Forum l i a - Alles anders!

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Forum l i a - Alles anders!
Informationsdienst für Patientinnen, Patienten und Selbsthilfe der AOK – Die Gesundheitskasse in Hessen www.aok.de/hessen
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                                                                                                        s p e

           Alles anders!
                                                                                                      Forum   z ia l

       Wie sich die Corona-

       der Selbsthilfe auswirkt
       Pandemie auf die Arbeit
                                                                                                                1 | 2020
Forum l i a - Alles anders!
2 | In Kürze
                                                                                                                                        Zahl der Ausgabe

                                                                                                                                                Selbsthilfe-Realität im Jahr 2020:
                                                                                                                                                Videokonferenzen waren für viele
                                                                                                                                         Selbsthilfegruppen über Monate hinweg
                                                                                                                                          die einzige Möglichkeit, den Austausch
                                                                                                                                                         in der Gruppe überhaupt
                                                                                                                                                               aufrechtzuerhalten.

Inhalt

In Kürze..........................................................2

Rückblick.......................................................4
Corona – ein Virus schreibt Geschichte. .  .  .  .  .  .  .  . 4

Digitaler Wandel .......................................8
Neue Kommunikations­formen gesucht . .  .  .  .  .  .  . 8

Aus der Praxis............................................10
„Die Uhr lässt sich nicht
mehr zurückdrehen“. .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 10
Wir bleiben zu Hause! . .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 12

Nachgefragt............................................... 14
„Viele fühlten sich ­alleingelassen“ .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 14

Hilfe aus dem Netz................................. 16
Zusammen durch die Krise.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 16
Selbsthilfe per Mausklick. .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 17
Corona – leicht verständlich.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 18
Digital gut vorbereitet.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 20
Selbsthilfe geht online.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 21

Fakten-Check............................................ 22
Fake News erkennen.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 22

Hilfe in der Not........................................ 24
Den Lockdown mit
Ach und Krach überstanden .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 24

Ausblick...................................................... 26
Was kann die Selbsthilfe aus der
Coronakrise lernen?.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 26

Web-Snacks...............................................27
Linktipps .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 27
Impressum. .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 27
                                                                                                                 Illustration: iStock

                                                                                                                                                                        AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
Forum l i a - Alles anders!
Editorial
                                                                                                     In Kürze | 3

                                                            Editorial

                                                                                  Foto: AOK Hessen
                                                            Liebe Leserinnen und Leser,

                                                            die vergangenen Monate bleiben uns allen
                                                            sicherlich als eine einschneidende und besorgnis-
                                                            erregende Zeit in Erinnerung. Von einem Tag auf
                                                            den anderen wurde das öffentliche Leben weitge-
                                                            hend heruntergefahren: Veranstaltungen und auch
                                                            die gewohnten Gruppentreffen der Selbsthilfe
                                                            konnten nicht mehr stattfinden. Weil uns Ihre
                                                            Gesundheit und die aller Beteiligten am Herzen
                                                            liegt, haben auch wir unsere bereits geplante
                                                            jährliche Veranstaltungsreihe „Selbsthilfe im Dialog“
                                                            auf das Jahr 2021 verschoben. Um Ihnen trotzdem
                                                            die Möglichkeit der Weiterbildung geben zu
                                                            können, bieten wir ab dem Herbst 2020 Online-Se-
                                                            minare speziell für die Selbsthilfe an.

                                                            Unser diesjähriges „Forum spezial“ widmen wir
                                                            dem Thema „Selbsthilfe und Corona“. In dieser
                                                            Ausgabe geben wir Ihnen eine Übersicht des
                                                            aktuellen wissenschaftlichen Standes zur
                                                            Pandemie, beleuchten aber auch Fake News und
                                                            Verschwörungstheorien. Weil Menschen mit
                                                            unterschiedlichen geistigen Fähigkeiten,
                                                            Nicht-Muttersprachler oder auch Gehörlose
                                                            entsprechend aufbereitete Informationen
                                                            benötigen, geht es in einem eigenen Beitrag um
                                                            das Thema „Corona in Leichter Sprache“.

                                                            Natürlich kommen auch Selbsthilfegruppen in
                                                            dieser Ausgabe zu Wort und berichten, wie es
                                                            ihnen in den zurückliegenden Monaten ergangen
                                                            ist. Für sie war und ist soziale Distanz nicht einfach,
                                                            denn die Selbsthilfe lebt vom persönlichen Kontakt,
                                                            von Zuspruch und Nähe. Nichtsdestotrotz haben
                                                            viele Gruppen neue Möglichkeiten gefunden, um
                                                            den Kontakt aufrechtzuerhalten.

                                                            Wir danken Ihnen für Ihr Mitwirken in der
                                                            Selbsthilfe und wünschen Ihnen weiterhin alles
                                                            Gute – für Sie persönlich und für die wichtige
                                                            Arbeit in Ihren Gruppen. Passen Sie auf sich und
                                                            Ihre Mitmenschen auf – und bleiben Sie gesund!

                                                            André Schönewolf
                                                            Vorsitzender des Verwaltungsrates der
                                                            AOK – Die Gesundheitskasse in Hessen

AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
Forum l i a - Alles anders!
4 | Rückblick

                                     Corona – ein Virus
                                     schreibt Geschichte
                 Dezember 2019       Chronik I Das Virus, das 2019 in der chinesischen Stadt Wuhan ausbrach, hat in nur wenigen
    Erste Berichte kursieren über    Monaten mehr als 25 Millionen Menschen infiziert und über 850.000 Menschen getötet. Der Blick
eine mysteriöse Lungenkrankheit      auf die vergangenen acht Monate zeigt, wie verletzlich unsere vernetzte Welt geworden ist.
        im chinesischen Wuhan.
        Die Ärzte vor Ort denken     „Es ist ernst!“ Bundeskanzlerin Angela Merkel         unteren Atemwegen und wird ausgestoßen, wenn
    zunächst an Sars, eine Virus-­   spart am 18. März 2020 nicht mit Warnungen, als       Infizierte sprechen, atmen, singen, husten oder
    Erkrankung, die ebenfalls die    sie in einer ungewöhnlichen TV-Ansprache die          niesen. Wie genau und in welchem Maße erkrank-
               Atemwege befällt.     Bundesbürger auf eine schwere Krise einstimmt.        te und infizierte Menschen das Virus weitergeben,
                                     „Es geht um Menschenleben“, sagt die sonst so         ist bis heute nicht restlos geklärt. Viele Forscher
                                     nüchterne Physikerin. Einige Wochen zuvor kann-       glauben inzwischen, dass sich das Virus durch
                                     te in Deutschland kaum jemand die chinesische         Aerosole, feine Schwebeteilchen in der Luft, ver-
                       23. Januar    Stadt Wuhan. Das Wort „Coronavirus“ war allen-        teilt. Solche Kleinstpartikel können lange in einem
     Die gesamte Stadt Wuhan         falls Virologen und Medizinern ein Begriff. Doch      Raum verweilen und von anderen eingeatmet
     mit elf Millionen Menschen      im März ändert sich das schlagartig. Die Welt-        werden. Krankheiten wie Masern oder Tuberkulo-
                 wird abgeriegelt.   gesundheitsorganisation (WHO) gibt dem neu-           se verbreiten sich ebenfalls auf diesem Weg. Auch
         Vier Tage später gibt es    artigen Coronavirus später den sperrigen Namen        die große Bandbreite der Symptome stellt Ärzte
             auch in Deutschland     Sars-CoV-2. Die Krankheit, die das Virus auslöst,     und Forscher vor Rätsel. Manche Infizierte haben
            den ersten offiziellen   wird Covid-19 genannt. Es ist ein Kurzwort aus        keinerlei Beschwerden, andere nur milde Sym­
       Corona-Fall in München.       den Begriffen Corona, Virus und Disease (Krank-       ptome wie Fieber und Husten. Wieder andere
                                     heit) und dem Jahr, in dem der Erreger erstmals       Patienten erkranken lebensbedrohlich und müs-
                                     auftrat.                                              sen künstlich beatmet werden.

                                     Um die Pandemie erfolgreich bekämpfen zu kön-         Das öffentliche Leben steht still
                                     nen, ist es wichtig zu verstehen, wie sich das neue   Während Forscher versuchen, den neuartigen
                                     Virus verbreitet. Doch dies zu klären, ist schwer.    Krankheitserreger zu verstehen, breitet sich die
                                     Das Coronavirus vermehrt sich in den oberen und       Infektion immer weiter aus. In Deutschland wer-

                                                                                             AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
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Rückblick | 5

                                                                                                   schen in der Öffentlichkeit werden untersagt.
                                                                                                   Ausgenommen sind Angehörige, die im selben
                                                                                                   Haushalt leben. „Abstand halten“ heißt jetzt die
                                                                                                   Devise.

