Hin sehen - Opferberatung Rheinland
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
hin Nr. 1 August 2020 sehen Halbjahresmagazin der Opferberatung Rheinland WW Themenschwerpunkt����������������� 2 Was hat Hanau mit mir zu tun? WW Perspektiven WW Bildungsarbeit der OBR�����������18 von Betroffenen�������������������������� 7 WW Service�����������������������������������������22 WW Beratung der OBR��������������������� 12 WW Rechte Gewalt in NRW�������������16 OBR Opferberatung Rheinland
2 XXXXXX Themen schwerpunkt Was hat Hanau mit mir zu tun? Editorial und den Anschlag am 09. Januar 2001 in der Probsteigasse bis hin zum Nagelbombenan- Liebe Kolleg*innen, Leser*innen und schlag am 09. Juni 2004 in der Keupstraße in Interessierte, Köln und der Ermordung von Mehmet Kubaşık am 04. April 2006 in Dortmund. Darüber vor Ihnen liegt das erste Halbjahresmagazin hinaus erleben zahlreiche Menschen tagtäg- namens Hinsehen der Opferberatung Rhein- lich rassistisch und antisemitisch motivierte land (OBR). Angriffe und Gewalttaten. Viele dieser Taten gelangen nicht an die Öffentlichkeit. Doch Hinsehen — dieser Titel unseres Magazins reihen sie sich ein in die länger werdende wurde aus zwei unterschiedlichen Gründen Liste rassistischer, antisemitischer und rech- gewählt: ter Gewalttaten, deren gesamtes Ausmaß wir derzeit nur erahnen können. Mit dem Schwer- Zum einen möchten wir auf die Vielzahl von punktthema „Was hat Hanau mit mir zu tun?“ rechten, rassistischen, antisemitischen und wollen wir den Bogen spannen zwischen weiteren menschenverachtenden Gewalttaten dem Gedenken an die Opfer, Überlebenden in Nordrhein-Westfalen und Deutschland hin- und Hinterbliebenen, der gesellschaftlichen weisen, da diese viel zu oft übersehen werden. Aufarbeitung des rassistischen Anschlags Demnach verstehen wir das bewusste Hinse- in Hanau und dem Kampf gegen Rassismus, hen als Aufforderung, sich dem erschrecken- Antisemitismus und rechte Gewalt. In unserer den Ausmaß von Gewalt als einem gesamt- Arbeit als Beratungsstelle für Opfer rechter, gesellschaftlichen Problem zu stellen. Zum rassistischer und antisemitischer Gewalt im anderen möchten wir eine Plattform schaffen Rheinland fordern wir die Stärkung von und für Perspektiven von Betroffenen dieser die Solidarisierung mit Betroffenen sowie eine Gewalt, indem die Arbeit und die Forderungen klare Haltung und ein konsequentes Handeln von Selbstorganisationen, Betroffeneninitia für unsere vielfältige Gesellschaft. Rassismus tiven und engagierten Akteur*innen fokus- und rassistische Anschläge wie in Hanau be- siert werden. An dieser Stelle ist das Hinsehen treffen uns alle — wenn auch auf unterschied und Hinhören von wichtiger Bedeutung, denn liche Weise. es gibt zahlreiche und zunehmend mehr emanzipatorische Bewegungen, Stimmen und Wir möchten uns an dieser Stelle ganz herz- Beiträge. Da diese jedoch oft nicht oder kaum lichst für das Vertrauen und die zur Ver- gesehen und gehört werden, möchten wir fügung gestellten Artikel von Initiativen, mit diesem Magazin zusätzlich einen Raum Betroffenen und externen Autor*innen, für schaffen, indem diese Perspektiven und Stim- ihre Perspektiven und Worte in dieser ersten Themenschwerpunkt men gesehen, gehört, gelesen und verbreitet Ausgabe unseres Magazins bedanken! werden. Als Team der OBR berichten wir aus unserer Die erste Ausgabe des Magazins widmet sich Arbeit. Neben dem Schwerpunktthema finden in ihrem Schwerpunkt dem rassistischen und Sie in dieser Ausgabe Berichte aus der Be- rechtsterroristischen Anschlag von Hanau, ratungs-, Recherche- und Bildungsarbeit der bei dem am 19. Februar 2020 zehn Menschen OBR und einen Serviceteil mit Hinweisen ums Leben kamen. Rechte, rassistische und zu bevorstehenden Veranstaltungen sowie antisemitische Gewalttaten sind kein neues Medientipps und Ratgebern für Betroffene. Phänomen in unserer Gesellschaft. Auch in Dabei fokussieren wir immer die Unterstüt- Nordrhein-Westfalen gibt es eine Kontinuität zung unserer Beratungsnehmer*innen sowie solcher Angriffe und Anschläge. Diese reichen die stärkende Arbeit an der Seite von Betrof- hinsehen 1_2020 vom Brandanschlag am 26. August 1984 auf fenen. das Wohnhaus der Familie Satır in Duisburg und dem Brandanschlag am 28./29. Mai 1993 Solidarische und herzliche Grüße auf das Wohnhaus der Familie Genç in Solin- gen über den Sprengstoffanschlag am 27. Juli Ihr Team der OBR 2000 am S-Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf
3 In Gedenken an die Opfer von Hanau Bei dem rassistischen und rechtsterroristischen ben: „Dass die Namen der Opfer nicht vergessen Anschlag in Hanau kamen am 19. Februar 2020 werden. Dass wir uns nicht allein lassen. Dass insgesamt zehn Personen ums Leben. Neun es nicht bei folgenloser Betroffenheit bleibt.“ Opfer wurden in und vor zwei Shishabars sowie (Initiative 19. Februar Hanau) auf der Fahrt zwischen den Orten erschossen. Später erschoss der Täter außerdem seine Die Initiative 19. Februar Hanau gründete sich Mutter und sich selbst. Aufgrund rassistischer kurz nach den rassistischen Morden in Hanau, Motive mussten vermeintlich Fremde ihr Leben um Betroffenen und Angehörigen Unterstüt- lassen. Doch die Opfer waren entgegen einiger zung anzubieten sowie als kollektiver Zusam- Medienberichte keine Fremden, sie waren Men- menschluss gesellschaftliche Forderungen nach schen und Mitbürger*innen. Dies ändert sich Aufklärung und politischen Konsequenzen zu er- auch nicht durch rassistische Zuschreibungen heben. Seit der Gründung ist die Initiative aktiv anhand von Aussehen, Ethnizität, Religion und in der Öffentlichkeitsarbeit, organisiert bundes- Herkunft. Der rassistisch und rechts motivierte weite Demonstrationen und schafft Räume des Anschlag in Hanau zeigt erneut: Rassismus und Zusammenkommens. rechter Terror töten. Wir gedenken der Opfer von Hanau und solidari- Wir (als Mehrheitsgesellschaft) müssen hinse- sieren uns mit den Überlebenden sowie Hinter- hen, hinhören und Worte wie auch Taten (von bliebenen. rechter Ideologie motiviert) ernst nehmen. Ferhat Unvar Wir müssen uns normalisierten rassistischen Denk- und Handlungsmustern bewusst werden. Mercedes Kierpacz Wir müssen anerkennen, dass nicht alle gleich Sedat Gürbüz von Rassismus getroffen werden. Gökhan Gültekin Wir müssen im Kleinen wie auch im Großen hin- sehen, mutig sein und aufstehen gegen jegliche Hamza Kurtović Rassismen und Diskriminierungen. Kaloyan Velkov Wir müssen einstehen für eine offene und tole- rante, vielfältige Gesellschaft. Vili Viorel Păun Wir müssen uns aktiv positionieren gegen Said Nesar Hashemi Rassismus und rechte Gewalt. Fatih Saraçoğlu Wir dürfen die Opfer nicht vergessen und müssen Taten wie die Morde in Hanau aufklären. #saytheirnames #SagtihreNamen Damit die Tat nicht ins Vergessen gerät, haben Weitere Informationen der Initiative 19. Februar Aktivist*innen in Hanau die Initiative 19. Februar Hanau finden Sie hier. Themenschwerpunkt gegründet. Sie haben sich ein Versprechen gege- Das Team der OBR hinsehen 1_2020
