Was tun ? Psychisch krank im Job - PSZ GmbH

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Praxishilfe

Psychisch
Psychischkrank
          krank im
                 im Job.
                    Job.
Wastun
Was  tun?
        ?

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    Impressum Österreich
    Herausgeber:
    Psychosoziale Zentren GmbH
    Austraße 9
    A-2000 Stockerau
    www.psz.co.at
    Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten
    Redaktion: PSZ-AASS: Dr. Margit Burger, Dr. Karin Rossi, Mag. Irene Wladar
    Gestaltung: Typografischer Betrieb Lehmann GmbH, Essen
    Grafik und Druck: www.hiasl.at
    Stand: April 2015

    Impressum Deutschland
    Herausgeber:
    BKK Bundesverband GbR und Familien-Selbsthilfe Psychiatrie (BApK e.V.)
    www.bkk.de, www.bapk.de
    Stand: 2011

    Herzlichen Dank den deutschen Herausgebern der Broschüre „Psychisch krank im Job“ für die Erlaubnis.
    die Broschüre – unter Verwendung von Text und Layout – für Österreich zu adaptieren.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort	                                                                    5
Einleitung
■ Die Fakten                                                                6
■ Die Praxishilfe	                                                          8
■ „Normal“ und psychisch krank – zwei Seiten einer Medaille	               10
Vorbeugen	
■ Ursachen für psychische Erkrankungen	                                    13
■ Belastungsfaktoren als Auslöser für eine psychische Erkrankung	          13
  Stress    
  Burnout	
  Mobbing
■ Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz                                       14
  Arbeitsorganisation
  Interpersonale Kontakte
  Rahmenbedingungen
■ Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen                              15
■ Betriebliche Gesundheitsförderung                                        16
  Maßnahmen zur Reduktion von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz
  Verhältnisbezogene Maßnahmen (betriebliche Ebene)
  Verhaltensbezogene Maßnahmen (Mitarbeiter-Ebene)

Erkennen	
■ Krankheitsbilder und Auswirkungen psychischer Erkrankungen im Arbeitsleben	
                                                                             17
  Depressionen	
  Bipolare Störungen (manisch-depressive Erkrankungen)	
  Angststörungen	
  Schizophrenie	
  Persönlichkeitsstörungen	
■ Psychische Erkrankung und Suchterkrankungen                              26
■ Gemeinsamkeiten von psychischen Erkrankungen                             27
■ Erkennen einer psychischen Erkrankung im Arbeitsumfeld                   28
Bewältigung	
■ Was tun? – Das „H-I-L-F-E Konzept“ für Unternehmen	                      31
■ Handlungshilfen	                                                         36
  Handlungsmöglichkeiten in akuten Krisen
  Unterstützung während einer ambulanten Behandlung	
  Handlungsempfehlung beim stationären Aufenthalt	
  Die Rückkehr in das Unternehmen	
  Prävention – Pflichtaufgabe im betrieblichen Umfeld	
  Zusammenfassung      
Anhang
■ Literaturtipps	                                                          42
■ Hilfreiche Ansprechpartner und Adressen	                                 44
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    Quelle:
    Postkarte der Initiative HOPES. Hilfe und Orientierung für psychisch erkrankte Studierende und Irre menschlich e. V., Hamburg
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Vorwort
 Vorwort

   Ist es ein Thema? Oder immer noch ein Un-Thema?            Was also tun?
   Fakt ist, dass eine viel größere Zahl an Menschen          Hier setzt die Ihnen vorliegende Praxishilfe an. Mit
Ist es ein Thema? Oder immer noch ein Un-Thema?             Was also tun?
   psychisch krank waren und sind, als viele meinen.          den Kompetenzen der Familien-Selbsthilfe Psychi-
Fakt ist, dass eine viel größere Zahl an Menschen           Hier setzt die Ihnen vorliegende Praxishilfe an.
   Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass viele bedeu-       atrie, die mit den Beispielen aus dem Leben vieler
psychisch krank waren und sind, als viele meinen.           Mit den Kompetenzen der Familien-Selbsthilfe
   tende Persönlichkeiten, die unsere Kultur geprägt          Menschen vertraut ist, und des BKK Bundesver-
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass viele bedeu-        Psychiatrie, die mit den Beispielen aus dem Leben
   haben, an psychischen Erkrankungen litten. Nehmen          bandes, der die Erfahrungen aus der betrieblichen
tende Persönlichkeiten, die unsere Kultur geprägt           vieler Menschen vertraut ist, und des BKK Bundes-
   wir nur                                                    Gesundheitsförderung einbringt, wurde ein Rat-
haben, an psychischen Krankheiten litten. Nehmen            verbandes, der die Erfahrungen aus der betriebli-
                                                              geber für die betriebliche Praxis entwickelt.
wir nur                                                     chen Gesundheitsförderung einbringt, wurde in
             Frédéric Chopin
                                                            Deutschland ein Ratgeber für die betriebliche Praxis
             Rainer Maria Rilke
         ■ Frederic Chopin                                  entwickelt.
             Winston Churchill
         ■ Rainer Maria Rilke                               Dieser Ratgeber wurde 2013 von der Arbeitsassis-
             Charles Darwin
         ■ Winston Churchill                                tenz der Psychosozialen Zentren GmbH für Öster-
             Vincent van Gogh
         ■ Charles Darwin                                   reich adaptiert und 2015 aktualisiert. Mehr als 20
         ■ Vincent van Gogh                                 Jahre Erfahrung der Arbeitsassistenz für Menschen
   Die Beispiele zeigen, dass psychisch kranke Men-
                                                            mit psychischen Erkrankungen in der beruflichen
   schen nicht einfach aus der Gesellschaft bzw. aus
Die Beispiele zeigen, dass psychisch kranke Men-            Integration belegen den Unterstützungsbedarf von
   dem Arbeitsleben ausgeschlossen werden dürfen.
schen nicht einfach aus der Gesellschaft bzw. aus           Unternehmen.
   Vielmehr ist es wichtig, die Ressourcen zu nutzen,
dem Arbeitsleben ausgeschlossen werden dürfen.
   die jeder Mensch hat.
Vielmehr ist es wichtig, die Ressourcen zu nutzen,
die jeder Mensch hat.
   In den meisten Betrieben gibt es Mitarbeiter, die psy-
   chisch krank sind oder in einer schweren seelischen
In den meisten Betrieben gibt es Mitarbeiter, die
   Krise mit Krankheitscharakter stecken. Kollegen
psychisch krank sind oder in einer schweren see-
   sowie Vorgesetzte sind betroffen, keine Hierarchie-
lischen Krise mit Krankheitscharakter stecken. Kol-
   ebene ist ausgenommen. Unsicherheit macht sich
legen sowie Vorgesetzte sind betroffen, keine Hier-
   breit und als Folge kann das Betriebsklima beein-
archieebene ist ausgenommen. Unsicherheit macht
   trächtigt werden.
sich breit und als Folge kann das Betriebsklima be-
einträchtigt werden.