                                                                                                   Hotspot USA                                             5. Februar
                                                                                                   Rund um den Globus steigen die Fälle rasant. Das        Japan stellt ein Kreuzfahrt-Schiff
                                                                                                   Virus hat nun auch Russland, Lateinamerika, Af-         wegen Corona unter Quarantä-
                                                                                                   rika und den Mittleren Osten erreicht. Viele Flug-      ne. Die japanischen Behörden
                                                                                                   gesellschaften, darunter die Lufthansa, verlangen       studieren den Ausbruch und
                                                                                                   das Tragen einer Maske. Doch die meisten Flug-          kommen zum Schluss, dass das
                                                                                                   häfen bleiben menschenleer. Die USA entwickeln          Virus sich in engen, schlecht
                                                                                                   sich unterdessen zu einem neuen Hotspot für             gelüfteten Räumen mit vielen
                                                                                                   Corona. Am 26. März meldet das Land über                Menschen besonders leicht
                                                                                                   81.000 Coronafälle und 1.000 Tote – mehr Infek-         verbreitet.
                                                                            Illustration: iStock

                                                                                                   tionen als jedes andere Land der Erde. Die US-Re-
                                                                                                   gierung unter Donald Trump, der das Virus erst
                                                                                                   leugnet und dann kleinredet, bekommt die Pan-
                                                                                                   demie nicht in den Griff. Weil die Wirtschaft blutet    Mitte März
                                            Ein Virus erobert die Welt –                           und im November Wahlen anstehen, kehren vie-            Italien, Iran und Spanien
                                       ­binnen weniger Monate hat sich                             le US-Bundesstaaten zur Normalität zurück, be-          entwickeln sich zu neuen
                                             Corona über den gesamten                              vor die Infektionszahlen sinken. Proteste gegen         Hotspots, während China am
                                                      Erdball verbreitet.                          Lockdown-Maßnahmen und Maskenpflicht be-                19. März erstmals keine Neu­
                                                                                                   fördern das Chaos. Mitte August verzeichnet das         infektionen meldet. Doch für
                                                                                                   Land über fünf Millionen Infektionen und fast           eine Entwarnung ist es zu früh.
                       den ab Mitte März Versammlungen und Veran-                                  170.000 Tote.                                           Etliche Länder führen nun
                       staltungen verboten. Kitas und Schulen schließen.                                                                                   Corona-Schutzmaßnahmen ein,
                       Es gibt keine Gottesdienste und keine Bundesliga                            In Europa ist Italien besonders schlimm betroffen.      darunter Lockdowns, Reisesper-
                       mehr. Binnen einer Woche steht das öffentliche                              Das liebste Urlaubsland der Deutschen geht im           ren, Quarantäne für Infizierte,
                       Leben still. Grenzen werden geschlossen, es gilt                            März in einen strengen Lockdown. In der nord-           Schulschließungen, Versamm-
                       eine weltweite Reisewarnung. Am 17. März stuft                              italienischen Lombardei wütet das Virus so              lungsverbote und Smart-
                       das Robert Koch-Institut (RKI) das Gesundheits-                             schlimm, dass in der Stadt Bergamo ein Militär-         phone-Apps zur Kontaktwar-
                       risiko durch das Coronavirus als hoch ein. Ge-                              konvoi Särge mit verstorbenen Corona-Opfern             nung und -verfolgung.
                       schäfte, Cafés und Restaurants, Kultur- und Sport-                          abholt, weil in Krankenhäusern und auf Friedhöfen
                       einrichtungen schließen. Nur noch Läden der                                 kein Platz mehr ist. Es sind Bilder wie im Krieg. Ein
                       Grundversorgung bleiben geöffnet. Am 22. März                               unterfinanziertes, marodes Gesundheitssystem,
                       einigen sich Bund und Länder auf ein Kontakt-                               gepaart mit einem Zuständigkeits-Hickhack zwi-
                       verbot. Versammlungen von mehr als zwei Men-                                schen den Regional- und Zentralregierungen, be-

                          Pandemie
                          Am 12. März erklärt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Covid-19-Aus-
                          bruch zur Pandemie. Anders als bei einer Epidemie mit zeitlicher und räumlicher
                          Begrenzung ist eine Pandemie ein weltweiter Krankheitsausbruch. Über die
                          neue Corona-Pandemie wissen die Forscher immer noch wenig. Die letzte
                          Pandemie verkündete die WHO 2009, als die Schweinegrippe, eine neue
                          Variante des Influenza-Virus H1N1, auftrat. Ein früherer Subtyp dieses Erregers
                          hatte 1918 die Spanische Grippe ausgelöst, an der zwischen 50 und 100
                          Millionen Menschen starben. Gegenwärtig sterben an der saisonalen Grippe
                          jährlich 0,1 Prozent der Menschen, die sich infiziert haben – also einer von
                          tausend. Erste Studien aus China gehen beim Coronavirus von einer Todesrate
                          von zwei Prozent aus. Die WHO spricht sogar von 3,4 Prozent, andere Studien
IIlustration: iStock

                          kommen auf über ein Prozent. Selbst dann wäre die neue Viruserkrankung
                          immer noch zehnmal so tödlich wie die saisonale Grippe.

                       AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
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6 | Rückblick

                        24. März
       Indien ordnet den größten
 Lockdown der Welt für seine gut

                                                                                                                                                    Foto: iStock
 1,3 Milliarden Einwohner an. Am
      gleichen Tag wird die Som-
           mer-Olympiade in Tokio                      Abstandsregelungen und Schutzmasken sollen die Ausbreitung des Virus verhindern.
 verschoben. Die USA entwickeln
     sich zum neuen Hotspot für
                         Corona.       feuert die Krise in Italien. Mitte August verzeichnet   Marathon und kein Sprint“, verteidigt Schwedens
                                       Italien über 250.000 Fälle und mehr als 35.000          Regierung ihre ungewöhnliche Strategie. Im Au-
                                       Tote. Auch das Nachbarland Frankreich geht im           gust kommt Regierungsberater Anders Tegnell in
                                       März in einen Lockdown. Besonders die hohen             die Kritik, als E-Mails des Wissenschaftlers auf-
                            6. April   Infektionszahlen in Alters- und Pflegeheimen sind       tauchen, in denen er fragt, ob man nicht eine
   Der britische Premierminister       besorgniserregend. Die Krise legt die Schwächen         hohe Todesrate bei älteren Menschen einfach in
 Boris Johnson wird wegen einer        des staatlichen Gesundheitssystems bloß. Es fehlt       Kauf nehmen sollte, um so schneller eine Her-
          Corona-Infektion auf die     an Intensivbetten, Masken, Schutzkleidung und           den-Immunität der Bevölkerung zu erreichen.
       Intensivstation verlegt und     Personal. Im Juni demonstrieren in Paris Tausende
         schwebt mehrere Tage in       Ärzte und Pfleger gegen die Regierung. Berichte,        Lockerungen und Ernüchterungen
                     Lebensgefahr.     wonach Beatmungsplätze in den Krankenhäusern            In Deutschland werden ab Anfang Mai manche
                                       für jüngere Menschen freigehalten werden, sorgen        Beschränkungen wieder gelockert. Die befürchte-
                                       für Aufruhr. Mitte August registriert Frankreich        te Überlastung des Gesundheitssystems ist aus-
                                       über 220.000 Fälle und mehr als 30.000 Tote.            geblieben. Die Bahn kehrt zum Regelfahrplan
                           13. Mai     Deutschland hingegen hat die Krise bislang ver-         zurück, auch Schulen öffnen langsam wieder.
    Die WHO warnt vor zu hohen         gleichsweise gut überstanden. Mitte August ver-         Doch viele Einschränkungen bleiben. Masken im
 Erwartungen an einen Impfstoff.       zeichnet Deutschland 228.000 Fälle, hat aber            Nahverkehr und in Geschäften sind in vielen Bun-
 Es sei unwahrscheinlich, dass ein     „nur“ rund 9.200 Tote zu beklagen.                      desländern Vorschrift. Am 17. Mai stürzen
     solcher die Pandemie schnell                                                              Deutschland und Japan, zwei der größten Volks-
  und vollständig beenden werde.       Schweden geht einen Sonderweg                           wirtschaften der Welt, in eine tiefe Rezession.
                                       Während Lockdown und Beschränkungen überall             Deutschlands Bruttosozialprodukt bricht im zwei-
                                       in Europa zur neuen Normalität werden, macht            ten Quartal um über zehn Prozent ein. Der Ab-
                                       Schweden alles anders. Schulen bleiben offen,           sturz ist heftiger als in der Wirtschafts- und Fi-
                                       Cafés und Restaurants schließen nicht. Die Regie-       nanzkrise 2008. Es ist eine Krise ohnegleichen.
                                       rung empfiehlt allerdings Abstandsregeln, Arbeit
                                       von zu Hause und verbietet Großveranstaltungen.         Erste Medikamente machen Hoffnung
                                       Der Ansatz sorgt für Kritik innerhalb und außer-        Während die Infektionszahlen weltweit steigen
                                       halb Schwedens. Mitte August verzeichnet das            und der wirtschaftliche Schaden immer deutlicher
                                       Land mit rund 10 Millionen Einwohnern über              hervortritt, bemühen sich Forscher und Ärzte, das
                                       85.000 Infektionen und fast 6.000 Tote – eine           Leben von Corona-Kranken zu retten. Doch es
                                       der höchsten Todesraten, gemessen an der Be-            gibt keine Wundermittel. Kein bisher entwickeltes
                                       völkerungsgröße in Europa. „Die Pandemie ist ein        Medikament kann eine Coronavirus-Erkrankung