4 Hanau war der eine Tropfen zu viel Ferda Ataman Nach dem rechtsterroristischen Anschlag von soll. Nach jahrelangem staatlichem Ignorieren Hanau hat sich bundesweit eine neue Bewe- ist das Problem also immerhin erkannt, das ist gung gegründet: Migrantifa. Sie ist dezentral ein wichtiger Fortschritt. Doch leider haben wir organisiert von jungen, aktiven Menschen, die es noch mit einem Umsetzungsdefizit zu tun, an wissen, dass auch sie Ziel von rechtsterroristi- so vielen Stellen, dass ich sie hier nicht alle auf- schen Angriffen sein können und dass sie von zählen kann. Es sind nicht nur offensichtliche strukturellem Rassismus betroffen sind. Sie Dinge, sondern auch hintergründige, struktu- verkörpern, was viele Menschen derzeit spüren: relle Probleme. Die Abgabenordnung ist zum Hanau war der eine Tropfen zu viel. Beispiel von vorgestern: Engagement gegen Rassismus ist nicht ohne weiteres als gemein- Seit Jahren berichten Einzelpersonen und nützig anerkannt. Und es gibt kein Demokratie- Organisationen von Migrant*innen, Jüd*in- fördergesetz: Opferberatungsstellen und Orga- nen, Muslim*innen, Sinti*zze und Rom*nja, nisationen von People of Color und Schwarzen Schwarzen Menschen und weiteren People of Menschen kämpfen um ihre Existenz, weil Color, dass sie sich zunehmend bedroht fühlen. Förderungen unsicher sind oder gestrichen Und bedroht werden. Laut einer Studie des werden. Und für eine konstruktive, politische Center for Research on Extremism der Uni- Debatte fehlt es an etwas Wesentlichem: einer versität Oslo verzeichnete Deutschland 2019 offiziellen Definition als Arbeitsgrundlage, die im Vergleich zu anderen westeuropäischen Rassismus nicht nur mit Rechtsextremismus Staaten die höchste Zahl an rechtsextremen und individuellem Handeln gleichsetzt, sondern Gewalttaten (vgl. Aasland Ravndal/Lygren/ auch strukturelle Phänomene umfasst. Ravik Jupskås/Bjørgo 2020). Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer. Im Umgang mit Rassismus und Rechtsextremis- mus müssen Politik, Medien und Institutionen Politische Konsequenzen wurden erst verspro- auf die Neustarttaste drücken. Und sie sollten chen, nachdem in weniger als einem Jahr der bei sich selbst anfangen und sich fragen: wie CDU-Politiker Walter Lübcke hingerichtet wur- divers und offen sind unsere eigenen Struktu- de, in Halle ein brutaler antisemitischer und ras- ren? Wie viele Menschen, die von Rassismus sistischer Anschlag stattfand und ein Mann in betroffen sind, gehören bei uns zum Team, wie Hanau zehn Menschen an einem Tag erschoss. viele treffe ich in der Kantine? Vielleicht haben sie dabei einen Aha-Effekt: 2020 ist ein guter Hinter all diesen Tätern stehen unzählige Het- Zeitpunkt, sich zu öffnen. zer*innen und Einheizer*innen. Seit 2017 sitzen in fast allen deutschen Parlamenten Politiker*in nen, die man mit gutem Gewissen als faschistoide Autorin: Nationalisten bezeichnen kann. Sie sind nicht Ferda Ataman ist Publizistin und engagiert sich zimperlich bei der Formulierung ihrer Pläne. für eine rassismuskritische Debatte. Sie ist Spre- „Moslems“, „Afrikaner“ und politische Gegner*in- cherin des postmigrantischen Netzwerks „neue nen möchten sie am liebsten entsorgen. Derweil deutsche organisationen“ und Vorsitzende der verbreitet ein lauter, rechter Mob im Internet und „Neuen deutschen Medienmacher*innen“. 2019 Themenschwerpunkt bei öffentlichen Veranstaltungen offen eine anti- hat sie die Streitschrift „Hört auf zu fragen. Ich bin von hier“ veröffentlicht. semitische und rassistische Stimmung. Wer etwas genauer hinschaut, wird es längst Quellen: festgestellt haben: Wir befinden uns in einer Aasland Ravndal, Jacob/Lygren, Sofia/Ravik Jupskås, Anders/ Rassismus-Krise — ähnlich der Klima-Krise. Bjørgo, Tore (Hg.) (2020): RTV Trend Report 2020. Right- Auch hier sind die Folgen längst sichtbar und Wing Terrorism and Violence in Western Europe, 1990-2019. wir müssen schnell handeln. Ähnlich wie beim Published by: Center for Research on Extremism: The E xtreme Right, Hate Crime and Political Violence. University of Oslo. Klimathema hat die Bundesregierung einen Online: www.sv.uio.no/c-rex/english/topics/online-resources/ Kabinettsauschuss eingerichtet, der sich mit rtv-dataset/rtv_trend_report_2020.pdf; letzter Abruf: Rechtsextremismus und Rassismus befassen 21.08.2020. hinsehen 1_2020
5 10 Forderungen nach Hanau Stellungnahme der Amadeu Antonio Stiftung vom 6. März 2020 1. Rassismus benennen werden. Es dürfen nicht noch mehr Menschen der Beratungsresistenz der deutschen Justiz Noch immer wird } Rassismus verharmlost. und Strafverfolgung geopfert werden. Es ist Zeit, ihn als solchen zu benennen und nicht als Phänomen am rechten Rand abzutun. 3. Rechte Gewalt konsequent Rassismus ist tief in der Mitte unserer Gesell- verfolgen schaft verankert. Das anzuerkennen ist Grund- lage, um wertvolle Präventionsarbeit zu leisten. Noch immer fühlen sich Rechtsextreme allzu Rassismus zu benennen bedeutet auch, die sicher, wenn sie Straftaten begehen — und das rassistische Stigmatisierung vermeintlich oder mit gutem Grund. Viel zu oft werden Strafver- tatsächlich migrantischer Orte anzuerkennen. fahren in Fällen von Hasskriminalität frühzeitig So wurden Shisha-Bars im Kontext von Diskur- eingestellt, sei es aufgrund von mangelnder sen der organisierten Kriminalität verortet und Sensibilität für Gruppenbezogene Menschen- als anders markiert. feindlichkeit oder gezielt rassistischen Prakti- ken in den Behörden. Und selbst wenn Täter*in- 2. Forderungen der NSU- nen verurteilt werden, bleibt die Durchführung Untersuchungsausschüsse umsetzen der Haftbefehle mangelhaft. Erscheinen die Verurteilten nicht zu ihrer Haftstrafe, passiert Noch immer warten zahlreiche Empfehlungen häufig schlichtweg nichts. So kann es nicht der NSU-Untersuchungsausschüsse auf ihre weitergehen. Der Verfolgungsdruck bei rechter Umsetzung. Die offen gebliebenen Forderungen Gewalt muss höher werden, um Rassist*innen müssen umgehend evaluiert und zur Praxis vor weiteren Taten abzuschrecken. } Rassismus (Rassifizierung) = Rassismus ist der die konstruierten Gruppen als naturgegebene Ein- Prozess, in dem Menschen aufgrund tatsächlicher heiten, die sich biologisch reproduzieren. In einem oder vermeintlicher körperlicher oder kultureller zweiten Schritt der Bedeutungszuweisung wird das Merkmale (z. B. Hautfarbe, Herkunft, Sprache, Wesen der konstruierten Fremdgruppe(n) bestimmt Religion) als homogene Gruppen konstruiert, und werden ihnen stereotype Eigenschaften zu hierarchisierend bewertet und ausgegrenzt werden. geschrieben (Stereotypisierung) — auch diese kön- Der klassische Rassismus behauptet eine Ungleich- nen wieder der Kategorisierung dienen. Durch die heit und Ungleichwertigkeit von Menschengruppen Stereotypisierung wird spiegelbildlich das Wesen („Rassen“) auf Grundlage angeblicher biologischer der konstruierten Eigengruppe festgeschrieben. Unterschiede. Im Neorassismus wird die Ungleich- heit und Ungleichwertigkeit mit angeblichen Rassismus und Rassifizierung lassen sich nicht Unterschieden zwischen „Kulturen“ zu begründen voneinander trennen. Denn im Prozess der Rassi- versucht. Rassismus ist die