Aus Gründen der Vereinfachung und besseren Les-
barkeit ist im Text nur die männliche Form bei Per-
  Aus Gründen der Vereinfachung und besseren
sonen- und Funktionsbezeichnungen angegeben.
  Lesbarkeit ist im Text nur die männliche Form bei
Gemeint ist immer auch die weibliche Form.
  Personen- und Funktionsbezeichnungen angegeben.
  Gemeint ist immer auch die weibliche Form.
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Einleitung
    Die Fakten

    Psychische Störungen nehmen dramatisch zu und                      Die Ursachen für diese Erkrankungen sind dabei
    haben seit einigen Jahren auch den beruflichen All­                vielfältig und komplexer Natur. Zu ihrer Entwick-
    tag der Beschäftigten erreicht. Depressionen und                   lung tragen gesellschaftliche Faktoren, z. B. Angst
    Angsterkrankungen drohen zu Volkskrankheiten am                    vor Arbeitsplatzverlust oder Stress und Überbelas-
    Arbeitsplatz zu werden. Der Anteil an den Krankheits­              tung in der Arbeitswelt ebenso bei wie individuelle
    tagen durch psychische Störungen hat sich seit                     Dispositionen.
    Beginn der neunziger Jahre mehr als verdoppelt.
                                                                       Die Zunahme der Erkrankungen, der Anstieg der
    Der BKK Gesundheitsreport 2009 zeigt auf, dass                     Fehltage und der damit verbunden Kosten sowie
    mittlerweile 10% der Ausfalltage direkt mit einer                  die Sorge um die Gesundheit der Mitarbeiter rücken
    psychischen Erkrankung verbunden sind. Darüber                     zunehmend in den Blickpunkt betrieblicher Gesund-
    hinaus führen psychische Erkrankungen überpro-                     heitspolitik und werden für viele Unternehmen zu
    portional häufig zu Frühpensionierungen und haben                  einem Thema mit größer werdender Dringlichkeit.
    den Verlust des Arbeitsplatzes zur Folge.                          Personalverantwortliche, Kollegen und betriebliche
                                                                       Helfer sind heute häufig mit psychischen Krank-
    In Österreich ist die Situation vergleichbar. Laut                 heitsbildern konfrontiert, im Umgang mit betrof-
    WIFO (österreichisches Institut für Wirtschafts-                   fenen Mitarbeitern jedoch verunsichert: Ist der
    forschung) Fehlzeitenreport erfolgte 2011 jeder                    Mitarbeiter überhaupt in einer Krise, kann er an-
    dritte Neuzugang in die Pension im Rahmen einer                    gesprochen werden, oder führt dies zu einer Ver-
    Invaliditätspension, 32% aller Neuzugänge der                      schlimmerung der Problemlage? Wie sollte ein sen-
    krankheitsbedingten Frühpensionen erfolgten aus                    sibler und verantwortungsvoller Umgang mit der
    psychischen Gründen. Laut Pensionsversicherungs-                   Erkrankung aussehen?
    anstalt machten 2010 44,5% der für arbeitsunfähig                  Dies sind u. a. Fragen, mit denen Verantwortliche
    erklärten Angestellten psychische Erkrankungen                     im Unternehmen konfrontiert sind.
    geltend. Seit den 90er Jahren hat sich die Anzahl
    der Neuzugänge in Invaliditätspensionen aufgrund
    psychischer Erkrankungen fast verdreifacht.                        Psychische Probleme gehören in den privaten Be-
    Eine Studie der OECD zeigt, dass das Risiko, von Ar-               reich, über sie sollte am Arbeitsplatz nicht gespro-
    beitslosigkeit betroffen zu sein, bei Menschen mit                 chen werden, befinden auch heute noch viele Bür-
    psychischen Erkrankungen doppelt so hoch ist wie                   ger trotz größer werdender Offenheit. Betroffene
    bei gesunden Menschen.1                                            Menschen verschweigen deshalb häufig ihre psy-

    1) OECD (2012), Sick on the Job? Myths and Realities about Mental Health and Work, Mental Health and Work, OECD Publishing.
Die Fakten            77

chischen Krisen und ihre Krankheit aus Scham und        (siehe Linkliste im Anhang) ins Leben gerufen. Die
Angst um ihren Arbeitsplatz. Erschwerend kommt          Maßnahme ist im Arbeit-und-Gesundheit-Gesetz
für die Betroffenen hinzu, dass Personalverantwort-     verankert und sowohl für Mitarbeiter als auch für
liche häufig signalisieren, psychisch beeinträch-       Betriebe ein kostenfreies Informations-, Beratungs-
tigte Menschen seien aufgrund häufigerer Krank-         und Unterstützungsangebot.
schreibungen ökonomische „Risikofaktoren“ für
das Unternehmen und bedenken dabei nicht, dass          Ein Mehr an Wissen und Information über diese Er-
dies ebenfalls für Extremsportler, für rasante Fahrer   krankungen bietet die Möglichkeit, durch rechtzeiti-
oder Raucher zutreffen kann.                            ges Eingreifen und Handeln größeren Krisen vorzu-
                                                        beugen und dem betroffenen Mitarbeiter frühzeitig
Psychische Leiden sind nach wie vor tabuisiert und      Unterstützung zu geben. So können möglicherwei-
haben Ausgrenzungen und Stigmatisierung zur Fol-        se Fehlzeiten verringert, die Chronifizierung der
ge. Sie führen zu erheblichen Beeinträchtigungen        Krankheiten verhindert, der Arbeitsplatz erhalten
der Lebensqualität der Betroffenen, der Angehöri-       und das Know-how des Mitarbeiters im Betrieb be-
gen und im sozialen Umfeld.                             lassen werden.

In Österreich bietet das Netzwerk der beruflichen
Assistenz NEBA (siehe Link im Anhang) die Mög-
lichkeit, für Menschen mit psychischen Erkrankun-
gen präventiv tätig zu sein und gleichzeitig den
Unternehmen Hilfestellung für erkrankte Mitarbei-
ter anzubieten. Auf Initiative der österreichischen
Bundesregierung wurde 2012 das Angebot fit2work
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    Die Praxishilfe

    Die vorliegende Praxishilfe wendet sich an Füh-         Die Praxishilfe wird als ein Baustein in der Beratung
    rungskräfte und Personalverantwortliche nur in          der PSZ Arbeitsassistenz empfohlen.
    großen Unternehmen. Sie soll sowohl Vorgesetzte
    wie Kollegen ermutigen, Mitarbeiter, die Probleme       Ebenso verwendet die PSZ Arbeitsassistenz das
    durch ihr Verhalten oder durch Leistungsveränder­       „H-I-L-F-E Konzept“ als Unterstützungsangebot für
    ungen signalisieren, frühzeitig anzusprechen, ihnen     Vorgesetzte und Personalverantwortliche. Unter-
    Unterstützung anzubieten und eine Betriebskultur        nehmen können in Österreich auch von den Ange-
    zu etablieren, die psychischer Gesundheit ebenso        boten des „Bündnis gegen Depression“ (siehe Link
    viel Bedeutung beimisst wie körperlicher Gesund-        im Anhang) profitieren. Dieses bietet in Kooperati-
    heit. Die Praxishilfe ist zwar kein „Rezeptbuch“ oder   on mit Betroffenen und Selbsthilfegruppen kosten-
    eine „Checkliste“ zum Umgang mit psychisch kran-        freie Schulungen und Vorträge an. Zur beruflichen
    ken Mitarbeitern, beinhaltet aber Basisinformatio-      Integration psychisch erkrankter Menschen bietet
    nen über Auswirkungen psychischer Erkrankungen          auch die österreichische Angehörigen Organisation
    und kann für Vorgesetzte, Kollegen und betriebliche     HPE (Hilfe für Angehörige und Freunde psychisch
    Helfer eine Unterstützung sein.                         Erkrankter, siehe Link im Anhang) Ratgeber und
                                                            Vorträge an. Angehörige und betroffene Menschen
                                                            geben ihr Wissen, ihre gelebten Erfahrungen und
                                                            ihre jahrelang erworbene Kompetenz hinsichtlich
                                                            dieser Erkrankungen an interessierte Unterneh-
                                                            men weiter. Fragen zu Krankheitsbildern und zu
                                                            den Auswirkungen psychischer Erkrankungen auf
                                                            die Arbeitssituation werden ebenso beantwortet
                                                            wie Fragen zum Umgang mit psychisch erkrankten
                                                            Kollegen oder Mitarbeitern.
Die Praxishilfe   99

