein Leben. Mein Sohn war da-
dem Anschlag niemand ums Leben kam. Anstatt         mals drei Jahre alt, ich konnte mich nicht mehr
in alle Richtungen umfangreich zu ermitteln,        um ihn kümmern. Ich konnte nicht mehr mit
schloss der damalige Bundesinnenminister Otto       meiner Frau sprechen.“ (vgl. S. 2018)
Schily nur einen Tag nach der Tat einen politisch
motivierten Anschlag aus (vgl. ARD-Tagesschau       Dieser „Anschlag nach dem Anschlag“, wie
2004). Die betroffenen Menschen wurden nicht        er von den Betroffenen selbst genannt wird,
als Opfer eines versuchten Mordes wahrge-           endete erst am 04.11.2011, als die wahren Tä-
nommen, sondern es wurde ihnen von Beginn           ter*innen, Mitglieder eines Neonazinetzwerks
an unterstellt, selbst Drahtzieher*innen des        mit dem Namen „Nationalsozialistischer Un-
                                                                                                       hinsehen 1_2020

Bombenanschlages zu sein. Es war die Rede von       tergrund“(NSU), enttarnt wurden. Das war der
organisierter Kriminalität, Schutzgelderpressung    Moment, in dem sich endlich überall Menschen
und anderem. Die Überlebenden des Anschlages        mit den Überlebenden der Bombenanschläge
wurden über Jahre bespitzelt, immer wieder zu       und den Angehörigen der Mordopfer solidari-
Verhören geladen, beschuldigt, von staatlichen      sierten, Aufklärung und Konsequenzen forder-
Behörden unter Druck gesetzt, nach rassisti-        ten. Die erste Soli-Demonstration in nächster
schen Stereotypen stigmatisiert und sich selbst     Nähe zur Keupstraße fand allerdings noch ohne
12

die Einbeziehung der Betroffenen statt. Aus         Opfer. Die Familien der NSU-Mordopfer und
ersten direkten Begegnungen auf der Demo            die Betroffenen aus der Keupstraße gingen
entwickelten sich Gespräche und persönliche         gestärkt aus ihrem Auftritt als Zeug*innen
Kontakte. Aus der Forderung der Betroffenen         im Verfahren ­heraus, auch wenn ihnen klar
„Nicht länger ohne uns, sondern mit uns!“           war, dass keine ihrer drängenden Fragen
enstand die Gruppe „Dostluk Sineması“. Nach         beantwortet werden würde. Das Gericht kon-
gemeinsam organisierten Vortragsreihen und          zentrierte sich nämlich ausschließlich auf die
Diskussionsrunden gründete sich im November         bekannte Trio-These von nur drei Mitglieder
2013 die Initiative „Keupstraße ist überall“. Be-   des NSU und darauf, der e   ­ inen Täterin die
troffene und solidarische Menschen machten es       Mittäterinnenschaft nachzuweisen. Richter und
sich zum Ziel, die betroffenen Nebenkläger*in-      Genera­lbundesanwaltschaft weigerten sich
nen der Bombenanschläge aus der Keupstraße          systematisch, berechtigten Fragen der Neben-
und der } Probsteigasse (2001) im NSU-Ver-          klage-Anwält*innen nachzugehen, welche Rolle
fahren vor dem Oberlandesgericht München            der Staat und seine Ermittlungsorgane bei
zu unterstützen und zu begleiten. Das geschah       dem Aufbau des Neo­nazinetzwerkes spielten,
in enger Anbindung an die Beratungsstelle für       wie viel s­ truktureller Rassismus im Handeln
Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer    der Behörden lag und liegt und mit welcher
Gewalt im Rheinland (OBR), die sich um die          ­Systematik Taten vertuschten und Akten ge-
psychosoziale Betreuung und Begleitung der           schreddert wurden und in welchem Ausmaß der
Betroffenen während ihrer Zeugenauftritte            Staat bei der Aufklärung versagt hat. Auch die
und auch in anderen belastenden Momenten             fünf Angeklagten im NSU-Prozess verweiger-
kümmerte. Bislang lag der Fokus der Öffentlich-      ten den Betroffenen jeglichen Hinweis darauf,
keit und der Medien vor allem auf den Täter*in-      ­warum gerade die Keupstraße und die Probstei­
nen. Um auch das zu ändern, rief die Initiative       gasse als Anschlagsziel ausgewählt wurden,
Keupstraße den „TagX“ aus und begann bun-             warum das ­Terrornetzwerk ausgerechnet ihren
desweit zu mobilisieren.                              Vater, Mann, Sohn oder Bruder ermordete. Den-
                                                      noch hofften alle NSU-Betroffenen darauf, dass
 } Probsteigasse (2001) = Am 19. Januar 2001          das Gericht und die Parlamentarischen Unter-
 explodierte in dem Lebensmittelgeschäft              suchungsausschüsse die Aufklärung vorantrei-
 einer deutsch-iranischen Familie in der Kölner       ben würden.
 Probsteigasse eine Christstollendose, die einen
 Sprengsatz enthielt. Die Dose mit dem Spreng-      Als im Juli 2018 das Urteil verkündet und unter
 satz wurde zuvor von einem als Kunde auftre-       dem Beifall von anwesenden Neonazis zwei der
 tenden Täter in dem Laden zurückgelassen. Der      Angeklagten aus der Untersuchungshaft in die
 Sprengsatz detonierte als die damals 19 jährige    Freiheit entlassen wurden, starb auch diese
 Tochter des Ladenbesitzers die Dose öffnete. Sie   letzte Hoffnung. Was aber gewachsen ist, ist ihr
 erlitt schwerste Verbrennungen am Oberkörper       Selbstbewusstsein und das Wissen darum, dass
 und im Gesicht.                                    sie nicht mehr alleine sind. Immer mehr Bewe-
                                                    gungen von Opfern rassistischer und rechter
 Ein rassistisches Tatmotiv und ein rechtsextre-