Summe aller Verhal- fizierung ist die hierarchisierende Bewertung der tensweisen, Gesetze, Bestimmungen und Anschau- konstruierten Gruppen implizit enthalten — und ungen, die den Prozess der Hierarchisierung und zwar sowohl in den Merkmalen, mit deren Hilfe die Ausgrenzung unterstützen. Sie beruhen auf un Gruppen unterschieden werden, als auch in den gleichen Machtverhältnissen. Eigenschaften, die den Gruppen zugeschrieben Themenschwerpunkt werden. Denn in der Wahl der Merkmale und der Rassifizierung — auch bezeichnet als Rassialisie Maßstäbe, nach denen die Gruppen verglichen rung oder Rassisierung — bezieht sich auf die werden (z. B. nach Schönheitsidealen oder nach Wissensebene von Rassismus. Rassifizierung dem erreichten Stand kapitalistischer „Entwick- beschreibt sowohl einen Prozess, in dem rassisti- lung“), liegt bereits ein Akt der Macht. In ihm sches Wissen erzeugt wird, als auch die Struktur verbergen sich Herrschaftsinteressen. Denn das dieses rassistischen Wissens. Im Einzelnen um- erzeugte Wissen rechtfertigt rassistische Hand- fassen Prozess und Struktur die Kategorisierung, lungen und verarbeitet sie gleichzeitig gleichsam Stereotypisierung und implizite Hierarchisierung „theoretisch“. (vgl. IDA e.V. Glossar: Rassismus; von Menschen. Dabei werden historisch variablen Rassifizierung) wahrnehmbaren und nicht wahrnehmbaren körper lichen (z. B. Hautfarbe, Schädelform), soziologi- Die Beschreibung „rassifizierte Menschen“ meint hinsehen 1_2020 schen (z. B. Kleidung), symbolischen und geistigen insofern Personen, die von Rassismus negativ (z. B. Einstellungen und Lebensauffassungen) sowie betroffen sind und Menschen mit Rassismuserfah- imaginären Merkmalen (z. B. okkulte Fähigkeiten) rungen. Dabei soll die Andersmachung von außen Bedeutungen zugewiesen. Dies geschieht, indem hervorgehoben werden. Der Fokus liegt folglich auf erstens mit Hilfe dieser Merkmale gesellschaftliche dem Blick von außen auf diese Menschen, denn von Gruppen definiert — also kategorisiert — werden. außen betrachtet ist die politische Position einer Aufgrund der ausgewählten Merkmale erscheinen Person immer eine Zuschreibung.
6 4. Betroffene digitaler Gewalt s tärken weise durch die dauerhafte Präsenz von Poli- zist*innen vor Moscheen und Synagogen. Erst Indes trägt der digitale Raum massiv zur Ra- vor w enigen Monaten wurde ein Massaker an dikalisierung bei. Dabei spielen Algorithmen der jüdischen Gemeinde von Halle nur verhin- den Rechtsextremen in die Hände: Je radikaler dert, weil die Eingangstür dem Beschuss des der Post, desto öfter wird er ausgespielt. In Terroristen standhielt. Sicherheitspolitische der Anonymität der Sozialen Medien können Maßnahmen können aber nur ein Teil der Ant- Rassist*innen ihrem Hass beinahe einhaltslos wort sein. freien Lauf lassen. Und selbst wenn es zum Prozess kommt, können sie sich — wie die } Migrant*innen = Für den Begriff Migrant*in- jüngsten Urteile gegen Sawsan Chebli und nen wird häufig synonym die Bezeichnung Renate Künast demonstrieren — auf einen „Menschen mit Migrationshintergrund“ verwen- überaus umfassenden Begriff der Meinungsfrei- det. Beide Begriffe sind Fremdzuschreibungen heit berufen. Das ermutigt, weiter zu hassen. für Menschen, die mit einem Blick von außen Betroffene von Hassrede hingegen bleiben mit als nicht-deutsch, als Personen mit anderer ihren Erfahrungen viel zu oft allein. Speziali Staatsangehörigkeit und als ausländisch gelesen sierte Beratungsstellen für digitale Gewalt gibt werden. Die Begriffe werden häufig als Stigmati- es bisher nur sporadisch. Die Mittel fehlen, sierungen empfunden, da mit ihnen sogenannte um flächendeckende, professionelle Arbeit zu „Problemgruppen“ assoziiert werden. Folglich leisten. Hier muss dringend Abhilfe geschaffen sind mit beiden Fremdzuschreibungen negative werden. Zudem gilt es, Projekte zur Deradika- Bewertungen verbunden. Als Fremdzuschrei- lisierung von potenziellen Täter*innen im Netz bungen dienen sie dazu, Personen als „anders“ zu unterstützen. und „nicht-zugehörig“ zu markieren. (vgl. NdM, Glossar: Migranten/Menschen mit Migra tionshintergrund) 5. Demokratie wehrhaft machen Klein klein hilft nicht mehr, unsere Demokratie muss endlich systematisch geschützt werden. } Gelesen werden = Um Fremdzuschreibungen Brandenburg hat bereits 2013 vorgemacht, wie transparent zu machen ist es wichtig, den das gehen kann: Das Bundesland hat den Kampf eigenen Blick sprachlich offenzulegen. Daher gegen Rechtsextremismus und Rassismus in wird mit einer rassismuskritischen Sprache seine Verfassung geschrieben. Auch Sachsen- vermehrt davon gesprochen, dass Menschen „als xy gelesen“ und „als xy markiert“ werden: Anhalt hat seine Verfassung modernisiert. Das Zum B eispiel wird von „als Migrant*innen oder muss nun auch auf Bundesebene passieren. Es als B IPoC gelesenen” Personen gesprochen. ist an der Zeit, Antirassismus und Demokratie- Dadurch wird deutlich, dass die Beschreibung förderung als Staatsauftrag ins Grundgesetz von außen geschieht. So wird herausgestellt, mit aufzunehmen. Gleichzeitig ist eine Novel- dass dies nicht beschreibt, wie die Menschen lierung des Allgemeinen Gleichbehandlungs selbst sind oder sich identifizieren, sondern es gesetzes erforderlich. Zentral ist hier die eine gesellschaftliche „Lesart”, eine Interpreta Einführung des Verbandsklagerechts. Nur so tion der Menschen aufgrund äußerlicher Merk- kann Menschen, die ohnehin schon von Dis male gibt. kriminierung betroffen sind, die emotionale Belastung eines Gerichtsverfahrens erspart werden. 7. Null Toleranz für Rechtsextreme in Themenschwerpunkt Sicherheitsbehörden und Bundeswehr 6. Schutz für gefährdete Orte ausbauen Denn Sicherheitsbehörden sind Teil des Pro- blems. Die mehrfachen Drohschreiben an die In der Folge von Hanau warnen Expert*innen Frankfurter Anwältin Seda Bas˛ay-Yıldız wurden vor Nachahmertaten: Rechtsextreme würden von einem Polizeicomputer aus dem Frank durch den Anschlag inspiriert und motiviert, furter 1. Revier verschickt. Die Zahl der Rechts es dem Attentäter gleich zu tun. Bereits jetzt extremen in der Bundeswehr ist laut Zahlen des zeigt sich, dass die Expert*innen Recht be- militärischen Abschirmdienstes im Jahr 2019 hielten. Seit Hanau wurden bereits mehrere massiv gestiegen. Unabhängig davon, ob der Shisha-Bars beschossen, der Vorsitzende des sprunghafte Anstieg tatsächlich auf steigende Moscheenverbands Ditib angegriffen und eine Zahlen oder auf eine bis dato unzureichende hinsehen 1_2020 Moschee mit Hakenkreuzen beschmiert. Orte, Überprüfung durch die Sicherheitsbehörden die als } migrantisch } gelesen werden, sind zurückzuführen ist, ist diese Entwicklung jetzt besonders gefährdet. Deswegen gilt es, besorgniserregend. Rechtsextreme Strukturen sie verstärkt unter Polizeischutz zu stellen. in der Bundeswehr müssen konsequent auf- Zudem müssen muslimische und jüdische gedeckt und verfolgt werden. Zudem müssen Einrichtungen und ihre Repräsentant*innen in rassistische Routinen in Sicherheitsbehörden besonderem Maß geschützt werden — beispiels- und Bundeswehr durchbrochen werden.