Die Praxishilfe bietet auch Unterstützung für be-
triebliche Helfer, z. B. für Betriebs- und Personal-
räte, Integrationsteams und betriebliche Arbeits-
kreise. So enthält der erste Teil des Leitfadens
Basisinformationen über psychische Erkrankungen,
Krankheitsbilder und das Erkennen psychischer
Erkrankungen im Arbeitsumfeld. Im zweiten Teil
wird das „H-I-L-F-E Konzept“ vorgestellt, das den
verantwortlichen Vorgesetzten als Handlungshilfe
für Maßnahmen dienen kann, die im Umgang mit
den Betroffenen notwendig werden. Angelehnt an
den gestuften Interventionsplan zum Umgang mit
Suchterkrankten ist das „H-I-L-F-E Konzept“ Grund-
lage für die Gespräche mit Mitarbeitern, die unter
einer psychischen Störung leiden.
10
 10

      „Normal“ und psychisch krank –
      zwei Seiten einer Medaille

      Sabine Blocher:                                         Klaus Kraft:
      Eine 34- jährige Juristin arbeitet halbtags zusammen    Herr Kraft ist 54 Jahre alt. Er hat in einem Geldins-
      mit Frau H. und Herrn W. in der Rechtsabteilung ei-     titut von der Pike auf gelernt und sich in 35 Jahren
      ner großen Versicherung. Das Verhältnis zu ihren        zum Leiter der Kreditabteilung hochgearbeitet. Die
      Arbeitskollegen ist freundlich und sachlich. Ab und     Fusion mit einem anderen namhaften Geldinstitut
      zu trinken sie zusammen einen Kaffee in der Mit-        ist geplant. Herr Kraft sieht für sich eine Chance, be-
      tagspause. Anfang des Jahres ärgern sich die Kol-       ruflich weiter aufzusteigen. Er ist bereit, diese neue
      legen allerdings mehrfach über Frau Blocher. Diese      Herausforderung anzunehmen. Die an ihn gestellten
      hat Arbeitsaufträge vergessen oder unvollständig        Erwartungen seiner Vorgesetzten, diese Neuorien-
      erledigt. Auf diesbezügliches Nachfragen reagiert       tierung zu meistern, sind hoch.
      sie nicht. Ein sehr ungewöhnliches Verhalten, das
      die Kollegen von Frau Blocher bisher nicht kennen.      Seine Frau hatte sich zudem erhofft, er werde häufi-
      Überhaupt wirkt die Sachbearbeiterin sehr „verän-       ger zu Hause anwesend sein, zumal die beiden halb-
      dert“. In den nächsten Wochen kommt sie verspätet       wüchsigen Kinder mehr Probleme machen.
      zur Arbeit, wirkt müde, kraftlos und erschöpft. Die     Eine familiäre Krise droht.
      Kollegen erledigen Frau Blochers Aufträge zunächst
      mit.                                                    Herr Kraft schläft seit Wochen schlecht, wacht
                                                              schweißgebadet auf und kann nicht wieder ein-
      Die Kollegen reden beim gemeinsamen Mittages-           schlafen. Er ist zunehmend beunruhigt darüber,
      sen über die Situation. Herr W. plädiert dafür, alles   zumal sich tagsüber auch Herzrasen und Atemnot
      auf sich beruhen zu lassen und abzuwarten. Wahr-        einstellen. Kollegen haben ihn schon auf seine sicht-
      scheinlich habe Frau Blocher persönliche Probleme,      bare Unruhe angesprochen. Eine Sitzung muss er
      sei krank oder irgendetwas Ähnliches, und das gehe      fluchtartig verlassen, sehr zur Verwunderung des
      keinen etwas an.                                        Vorstandes. Herr Kraft ist sich sicher, die Vorboten
                                                              eines Herzinfarkts zu erleben. Er hat Angst. Sein Va-
      Sollen die Mitarbeiter Frau Blocher einfach anspre-     ter ist an einem Herzinfarkt gestorben. Körperliche
      chen? Oder sollen sie lieber so tun, als sei alles      Untersuchungen bleiben allerdings ohne Befund.
      „normal“?                                               Seine Beschwerden am Arbeitsplatz nehmen zu, er
                                                              zieht sich mehr und mehr von den Kollegen zurück,
                                                              bleibt einfach zu Hause. Sein beruflicher Aufstieg ist
                                                              gefährdet. Es ist offensichtlich: Irgendetwas stimmt
                                                              nicht mit Herrn Kraft. Aber was? Und vor allem: Was
                                                              ist zu tun?
„Normal“ und psychisch krank – zwei Seiten einer Medaille
                                                                                                               01
                                                                                                              11