                                                                                                       Perspektiven von Betroffenen
                                                    Gewalt kämpfen selbst für ihre Rechte, denn
 mer Hintergrund der Tat wurden von der Kölner
                                                    das Menetekel der NSU-Betroffenen „Solange
 Polizei schnell ausgeschlossen. Die Ermittlungen
 zu der Tat konzentrierten sich vor allem auf
                                                    die wahren Täter nicht gefasst und der Justiz
 das Umfeld der Familie. Die Verbindungen zum       übergeben worden sind, werden meine Ängste
 Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen sind         weiterbestehen. Solange der Staat ihnen Tole-
 bis heute ungeklärt. In einem Video hat sich der   ranz entgegenbringt, werden sie ungestört tun
 NSU später zu der Tat bekannt.                     und lassen, was sie wollen“ (vgl. Behrens 2018),
                                                    dass Neonazis weiter morden werden, wenn
 Der Anschlag in der Probsteigasse reiht sich       der NSU-Komplex juristisch und institutionell
 ein in eine Reihe von Morden und Bombenan-         folgenlos bleibt, hat sich leider bewahrheitet.
 schlägen des rechtsterroristischen Netzwerks       Schon bevor diese Worte gesprochen waren,
 „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). In     hatten sich zig Neonazis positiv auf den NSU
 Köln wurden insgesamt zwei Bombenanschläge         bezogen. In der ARD-Ausgabe der „Die Story:
 (Probsteigasse 2001, Keupstraße 2004) verübt.      V-Mann Land“ vom 23. April 2015 sagte ein
 Die Mittäterschaft von Kölner Neonazis ist bis     ehemaliger V-Mann: „Wir haben die Nazi-Szene
 heute ungeklärt. (vgl. Probsteigasse.noblogs.
                                                    aufgebaut.“ Wir wissen heute, dass diese mit
 org: Hintergründe)
                                                    Netzwerken bei der Bundeswehr vernetzt ist,
                                                                                                       hinsehen 1_2020

                                                    deren Mitglieder geheime Waffen- und Muni-
Betroffenen-Initiativen in ganz Deutschland         tionslager in ganz Deutschland aufbauen. Wir
vernetzten sich zu dem bundesweiten Bündnis         wissen, dass in einer Frankfurter Polizeistation
„NSU-Komplex auflösen“. Am 29.01.2015 fand          der sogenannte „NSU 2.0“ aktiv geworden ist
der Aktionstag in München vor dem Ober­             und dass der Politiker Walter Lübcke von Neo-
landesgericht statt und erstmals richtete sich      nazis ermordet wurde, die zum NSU-Komplex
der Blick der Öffentlichkeit auf das Leid der       gehören.
13