                                                                                                 AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
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Rückblick | 7

heilen. Verschiedene Therapien werden getestet,         ­getestet, nur sieben davon sind in der entschei-       3. Juni
darunter das Antivirus-Mittel Remdesivir (Han-          denden Phase 3. Hier scheitern aber die meisten         Die Bundesregierung beschließt
delsname Veklury), das ursprünglich gegen Ebola         Impfstoffe. Russland sorgt am 11. August für Auf-       ein Konjunkturpaket mit einem
entwickelt wurde. Das Medikament kann helfen,           sehen und Kritik, als es seinen Corona-Impfstoff        Volumen von rund 130 Milliarden
den Krankheitsverlauf abzukürzen, senkt aller-          Sputnik V zulässt, ohne ihn in Phase 3 getestet         Euro, um die Wirtschaft nach
dings nicht die Zahl der Todesfälle. Andere Mittel      zu haben. „Es geht ja nicht darum, irgendwie Ers-       dem Lockdown anzukurbeln.
konzentrieren sich darauf, die Entzündungsreak-         ter zu sein, sondern es geht darum, einen wirk-
tion im Körper zu begrenzen, um etwa schweren           samen, einen erprobten und damit eben auch
Lungenschäden vorzubeugen. Darunter ist auch            sicheren Impfstoff zu haben“, kritisiert Bundes-        5. Juni
der Entzündungshemmer Dexamethason, ein                 gesundheitsminister Jens Spahn.                         Die EU-Innenminister einigen
Medikament, das unter anderem gegen Rheuma                                                                      sich darauf, in Europa bis zum
eingesetzt wird. Es sei kein Durchbruch, sagt RKI-      Bislang haben die USA über 90 Milliarden Euro           1. Juli wieder volle Reisefrei­
Chef Lothar Wieler Anfang August vorsichtig, aber       und Europa knapp drei Milliarden Euro in die Ent-       zügigkeit herzustellen.
die beiden Medikamente könnten „eine Verbes-            wicklung einer Impfung gesteckt. Wissenschaftler
serung des Ausgangs bewirken“.                          hoffen, dass eine Impfung Anfang 2021 zugelassen
                                                        wird. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA         27. Juli
Auf der Suche nach einem Impfstoff                      erklärt, dass ein Impfstoff mindestens 50 Prozent       Die WHO bezeichnet die
Die Arbeit an einem Impfstoff läuft derweil auf         der geimpften Personen schützen muss, um zu-            Coronavirus-Pandemie als den
Hochtouren. In normalen Zeiten dauert die Ent-          gelassen zu werden. „Wir alle wollen morgen schon       schwersten globalen Gesund-
wicklung einer Impfung 15 bis 20 Jahre. Die             eine Impfung. Das ist unrealistisch. Und wir alle       heitsnotstand in ihrer Geschichte.
schnellste Entwicklungszeit bislang bei vier Jahren.    wollen eine Impfung, die zu 100 Prozent wirksam
Doch seit Anfang des Jahres sind Hunderte For-          ist. Auch das ist unrealistisch“, sagt der Leiter der
scherteams auf der Welt dabei, diesen Prozess auf       Behörde, Stephen Hahn, Ende Juli.                       27. August
nur ein paar Monate zu verkürzen, um so schnell                                                                 Bund und Länder einigen sich
wie möglich eine Impfung auf den Markt zu brin-         Angst vor der zweiten Welle                             auf ein Mindestbußgeld von
gen. Dabei verfolgen die Forscher mehrere Strate-       Während das Warten auf Impfstoffe und Therapien         50 Euro für Verstöße gegen die
gien, darunter die klassische Technologie, in der       weitergeht, benötigen weitere Herausforderungen         Maskenpflicht – nur Sachsen-An-
ein inaktives Virus, also ein abgetöteter Krankheits-   eine Lösung. Viele Länder haben nach einem har-         halt will bei dieser Regelung
erreger, verwendet wird, um eine Immunreaktion          ten Lockdown im März und April die Coro-                nicht mitmachen. Großveranstal-
hervorzurufen. Impfungen gegen Kinderlähmung            na-Schutzmaßnahmen gelockert, um die Wirt-              tungen, bei denen keine
oder Keuchhusten basieren auf diesem Prinzip.           schaft wieder anzukurbeln. Doch die Rückkehr in         Kontaktverfolgung möglich ist,
Andere Wissenschaftler setzen auf die Entwick-          die Normalität ist voller Tücken: Im Juli und August    sollen bis Ende des Jahres
lung eines genbasierten Impfstoffs, der genetische      steigen in Europa die Fallzahlen wieder rapide an.      untersagt bleiben.
Informationen des Coronavirus mithilfe eines Bo-        Urlauber, die aus beliebten Reiseländern wie Spa-
tenstoffs, der sogenannten messenger RNA, in            nien oder Kroatien zurückkehren, sorgen für stei-
Zellen einschleust, um einen Immunschutz auf­           gende Infektionsraten und schüren damit die
zubauen. Bislang gibt es jedoch keine einzige           Angst vor der zweiten Welle. Während im Früh-
Impfung, die auf dieser Technik beruht. Wieder          sommer das Virus in ganz Deutschland zurück-
andere Wissenschaftler arbeiten an einem Vektor-        gedrängt worden war und vereinzelte lokale Aus-
viren-Impfstoff, in dem für Menschen harmlose           brüche wie beim Schlachthof Tönnies schnell unter
Viren so verändert werden, dass sie dem Körper          Kontrolle gebracht werden konnten, steigen nun
eine Coronavirus-Infektion vortäuschen, damit er        die Infektionszahlen flächendeckend. Die Politik
Antikörper bildet. Der erste, Ende 2019 zugelasse-      bietet allen Urlaubsrückkehrern kostenlose Tests
ne Ebola-Impfstoff funktioniert so.                     an und verhängt eine Testpflicht für Rückkehrer
                                                        aus Risikogebieten. In der Folge stabilisieren sich
Die schwierige Phase 3                                  die Infektionszahlen auf einem höheren, aber hän-
Impfzulassungen unterliegen weit strengeren Auf-        delbaren Niveau – doch die Angst vor der zweiten
lagen als Medikamentenzulassungen. Weil hier            Welle im Herbst bleibt. Ende August sagen erste
gesunde Menschen einen Wirkstoff erhalten,              Städte wie Köln Weihnachtsmärkte und Karnevals-
muss sichergestellt werden, dass die Impfung si-        veranstaltungen ab. Oberstes Ziel der Behörden ist
cher, gut verträglich und wirkungsvoll ist. Um das      es nun, durch wieder verschärfte Kontaktbeschrän-
zu erreichen, sind umfangreiche Tests nötig. Kli-       kungen einen zweiten Lockdown zu verhindern.
nische Tests von Impfstoffen verlaufen in drei          Erst wenn es neue, wirksame Medikamente oder
                                                                                                                                                     Foto: iStock

Phasen: In der letzten Etappe, der Phase 3, wird        einen Impfstoff gibt, wird es eine Normalität geben
die Impfung gewöhnlich an etwa 30.000 Freiwil-          können, wie es sie vor der Pandemie gab. Aber
ligen getestet. Im August sind über 160 Impfstof-       selbst das ist fraglich – denn das Leben nach Co-       Die Wissenschaft arbeitet mit
fe in Entwicklung, 29 werden an Menschen                rona wird sich verändert haben.                         Hochdruck an einem Impfstoff.

AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
Forum l i a - Alles anders!
8 | Digitaler Wandel

               Starker
    Interessenvertreter

     Die Bundesarbeitsgemeinschaft

                                                                                                                                                        Foto: iStock
       Selbsthilfe von Menschen mit
   Behinderung, chronischer Erkran-
   kung und ihren Angehörigen e. V.                                    Bleibt die Selbsthilfe nur mithilfe digitaler Kommunikation zukunftsfähig?
         (BAG SELBSTHILFE) ist die
 Vereinigung der Selbsthilfeverbände
  behinderter und chronisch kranker

                                          Neue Kommunikations­
 Menschen und ihrer Angehörigen in
                        Deutschland.