Beide Mitarbeiter haben sich in ihrem Sozial- und      sie ausgegrenzt, sondern weil sie sich nicht anders
Leistungsverhalten verändert und wirken aus dem        verhalten können. Die meisten Menschen haben
Blickwinkel der anderen Beschäftigten nicht mehr       schon Extremsituationen erlebt, in denen ihr Ver-
„normal“. Was die Veränderung ausgelöst hat, ist       halten und Erleben nicht der Norm entsprach. Sie
für Kollegen und Vorgesetzte nicht nachvollziehbar.    hatten das Gefühl „neben sich“ zu stehen, sich im
Sie sind unsicher, wie sie sich verhalten sollen und   Spannungsfeld zwischen „normal“ und „unnor-
wie der „richtige“ Umgang mit dem Mitarbeiter          mal“ zu bewegen und dabei die Erfahrung zu ma-
oder Kollegen aussehen kann. Die Mitarbeiter in        chen, dass der Übergang von einem psychischen
beiden Beispielen könnten in jedem Unternehmen         Zustand in den anderen fließend ist.
arbeiten, im Dienstleistungs- oder im produzie-
renden Bereich, in Unternehmen verschiedenster         Häufige, intensive und lang andauernde Normab-
Branchen, in Verwaltungen und Organisationen. So       weichungen des Erlebens und Verhaltens führen zu
erkrankt jeder dritte Mensch einmal im Leben so        der Vermutung, dass bei dem betroffenen Menschen
schwer an einem psychischen Leiden, dass er einer      eine psychische Erkrankung vorliegen könnte.
psychiatrischen Behandlung bedarf.
                                                       Diese Erkrankungen werden als „Störungen des
Innere Erlebnis- und Verarbeitungsweisen eines         Erlebens, Befindens und Verhaltens“2 beschrieben.
Menschen sind zunächst für Außenstehende un-           Die Symptome der betroffenen Personen können
sichtbar und individuell sehr unterschiedlich. Was     dabei zahlreich und wechselhaft sein, sie hängen
für den einen Menschen eine Herausforderung ist,       vom Krankheitsbild und der speziellen Diagnose ab.
kann für den anderen bedrückend sein und eine          Oft gehen einzelne Krankheitsbilder ineinander über
Krise auslösen. Wenn aus den Erlebnis- und Verar-      und sind vom Symptombild her nicht klar voneinan-
beitungsweisen ein Verhalten hervorgeht, das be-       der abgrenzbar, die Diagnosen selbst für Fachleute
stehende Normen „ver-rückt“ und deshalb auf die        schwer zu stellen. Psychische Erkrankungen haben
Umwelt unerklärlich, sonderbar oder gar bedrohlich     einen dynamischen Verlauf, d. h. relativ gesunde Ab-
wirkt, neigt man dazu, den Menschen als „nicht nor-    schnitte können mit Krankheitsphasen abwechseln.
mal“ zu bezeichnen. Häufig wird dabei übersehen,
dass gerade Personen, die von fest gefügten Denk-      Bei länger andauerndem Krankheitszustand bedeu-
weisen abweichen, als „Querdenker“ sehr kreative       ten vor allem die sozialen Beeinträchtigungen in
Menschen mit innovativen Fähigkeiten sind.             den Bereichen Wohnen, Arbeit und Freizeit eine Ein-
                                                       schränkung der Lebensqualität für die Betroffenen.
Ob ein Mensch als „psychisch krank“ gilt, ist aller-   Wie bei körperlichen Krankheiten gibt es auch bei
dings abhängig von der Intensität, der Dauer und       psychischen Erkrankungen unterschiedliche Schwe-
der Häufigkeit des „ver-rückten“ Verhaltens. Die       regrade. Sie können ausheilen oder auch chronisch
meisten psychisch kranken Menschen leiden unter        werden, ebenso wie dies z. B. bei Herzerkrankungen
ihrem stark abweichenden Verhalten, nicht nur weil     oder Bluthochdruck geschehen kann. Psychische

2) International Classification of Diseases, ICD 10
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12   „Normal“ und psychisch krank – zwei Seiten einer Medaille

     Leiden sind heute gut behandelbar, z. B. mit Medi-   ben bedeutend mehr Verständnis als psychische.
     kamenten und Psychotherapien, genauso wie kör-       „Du warst in der Klapse? Du bist verrückt!“ Dies
     perliche Erkrankungen mit geeigneten Therapien       sind Aussagen, mit denen Menschen mit einer psy-
     behandelt werden können.                             chischen Störung immer noch konfrontiert werden.
                                                          Deshalb gehen Betroffene vielfach gar nicht oder zu
     Wie jeder körperlich erkranken kann, so kann auch    spät zum Arzt, sie verschweigen ihre Krankheit aus
     jeder von einer psychischen Erkrankung betroffen     Angst vor den unangenehmen Folgen einer psychi-
     werden. Es können junge wie alte Menschen erkran-    atrischen Diagnose.
     ken, Männer wie Frauen, intelligente wie weniger
     intelligente, prominente wie nicht-prominente Per-   Wie das Beispiel von Klaus Kraft zeigt, kann auch
     sonen.                                               bei anhaltender körperlicher Symptomatik ein see-
                                                          lisches Leiden zu Grunde liegen. Wichtig ist sowohl
     Menschen, die psychisch erkranken, haben al-         für Betroffene wie für Arbeitgeber die Erkenntnis,
     lerdings mit wesentlich mehr Schwierigkeiten zu      dass psychische Erkrankungen, die nicht rechtzeitig
     kämpfen als Menschen, die körperlich krank wer-      behandelt werden, sich verschlimmern und langfris-
     den. Körperliche Krankheiten finden im Arbeitsle-    tig chronisch verlaufen können.
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                                     Vorbeugen
Ursachen für psychische Erkrankungen
Psychische Erkrankungen können vielfältige biolo-      am Arbeitsplatz können dabei Verstärker oder auch
gische, psychologische und soziale Ursachen ha-        Auslöser einer psychischen Störung sein. Diese Be-
ben. Aktuelle Theorien gehen davon aus, dass psy-      lastungen können zwar nicht grundsätzlich vermie-
chische Erkrankungen aus einem Zusammenspiel           den werden, sie können aber positiv ausgeglichen
verschiedener Faktoren entstehen. Belastungen          und in ihren Folgen gemildert werden.

Belastungsfaktoren als Auslöser für eine
psychische Erkrankung
Viele Menschen verbinden mit dem Gedanken              spielen ebenso eine Rolle wie die inneren und äu-
an psychische Erkrankungen Begriffe wie Stress,        ßeren Ressourcen und Bewältigungsstrategien, die
Burnout oder Mobbing. Dies sind aber keine psy-        dem Beschäftigten zur Verfügung stehen.
chischen Erkrankungen im medizinischen Sinne. Es
sind jedoch Risikofaktoren, die die Seele belasten     ■ Burnout
und das Entstehen einer ernstzunehmenden psy-
chischen Krankheit begünstigen. Der Körper re-         Als Burnout bezeichnet man einen Erschöpfungszu-
agiert auf kontinuierliche psychische Belastungen      stand, ein seelisches Ausgebranntsein, bis hin zur
mit Stress- oder Burnout Symptomen, die zu einer       völligen Kraftlosigkeit. Dies sind Symptome, die vor
diagnostizierbaren psychischen Erkrankung her-         allem im Arbeitskontext auftreten und Menschen
anwachsen können, wenn keine Präventionsmaß-           treffen, die sich über die Maßen in ihrem Arbeitsle-
nahmen ergriffen werden. Häufig gehen diese Er-        ben engagiert haben. Zahlreiche Symptome eines
scheinungsbilder mit körperlichen Symptomen wie        Burnout-Syndroms sind mit denen einer Depressi-
Schlaflosigkeit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder      on identisch. Nicht wenige Fachleute bezeichnen
Leistungsabfall einher.                                mittlerweile das Erscheinungsbild eines Burnout
                                                       als bislang nicht diagnostizierte Depression. Im Ge-
■ Stress                                               gensatz zu einer Depression ist Burnout mit einer
                                                       besonders hohen Leistungsfähigkeit assoziiert und
Unter arbeitsbedingtem Stress werden körperliche       entgeht damit dem Stigma „Depression“.
und emotionale Reaktionen auf schädliche oder un-
günstige Aspekte der Arbeit, des Arbeitsumfeldes       ■ Mobbing
oder der Arbeitsorganisation verstanden. Stresszu-
stände entstehen häufig durch Mehrfachbelastun-        Unter Mobbing wird verstanden, dass ein im Ar-
gen und sind in der Regel mit dem Gefühl verbun-       beitsumfeld Unterlegener über längere Zeit Angrif-
den, die Situation nicht mehr bewältigen zu können     fen durch Kollegen oder Vorgesetzte ausgesetzt ist.
und überfordert zu sein.                               Der Betroffene sieht keine Möglichkeit, sich gegen
                                                       die Diskriminierung oder den Ausschluss aus der
Ob eine Person in einer bestimmten Arbeitssituati-     beruflichen Gemeinschaft zu wehren. Mobbing
on Stress empfindet, ist individuell unterschiedlich   kann verschiedene Ausdrucksformen haben: durch
und u. a. von der Übereinstimmung der vorhande-        Schädigung der sozialen Beziehungen oder des An-
nen Qualifikationen mit den verlangten Anforderun-     sehens des Betroffenen, indem Gerüchte verbreitet
gen abhängig. Wahrnehmung, Interpretation und          werden oder die Kompetenz in Frage gestellt und
Bewertung von bestimmten Arbeitssituationen            der Mitarbeiter ignoriert wird.
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     Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz

     Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz können in der       Eine kontinuierliche Über-, aber auch Unterforde-
     Art der Arbeitsorganisation, in der Qualität der In-   rung, unzureichende Anweisungen oder wider-
     terpersonalen Kontakte oder in den Rahmenbedin-        sprüchliche Aufträge zählen zu den Belastungsfak-
     gungen der Arbeit begründet sein.                      toren, die ebenfalls mit der Arbeitsorganisation in
                                                            Zusammenhang stehen.
     ■ Arbeitsorganisation
                                                            ■ Interpersonale Kontakte
     Eine hohe Intensität der Arbeit kann auf Dauer eine
     psychische Belastung für die Mitarbeiter darstellen.   Die Kooperation und die Kommunikation zwischen
     Sie ist z. B. durch hohen Zeitdruck oder eine hohe     Vorgesetzten und Mitarbeitern sowie unter den Mit-
     Komplexität der Arbeit gegeben. Auch der Wettbe-       arbeitern bergen viele Risiken für Belastungsfakto-
     werb zwischen verschiedenen Aufgabenstellungen         ren.
     und das damit verbundene „Task Switching“, d. h.       Hierunter fallen z. B. eine geringe Rücksichtnahme
     der Wechsel zwischen diesen verschiedenen Aufga-       auf persönliche Belange oder eine fehlende Kom-
     ben, zählen zu einer hohen Arbeitsintensität.          munikation über Meinungen und Fragen.

     Ein weiterer Belastungsfaktor kann ein dauerhaft       Ein weiterer Belastungsfaktor ist ein gering mitar-
     eingeschränkter Handlungsspielraum sein, z. B. ge-     beiterorientierter Führungsstil, der sich z. B. in feh-
     ringe Autonomie bei der Planung der Arbeitsschritte    lender Kommunikation oder Information, übermä-
     oder der Gestaltung des Arbeitsplatzes, kaum Mög-      ßiger Kontrolle, fehlender Anerkennung der Arbeit
     lichkeiten, Ideen und Vorschläge einzubringen oder     oder einem unangemessenen Umgangston äußern
     die fehlende Überprüfbarkeit der eigenen Arbeitser-    kann.
     gebnisse. Kommt zu einem geringen Entscheidungs­       Eine schwierige Atmosphäre unter den Kollegen
     spielraum noch eine hohe Verantwortung der Mitar-      kann die psychische Gesundheit ebenfalls belasten.
     beiter hinzu, erhöht sich die Belastung.               Diese ist bei fehlender Teamarbeit oder Kontrolle
                                                            durch Kollegen gegeben.

                                                            ■ Rahmenbedingungen

                                                            Rahmenbedingungen, die psychische Belastungen
                                                            hervorrufen können, sind u. a.:

                                                            ■   Angst vor Arbeitsplatzverlust
                                                            ■   Umstrukturierung im Unternehmen
                                                            ■   „flexible“, nicht planbare Arbeitszeiten
                                                            ■   Arbeitsverhältnisse wie Leiharbeit und befristete
                                                                Arbeitsverträge
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Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen
(Effort – Reward – Modell) nach Siegrist (2002)

Es gibt verschiedene wissenschaftliche Modelle, die                   zwischen entlastenden und belastenden Faktoren
das Zusammenspiel von Belastungsfaktoren am Ar-                       herzustellen und aufrecht zu erhalten. Nach diesem
beitsplatz und psychischen Erkrankungen erklären.                     Modell entsteht eine Gratifikationskrise dann, wenn
Ein Ansatz ist das Modell beruflicher Gratifikations-                 ein Ungleichgewicht zwischen beruflicher Veraus--
Krisen des Soziologen Johannes Siegrist. Er geht da-                  gabung und Belohnung entsteht. Eine Gratifikati--
von aus, dass hoher Arbeitseinsatz allein nicht das                   onskrise ist eine starke psychische Belastung, die zu
Problem ist. Wichtig ist vor allem, ein Gleichgewicht                 einer psychischen Erkrankung führen kann.

     Entlastende Faktoren
     Erlebte Gratifikation/Belohnung:
     ■ Anerkennung
     ■ Wertschätzung
     ■ soziale Unterstützung
     ■ Entwicklungsperspektiven                                                               Belastende Faktoren
     ■ Arbeitsplatzsicherheit                                                                 Erlebte berufliche Verausgabung:
     ■ Gehalt                                                                                 ■ körperlich
                                                                                              ■ psychisch

Siegrist, J. (1996). Soziale Krisen und Gesundheit. Göttingen: Hogrefe.
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     Betriebliche Gesundheitsförderung