7 8. Zivilgesellschaft stärken tenz, um rassistisches Verhalten und diskrimi- nierende Strukturen zu erkennen. Zivilgesell- In diesen Zeiten sollte die Stärkung all jener, die schaftliche Akteure stellen bereits seit Jahren sich gegen Gruppenbezogene Menschenfeind- ihre Expertise zur Rassismusprävention zur lichkeit engagieren, eine Selbstverständlichkeit Verfügung. Diese muss genutzt und Rassis- sein. Die Realität sieht anders aus: Mehr als 120 musprävention zur gesamtgesellschaftlichen Initiativen mussten Ende letzten Jahres gegen Querschnittsaufgabe werden. die Umstrukturierung des Bundesprogramms Demokratie leben! kämpfen. Anstatt wertvolle 10. Partizipation von Menschen mit Projektarbeit leisten zu können, bangten sie um Einwanderungsgeschichte stärken ihre Weiterfinanzierung. Ende Februar kam dann die nächste Hiobsbotschaft. Der Nichtregie- In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin rungsorganisation Attac wurde die Gemeinnüt- Angela Merkel prangern Migrant*innenorganisa zigkeit entzogen. Für andere zivilgesellschaft- tionen an, dass Menschen mit Einwanderungs liche Organisationen bedeutet das vor allem geschichte im gesellschaftlichen Leben ins- eines: Rechtsunsicherheit. Finanziell hätte der gesamt und in politischen Institutionen im Verlust der Gemeinnützigkeit für die meisten Besonderen massiv unterrepräsentiert sind. Die Initiativen und Organisationen massive Folgen. Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisatio- Bereits im Jahr 2013 forderte der NSU-Untersu- nen fordert unter anderem einen Patizipations- chungsausschuss ein Demokratiefördergesetz, rat mit umfangreichen Befugnissen ähnlich zum mit dem Antidiskriminierungsprojekte endlich deutschen Ethikrat. So gelangt Rassismusprä- langfristig und nachhaltig unterstützt werden vention endlich dauerhaft ganz oben auf die können. Ein solches Gesetz ist längst überfällig, politische Agenda. Dieser Forderung schließt damit die Rechtsextremismusprävention nicht sich die Amadeu Antonio Stiftung an. Struktu- an finanziellen Unwägbarkeiten scheitert. Dar- reller Rassismus, der den geistigen Nährboden über hinaus ist eine Novellierung des Gemein für Hasskriminalität bildet, kann nur beseitigt nützigkeitsrechts dringend notwendig. werden, wenn Menschen mit Einwanderungs- geschichte in allen Sphären des gesellschaft- 9. Diversitätskompetenz lichen und politischen Lebens adäquat reprä- auf die Agenda setzen sentiert sind. Ein Kabinettsausschuss gegen Rechtsextremismus und Rassismus ist gut, wenn In Verwaltung und Polizei, Schule und Betrieb, er nicht reine Symbolpolitik bleibt. Was wir Zivilgesellschaft und unter Medienschaffenden brauchen, ist eine systematische Auseinander fehlt es häufig schlicht an Diversitätskompe- setzung mit Rassismus. Themenschwerpunkt hinsehen 1_2020
8 Perspek tiven von Betroffenen „Der Täter hat nicht nur das Leben der Menschen ausgelöscht, sondern auch das der Angehörigen langfristig geschädigt“ Aynur Satır Akça ist 1984 Opfer eines ausgesprochen. Jetzt sind weite Fahrten und mutmaßlich rassistisch motivierten Brand große Menschenmassen aufgrund Ihrer eige- anschlags geworden. Sie wohnte damals mit nen Erfahrungen für Sie ja eher abschreckend ihrer 12-köpfigen Familie in der Wanheimer und mit viel Stress und Bedenken verbunden. Straße 301 in Duisburg. In der Nacht vom Wie kam es dazu, dass Sie diese Bedenken 26. auf den 27. August wurde das vor allem über Bord geworfen haben und trotz eigener von Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei Traumafolgen den Weg nach Hanau auf sich bewohnte Haus in Brand gesetzt. Ihre Mutter genommen haben? und sechs weitere Familienmitglieder starben in den Flammen. Frau Satır Akça war zu dem Wie gesagt, ich fühlte so viel Hass und Wut und Zeitpunkt 13 Jahre alt. Nach dem Attentat konnte kaum still sitzen. Wichtig ist aber auch, von Hanau reiste sie trotz eigener Trauma dass mein Mann mich begleitet hat. Ansonsten folgen zu der ersten großen Gedenkveranstal- hätte ich das niemals geschafft. Zudem waren tung nach Hanau, um den Hinterbliebenen Ceren und Bengü von der Initiative Duisburg und Angehörigen beizustehen. 1984 mit dabei. Von denen wurden wir auch ab- geholt und die ganze Zeit begleitet. Es war aber OBR: Vielen Dank, Frau Satır Akça, dass Sie trotzdem die ganze Zeit eine starke Belastung sich für dieses Interview Zeit genommen haben für mich. Aber ich hatte irgendwie das Gefühl, und bereit sind, unsere Fragen zu beantworten. dass ich das machen sollte. Gerade weil ich es Der rassistisch motivierte, rechtsterroristische so wichtig finde, dass die Menschen, die ihre Anschlag von Hanau ist nun knapp fünf Monate Familie und Freunde verloren haben, merken, her. Wie präsent ist dieses Ereignis noch bei dass sie nicht alleine sind. Ihnen? Können Sie uns ein wenig Ihre Eindrücke vom Perspektiven von Betroffenen Aynur Satır Akca: Ich denke immer noch sehr 21.02.2020 schildern? häufig an Hanau. Als ich von dem Anschlag das erste Mal gehört habe, war ich wirklich sehr Als wir da ankamen und ich die Menschenmen- traurig und habe einfach nicht v erstanden, ge gesehen habe, war ich schon sehr einge- warum diese Menschen sterben mussten und schüchtert. Dazu kam dieses seltsame Gefühl, dann kam auch immer mehr diese Wut. Ich dass genau hier so eine furchtbare Tat passiert konnte kaum in der Wohnung bleiben. Ich ist. Dass hier Menschen getötet wurden, weil sie musste immer hin- und hergehen und war ein- nicht in das Weltbild des Täters gepasst haben. fach wütend. Es ist auch heute noch sehr sehr Hier haben Eltern ihre Kinder verloren. Das war traurig. Ich verstehe einfach nicht, warum diese ein sehr komisches Gefühl. Die Hinterbliebenen jungen Menschen sterben mussten. Die Wut gehen ja immer noch die Straße entlang und er- lodert auf jeden Fall immer noch in mir. innern sich vielleicht, dass sie hier oder dort mit einem jetzt getöteten Menschen Zeit verbracht Wenn ich heute in den Nachrichten von Hanau haben. Der Täter hat nicht nur das Leben der höre, bin ich sofort voll da und angespannt und Menschen ausgelöscht, sondern auch das der will auch unbedingt wissen, was da los ist. Auch Angehörigen langfristig geschädigt. zu Hause ist das immer noch ein Thema zwi- hinsehen 1_2020 schen mir und meinem Mann. Als wir dann an dem Platz der Veranstaltung ankamen, kam erstmal die Moderatorin der Icon: smashicons.com Am 21. Februar, zwei Tage nach dem Anschlag, Veranstaltung zu mir und hat mich umarmt und sind Sie mit Ihrem Mann und Mitgliedern der gedrückt. Das war alles sehr emotional für alle. Initiative Duisburg 1984 zu der Gedenkveran- Bevor ich auf die Bühne gegangen bin, hatte staltung nach Hanau gefahren und haben auf ich sehr große Sorgen und Zweifel, ob ich das der Bühne den Hinterbliebenen Ihre Solidarität überhaupt schaffe. Gerade meine Vorrednerin