  Die BAG SELBSTHILFE vertritt die
       Interessen von Menschen mit
       chro­nischen Krankheiten und
                                          formen gesucht
         Behinderungen sowie deren
          Angehörigen in Politik und
   Gesellschaft. Sie setzt sich für die
                                          Digitalisierung I Die Corona-Pandemie bedeutet für die Selbsthilfe behinderter und chro-
                                          nisch kranker Menschen eine bislang nie dagewesene Herausforderung. Um die Arbeit der Selbst­
 Förderung der Selbsthilfebewegung
                                          hilfegruppen vor Ort und auch die der Interessenvertretungen zu sichern, mussten in kurzer Zeit neue
                  in Deutschland ein.
                                          Kompetenzen in der digitalen Kommunikation erworben werden.

 Die BAG Selbsthilfe vertritt nicht nur   Der Informations- und Unterstützungsbedarf in           Selbsthilfearbeit ohne internetbasierte Kommuni-
  die Interessen der Patientinnen und     der Selbsthilfe sowie das Bedürfnis nach Aus-           kation nicht zukunftsfähig ist. Denn nur über funk-
     Patienten im Gesundheitswesen,       tausch und emotionaler Zuwendung sind enorm.            tionierende Kommunikationswege können die
           sondern koordiniert für alle   Deshalb orientieren sich die Arbeitsformen der          notwendigen Informationen, die den betroffenen
 maßgeblichen Patientenorganisatio-       Selbsthilfegruppen traditionell am direkten Aus-        Menschen in der Krise zur Verfügung gestellt wer-
       nen die Patientenbeteiligung in
                                          tausch unter Betroffenen – was unter den gesetz-        den müssen, auch die Betroffenen erreichen.
     gesundheitspolitischen Gremien.
                                          lichen Bedingungen der vergangenen Wochen               ­Daher bestand während des Lockdowns großer
                                          nicht möglich war. Ähnliches gilt für die Arbeit der     Beratungsbedarf, wie sich Web-Fortbildungen so-
                                          Selbsthilfeverbände, deren Gremienarbeit und             wie Telefon- und Videokonferenzen organisieren
                                          Versammlungen sowie Beratungsangebote eben-              lassen. Auch Online-Mitgliederbefragungen oder
                                          falls im Face-to-Face-Modus stattfinden.                 die digitale Barrierefreiheit waren wichtige The-
                                                                                                   men. Schon auf der Ebene der Kommunikations-
                                          Tücken der Technik                                       technologien brauchten die Verantwortlichen in der
                                          Auch wenn in den vergangenen Jahren in der               Selbsthilfe in größerem Umfang Beratung und
                                          Selbsthilfe erste digitale Arbeitsformen und Ange-       Unterstützung. Denn viele digitale Anwendungen
                                          bote erfolgreich integriert wurden, gehören viele        weisen massive Defizite bei der Datensicherheit
                                          Verantwortliche in der Selbsthilfe noch einer Ge-        und bei der Barrierefreiheit auf.
                                          neration an, die nicht mit internetbasierten Techno-
                                          logien aufgewachsen ist. Zudem ist es schon ein         Zudem ist es nötig, das Know-how vieler Aktiver
                                          Unterschied, ob man gewohnt ist, mit E-Mails oder       in der praktischen Anwendung digitaler Kommu-
                                          Social Media umzugehen, oder ob man nun Video-          nikationsmittel zu stärken. Die Umstellung von
                                          konferenzen moderieren oder Online-Mitglieder-          Schulungen vor anwesendem Publikum auf
                                          versammlungen durchführen soll.                         Web-Fortbildungen erfordert wesentlich mehr
                                                                                                  Know-how als nur die Kenntnis einer bestimmten
                                          Spätestens seit März 2020 muss allen Verantwort-        Software. Moderationstechniken und Präsentatio-
                                          lichen in der Selbsthilfe klargeworden sein, dass die   nen sind auf die neuen Bedingungen umzustel-

                                                                                                    AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
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Digitaler Wandel | 9

               len. Oft findet sich aber trotz digitaler Möglich-     zehn Personen in einer Telefonkonferenz kontro-
               keiten keine vernünftige Alternative, um das           vers diskutieren, wenn bei Hybridveranstaltungen
               Bedürfnis nach Nähe oder das Gruppengefühl zu          die Telefon- und Videoteilnehmer das Nachsehen
               ersetzen. Auch dies gilt es zu erkennen, um auf        gegenüber anwesenden Personen haben oder
               die neuen Situationen adäquat zu reagieren.            wenn Ton- und Bildübertragungsprobleme hinzu-
                                                                      treten. Gerade die Patientenvertretung, die nicht
               Zu den aktuellen technischen Problem hinzu             über Entscheidungsrechte verfügt und auf die Mit-
               kommt noch die finanzielle Unsicherheit. Viele         beratung angewiesen ist, hat durch diese Ein-
               schon bewilligte Projekte konnten oder können          schränkungen der strukturierten Diskussion mas-
               nicht umgesetzt werden. So stellten sich Fragen        sive Nachteile.
               zu Stornokosten, zu möglichen Rückforderungen
               von Fördermitteln, zu möglichen Umwidmungen            Beteiligung scheitert am Equipment
               von Mitteln und deren Begründung und letztlich         Hinzu kommt, dass die Patientenvertreterinnen
               auch, wie bei ansonsten wegbrechenden Finanz-          und -vertreter, wenn sie von zu Hause aus an ei-
               mitteln die Arbeit fortgesetzt werden kann. Vor        ner Sitzung teilnehmen, auf das heimische Equip-
               diesem Hintergrund wird deutlich, dass es für die      ment und die dortige Versorgung mit Internet-
               Selbsthilfe in dieser schwierigen Zeit besonders       und Telefonanschlüssen angewiesen sind. Hier
               wichtig ist, in den gesetzlichen Krankenkassen         bestehen häufig gravierende Probleme, so dass
               verlässliche und flexible Partner zu finden.           sie nicht adäquat mitwirken können. Teilweise
                                                                      haben betroffene Personen ihre Mitwirkung schon
               Interessenvertretung unter Druck                       ganz aufgegeben. Diese ­Probleme verschärfen
               Die Corona-Pandemie verursacht zudem spezielle         sich, wenn Patientenvertreterinnen und -vertreter    Abgesagte
               Herausforderungen für die Selbsthilfe im Bereich       nicht über das notwendige Know-how verfügen,         Veranstaltungen
               der Interessenvertretung von Menschen mit einer        um sich in digitale Diskussions- und Abstim-
               chronischen Krankheit, einer Behinderung oder          mungsprozesse adäquat einzubringen. Auch in
               Pflegebedarf. Zum einen hat sich die Arbeitsweise      schriftlichen Beschluss- und Stellungnahmever-       Viele Veranstaltungen, die von den
               vieler Gremien massiv verändert. An die Stelle von     fahren kann es an Möglichkeiten fehlen, Voten        Selbsthilfegruppen geplant waren,
               regulären Präsenzsitzungen sind vielfach schriftli-    genauso überzeugend einzubringen, wie dies in        konnten nicht stattfinden. Die Mittel,
               che ­Beschlussfassungen, Videokonferenzen, Tele-       einer mündlichen Diskussion der Fall wäre.           die in der Pauschalförderung hierfür
               fonkonferenzen oder Hybridveranstaltungen ge-                                                               beantragt wurden, müssen in Hessen
                                                                                                                           nicht zurückgezahlt werden, sondern
               treten, bei denen Menschen vor Ort gemeinsam           Es wird deshalb eine zentrale Aufgabe der näheren
                                                                                                                           können als Rücklage in das nächste
               mit Videoteilnehmern konferieren. Bei dieser neu-      Zukunft sein, die Beteiligungsmöglichkeiten der
                                                                                                                           Jahr mitgenommen werden. Sollten
               artigen Form der Gremienarbeit kommen die un-          Selbsthilfeorganisationen auch unter den erschwer-   Stornogebühren angefallen sein,
               terschiedlichsten Technologien zum Einsatz, ohne       ten Bedingungen aufrechtzuerhalten. Dazu gehört      wenden Sie sich bitte an die
               dass ausreichend Zeit für laienverständliche oder      es auch, die entsprechenden Willensbildungsprozes-   zuständige Krankenkasse.
               gar barrierefreie Einweisungen der Patientenver-       se und Qualifikationsmaßnahmen zu organisieren.
               treterinnen und Patientenvertreter besteht. Oft sind
               die Moderatorinnen und Moderatoren solcher Sit-        Dr. Martin Danner ist Bundesgeschäftsführer
               zungen überfordert, wenn beispielsweise mehr als       der BAG SELBSTHILFE.

                                  Hochansteckend: Das Coronavirus verbreitet sich über feinste Aerosole in der Luft.
Foto: iStock

               AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
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10 | Aus der Praxis

                                                                                                                                      Foto: privat
                                                  Maren Kochbeck ist Geschäftsführerin der Selbsthilfe-Kontaktstelle in Frankfurt.