     ■ Maßnahmen zur Reduktion von                          Ebene der Führungskräfte
       psychischen Belastungen am Arbeitsplatz
                                                          ■ Seminare zur gesunden Mitarbeiterführung
     Maßnahmen zur Reduktion psychischer Belastun-        ■ Gesprächstraining
     gen setzen auf verschiedenen Ebenen an. Es wird      ■ Vermeidung psychischer Fehlbelastungen als
     unterschieden zwischen verhältnisbezogenen Maß-        Führungsaufgabe
     nahmen auf betrieblicher Ebene und verhaltensbe-     ■ Adäquate Einarbeitung neuer Mitarbeiter in neue
     zogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitarbeiter.       Arbeitsbereiche
     Um psychische Belastungen effektiv zu reduzieren,    ■ Handlungs- und Entscheidungsspielräume
     sollten Maßnahmen auf beiden Ebenen umgesetzt          vergrößern
     werden. Es ist empfehlenswert, vor der Umsetzung     ■ Akuten Termindruck vermeiden
     von Maßnahmen zur Reduktion psychischer Belas-       ■ Individuelle Leistungsrückmeldung geben
     tungen zunächst eine Analyse der Belastungsfakto-      (positiv & negativ)
     ren durchzuführen.                                   ■ Engagement würdigen
                                                          ■ Kommunikationsstrukturen aufbauen/Pflege
     ■ Verhältnisbezogene Maßnahmen                         einer positiven Kommunikationsstruktur
       (betriebliche Ebene)                               ■ Klare Vorgaben von Anforderungen, Zielen und
     Verhältnisbezogene Maßnahmen können auf struk-         Erwartungen (z. B. im Hinblick auf Prioritäten)
     tureller Ebene oder auf der Ebene der Führungs-      ■ Klare Zuständigkeiten
     kräfte ansetzen.                                     ■ Unterstützung, Förderung und Qualifizierung der
                                                            Mitarbeiter
       Strukturelle Ebene                                 ■ Interesse an der Person und ihrer beruflichen
                                                            Entwicklung
     ■ Arbeitszeitgestaltung flexibilisieren              ■ Beteiligung an Veränderungsprozessen (frühzei-
     ■ Übereinstimmung zwischen Arbeitsaufgaben             tige Kommunikation)
       und Qualifikationen herstellen                     ■ Eigenes Vorbild (eigene Lifedomain-Balance)
     ■ Psychische Erkrankungen durch Aufklärung
       enttabuisieren                                     ■ Verhaltensbezogene Maßnahmen
     ■ Kommunikationsstrukturen aufbauen                    (Mitarbeiter-Ebene)
     ■ Sport- und Entspannungsangebote einrichten
     ■ Gesundheitsversorgung innerhalb des Unterneh-      ■ Stressmanagement-/Stresspräventionsseminare
       mens aus- bzw. aufbauen                            ■ Kommunikative Kompetenzen erweitern
     ■ Arbeitskreis (psychische) Gesundheit einrichten      (Netzwerkbildung, Grenzsetzung)
     ■ Stärkung der Kompetenz der Betriebsärzte bzgl.     ■ Qualifikation
       Diagnostik und Motivierung zu adäquater            ■ Gesundheitskompetenz der Mitarbeiter schulen
       Behandlung
     ■ Niederschwelliges Versorgungsangebot für Mit-
       arbeiter (z. B. psychologische Sprechstunde oder
       Vertrauensperson) einrichten
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                                               Erkennen
Krankheitsbilder und Auswirkungen psychi-
scher Erkrankungen im Arbeitsleben
Der Anteil an den Krankheitstagen durch psychische      Symptome bei Depressionen
Störungen hat seit Beginn der neunziger Jahre mehr      Depressionen äußern sich häufig in körperlichen
als verdoppelt. Die Gründe für diese Entwicklung lie-   Symptomen. Eines der auffälligsten Symptome bei
gen vermutlich in den Herausforderungen der sich        Depressionen sind Schlafstörungen. Der Rhythmus
verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen             des Schlafes kann völlig verändert sein und variie-
(Beschleunigung, Informationsflut, Globalisierung,      ren. Manche Betroffene verlieren den Appetit, essen
unsichere Arbeitsplatzsituationen). Aber auch die       kaum noch etwas und nehmen stark an Gewicht
verbesserte Diagnosefähigkeit von Hausärzten und        ab. Es gibt eine verwirrende Vielzahl an körperli-
die wachsende Offenheit von Patienten, über psy-        chen Beschwerden wie z. B. Schwindel, Übelkeit,
chische Erkrankungen zu reden, spielen eine Rolle.      Schweißausbrüche, Herzklopfen, häufig auch Rü-
Dazu kommt eine Überalterung der Gesellschaft, die      ckenschmerzen, rasche Erschöpfung und Kraftlosig-
dazu führt, dass sich zu psychische Störungen häu-      keit. Depressive Menschen fühlen sich in allen Le-
fig körperlichen Leiden addieren.                       bensäußerungen gehemmt und bezeichnen diesen
                                                        Zustand häufig als „innere Lähmung.“
Im Arbeitsleben kommen vor allem Depressionen
und Angsterkrankungen zunehmend häufiger vor,           Depressionen im Arbeitsbereich
gelegentlich auch schizophrene Psychosen.               Vorher aktive und integrierte Persönlichkeiten neh-
                                                        men an Veranstaltungen mit Kollegen nicht mehr
■ Depressionen                                          teil, wirken unsicher und tieftraurig. Kritik an der
                                                        Leistung oder dem Verhalten kann zu starken Selbst-
Depressionen gehören zu den affektiven Störun-          zweifeln führen.
gen, d.h. Störungen von Gefühl und Stimmung, die
häufig mit Angst einhergehen und sich auf die Ge-       Am Arbeitsplatz werden vor allem Aufmerksam-
samtpersönlichkeit eines Menschen auswirken. Ca.        keits- und Antriebsstörungen auffällig. Flüchtig-
5 Prozent der Bevölkerung leiden zurzeit an einer       keitsfehler treten vermehrt auf, Arbeitsabläufe
Depression. Die Menschen beschreiben ihre Emp-          werden häufiger kontrolliert und unterbrochen. Der
findungen so, dass sie dem Leben kaum noch etwas        Beschäftigte ist unkonzentriert, vergesslich, häufig
Positives abgewinnen können. Anders als Befind-         zerfahren. Unpünktlichkeit und vermehrte Pausen
lichkeitsstörungen, denen jeder Mensch unterliegt       treten auf. Aufträge können nicht mehr vollständig
und die vorübergehender Natur sind, ist die Depres-     erledigt werden, weil dem Betroffenen die Kraft
sion eine behandlungsbedürftige Erkrankung, die         fehlt. In der Umgebung stoßen solche Verhaltens-
in schweren Fällen zum Suizid führen kann. Eine         weisen häufig auf Unverständnis und die Erkrankten
Depression beginnt selten plötzlich, sondern fast       gelten als Simulanten oder Drückeberger. Bei den
immer schleichend und tritt meist als sog. Episode      Betroffenen tritt in Folge der Krankheit häufig Panik
oder in Phasen auf. In allen westlichen Industrie-      auf, die Arbeit nicht mehr bewältigen zu können und
ländern ist eine starke Zunahme der Krankheit zu        als Konsequenz den Arbeitsplatz zu verlieren.
verzeichnen. Neben den Angststörungen ist die De-
pression die häufigste psychische Erkrankung.
18   Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben
18

     Es setzt ein Kreislauf von Schuld, Versagen, dem         sive Erkrankung können auch im Verlust eines Part-
     Ausdrücken von Wert-, Entschluss- und Hoffnungslo-       ners, im Verlust des Arbeitsplatzes, aber auch schon
     sigkeit ein („Ich bin nichts wert, ich bin unzumutbar,   in einem Umgebungswechsel liegen. Eine weitere
     keiner kann mir helfen“). Sehr häufig haben die Be-      Ursache wird in einer genetischen Disposition gese-
     troffenen keine Krankheitseinsicht, sondern sie inter-   hen, d. h. in Familien, in denen eine Depression auf-
     pretieren ihren Zustand als persönliches Versagen.       tritt, wird für die Nachkommen die Wahrscheinlich-
                                                              keit größer, an einem solchen Leiden zu erkranken.
     Depressiv Erkrankte haben häufig Suizidgedanken          Eine direkte Erbkrankheit ist die Depression jedoch
     und sehen oft keinen Ausweg mehr aus dem                 nicht. Organisch betrachtet gehen Depressionen mit
     Negativ­kreislauf. Suizidäußerungen sind auf jeden       Störungen des Hirnstoffwechsels einher, bei denen
     Fall ernst zu nehmen. Bei drohender Suizidgefahr         hauptsächlich die Botenstoffe Serotonin und Norad-
     sollte schnellstmöglich eine stationäre Aufnahme         renalin aus der Balance geraten sind. Durch diese
     erfolgen.                                                Stoffwechselstörungen sinkt die Fähigkeit, positive
                                                              Gefühle zu empfinden. Diese Stoffwechselstörun-
     Ursachen                                                 gen können auch durch einschneidende Lebens-
     Das Entstehen einer Depression ist von vielen Fakto-     ereignisse verursacht werden.
     ren abhängig. Es gibt meist keine einzelne Ursache,
     erst das Zusammenwirken unterschiedlicher innerer        Behandlung und Prognose
     und äußerer Faktoren lässt eine Depression entste-       Depressionen sind heute in den meisten Fällen gut
     hen. Dazu zählen eine besondere anlagebedingte           behandelbar. Sie werden i. d. R. mit einer Kombi-
     Verletzlichkeit und eine ausgeprägte Feinfühligkeit,     nation aus Medikamenten (Antidepressiva) und
     d.h. sensible, dünnhäutige Menschen laufen eher          psychotherapeutischen Verfahren behandelt. Wei-
     Gefahr, psychisch zu erkranken, da sie sich durch        tere unterstützende Methoden sind Entspannungs-,
     Faktoren wie z. B. Stress oder negative Lebens-          Ergo- oder Bewegungstherapie. Eine wichtige Rolle
     ereignisse stärker belastet fühlen und fortgesetzte      bei der Behandlung spielt die Psychoedukation. Dar-
     Belastungen ihr Bewältigungsvermögen auf Dauer           unter werden Interventionen zusammengefasst, die
     überfordern.                                             darauf abzielen, Patienten und Angehörige über die
                                                              Erkrankung zu informieren und den selbstverant-
     Diese Erklärung wird unter Fachleuten auch als das       wortlichen Umgang des Betroffenen mit der Krank-
     „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ bezeichnet, d.h. auf-    heit zu fördern.
     grund einer besonderen Verletzlichkeit besteht eine
     erhöhte Stressanfälligkeit. Auslöser für eine depres-    60 bis 80 Prozent der Betroffenen kann geholfen
                                                              werden, wenn eine Behandlung nach geltenden
                                                              Richtlinien erfolgt. Wichtig ist dabei, dass der an
                                                              Depression Erkrankte die Behandlung mitträgt und
                                                              nicht zu früh abbricht.
Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben                                             19