9 Candan hat so viel gesagt, auch krasse Sachen. Der rechtsterroristische Anschlag in Hanau Da war ich mir dann sehr unsicher. Mir wurde steht nun leider nicht allein in der deutschen dann von ihr selbst und anderen ganz viel Mut Nachkriegsgeschichte. Rassismus ist bei weitem zugesprochen. Auf der Bühne dachte ich dann kein Randproblem und tief in der Gesellschaft kurz, dass ich umkippen werde. Ich habe dann verankert. Menschen müssen wegen ihrer auch nicht viel sagen können, aber danach (vermeintlichen) Herkunft sterben und auch haben ganz viele Leute zu mir gesagt, wie toll Menschen, die sich gegen Rassismus engagie- ich das gemacht habe. Allgemein konnte ich ren, werden immer wieder angegriffen. Wie leider nicht all das sagen, was ich sagen wollte. haben Sie — seitdem Sie mit Ihrer Familie die Türkei verlassen haben — bis heute das Leben in Sie selbst sind ja auch Betroffene eines mut- Deutschland wahrgenommen? maßlich rassistischen Anschlags. Nun haben Sie beschrieben, wie solidarisch die Veranstaltung Ich bin hier zur Schule gegangen, ich bin hier in Hanau ablief. Haben Sie selber damals 1984 groß geworden, ich fühle mich hier zu Hause. ähnliche Erfahrungen gemacht? Doch dieser Rassismus um mich herum ist furchtbar. Auch wenn ich mich hier zu Hause Nein. Leider gar nicht. Ich hätte mir ähnliche fühle, habe ich Angst. Und das nicht nur ab Unterstützung gewünscht. Unser Fall wurde ja und zu, sondern ich habe an sich immer Angst, mehr oder weniger totgeschwiegen. Über Ras- wenn ich auf die Straße gehe. Manchen Men- sismus hat ja eh keiner reden wollen. Ich habe schen auf der Straße sehe ich einfach richtig zudem über mehrere Tage im Krankenhaus ja an, dass sie mich hier nicht wollen. Dass sie nicht mal erfahren, dass meine Mama und ein mich rassistisch anschauen. Daher bleibe ich Teil meiner Geschwister gestorben sind, weil auch meistens zu Hause, damit mir nichts pas- niemand es mir sagen wollte. Hätten sich zu siert. Mein Mann muss mich manchmal richtig dem Zeitpunkt und auch danach die Politik oder überreden, damit ich mit ihm raus gehe. Es ist andere Leute für unser Schicksal interessiert, zwar sehr schade, aber leider ist es so, dass ich hätten ich und meine Geschwister vielleicht mich da, wo ich zu Hause bin, nicht sicher fühle. auch psychische Unterstützung bekommen. So wurden wir 35 Jahre mit dem, was wir erlebt Wir danken Frau Satır Akça für das Interview haben, mehr oder weniger alleingelassen. Mit mit dem Beratungsteam der OBR. allen Folgen für unsere Gesundheit. Eigentlich hätte — wie in Hanau — ganz Duisburg sofort Weiterführende Informationen zur Initiative hören sollen, was passiert ist. Duisburg 1984 finden Sie hier. „Wir wurden allein gelassen“ Dieser Vorwurf musste in der Geschichte der } Initiativen, die den Fokus ihrer politischen und Perspektiven von Betroffenen Bundesrepublik Deutschland leider immer wie- der ausgesprochen werden. Ausgesprochen öffentlichen Arbeit auf die Perspektiven von von Menschen, die in einem Land ihr Zuhause Betroffenen ausrichten, nennen wir — in Ab- grenzung zu anderen Initiativen — Betroffenen gefunden haben und dennoch aufgrund ihrer initiativen. vermeintlichen Herkunft von rassistischer Diskriminierung und Gewalttaten bis hin zu Morden betroffen sind. Nach dem rechtsterro Betroffeneninitiativen, die sich nach trauma- ristischen, rassistisch motivierten Anschlag tisierenden Ereignissen für die Rechte der in Hanau am 19. Februar wurde schnell deut Betroffenen und/oder Hinterbliebenen ein- lich, wie enorm wichtig das Vorhandensein setzen, sind heutzutage aus der politischen einer } Betroffeneninitiative vor Ort direkt Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken. Sie alle nach einer so grausamen Tat ist. Eine dieser eint, dass sie die Perspektiven von Betroffe- Betroffeneninitiativen ist die Initiative Duis- nen in den gesellschaftlichen und individuellen burg 1984. Sie gründete sich 2018 in Folge Aufarbeitungsdiskurs einbringen. Innerhalb eines wahrscheinlich rassistischen Brandan- der Politik und dem Großteil medialer Bericht- schlags im Jahre 1984. Diese zeigte sich auch erstattung wird klassischerweise das Täter*in- in Folge des rechtsterroristischen Anschlags nenumfeld bis ins kleinste Detail beleuchtet und hinsehen 1_2020 in Hanau aktiv solidarisch mit den Betroffenen. Nachbar*innen, Freund*innen und Familie der Die Vorstellung der Initiative Duisburg 1984 Täter*innen können öffentlich ihr Erstaunen verstehen wir auch als ein Plädoyer für die darüber ausdrücken, dass diese oder jene Per- wichtige Arbeit und die notwendige Unterstüt- son zu einer solchen Tat fähig war. In Talkshows zung von Betroffeneninitiativen. Der folgende sitzt dann bei den aufgekommenen Diskus- Text gibt die Sicht der Initiative wieder (kennt- sionen über Rassismus die klassische weiße lich gemacht durch kursiv gesetzte Zitate). Männerriege, mittendrin ein Abgeordneter der
10 AfD und kaum ein Mensch, der negativ von Das zentrale Selbstverständnis der Initiative Rassismus betroffen ist oder tatsächlich eine Duisburg 1984 ist, dass sie stets auf der Seite Fachexpertise aufweisen kann, kommt zu Wort. der Betroffenen steht, ihnen zuhört, Wissen Betroffeneninitiativen hingegen verzichten vermittelt und gleichzeitig das Expert*innen zwar nicht auf die Skandalisierung der Tat als wissen der Betroffenen sieht und schätzt. Sie politisches Mittel, jedoch immer unter Einbe- sucht zudem nach Gedenkformen, die denen zug der Stimmen der direkt Betroffenen, der der Betroffenen entsprechen, und vernetzt die Hinterbliebenen oder zumindest der indirekt Initiative mit weiteren Menschen, die Gewalt Betroffenen. erfahrungen durchleben mussten. „Wenn Betroffene sich untereinander vernetzen, Die Initiative Duisburg 1984 gründete sich im empowern sie sich als Peer-Group in einem ge- Jahr 2018, nachdem eher durch Zufall bei einer schützten Rahmen, der der beste Heilungs- und Recherche zu einer anderen Thematik das Politisierungsort ist. Wenn es möglich ist ohne Ereignis rund um den Brandanschlag 1984 ins Hemmungen Fragen zu stellen und zu lernen, Auge fiel. Die Mitglieder der späteren Initiative dann findet an der Stelle kollektive Selbst hatten trotz ihrer zum Teil Duisburger Vergan- ermächtigung statt.