Wir trauern um unsere toten Geschwister,              Mahnmals darf nicht länger ignoriert werden.
Eltern und Kinder, die in Halle und Hanau kalt-       Dieses wäre ein wichtiges öffentliches Zeichen
blütig von Neonazis ermordet wurden, und um           gegen nazistischen Tendenzen und würde gleich-
Menschen, die, wie George Floyd, durch rassis-        sam zu einer Aufarbeitung rassistischer Gewalt
tische Polizeigewalt ums Leben kamen. Wir ver-        beitragen. Aktuell hat die Stadt die Möglichkeit,
gessen auch nicht Walter Lübcke. Ebenso wenig         das Gelände zu kaufen und k ­ önnte endlich den
wie Oury Yalloh, dessen Familie eine Wieder-          Stimmen der Betroffenen der Keupstraße und
aufnahme des Verfahrens gegen seine Mörder            der Probsteigasse ihren Platz in der Stadt ge-
verweigert wird. Und auch nicht den jungen Sy-        ben. Lebendiges Erinnern braucht Orte, um eine
rer Amed Ahmad, der widerrechtlich inhaftiert         Möglichkeit der Heilung zu entfalten.
wurde und am 29.09.2018 nach einem Brand in
seiner Zelle verstarb. Sein Vater sagte in einer      „Rassismus stellt eine Krankheit dar. [...] Ich
Rede, frei übersetzt: „Ihr seid alle die Väter von    glaube, die Ärzte dieser Krankheit sind wir hier.
Amed. Er ist euer aller Kind. Wir alle sind seine     Diese Ärzte müssen diese Krankheit behandeln,
Geschwister.“ Vor 2011 hatte nur eine Handvoll        damit sie sich nicht weiter ausbreitet.“
Menschen den Betroffenen geglaubt, dass es            (vgl. Muhammet 2018)
Rassismus war, der ihre Liebsten tötete. „Wenn
man noch nicht einmal in der Lage ist, das Leid,      Her yer Keupcaddesi! Halle und Hanau sind
welches uns zugefügt wurde, als ein geteiltes         überall!
und gemeinsames Leid zu betrachten und dies
in die gesamte Gesellschaft zu tragen, wie sollen     Weitere Informationen zur Initiative K
                                                                                           ­ eupstraße
wir dann überhaupt dieses Leid überwinden?“           ist überall finden Sie hier.
(vgl. Bozay 2016).
                                                      Quellen:
Um die rassistischen Strukturen aufzubrechen,         ARD-Tagesschau (10.06.2004): „Die Erkenntnisse, die unsere
die so viel Schmerzen verursacht haben und            Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf
                                                      einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles
noch verursachen, müssen wir aus dem ge-              Milieu, aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, so
meinsam erworbenen Wissen über Rassismus              dass ich eine abschließende Beurteilung dieser Ereignisse jetzt
Perspektiven schaffen, die uns zeigen, wie er         nicht vornehmen kann.“
überwunden werden kann. Unentbehrlich für             S., Arif (2018): Solange die wahren Täter nicht gefasst worden
das Gelingen ruft eine Erkenntnis uns schon           sind, werden meine Ängste weiterbestehen. Plädoyer vom 28.
                                                      November 2017, S. 161ff. In: Behrens, Antonia von der (2018):
lange zu: unite!                                      Kein Schlusswort: Nazi-Terror, Sicherheitsbehörden, Unterstüt-
                                                      zernetzwerk. Plädoyers im NSU-Prozess. Hamburg: VSA Verlag.
Eine Möglichkeit wäre, endlich das NSU-Mahnmal        Bozay, Kemal/Aslan, Bahar/Mangitay, Orhan/Özfirat, Funda (Hg.)
in Köln zu realisieren, für das schon seit mehreren   (2016): Die haben gedacht, wir waren das. MigrantInnen über
Jahren migrantische Organisationen, antifaschis-      rechten Terror und Rassismus. PapyRossa Verlag: Köln.
tische Gruppen, Stadtteilinitiativen und engagier-    Ayazgün, Muhammet (2017): Abschreckend wirkt nicht nur die
                                                      Strafverfolgung, sondern auch die Aufklärung. Plädoyer vom
te Einzelpersonen kämpfen. Es braucht Erinne-         28. November 2017, S. 181ff. In: Behrens, Antonia von der (2018):
rungsorte wie diesen, die sich an den Wünschen        Kein Schlusswort: Nazi-Terror, Sicherheitsbehörden, Unterstüt-

                                                                                                                          Perspektiven von Betroffenen
der Betroffenen o ­ rientieren. Die Bedeutung eines   zernetzwerk. Plädoyers im NSU-Prozess. Hamburg: VSA Verlag.

                                                                                                                          hinsehen 1_2020
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                             Beratung
                             der OBR