                            „Die Uhr lässt sich nicht
                            mehr zurückdrehen“
                            Kontaktstelle I Die Selbsthilfe-Kontaktstelle in Frankfurt hat die regionalen Selbsthilfegruppen
                            in der Zeit des Lockdowns mit verschiedenen digitalen Angeboten unterstützt. Zudem startete sie eine
                            Umfrage, um herauszufinden, wie die einzelnen Gruppen mit den Kontaktbeschränkungen umgegan-
                            gen sind. 44 Gruppen meldeten sich zurück – mit teilweise erstaunlichen Ergebnissen.

                            Wie haben die Corona-Kontaktbeschrän-                Welche Angebote konnten Sie den Selbst-
                            kungen Ihre Arbeit verändert? Selbst­hilfe-          hilfegruppen durch die Kontaktbeschrän-
                            Kontaktstelle aus dem Home-Office –                  kungen nicht mehr machen?
                            geht so was überhaupt?
   „Zu Beginn des                                                                Neben der Beratung und der Bereitstellung
                            Kurz vor dem bundesweiten Lockdown haben wir         günstiger Räume begleiten wir die Gruppen über
       Lockdowns            bereits am 13. März unsere Kontaktstelle für die     das ganze Jahr hinweg bei diversen Veranstaltun-
                            Selbsthilfegruppen geschlossen. Ab dem 16. März      gen. Der Frankfurter Selbsthilfemarkt beispiels-
     wollten wir die        sind dann alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter      weise ist eine riesige Veranstaltung, bei der alle
                            ins Homeoffice gegangen. Da wir keinerlei            Gruppen ihre Arbeit der Öffentlichkeit präsentie-
  Selbsthilfegrup-          technische Infrastruktur für diese Form der Arbeit   ren können. Zusätzlich zu dieser Unterstützung
                            hatten, mussten wir zunächst diverse technische      bieten wir den Gruppen auch diverse Qualifizie-
     pen mit einer          Umrüstungen vornehmen lassen. Telefonisch            rungen für die Selbsthilfearbeit an. All diese
                            waren wir vom ersten Tag an für Ratsuchende          Angebote fielen durch die Kontaktbeschränkun-
  Sonderseite auf           erreichbar und es ging auch erstaunlich schnell,     gen komplett weg.
                            dass wir von zu Hause aus voll arbeitsfähig
  unserer Website           waren. In den ersten Wochen meldeten sich nur        Welche Alternativen konnten Sie anbieten?
                            wenig Ratsuchende bei uns. Ab Ostern änderte
    möglichst um-           sich das wieder und das Tagesgeschäft normali-       Zu Beginn des Lockdowns war es uns wichtig,
                            sierte sich. Das Ganze hat erstaunlich gut           die Selbsthilfegruppen mit einer Sonderseite auf
     fassend infor-         funktioniert, was sicher auch damit zu tun hat,      unserer Website möglichst umfassend zu
                            dass die meisten Beratungen auch vor Corona          informieren. Hier lieferten wir nicht nur fachlich
           mieren.“         schon telefonisch liefen. Wo die telefonische        korrekte Infos rund um Corona. Interessierte
                            Beratung nicht ausreichte, konnten wir sehr          fanden auf der Seite auch die Kontaktdaten von
           Maren Kochbeck   schnell auch auf Videomeetings ausweichen.           Anlaufstellen, bei denen sie in akuten Krisensitu-

                                                                                    AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
Aus der Praxis | 11

ationen wie etwa bei psychischen Problemen           diskutieren das Thema zurzeit durchaus kontro-
oder häuslicher Gewalt schnelle Hilfe bekom-         vers, weil nun mit den digitalen Formaten eine
men. Wir haben auf der Seite aber auch               neue Möglichkeit des Miteinanders hinzugekom-
kulturelle Tipps für Eltern und Kinder hinterlegt,   men ist. Einerseits spüre ich bei vielen Mitgliedern
damit sie möglichst gut durch den Lockdown           die Sehnsucht, dass „nach Corona“ alles wieder so
kommen. Wir haben auch Informationen in              sein soll wie zuvor: reale Gruppentreffen.
Gebärdensprache und leichter Sprache angebo-         Andererseits lässt sich die Uhr nicht zurückdrehen
ten. Zudem haben wir eine laienverständliche         und das einmal erlernte Rüstzeug für digitale          „Die Selbsthilfe
Schritt-für-Schritt-Anleitung erstellt, wie die      Selbsthilfe wird sicher auch die weitere Arbeit in
Gruppen datenschutzkonform Videomeetings             den Gruppen prägen. Ich vermute, dass es künftig       braucht jetzt
organisieren können und was sie dafür brauchen.      zum einen mehr reine Onlinegruppen geben wird
Nach einigen Wochen haben wir uns per Mail an        und dass zumindest einige Gruppen ein neben-           klare Zusagen,
alle Gruppen gewandt, um herauszufinden, wie         einander von analogen Treffen und digitalen
es ihnen geht, wie sie mit den aktuellen             Angeboten aufbauen werden.                             dass die Basis­
Gegebenheiten klarkommen und ob sie
Unterstützung benötigen.                             Brauchen die Selbsthilfeaktiven mehr                   finanzierung
                                                     Unterstützung?
Was sind die wichtigsten Ergebnisse?                                                                        gesichert ist und
                                                     Aus unserer Befragung ging hervor, dass sich die
Auf unsere Umfrage meldeten sich 44 Gruppen          Selbsthilfegruppen von der Politik vor allem klar      coronabedingte
zurück. Fast alle Gruppen waren auch ohne die        formulierte und juristisch valide Informationen
regelmäßigen Treffen miteinander in Kontakt          darüber wünschen, was genau sie innerhalb              Mehrkosten
geblieben. 80 Prozent kommunizierten dafür           verschiedener Settings eigentlich dürfen. Oft war
zumindest per E-Mail, knapp die Hälfte der           bei neuen Verordnungen – die kamen ja teilweise        übernommen
Gruppen griff auf Messengerdienste zurück und        im Wochentakt – überhaupt nicht klar, zu welcher
immerhin ein rundes Drittel der Gruppen              Kategorie, zu welchen konkreten Paragrafen die         werden.“
verwendete für den Gruppenkontakt Video- oder        Selbsthilfe eigentlich zählt. Es gab beispielsweise
Telefonkonferenzen. Die meisten Gruppen              unterschiedliche Vorgaben für Kirchengemein-                    Maren Kochbeck
nutzten mehrere Möglichkeiten parallel. Über die     den, Vereine oder Autismustherapiezentren.
Hälfte antwortete, dass die Stimmung in der          Hinzu kam: In den Medien rieten Wissenschaftler
Gruppe schlecht (12 Prozent) oder wechselhaft        dazu, wegen der Aerosolbelastung möglichst
(42 Prozent) gewesen sei, jedoch berichtete ein      viele Aktivitäten ins Freie zu verlagern. Gleichzei-
Drittel der Gruppen auch, dass die Stimmung          tig stellte sich heraus, dass hier in Hessen für
weiterhin gut sei. Wir bekamen Rückmeldungen         Gruppentreffen im Freien die Vorgaben deutlich
von Gruppen­mitgliedern, die sich mit der            strikter waren als für Gruppentreffen in einem
digitalen Technik schwertaten oder diese gar         geschlossenen Raum. Hier hätte man sich eine
ablehnten. Neben vielen Fragen und Schwierig-        bessere Informationspolitik gewünscht. Ein
keiten kamen überraschenderweise aber auch           weiterer großer Unterstützungsbedarf bestand
positive Rückmeldungen. So verständigten sich        natürlich rund um Fragen zur digitalen Technik.
beispielsweise die Anonymen Alkoholiker (AA)         Hier konnten wir als Kontaktstelle mit unseren
weltweit darauf, für digitale Meetings dieselbe      begrenzten Ressourcen leider keine individuelle
Plattform zu nutzen. Es entstanden weltweite         Beratung möglich machen.
Meetinglisten, sodass jemand, der hier nachts
um drei Uhr Suchtdruck hat, an einem AA-Mee-         Was würden Sie sich für die Selbsthilfe-
ting beispielsweise in Australien teilnehmen         arbeit in der Nach-Corona-Zeit wünschen?
kann. Andere Gruppen freuten sich darüber, dass
an den digitalen Meetings wieder Menschen            In der Selbsthilfe besteht die Sorge, dass sich die
teilnahmen, die etwa wegen Mobilitätseinschrän-      Kommunen unter der hohen finanziellen Last
kungen schon länger nicht mehr zu den                durch die Corona-Pandemie dazu entschließen,
Präsenztreffen kommen konnten.                       bei freiwilligen Leistungen wie der Selbsthilfe-
                                                     unterstützung zu sparen. Da würde ich mir von
Stichwort Digitalisierung: Steht der Selbst-         der Politik eine klare Positionierung wünschen,
hilfe nach Corona ein Wandel bevor?                  dass bei der Selbsthilfe nicht gespart wird – im
                                                     Gegenteil, die Selbsthilfe braucht jetzt klare
Das ist schwer einzuschätzen. Ich vermute, dass      Zusagen, dass die Basisfinanzierung gesichert ist
das in den verschiedenen Gruppen künftig auch        und coronabedingte Mehrkosten auf jeden Fall
unterschiedlich gehandhabt wird. Viele Gruppen       übernommen werden.

AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
12 | Aus der Praxis

                                       Wir bleiben zu Hause!
                                       Aus der Praxis I Unter dem Motto „Wir bleiben zu Hause“ startete die hessische Gruppe
                                       „Frauenselbsthilfe nach Krebs (FSH)“ während des Lockdowns im Frühling unter ihren Gruppenmit-
                                       gliedern eine kleine Umfrage. In ihren Antworten berichten die Frauen davon, wie sie mit den
                                       Kontaktbeschränkungen umgehen, was sie belastet und wie sie mit den Einschränkungen insgesamt
                                       zurechtkommen.

                                       Wir sind stark. Wir sind mutig. Wir feiern das Le-    arbeit, Einkaufen, den Haushalt auf Vorder-
                                       ben. Wir haben Krebs! Unter diesem Motto hätte        mann bringen, alles mal in Ruhe angehen. Da
                                       die 40-Jahr-Feier unserer Selbsthilfegruppe An-       auch mein Mann mit seinen Herzproblemen zu
                                       fang Mai stehen sollen. Es sollte ein Fest für über   einer Risikogruppe zählt, beachten wir alle
                                       100 Menschen werden. Doch dann kam alles              Schutzvorschriften und messen morgens und
                                       ganz anders. Unsere Treffen verlagerten wir we-       abends Fieber. Mir fehlen die Besuche bei den
                                       gen der Corona-Pandemie in die digitale Welt. Wir     Kindern und mein Aushilfsjob, der für Abwechs-
                                       telefonierten miteinander und besuchten uns zu-       lung im Alltag sorgt. Zum Glück gibt es die
                                       weilen – Abstand haltend – an der Haustür. Ins-       Video-Anrufe und die Kommunikation über
                                       besondere unsere neu gegründete Whatsapp-­            WhatsApp. Wichtig sind die Menschen, die sich
                                       Gruppe nutzten wir gern. Wenngleich dies die          für uns einsetzen: Pfleger, Krankenschwestern,
                                       persönlichen Kontakte nicht ersetzen kann, blie-      Ärzte und die vielen freiwilligen Helfer sowie
                                       ben wir so doch miteinander vernetzt.                 ehrenamtlich Tätige. Und wenn die Zeit gekom-
                                                                                             men ist, dass wir abtreten müssen, dann ist es
                                       Agnes                                                 halt so. Ob mit oder ohne Corona.
                                       Beim Radfahren schaue ich, was am Wegesrand
                                       wächst, welche Kräuter, welche Gräser. Sternmie-      Hannelore
                          Webtipp      re, Scharbockskraut, Knoblauchsrauke. Was kann        Mir fehlen meine Enkelkinder, mein Sport, unse-
                                       man essen, sind es Heilpflanzen oder eignen sie       re FSH-Gruppe. Mit den Einschränkungen kann
                                       sich für eine Jauchedüngung im Garten? Es macht       ich umgehen. Immerhin darf ich mich im Freien
                                       mir Freude, meine Wissenslücken zu füllen. Jede       bewegen. Viermal die Woche verabrede ich
                                       Tour wird so zu einem Erlebnis.                       mich mit einer Freundin zum Laufen in der wun-
                                                                                             derschönen Natur. Ansonsten fahre ich mit dem
                 Auf ihrer Website     Angelika                                              Fahrrad in meinen Garten. Ich hoffe, dass bald
 fsh-maintal.de/programm.html          Ich gehe nur einmal die Woche einkaufen, nutze        ein Impfstoff gegen Covid-19 hergestellt und zu-
    veröffentlicht die Gruppe Infos    Gummihandschuhe und Mundschutz. Zum                   gelassen werden kann. Solange werden wir mit
               zu ihren Aktivitäten.   Glück habe ich meinen kleinen Garten. Da meine        dem Coronavirus leben müssen.
   Neu betroffene Frauen erhalten      Nebenjobs weggefallen sind und meine Rente
             gerne Unterstützung:      zum Leben nicht ausreicht, wird es finanziell sehr    Steffi
                                       eng. Das ist im Moment mein größtes Problem.          Da meine Leukos sehr niedrig sind, vermeide ich
              Nieves Schwierzeck                                                             Menschenansammlungen und halte mich eng
   E-Mail: nieves@schwierzeck.de       Burgis                                                an die Hygiene-Auflagen. Meine Familie und
               Tel.: 06181 493820      Ich habe keine Angst, mich anzustecken. Ich ge-       Freunde nicht zu treffen ist belastend, auch dass
                                       nieße das schöne Wetter und die dank des ein-         ich jetzt nicht wie geplant in die Selbsthilfegrup-
                    Karin Daferner     geschränkten Flug- und Autoverkehrs größere           pe kommen kann. Ich versuche, es mir schön zu
   E-Mail: karin.daferner@gmx.de       Ruhe. Meine Gymnastik, das Singen in der              machen: Gehe mit dem Hund spazieren, lese,
                Tel.: 06181 850313     Gruppe fehlen mir. Geht zwar alles auch alleine       häkle viel und wurschtle in der Wohnung. Leider
                                       oder mit Unterstützung von Apps, macht aber           kann ich jetzt auch nicht wie geplant meine
              Susanne Hoffmann         nicht so viel Spaß. Nicht ausgehen, reisen, kein      Arbeit wieder aufnehmen, um meine Erwerbs-
            E-Mail: yaella@gmx.de      Kino, Theater – alles Luxus, kann ich alles aus-      minderungsrente aufzubessern. So bleibt nicht
               Tel.: 06181 497930      halten, wenn ich an Menschen denke, denen das         viel zum ­Leben mit einem Sohn in der Schule
                                       Nötigste fehlt. Wenn ich jemandem helfen kann,        und alleinerziehend.
                                       bin ich bereit.
                                                                                             Marlene
                                       Gisela                                                Seit meiner Krebserkrankung versuche ich
                                       Zu Anfang war alles gar nicht so schlimm. Zu          mich gesund zu ernähren. Wir kochen jeden
                                       Hause bleiben war erstmal wie Urlaub: Garten-         Tag frisch. Nun haben wir die Muße, neue Spei-

                                                                                               AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
Aus der Praxis | 13

                                                                                                                   Foto: FSH
  Bunt und vielfältig – die
   Frauenselbsthilfe nach
                     Krebs

sen und Zubereitungen auszuprobieren. Wir        kann, vermisste sie meine Besuche und konnte
backen Brot, machen dazu Sauerteig selbst,       die Situation auch gar nicht verstehen. Die jet-
sammeln Bärlauch und andere Kräuter für Pes-     zige Besuchsregelung, die es mir erlaubt, meine
to und Butter.                                   Mutter eine Stunde in der Woche zu sehen, hilft
                                                 etwas, macht die Situation aber auf Dauer im-
Astrid                                           mer noch sehr belastend.
In den letzten Wochen mussten wir viel lernen
im Umgang miteinander. Ich habe viel mehr Zeit   Das Coronavirus hat die Welt verändert. Die Poli-
mit meinem Partner verbracht als normalerwei-    tik hat gezeigt, dass sie schnelle und einschnei-
se. Das ständige Zusammensein hat zunächst       dende Maßnahmen treffen kann. Wir alle haben
auch Konflikte ausgelöst. Nun bemühen wir uns,   die Maßnahmen mitgetragen und sind solida-
einander mehr zuzuhören, die eigenen Wünsche     risch. Wir haben erneut gemerkt, was uns wirklich
genauer zu kommunizieren und dem anderen         wichtig ist: Familie, Freunde, emotionale Nähe
auch Raum für sich selbst zu lassen.             und Gemeinschaft, Gesundheit, Radeln, Kochen
                                                 und gemeinsames Essen.
Karin
Am meisten Sorgen mache ich mir um meine         Und wir alle freuen uns, unsere Freunde und
Mutter. Wenn das Virus im Altenheim aus-         Freundinnen, unsere Kinder und Enkel – jetzt, wo
bricht, werden viele Bewohner erkranken und      die Beschränkungen wieder gelockert werden –
vielleicht auch sterben. Schlimm war in dieser   wiederzusehen. Wir freuen uns, wieder essen zu
Situation das totale Kontaktverbot. Da meine     gehen und einkaufen zu können – wenn auch
Mutter dement ist und nicht mehr telefonieren    weiterhin mit Einschränkungen.

AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
14 | Nachgefragt

                                                                                                                                       Foto:: W&B/Michael Hughes
                                                          Gabriele Tammen-Parr leitet die Beratungsstelle „Pflege in Not“ in Berlin.