“ genheit keinerlei Kenntnis über den Vorfall. Während intensiver Recherchen wurden immer Auch die Mitglieder der Initiative Duisburg mehr Widersprüche deutlich, die an der be- 1984 waren und sind nach dem Anschlag in haupteten Tatmotivation einer unpolitischen Hanau schwer erschüttert. Gleichzeitig betonen Pyromanie zweifeln ließen und auf Rassismus sie, dass ein solcher Anschlag nicht wirklich hinweisen. Für alle Beteiligten der Initiative war unerwartet kam. Dass es in Deutschland ein dabei von vornherein klar, dass eine Aufklärung Rassismus-Problem gibt, wird nicht nur durch der Hintergründe des Brandanschlags von 1984 Taten eines rechtsextremen Terroristen deut- nur zusammen mit den Betroffenen erfolgen lich, sondern auch in den alltäglichen Äußerun- konnte. gen und Handlungen (bzw. dem Nicht-Handeln) der breiten Mehrheitsgesellschaft. „Am 19. „Die zivilgesellschaftliche Aufarbeitung, die Februar 2020 schunkelten viele Menschen Anklage gegenüber der Politik, den Sicherheits- in Deutschland in den Karneval. Rassismus behörden und Medien findet erst heute durch betroffene waren hingegen in einem kollekti- die Arbeit der Initiative und der Betroffenen ven Schockzustand. Der Anschlag hat Brüder, statt. Erst das Vertrauen, die Solidarität und das Schwestern, Freunde und Kinder getroffen und Einverständnis der Betroffenen hat unsere Initi- neun konkrete Leben und Familien zerstört.“ ative dazu ermächtigt, eine zivilgesellschaftliche Daher war es für die Initiative recht schnell Intervention, Aufarbeitung und Erinnerungs- klar, dass sie am 21.02. zu der ersten großen politik zu beginnen, die im Sinne und aus der Gedenkveranstaltung nach Hanau fahren wird. Perspektive der Betroffenen organisiert wird“. Sie wollten den Betroffenen und Hinterbliebe- Nicht nur bei der Aufarbeitung und Erinnerung nen vor Ort solidarisch zur Seite stehen. „Alle in Folge des Brandanschlags sieht die Initiative vor Ort in Hanau und die, die in ihren Gedan- Perspektiven von Betroffenen große Versäumnisse. „Gesellschaftspolitische ken bei den Betroffenen waren, versuchten an Konsequenzen werden selten gezogen, weil diesem Tag nur eines: Ihre tiefe Angst, Trauer rassistische Gewalttaten als Einzelfälle abgetan und Wut in ein solidarisches Zusammensein oder allgemein entpolitisiert werden. Die Betrof- umzuwandeln und sich zu organisieren. Das fenen wissen oft deutlich besser, mit welcher zeigt nochmal, wie wichtig die Vernetzung und Form der Gewalt sie konfrontiert werden. Ihnen Verbindung antirassistischer Initiativen und wird aber weder zugehört, noch wird in ihrem migrantischer Kämpfe ist, die sich gemeinsam Sinne ermittelt“. Des Weiteren prangert die mit Betroffenen rassistischer Gewalt für Ge- Initiative Duisburg 1984 an, dass die Betroffe- rechtigkeit, Aufklärung und würdiges Gedenken nen auch bei der Last, die sie zu tragen haben, stark machen.“ nicht genügend unterstützt werden. Vor allem die hohen Hürden, einen ausreichenden Über- In Hanau konnten die Mitglieder der Initiative blick über ihre Rechte zu erlangen — während selbst erfahren, was Solidarität nach einer Tat der gleichzeitigen Belastung durch die trauma- ausmachen und Betroffene stärken kann. Ins- tischen Gewalterfahrungen — beurteilt die Initia- besondere unter dem Aspekt, dass rassistische tive als äußerst problematisch. Die Aufgabe die Gewalt auch immer } Botschaftstaten sind, ist Betroffenen hierbei bestmöglich zu unterstüt- ein breites solidarisches Bündnis für sie von so hinsehen 1_2020 zen, können Betroffeneninitiativen nicht allein enormer Bedeutung. Für ihre eigene Arbeit war bewältigen. Hier ist für die Initiative Duisburg Hanau nochmal ein zusätzlicher Antrieb sich in 1984 die Zusammenarbeit mit der Opferbe- Zukunft weiter zu vernetzen, um dann zu „ver- ratung Rheinland sehr wichtig, da hierdurch suchen gemeinsam zu verstehen, was die Muster der notwendige Kontakt zu Behörden und ein und Strukturen der Tat sind, was möglicherweise großer Teil einer psychosozialen Begleitung der Parallelen zum eigenen Fall sind. Während die Betroffenen professionell abgedeckt ist. Behörden weiterhin auf dem rechten Auge blind
11 sind und keine ganzheitliche antirassistische Neben der Initiative Duisburg 1984 nahmen Aufklärung leisten, können und müssen Betroffe- noch viele weitere Initiativen an der Gedenk- neninitiativen die ganze Wahrheit kritisch äußern veranstaltung am 21.02. in Hanau teil und viele und Rassismus beim Namen nennen.“ sind weiterhin unterstützend vor Ort aktiv. Auch wenn es den Hinterbliebenen des Brand } Botschaftstaten = Bei rassistischen, antisemi anschlags von 1984 verwehrt blieb, in Hanau tischen und rechtsextremen Gewalttaten handelt konnten die Betroffenen zumindest partiell die es sich um sogenannte Botschaftstaten. Die Solidarität einiger Menschen erleben. Taten treffen gleichermaßen die direkt Betroffe- nen wie auch die Gruppe, für die sie stehen. Die Letztendlich bleiben es jedoch zu wenig. Daher Angegriffenen werden als Repräsentant*innen wird der Kampf der Betroffeneninitiativen einer marginalisierten Gruppe wahrgenommen weitergehen müssen. Die Initiative Duisburg und deshalb angegriffen. Dies führt zu Ohn- 1984 hat dies kurz nach dem Anschlag in Hanau machtsgefühlen, Unsicherheit und Angst bei auch auf ihrer Facebook-Seite deutlich ge- den Betroffenen und Zeug*innen sowie bei der macht. „Die Jugendlichen in Hanau wohnen in gesamten marginalisierten Gruppe (kollektive denselben Hochhäusern, in denen auch wir in Viktimisierung). Somit übermitteln die Taten Duisburg wohnen. Die Geschichte der Migration eine „Botschaft“: Sie sollen bei der marginali- und des Rassismus verbindet uns als Menschen, sierten Gruppe Angst und Schrecken verbrei- die vom Täter gemeint waren. Deshalb halten ten. Daher führen diese Gewalttaten nicht nur wir migrantifaschistisch zusammen. Das ist das zu physischen und psychischen Verletzungen, politische Ziel!“ sondern gelten auch als politische Gewalt im Kampf um Macht und Herrschaft in der Gesell- Vielen Dank an die Initiative Duisburg 1984 schaft. Ziel ist es, Einzelne und Gruppen aus für den anregenden Austausch mit dem der Gesellschaft auszuschließen, diese politisch Beratungsteam der OBR und die bereichernde zu bekämpfen und ihnen die Berechtigung zu Perspektive auf ihre Arbeit als Betroffenen einem gleichberechtigten Leben abzusprechen. initiative. Für viele Betroffene gehört diese psychische und physische Gewalt zum Alltag, während weiße Menschen oft ratlos schweigen, die Taten damit dulden oder auch legitimieren und die Angegriffenen letztendlich allein lassen. (vgl. Belltower.News der Amadeu Antonio Stiftung: Rechte Gewalt/Botschaftstaten) Nicht länger ohne uns, sondern mit uns! Keupstraße ist überall! Perspektiven von Betroffenen Am 9. Juni 2004 explodierte eine Nagelbombe überlassen. Keine offiziellen Vertreter*innen auf der Keupstraße in Köln-Mülheim, einer über- aus der Politik oder den Ermittlungsbehörden, regional bekannten Geschäftsstraße, die mehr- kein sozialer Dienst kam, um sich nach ihnen zu heitlich von Migrant*innen bewohnt wird. Über erkundigen oder Hilfe anzubieten. Ein Betroffe- 25 Menschen wurden verletzt, unzählige weitere ner beschreibt die Folgen so: „Dieser psychische schwer traumatisiert. Es war Zufall, dass bei Druck ruinierte mein Leben. Mein Sohn war da- dem Anschlag niemand ums Leben kam. Anstatt mals drei Jahre alt, ich konnte mich nicht mehr in alle Richtungen umfangreich zu ermitteln, um ihn kümmern. Ich konnte nicht mehr mit schloss der damalige Bundesinnenminister Otto meiner Frau sprechen.