                            Rassistische Gewalt im Wohnumfeld
                            nimmt erschreckende Ausmaße an
                            Rassistisch motivierte Gewalt im Wohnumfeld          Obwohl diese Vorfälle tagtäglich passieren,
                            hat sich inzwischen zu einem Schwerpunkt             erfahren die Betroffenen leider nur selten die
                            unserer Beratungsarbeit bei der OBR ent-             notwendige solidarische Unterstützung durch
                            wickelt: Fast zwei Drittel aller Betroffenen,        Wohnungsgesellschaften, Vermieter*innen oder
                            die sich 2019 an uns mit der Bitte um Unter-         andere Mieter*innen. Viele schauen weg und
                            stützung wandten, berichteten von zumeist            wollen sich nicht positionieren — deshalb sehen
                            lange andauernden Anfeindungen in ihrer              die Betroffenen oft nur in einem Wegzug und
                            unmittel­baren Nachbarschaft, die schließlich in     Wohnungswechsel eine für sie mögliche Lö-
                            massiven Bedrohungen und versuchten oder             sung. Mit anderen Worten: Sie werden vertrie-
                            ­vollendeten körperlichen Angriffen eskalierten.     ben und die Täter*innen erreichen das, was sie
                             Dass als Migrant*innen oder } BIPoC gelesene        wollten!
                             Menschen in ihrem Wohnumfeld rassistischen
                             Beleidigungen, Bedrohungen und ­gewaltsamer         Wenn die massiven, rassistisch motivierten
                             Angriffen ausgesetzt sind, ist aus unserer          Anfeindungen und gewaltsamen Angriffe bei
                             Sicht eine erschreckende Realität, die fast zur     der Polizei zur Anzeige gebracht werden, dann
                             ­„Normalität“ geworden ist.                         werden sie zumeist als „unpolitische Nachbar-
                                                                                 schaftskonflikte“ gewertet und finden keinen
                                                                                 Eingang in die offizielle Statistik der politisch
                             } PoC = Der Begriff „People of Colour“ (PoC)        motivierten Gewalt. Zudem werden Betroffe­ne
                             ist eine übergreifende Selbstbezeichnung von        oft an Schlichtungsstellen verwiesen, in denen
                             Menschen mit Rassismuserfahrungen, die nicht
                                                                                 die Betroffenen und die Täter*innen als gleich-
                             als weiß gelesen werden oder sich als weiß po-
                                                                                 wertige Verhandlungspartner*innen gesehen
                             sitionieren. (vgl. NdM, Glossar: People of Color
                                                                                 werden. Die Betroffenen sollen dort mit Men-
                             (PoC))
                                                                                 schen in Verhandlung treten, die sie rassistisch
                             } BIPoC = Die Abkürzung BIPoC steht für Black       beleidigt und ihnen Gewalt angedroht oder
                             (Schwarze), Indigenous (Indigene) und People of     angetan haben. Solch ein Setting ist für die
                             Colour und ist somit eine Sammelbezeichnung.        Betroffenen unzumutbar. Hierbei ist besonders
                             (vgl. NdM, Glossar: People of Color (PoC))          kritisch zu betrachten, dass oftmals eine soge-
                                                                                 nannte } „Opfer-Täter-Umkehr“ stattfindet.
                             } Schwarz = Der Begriff Schwarz ist eine Selbst-
                             bezeichnung von Menschen mit Rassismus­
                             erfahrungen. Dabei handelt es sich nicht um die      } Opfer-Täter-Umkehr oder Opferbeschuldi-           Beratung der OBR
                             Beschreibung einer Hautfarbe, sondern um die         gung (engl. victim blaming oder blaming the
                             politische Selbstbezeichnung, die die gesell-        victim) bezeichnet die Schuldzuweisung für
                             schaftliche Zugehörigkeit beschreibt. Um dies zu     einen Angriff auf Betroffene (sog. Opfer) selbst.
                             verdeutlichen wird Schwarz groß geschrieben.         Häufig inszenieren sich die Täter*innen selbst
                             (vgl. NdM, Glossar: Schwarze Deutsche)               als vermeintliche Opfer. Dies führt dazu, dass
                                                                                  Betroffenen eine (Teil-)Schuld an dem Übergriff
                             } weiß = Der Begriff weiß bezeichnet eine            durch ihr eigenes Verhalten oder unterlassenes
                             gesellschaftliche Norm und Machtposition und         Handeln zugeschrieben wird. Auf diese Weise
                             beschreibt somit die gesellschaftliche Zugehö-       werden Betroffene selbst für den Angriff und
                             rigkeit und Privilegien einer Person. Der Begriff    dessen Folgen verantwortlich gemacht. In Folge
                             wird als Gegensatz zu den Begriffen Person of        der Schuldzuweisung fühlen sich die betroffe­
                             Color (PoC), Black Indigenious Person of Color       nen Personen häufig mit der Verletzung, ihrem
                                                                                                                                      hinsehen 1_2020

                             (BIPoC) oder Schwarz verwendet. Da es hier           Gefühl von Ohnmacht und Wut und den Be-
Icon: flaticon.com/monkik

                             ebenfalls nicht um die Hautfarbe einer Person        schuldigungen allein gelassen. Dies kann zu
                             geht, wird der Begriff klein und kursiv geschrie-    einer verstärkten psychischen Belastung, einer
                             ben. (vgl. NdM, Glossar: weiße Deutsche)             Intensivierung des direkten Opferwerdens sowie
                                                                                  Traumafolgestörungen führen.
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