                              „Viele fühlten sich
                              ­alleingelassen“
                              Pflegende Angehörige I Isoliert, überfordert, ohne Unterstützung: Pflegende Angehörige
                              hatten unter den Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie besonders zu leiden. Während
                              das Thema in der Öffentlichkeit allerdings kaum Aufmerksamkeit fand, gingen die Anruferzahlen bei
                              der Beratungsstelle „Pflege in Not“ innerhalb kürzester Zeit drastisch nach oben.

                              Sie leiten in Berlin die Beratungsstelle             klar: Die Rund-um-die-Uhr-Pflege, oft unter
                              „Pflege in Not“. Wie hat sich die Situation          Isolationsbedingungen, brachte viele Menschen
                              der pflegenden Angehörigen in der Corona-            an ihre Grenzen – und darüber hinaus. Die
                              krise verändert?                                     Auswirkungen der Coronakrise waren teilweise
   „Die Rund-um-                                                                   dramatisch. In unseren Beratungsgesprächen
                              Pflegende Angehörige meistern einen Alltag, der      zeigte sich, dass Groll und Wut aufeinander
   die-Uhr-Pflege,            ohnehin schon kompliziert und belastend ist. Die     rasend schnell zunahmen – bis hin zur offenen
                              mit der Corona-Pandemie einhergehenden               Aggression und Gewalteskalation. Wir hatten
    oft unter Isola-          Kontaktbeschränkungen und der Wegfall fast           Anrufer, die in höchster Not waren und Angst
                              aller Unterstützungsmöglichkeiten haben diese        hatten, dass ihre Überforderung in Gewalt
   tionsbedingun-             Menschen allerdings vor kaum zu bewältigende         umschlagen könnte. In den Beratungsgesprä-
                              Herausforderungen gestellt. Ohne Tagespflege,        chen zeigte sich zudem, wie stark die Anrufer
      gen, brachte            Betreuungsgruppen, Einzelbetreuung oder              verunsichert waren: Während die gesamte
                              Gesprächsgruppen für pflegende Angehörige            unterstützende Infrastruktur zusammenbrach,
   viele pflegende            waren die Betroffenen vollkommen auf sich            bestellten sie aus Angst vor dem Virus auch
                              gestellt. Sie waren plötzlich auf engstem Raum       noch den ambulanten Pflegedienst ab. Alte
    Angehörige an             mit den Pflegebedürftigen eingeschlossen,            Menschen, die ihren Ehepartner nun ganz alleine
                              fühlten sich überfordert und alleingelassen.         pflegten, brachen am Telefon in Tränen aus, weil
    ihre Grenzen –                                                                 sie das einfach nicht mehr leisten konnten. Viele
                              Wie hat sich das bei Ihnen im Beratungs­             Anrufer waren völlig verzweifelt und sagten, dass
       und darüber            alltag gezeigt?                                      sie nicht wüssten, wie es weitergehen soll.

           ­hinaus.“          Als Mitte März die Kontaktbeschränkungen             Auch jüngere Verwandte übernehmen oft
                              griffen, gingen bei uns die Anruferzahlen sofort     Pflegeaufgaben. Was wissen Sie über deren
       Gabriele Tammen-Parr   drastisch nach oben. Wir haben darauf umge-          Situation in der Zeit des Lockdowns?
                              hend reagiert und unser Beratungsangebot
                              vervielfacht. Anfangs drehten sich viele Anrufe      Pflegende Kinder und Jugendliche sind in einer
                              noch um praktische Fragen. Doch schnell wurde        Lockdown-Situation ganz besonders hilflos.

                                                                                      AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
Nachgefragt | 15

Schätzungen zufolge haben etwa sechs Prozent         von der Tagespflege, den Pflegebedürftigen
der Berliner Schüler ein krankes oder beein-         möglichst flexibel zur Verfügung gestellt werden
trächtigtes Familienmitglied, um das sie sich        könnten. Bislang ist die Zahlung finanzieller
mitkümmern. Für sie ist es ganz selbstverständ-      Hilfen oft daran gebunden, dass auch haushalts-
lich, ihre kranken Eltern oder andere Angehörige     nahe Dienstleistungen nur von zertifizierten
zu pflegen, oft sind sie mit dieser Situation groß   Pflegediensten erbracht werden dürfen. Es wäre
geworden und empfinden das als völlig normal.        extrem hilfreich, wenn die Menschen sich in
Uns war völlig klar, dass wir uns um diese           Zeiten von Corona-Kontaktbeschränkungen ihre
Kinder sofort und intensiv kümmern müssen.           Hilfen flexibler einkaufen könnten, etwa von       „Lassen Sie Ihren
Über das gesonderte Online-Angebot echt-un-          einem Nachbarn. Hier würde ich mir auch von
ersetzlich.de für junge Pflegende haben unsere       den Kassen etwas mehr Flexibilität wünschen.       Nachbarn nicht
Berater und Psychologen bereits seit Jahren          Vor allen Dingen brauchen wir aber von der
Kontakte zu pflegenden Jugendlichen aufge-           Politik ein detailliert ausgearbeitetes Notpro-    allein. Eine halbe
baut und konnten diese nun gezielt ansprechen        gramm für die Zukunft. Sollte es im Rahmen
und beraten. Auf der Website bieten wir zudem        einer zweiten Infektionswelle zu einem erneuten    Stunde Gespräch
für die Jugendlichen einen gesonderten               Lockdown kommen, müssen die Pflegenden zu
Infobereich zu Corona – hier finden die jungen       Hause von Beginn an wissen, welche Unterstüt-      am Tag kann
Pflegenden viele Infos rund um die Pandemie,         zung sie bekommen können. Dieses Programm
aber auch ganz praktische Tipps, wo sie Hilfe        müsste natürlich auch ein Besuchskonzept           Wunder bewir-
finden können oder wie man einen Budenkoller         enthalten, unter welchen Bedingungen
vermeidet.                                           Menschen ihre Angehörigen im Pflegeheim            ken – ob am
                                                     besuchen können. Eine komplette Kontaktsper-
Und wie sah es in der stationären                    re, wie es sie im Frühling gab, sollte so auf      Telefon oder mit
Pflege aus?                                          keinen Fall noch einmal passieren.
                                                                                                        Abstand im
Für die Bewohner der Pflegeeinrichtungen war es      Abgesehen von den politischen Vorga­ben
traumatisch, dass sie von einem auf den anderen      – was kann jeder Einzelne tun?                     Hausflur.“
Tag keinen Besuch mehr erhalten durften. Für die
dementen Bewohner war das besonders                  Wenn Sie in einem Haus mit Menschen leben,              Gabriele Tammen-Parr
schlimm, da sie die Hintergründe des Kontaktver-     die auf Pflege angewiesen sind: Nehmen Sie
bots nicht verstehen konnten. Der oft tägliche       Kontakt auf, lassen Sie Ihren Nachbarn nicht
Besuch ihres Ehepartners fiel plötzlich weg und      allein. Eine halbe Stunde Gespräch am Tag
die Pflegekräfte mussten diesen Ausfall trotz der    kann Wunder bewirken – ob am Telefon oder
hohen Belastung auch noch kompensieren. Das          auch mit Abstand im Hausflur. Nachbarn
ist mal mehr und mal weniger gut gelungen.           könnten sich zusammentun und so die Last auf
Einige Einrichtungen haben Handys und Tablets        mehrere Schultern verteilen. Weisen Sie dabei
für die Bewohner besorgt, damit zumindest            auch auf lokale Hilfsangebote hin, oft verlassen
Videotelefonate möglich waren. Obwohl die            die Betroffenen kaum ihre Wohnung und
Isolation eigentlich zum Schutz der Bewohner         wissen nichts von Nachbarschaftshilfen oder
gedacht war, starben überproportional viele          Ähnlichem.
Menschen in eben diesen Einrichtungen. Hier ist
etwas grundlegend schiefgelaufen, das hätte die      Sehen Sie die Coronakrise auch als Chance
Politik anders regeln müssen. Man sollte davon       für Verbesserungen in der professionellen
ausgehen, dass insbesondere die Angehörigen          Pflege?
extrem umsichtig sind und alles dafür tun
würden, ihre pflegebedürftigen Verwandten nicht      Ja, denn die Wertschätzung für die Pflegeberufe
zu gefährden. Mit der nötigen Schutzausrüstung       war in der Corona-Pandemie sehr hoch. Das hat
und konsequenten Hygienekonzepten wäre es            sich anfangs auch durch das Klatschen am
sicherlich möglich gewesen, zumindest einen          Abend gezeigt. Pflege ist systemrelevant und
eingeschränkten Kontakt zu ermöglichen.              trotzdem wird der Pflegeberuf nach wie vor
                                                     stiefmütterlich behandelt. Image und Bezahlung
Welche Weichen muss die Politik jetzt                sind schlecht, die Arbeitsbelastung zu hoch. Wir
stellen, damit es bei einer zweiten Infek-           müssen uns deshalb auch nach Corona weiter
tionswelle besser läuft?                             dafür einsetzen, die neue Wertschätzung zu
                                                     verstetigen, damit sich die Bedingungen für die
Für die Betroffenen wäre es eine große Hilfe,        Pflegenden nachhaltig verbessern. Klatschen
wenn in der Krise nicht abgerufene Gelder, etwa      allein reicht einfach nicht aus.

AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
16 | Hilfe aus dem Netz

                                 Zusammen durch die Krise
                                 Selbsthilfeförderung I Wenn es um das Thema Selbsthilfe in Hessen geht, ist die AOK für
                                 alle Interessierten eine kompetente Ansprechpartnerin. Ob finanzielle Förderung oder persönliche
                                 Beratung – das Büro für Patienten und Selbsthilfe unterstützt Selbsthilfeaktive seit vielen Jahren.

                                 Vor der Corona-Pandemie wurde das Büro für              Die gewohnten Treffen der Selbsthilfegruppen
                                 Patienten und Selbsthilfe in Bad Homburg oft-           waren nicht mehr möglich. Und auch die AOK
                                 mals für persönliche Beratungsgespräche von             musste die große Veranstaltungsreihe „Selbsthilfe
                                 Selbsthilfegruppen in Anspruch genommen.                im Dialog“ mit Rücksicht auf die Zielgruppe vor-
                                 Doch auch wenn der persönliche Kontakt teilwei-         sorglich auf das Jahr 2021 verschieben.
                                 se nur eingeschränkt möglich war und ist, bleibt
                                 die AOK weiterhin für Anfragen erreichbar – Be-         Online-Fortbildungen
                                 ratungen erfolgen gerne per Telefon und E-Mail.         Doch die AOK Hessen möchte der Selbsthilfe
                                 Neben der finanziellen Förderung ist die Veran-         trotzdem Fortbildungsmöglichkeiten anbieten. Da
                                 staltungsreihe „Selbsthilfe im Dialog“ seit 18 Jahren   Präsenzveranstaltungen noch nicht ohne Weiteres
                                 ein fester Bestandteil der Weiterbildung für die        möglich sind, besteht in diesem Jahr die Möglich-
                                 Selbsthilfe. Mitten in den Vorbereitungen für die       keit zu Online-Fortbildungen. Derzeit sind sieben
                                 diesjährige Veranstaltungsreihe kam Corona – und        verschiedene Online-Seminare geplant. Die The-
                                 von einem Tag auf den anderen war alles anders.         men reichen von Humor als Krankheitsbewälti-
                                                                                                          gung über Resilienz, progressive
                                                                                                          Muskelentspannung, Gedächt-
                                                                                                          nistraining bis zum Datenschutz
                                                                                                          in der Selbsthilfe. Auch das wich-
                                                                                                          tige Thema „Wie richte ich da-
                                                                                                          tenschutzrechtlich konforme
                                                                                                          virtuelle Selbsthilfegruppentref-
                                                                                                          fen ein?“ wird im Angebot sein.
                                                                                                          Zusätzlich sind für den Jahres-
                                                                                                          wechsel 2020/2021 drei On-
                                                                                                          line-Seminare zur Selbsthilfeför-
                                                                                                          derung im Jahr 2021 geplant. Für
                                                                                                          die Teilnahme wird ein internet-
                                                                                                          fähiger Computer, ein Tablet oder
                                                                                                          ein Smartphone benötigt. Das
                                                                                                          Programm finden Interessierte
                                                                                                          im Herbst auf der Homepage der
                                                                                                          AOK Hessen – das Büro für Pa-
                                                                                                          tienten und Selbsthilfe erhofft
                                                                                                          sich eine rege Teilnahme.

                                                                                                          Gegenseitig unterstützen
                                                                                                          Solange es noch keinen Impf-
                                                                                                          stoff oder entsprechende Medi-
                                                                                                          kamente gibt, kann sich jeder
                                                                                                          nur durch die gängigen Schutz-
                                                                                                          maßnahmen vor gegenseitiger
                                                                                                          Ansteckung schützen. Mindes-
                                                                                                          tens genauso wichtig ist es aber,
Illustration: NEL

                                                                                                          sich weiterhin gegenseitig zu
                                                                                                          unterstützen. Auch wenn dies
                                                                                                          streckenweise nur mental und
                                                                                                          digital möglich ist – das ist und
                                                                                                          bleibt eine Kernkompetenz der
                                                                                                          Selbsthilfe!!!

                                                                                           AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
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                                     Die Pflege eines Familienmitglieds ist körperlich und seelisch sehr anstrengend.

               Selbsthilfe per Mausklick
               Onlineprogramme I Die Herausforderungen im Umgang mit der Corona-Pandemie setzen
               viele Menschen unter Druck und bringen sie an den Rand ihrer Kräfte. Die AOK hat verschiedene
               Online-Trainer im Angebot, die Betroffenen in unterschiedlichen Lebenslagen eine interaktive Hilfe
               zur Selbsthilfe bieten.

               Im Juni 2020 hat die AOK den „Familiencoach           Selbsthilfeprogramm, wie negative ­Gefühle und
               Pflege“ gestartet. Das anonym nutzbare On-            depressive Symptome zusammenhängen – und
               line-Programm zur Selbsthilfe für pflegende           wie es gelingen kann, negative Gedankenmuster
               Angehörige ist ein kostenloses Angebot, das die       durch neue zu ersetzen. Praktische Unterstützung
               Psyche von pflegenden Angehörigen stärken und         bekommen die Programmteilnehmer dabei von
               sie vor Überlastung schützen soll. Aktuelle Ergeb-    virtuellen Personen, die sie durch das Programm
               nisse einer repräsentativen Befragung zeigen den      begleiten. Moodgym basiert auf der kognitiven
               Bedarf: Demnach ist jede vierte Person, die einen     Verhaltenstherapie und wurde von australischen
               Angehörigen zu Hause pflegt, durch die Pflege         Wissenschaftlern entwickelt. 2016 hat die Univer-
               hoch belastet. Die Befragungsergebnisse belegen,      sität Leipzig mit Förderung der AOK das Programm
               dass die Pflege eines Familienmitglieds für viele     ins Deutsche übersetzt. Weltweit nutzen es bereits
               Angehörige sehr anstrengend ist – nicht nur kör-      mehr als eine Million Menschen.
               perlich, sondern auch seelisch. Mit Hinweisen, In-
               formationen, interaktiven Übungen, mehr als           Hilfe für überlastete Eltern
               40 Videos und 14 Audiodateien können die Nutzer       Für Eltern, die ein Kind mit der Aufmerksamkeits-
               lernen, wie sie besser mit den seelisch belastenden   defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) haben, hat
               Herausforderungen der Pflege umgehen können.          die Gesundheitskasse den ADHS-Elterntrainer
                                                                     entwickelt. Die betroffenen Kinder lassen sich
               Krisensituationen besser verstehen                    leicht ablenken und stören durch ihr Verhalten oft         Weitere Infos zu den
               Ein weiteres Online-Trainingsprogramm der Ge-         die Abläufe in der Familie. Eltern bereitet die zeit-      Programmen:
               sundheitskasse richtet sich an Angehörige, Freun-     intensive und kräftezehrende Betreuung perma-              aok.de/hessen
               de und andere Bezugspersonen von depressiv            nent Momente von Frust, Selbstzweifeln und                 >> Leistungen & Services
               erkrankten Menschen. Der Familiencoach Depres-        Wut. Mit dem ADHS-Elterntrainer stellt die                 >> Onlineprogramme der AOK
               sion hilft dabei, den Alltag mit einem Betroffenen    Gesundheitskasse ihnen ein kostenloses und
               besser zu bewältigen. Nutzer des Online-Pro-          leicht zu nutzendes Hilfsangebot bereit. Das wis-
               gramms erfahren, wie sie ihre erkrankten Ange-        senschaftlich fundierte Onlineprogramm vermit-
               hörigen, Freunde oder Bekannten unterstützen          telt einfache, verhaltenstherapeutisch basierte
               und sich selbst vor Überlastung schützen können.      Methoden zum Umgang mit problematischen
                                                                     Alltagssituationen wie Unruhe beim Essen,
               Das Coaching-Programm moodgym (deutsch: Fit-          Geschwisterstreit, Chaos im Kinderzimmer oder
               ness für die Stimmung) hingegen richtet sich direkt   Stress wegen Medienkonsums. Anhand von
               an Menschen mit einer Depression. Es ist für jeden    44 kurzen Videosequenzen können Eltern exem-
               kostenlos, zeitlich unbegrenzt und anonym nutz-       plarisch lernen, wie sich die beschriebenen Me-
               bar. Auf verständliche Weise veranschaulicht das      thoden im Alltag der Erziehung anwenden lassen.

               AOK Forum spezial | Jahrgang 2020 | Ausgabe 1
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