“ (vgl. S. 2018) Schily nur einen Tag nach der Tat einen politisch motivierten Anschlag aus (vgl. ARD-Tagesschau Dieser „Anschlag nach dem Anschlag“, wie 2004). Die betroffenen Menschen wurden nicht er von den Betroffenen selbst genannt wird, als Opfer eines versuchten Mordes wahrge- endete erst am 04.11.2011, als die wahren Tä- nommen, sondern es wurde ihnen von Beginn ter*innen, Mitglieder eines Neonazinetzwerks an unterstellt, selbst Drahtzieher*innen des mit dem Namen „Nationalsozialistischer Un- hinsehen 1_2020 Bombenanschlages zu sein. Es war die Rede von tergrund“(NSU), enttarnt wurden. Das war der organisierter Kriminalität, Schutzgelderpressung Moment, in dem sich endlich überall Menschen und anderem. Die Überlebenden des Anschlages mit den Überlebenden der Bombenanschläge wurden über Jahre bespitzelt, immer wieder zu und den Angehörigen der Mordopfer solidari- Verhören geladen, beschuldigt, von staatlichen sierten, Aufklärung und Konsequenzen forder- Behörden unter Druck gesetzt, nach rassisti- ten. Die erste Soli-Demonstration in nächster schen Stereotypen stigmatisiert und sich selbst Nähe zur Keupstraße fand allerdings noch ohne
12 die Einbeziehung der Betroffenen statt. Aus Opfer. Die Familien der NSU-Mordopfer und ersten direkten Begegnungen auf der Demo die Betroffenen aus der Keupstraße gingen entwickelten sich Gespräche und persönliche gestärkt aus ihrem Auftritt als Zeug*innen Kontakte. Aus der Forderung der Betroffenen im Verfahren heraus, auch wenn ihnen klar „Nicht länger ohne uns, sondern mit uns!“ war, dass keine ihrer drängenden Fragen enstand die Gruppe „Dostluk Sineması“. Nach beantwortet werden würde. Das Gericht kon- gemeinsam organisierten Vortragsreihen und zentrierte sich nämlich ausschließlich auf die Diskussionsrunden gründete sich im November bekannte Trio-These von nur drei Mitglieder 2013 die Initiative „Keupstraße ist überall“. Be- des NSU und darauf, der e inen Täterin die troffene und solidarische Menschen machten es Mittäterinnenschaft nachzuweisen. Richter und sich zum Ziel, die betroffenen Nebenkläger*in- Generalbundesanwaltschaft weigerten sich nen der Bombenanschläge aus der Keupstraße systematisch, berechtigten Fragen der Neben- und der } Probsteigasse (2001) im NSU-Ver- klage-Anwält*innen nachzugehen, welche Rolle fahren vor dem Oberlandesgericht München der Staat und seine Ermittlungsorgane bei zu unterstützen und zu begleiten. Das geschah dem Aufbau des Neonazinetzwerkes spielten, in enger Anbindung an die Beratungsstelle für wie viel s truktureller Rassismus im Handeln Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer der Behörden lag und liegt und mit welcher Gewalt im Rheinland (OBR), die sich um die Systematik Taten vertuschten und Akten ge- psychosoziale Betreuung und Begleitung der schreddert wurden und in welchem Ausmaß der Betroffenen während ihrer Zeugenauftritte Staat bei der Aufklärung versagt hat. Auch die und auch in anderen belastenden Momenten fünf Angeklagten im NSU-Prozess verweiger- kümmerte. Bislang lag der Fokus der Öffentlich- ten den Betroffenen jeglichen Hinweis darauf, keit und der Medien vor allem auf den Täter*in- warum gerade die Keupstraße und die Probstei nen. Um auch das zu ändern, rief die Initiative gasse als Anschlagsziel ausgewählt wurden, Keupstraße den „TagX“ aus und begann bun- warum das Terrornetzwerk ausgerechnet ihren desweit zu mobilisieren. Vater, Mann, Sohn oder Bruder ermordete. Den- noch hofften alle NSU-Betroffenen darauf, dass } Probsteigasse (2001) = Am 19. Januar 2001 das Gericht und die Parlamentarischen Unter- explodierte in dem Lebensmittelgeschäft suchungsausschüsse die Aufklärung vorantrei- einer deutsch-iranischen Familie in der Kölner ben würden. Probsteigasse eine Christstollendose, die einen Sprengsatz enthielt. Die Dose mit dem Spreng- Als im Juli 2018 das Urteil verkündet und unter satz wurde zuvor von einem als Kunde auftre- dem Beifall von anwesenden Neonazis zwei der tenden Täter in dem Laden zurückgelassen. Der Angeklagten aus der Untersuchungshaft in die Sprengsatz detonierte als die damals 19 jährige Freiheit entlassen wurden, starb auch diese Tochter des Ladenbesitzers die Dose öffnete. Sie letzte Hoffnung. Was aber gewachsen ist, ist ihr erlitt schwerste Verbrennungen am Oberkörper Selbstbewusstsein und das Wissen darum, dass und im Gesicht. sie nicht mehr alleine sind. Immer mehr Bewe- gungen von Opfern rassistischer und rechter Ein rassistisches Tatmotiv und ein rechtsextre- Perspektiven von Betroffenen Gewalt kämpfen selbst für ihre Rechte, denn mer Hintergrund der Tat wurden von der Kölner das Menetekel der NSU-Betroffenen „Solange Polizei schnell ausgeschlossen. Die Ermittlungen zu der Tat konzentrierten sich vor allem auf die wahren Täter nicht gefasst und der Justiz das Umfeld der Familie. Die Verbindungen zum übergeben worden sind, werden meine Ängste Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen sind weiterbestehen. Solange der Staat ihnen Tole- bis heute ungeklärt. In einem Video hat sich der ranz entgegenbringt, werden sie ungestört tun NSU später zu der Tat bekannt. und lassen, was sie wollen“ (vgl. Behrens 2018), dass Neonazis weiter morden werden, wenn Der Anschlag in der Probsteigasse reiht sich der NSU-Komplex juristisch und institutionell ein in eine Reihe von Morden und Bombenan- folgenlos bleibt, hat sich leider bewahrheitet. schlägen des rechtsterroristischen Netzwerks Schon bevor diese Worte gesprochen waren, „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU). In hatten sich zig Neonazis positiv auf den NSU Köln wurden insgesamt zwei Bombenanschläge bezogen. In der ARD-Ausgabe der „Die Story: (Probsteigasse 2001, Keupstraße 2004) verübt. V-Mann Land“ vom 23. April 2015 sagte ein Die Mittäterschaft von Kölner Neonazis ist bis ehemaliger V-Mann: „Wir haben die Nazi-Szene heute ungeklärt. (vgl. Probsteigasse.noblogs. aufgebaut.“ Wir wissen heute, dass diese mit org: Hintergründe) Netzwerken bei der Bundeswehr vernetzt ist, hinsehen 1_2020 deren Mitglieder geheime Waffen- und Muni- Betroffenen-Initiativen in ganz Deutschland tionslager in ganz Deutschland aufbauen. Wir vernetzten sich zu dem bundesweiten Bündnis wissen, dass in einer Frankfurter Polizeistation „NSU-Komplex auflösen“. Am 29.01.2015 fand der sogenannte „NSU 2.0“ aktiv geworden ist der Aktionstag in München vor dem Ober und dass der Politiker Walter Lübcke von Neo- landesgericht statt und erstmals richtete sich nazis ermordet wurde, die zum NSU-Komplex der Blick der Öffentlichkeit auf das Leid der gehören.
13 Wir trauern um unsere toten Geschwister, Mahnmals darf nicht länger ignoriert werden. Eltern und Kinder, die in Halle und Hanau kalt- Dieses wäre ein wichtiges öffentliches Zeichen blütig von Neonazis ermordet wurden, und um gegen nazistischen Tendenzen und würde gleich- Menschen, die, wie George Floyd, durch rassis- sam zu einer Aufarbeitung rassistischer Gewalt tische Polizeigewalt ums Leben kamen. Wir ver- beitragen. Aktuell hat die Stadt die Möglichkeit, gessen auch nicht Walter Lübcke. Ebenso wenig das Gelände zu kaufen und k önnte endlich den wie Oury Yalloh, dessen Familie eine Wieder- Stimmen der Betroffenen der Keupstraße und aufnahme des Verfahrens gegen seine Mörder der Probsteigasse ihren Platz in der Stadt ge- verweigert wird. Und auch nicht den jungen Sy- ben. Lebendiges Erinnern braucht Orte, um eine rer Amed Ahmad, der widerrechtlich inhaftiert Möglichkeit der Heilung zu entfalten. wurde und am 29.09.2018 nach einem Brand in seiner Zelle verstarb. Sein Vater sagte in einer „Rassismus stellt eine Krankheit dar. [...] Ich Rede, frei übersetzt: „Ihr seid alle die Väter von glaube, die Ärzte dieser Krankheit sind wir hier. Amed. Er ist euer aller Kind. Wir alle sind seine Diese Ärzte müssen diese Krankheit behandeln, Geschwister.“ Vor 2011 hatte nur eine Handvoll damit sie sich nicht weiter ausbreitet.“ Menschen den Betroffenen geglaubt, dass es (vgl. Muhammet 2018) Rassismus war, der ihre Liebsten tötete. „Wenn man noch nicht einmal in der Lage ist, das Leid, Her yer Keupcaddesi! Halle und Hanau sind welches uns zugefügt wurde, als ein geteiltes überall! und gemeinsames Leid zu betrachten und dies in die gesamte Gesellschaft zu tragen, wie sollen Weitere Informationen zur Initiative K eupstraße wir dann überhaupt dieses Leid überwinden?“ ist überall finden Sie hier. (vgl. Bozay 2016). Quellen: Um die rassistischen Strukturen aufzubrechen, ARD-Tagesschau (10.06.2004): „Die Erkenntnisse, die unsere die so viel Schmerzen verursacht haben und Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles noch verursachen, müssen wir aus dem ge- Milieu, aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, so meinsam erworbenen Wissen über Rassismus dass ich eine abschließende Beurteilung dieser Ereignisse jetzt Perspektiven schaffen, die uns zeigen, wie er nicht vornehmen kann.“ überwunden werden kann. Unentbehrlich für S., Arif (2018): Solange die wahren Täter nicht gefasst worden das Gelingen ruft eine Erkenntnis uns schon sind, werden meine Ängste weiterbestehen. Plädoyer vom 28. November 2017, S. 161ff. In: Behrens, Antonia von der (2018): lange zu: unite! Kein Schlusswort: Nazi-Terror, Sicherheitsbehörden, Unterstüt- zernetzwerk. Plädoyers im NSU-Prozess. Hamburg: VSA Verlag. Eine Möglichkeit wäre, endlich das NSU-Mahnmal Bozay, Kemal/Aslan, Bahar/Mangitay, Orhan/Özfirat, Funda (Hg.) in Köln zu realisieren, für das schon seit mehreren (2016): Die haben gedacht, wir waren das. MigrantInnen über Jahren migrantische Organisationen, antifaschis- rechten Terror und Rassismus. PapyRossa Verlag: Köln. tische Gruppen, Stadtteilinitiativen und engagier- Ayazgün, Muhammet (2017): Abschreckend wirkt nicht nur die Strafverfolgung, sondern auch die Aufklärung. Plädoyer vom te Einzelpersonen kämpfen. Es braucht Erinne- 28. November 2017, S. 181ff. In: Behrens, Antonia von der (2018): rungsorte wie diesen, die sich an den Wünschen Kein Schlusswort: Nazi-Terror, Sicherheitsbehörden, Unterstüt- Perspektiven von Betroffenen der Betroffenen o rientieren. Die Bedeutung eines zernetzwerk. Plädoyers im NSU-Prozess. Hamburg: VSA Verlag. hinsehen 1_2020
14 Beratung der OBR Rassistische Gewalt im Wohnumfeld nimmt erschreckende Ausmaße an Rassistisch motivierte Gewalt im Wohnumfeld Obwohl diese Vorfälle tagtäglich passieren, hat sich inzwischen zu einem Schwerpunkt erfahren die Betroffenen leider nur selten die unserer Beratungsarbeit bei der OBR ent- notwendige solidarische Unterstützung durch wickelt: Fast zwei Drittel aller Betroffenen, Wohnungsgesellschaften, Vermieter*innen oder die sich 2019 an uns mit der Bitte um Unter- andere Mieter*innen. Viele schauen weg und stützung wandten, berichteten von zumeist wollen sich nicht positionieren — deshalb sehen lange andauernden Anfeindungen in ihrer die Betroffenen oft nur in einem Wegzug und unmittelbaren Nachbarschaft, die schließlich in Wohnungswechsel eine für sie mögliche Lö- massiven Bedrohungen und versuchten oder sung. Mit anderen Worten: Sie werden vertrie- vollendeten körperlichen Angriffen eskalierten. ben und die Täter*innen erreichen das, was sie Dass als Migrant*innen oder } BIPoC gelesene wollten! Menschen in ihrem Wohnumfeld rassistischen Beleidigungen, Bedrohungen und gewaltsamer Wenn die massiven, rassistisch motivierten Angriffen ausgesetzt sind, ist aus unserer Anfeindungen und gewaltsamen Angriffe bei Sicht eine erschreckende Realität, die fast zur der Polizei zur Anzeige gebracht werden, dann „Normalität“ geworden ist. werden sie zumeist als „unpolitische Nachbar- schaftskonflikte“ gewertet und finden keinen Eingang in die offizielle Statistik der politisch } PoC = Der Begriff „People of Colour“ (PoC) motivierten Gewalt. Zudem werden Betroffene ist eine übergreifende Selbstbezeichnung von oft an Schlichtungsstellen verwiesen, in denen Menschen mit Rassismuserfahrungen, die nicht die Betroffenen und die Täter*innen als gleich- als weiß gelesen werden oder sich als weiß po- wertige Verhandlungspartner*innen gesehen sitionieren. (vgl. NdM, Glossar: People of Color werden. Die Betroffenen sollen dort mit Men- (PoC)) schen in Verhandlung treten, die sie rassistisch } BIPoC = Die Abkürzung BIPoC steht für Black beleidigt und ihnen Gewalt angedroht oder (Schwarze), Indigenous (Indigene) und People of angetan haben. Solch ein Setting ist für die Colour und ist somit eine Sammelbezeichnung. Betroffenen unzumutbar. Hierbei ist besonders (vgl. NdM, Glossar: People of Color (PoC)) kritisch zu betrachten, dass oftmals eine soge- nannte } „Opfer-Täter-Umkehr“ stattfindet. } Schwarz = Der Begriff Schwarz ist eine Selbst- bezeichnung von Menschen mit Rassismus erfahrungen. Dabei handelt es sich nicht um die } Opfer-Täter-Umkehr oder Opferbeschuldi- Beratung der OBR Beschreibung einer Hautfarbe, sondern um die gung (engl. victim blaming oder blaming the politische Selbstbezeichnung, die die gesell- victim) bezeichnet die Schuldzuweisung für schaftliche Zugehörigkeit beschreibt. Um dies zu einen Angriff auf Betroffene (sog. Opfer) selbst. verdeutlichen wird Schwarz groß geschrieben. Häufig inszenieren sich die Täter*innen selbst (vgl. NdM, Glossar: Schwarze Deutsche) als vermeintliche Opfer. Dies führt dazu, dass Betroffenen eine (Teil-)Schuld an dem Übergriff } weiß = Der Begriff weiß bezeichnet eine durch ihr eigenes Verhalten oder unterlassenes gesellschaftliche Norm und Machtposition und Handeln zugeschrieben wird. Auf diese Weise beschreibt somit die gesellschaftliche Zugehö- werden Betroffene selbst für den Angriff und rigkeit und Privilegien einer Person. Der Begriff dessen Folgen verantwortlich gemacht. In Folge wird als Gegensatz zu den Begriffen Person of der Schuldzuweisung fühlen sich die betroffe Color (PoC), Black Indigenious Person of Color nen Personen häufig mit der Verletzung, ihrem hinsehen 1_2020 (BIPoC) oder Schwarz verwendet. Da es hier Gefühl von Ohnmacht und Wut und den Be- Icon: flaticon.com/monkik ebenfalls nicht um die Hautfarbe einer Person schuldigungen allein gelassen. Dies kann zu geht, wird der Begriff klein und kursiv geschrie- einer verstärkten psychischen Belastung, einer ben. (vgl. NdM, Glossar: weiße Deutsche) Intensivierung des direkten Opferwerdens sowie Traumafolgestörungen führen.
Sie können auch lesen