■ Bipolare Störungen
  (manisch-depressive Erkrankungen)

Eine besondere Form der affektiven Störungen            im Arbeitsumfeld voller Tatendrang und Euphorie.
sind die sogenannten bipolaren affektiven Störun-       Sie schlafen wenig, sind voller Energie, heiter, arbei-
gen, die früher manisch-depressive Erkrankungen         ten exzessiv mit hektischer Aktivität, jedoch häufig
hießen. In Deutschland leben ca. zwei Millionen         mit fehlender Kontinuität. Das Denken ist beschleu-
Menschen, die von der Störung betroffen sind. Die       nigt, der Rededrang gesteigert, das Selbstwert-
Erkrankten schwanken zwischen Trübsinn und Eu-          gefühl gehoben bis übersteigert. Die Betroffenen
phorie, d.h. neben depressiven Phasen treten Episo-     erleben eine Steigerung des Lebensgefühls, am
den besonderer Aktivität und gehobener Stimmung         Arbeitsplatz wirken sie auf Kollegen wie der „Hans
auf. An bipolaren Störungen erkrankte Personen          Dampf“ voller Kraft und Überzeugung und sie gel-
haben ein 30fach erhöhtes Suizidrisiko gegenüber        ten als engagierte Mitarbeiter. Je nach Ausprägung
der Normalbevölkerung. Bei vielen Betroffenen be-       des Krankheitsbildes kann auch die gereizte Stim-
stehen die Episoden in sich lang hinziehenden De-       mungslage im Vordergrund stehen und es kommt
pressionen und vergleichsweise kurzen und hefti-        vermehrt zu Konflikten mit Kollegen. Problematisch
gen manischen (euphorischen) Phasen oder in einer       im privaten Umfeld wie im Arbeitsbereich sind die
ständigen Unausgeglichenheit der Stimmungslage.         unüberschaubaren finanziellen Aktionen und Unter-
Die Episoden lassen sich nicht immer klar vonein-       nehmungen, zu denen es in der manischen Phase
ander abgrenzen. Die Dynamik der depressiven und        kommen kann und die häufig für alle Beteiligten
manischen Denkmuster bewegt sich dabei zwischen         gravierende Folgen haben.
Selbstentwertung und Selbstüberschätzung, im
Volksmund mit „Himmel hoch jauchzend, zu Tode           Ursachen
betrübt“ bezeichnet.                                    Wie bei den Depressionen und anderen psychi-
                                                        schen Erkrankungen sind die Ursachen von vielen
Symptome                                                Faktoren abhängig und liegen in einer vermuteten
Die häufigsten Symptome einer bipolaren Erkran-         anlagebedingten Verletzlichkeit, einer biologisch-
kung sind wie bei der depressiven Erkrankung u. a.      genetischen Empfänglichkeit und Störungen des
Schlafstörungen, Ängste, Unruhe, Antriebsarmut          Hirnstoffwechsels, wie sie auch bei den Auslösern
und Gefühlshemmungen, Interesselosigkeit und            für eine depressive Erkrankung vermutet werden.
Selbstwertprobleme. In der manischen Phase treten
u. a. euphorische Emotionen, übersteigerte Aktivi-      Behandlung und Prognose
tät, plötzlich gereizte, gelegentlich auch aggressive   Eine bipolare affektive Störung ist eine behand-
Stimmungslage auf. Das Schlafbedürfnis ist gemin-       lungsbedürftige Erkrankung und kann mit medi-
dert, im motorischen Bereich weisen die Betroffe-       kamentöser Therapie, mit Psychotherapie (häufig
nen eine große Unruhe mit Sprunghaftigkeit im           Verhaltenstherapie) und Psychoedukation meistens
Handeln auf.                                            effektiv behandelt werden, sodass sich die Sym-
                                                        ptome zurückbilden. Dennoch kann es vor allem
Die Symptome variieren je nach Ausprägung des           bei schwereren Erkrankungen häufig zu Rückfällen
Krankheitsbildes und können sich je nach Persön-        kommen. Wichtig sind dabei ein frühzeitiges Erken-
lichkeit des Betroffenen unterschiedlich darstellen.    nen der Erkrankung und ein intensives Mitarbeiten
                                                        der Betroffenen auch über die akute Krankheitspha-
Manie im Arbeitsbereich                                 se hinaus. In der Stabilisierungsphase sollte die Be-
In der manischen Phase sind die betroffenen Men-        handlung fortgeführt werden, um Rückfälle soweit
schen nicht nur im privaten Bereich sondern auch        möglich zu vermeiden.
20   Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben

     ■ Angststörungen

     Angst ist Teil des menschlichen Lebens, ein hilfrei-    störung) und die Phobien. Phobien sind starke und
     ches, oft lebenswichtiges Signal des Körpers und        unangemessene Ängste, die sich auf bestimmte
     eine biologisch sinnvolle Reaktion, die den gesam-      Objekte oder Situationen beziehen, z. B. Klaustro-
     ten Organismus auf ein schnelles Reagieren in einer     phobie (Furcht vor beengten Räumen). Eine Unter-
     Gefahrensituation vorbereitet.                          scheidung zwischen den Angststörungen kann nicht
                                                             immer scharf getroffen werden.
     Von Angststörungen spricht man dann, wenn sehr
     heftigen Angstreaktionen keine entsprechenden Ge-       Symptome
     fahren oder realen Bedrohungen zugrunde liegen.         Symptome der Angst und Panik, oft nur schwer von-
     Der Übergang von der normalen Angst zur behand-         einander abzugrenzen, sind häufig Störungen, die
     lungsbedürftigen Krankheit ist fließend. Bis eine       am ganzen Körper auftreten und von Person zu Per-
     Angststörung diagnostiziert wird, vergehen in der       son sehr unterschiedlich sein können. Beispielhaft
     Regel mehrere Jahre. Anhaltspunkt für eine krank-       seien hier genannt: Schlafstörungen, Schwindel,
     hafte Störung kann sein, dass Angstgefühle über         Herzrasen, Zittern, Erröten, Störungen im Magen-
     eine längere Dauer, zu oft und zu stark auftreten und   Darm-Bereich und Störungen im Bereich geistiger
     ohne fremde Hilfe nicht mehr bewältigt werden kön-      Funktionen wie Gedächtnisstörungen. Auch Ent-
     nen. Die Angst davor, dass die Symptome auftreten       fremdungssymptome oder Unruhe können Sympto-
     könnten, die „Angst vor der Angst“, ist stark ausge-    me einer Angsterkrankung sein. Die Diagnose wird
     prägt und der betroffene Mensch zieht sich zuneh-       häufig sehr spät gestellt, da die körperlichen Sym-
     mend aus seinem sozialen Umfeld zurück. Angst-          ptome im Vordergrund stehen. Fast alle Menschen
     auslösende Situationen werden vermieden und             kennen Symptome der Angst aus eigenem Erleben,
     häufig beginnen Versuche der Selbstbehandlung           ohne jedoch an einer Angststörung zu leiden.
     mit Alkohol und Drogen. Angststörungen haben in
     den westlichen Industrieländern auch aufgrund von       Angststörungen im Arbeitsbereich
     Arbeitsdruck und damit verbundener Zeitknappheit        Angststörungen können eine beträchtliche Auswir-
     stark zugenommen. Etwa 14,5 Prozent der Bevölke-        kung auf die Lebensqualität der betroffenen Men-
     rung erleben mittlerweile innerhalb eines Jahres-       schen haben. Sie sind abhängig von der Art und
     zeitraums Angststörungen. Frauen sind häufiger          Schwere der Erkrankung. Eine Störung – wie an den
     betroffen als Männer.                                   Panikattacken von Klaus Kraft dargestellt – führt
                                                             z. B. dazu, dass die Erkrankten mehr und mehr versu-
     Es gibt verschiedene Angststörungen, u. a. die soge-    chen, Angst auslösende Situationen zu vermeiden,
     nannte generalisierte Angststörung, d. h. die Betrof-   sich aus ihrem sozialen Bezugsfeld zurückzuziehen
     fenen leiden unter unaufhörlichen Sorgen und einer      und sich zu isolieren. Wird eine Angsterkrankung zu
     Dauerangst, die Panikstörungen mit Panikattacken        spät als solche erkannt, kann dies im Extremfall zum
     aus heiterem Himmel, die Belastungsstörungen            Verlust des Arbeitsplatzes und damit verbunden
     nach einem Trauma (posttraumatische Belastungs­         zum sozialen Abstieg des Betroffenen führen.
Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben                                           21

Wie bei den depressiven Erkrankungen können die         Behandlung und Prognose
betroffenen Menschen im Kollegenkreis häufig auf        Behandelnde Ärzte und Therapeuten machen im-
Unverständnis stoßen und das „Nichtkönnen“ der          mer wieder die Erfahrung, dass weniger die Ursa-
Angsterkrankten wird als ein „Nichtwollen“ inter-       chen als die aktuellen Lebensbedingungen und die
pretiert, der Betroffene als Simulant und Drücke-       Vorbehandlung einen großen Einfluss darauf haben,
berger angesehen. Bei der häufigsten Störung aus        wie der Betroffene seine Krankheit lebt und erlebt.
diesem Bereich, der Sozialphobie, haben die Betrof-
fenen Angst, in der Öffentlichkeit zu versagen, z. B.   Die hauptsächlich eingesetzte Therapie bei Angst-
vor den Kollegen, dem Vorgesetzten zu stottern, zu      störungen ist die Verhaltenstherapie. Der Betroffene
stolpern oder sich lächerlich zu machen. Häufig tre-    erlernt in Angst besetzten Situationen durch sorg-
ten mehrere Angststörungen in Kombination mitei-        fältig geplante Therapieschritte ein neues Verhalten.
nander auf.                                             Andere psychotherapeutische Methoden kommen
                                                        ebenfalls zum Einsatz, so z. B. gesprächstherapeu-
Ursachen                                                tisch orientierte Methoden sowie Entspannungs-
Die Ursachen für Angst- und Panikstörungen oder         verfahren. In der Behandlung mit Medikamenten
Phobien sind nicht eindeutig geklärt, es gibt nicht     spielen heute vor allem zwei Gruppen von Psycho-
eine Ursache, sondern so viele Ursachen, wie es         pharmaka (Medikamente, die auf die Psyche wirken)
verschiedene Menschen gibt. Diskutiert werden ver-      eine Rolle: die Antidepressiva, die ursprünglich zur
schiedene Hypothesen:                                   Behandlung von Depressionen entwickelt wurden
                                                        und die Tranquilizer. Die Tranquilizer werden zur
Ein Ansatz besagt, dass die Angst eine erlernte Ver-    Akutbehandlung und nur zur Überbrückung emp-
haltensweise ist, z. B. wenn ein Kind die Angst vor     fohlen, solange bis die Wirkung des Antidepres-
einem Gewitter über das „Modell“ der Mutter „er-        sivums einsetzt, da die meisten Tranquilizer eine
lernt“. Eine zweite Hypothese besagt, dass es mög-      Sucht auslösende Wirkung zeigen.
licherweise eine ererbte Neigung gibt, eine Angst-
störung zu entwickeln. Eine weitere Hypothese sieht     Bei einer Angststörung steht häufig die körperliche
in übermäßigem Stress, lang anhaltenden Belastun-       Symptomatik im Vordergrund und die hinter den
gen oder Überarbeitung Risikofaktoren für den Aus-      körperlichen Beschwerden liegende Angsterkran-
bruch einer Angsterkrankung.                            kung wird oft zu spät diagnostiziert. So besteht die
                                                        Gefahr, dass die Erkrankung chronisch wird. Je frü-
                                                        her die Diagnose und der Beginn der Behandlung
                                                        erfolgten, umso günstiger ist die Prognose.
22   Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben

     ■ Schizophrenie

     Die Schizophrenie gilt als die bekannteste psychi-    religiöse oder politische Berufung, Verfolgungs-
     sche Erkrankung und zählt zum Krankheitsbild der      ängste und Denkstörungen, verbunden mit dem Ge-
     Psychosen. Der Begriff Schizophrenie lässt sich       fühl, andere könnten die eigenen Gedanken mitden-
     mit „gespaltene Seele“ übersetzen, bedeutet aber      ken. Optische und akustische Halluzinationen und
     nicht „Persönlichkeitsspaltung“, wie früher oft be-   Illusionen können auftreten, häufig verbunden mit
     hauptet wurde. Beschrieben wird mit dem Begriff       körperlichen Symptomatiken wie Schlafstörungen,
     „schizophren“ das Vorhandensein von zwei für den      Herzklopfen oder Zittern.
     Betroffenen nebeneinander existierenden Wahr-
     nehmungswelten. Schizophrenie ist eine kulturun-      Die Symptome einer Schizophrenie wirken auf die
     abhängige Erkrankung, d. h. sie ist auf der ganzen    Umgebung sehr absonderlich und beängstigend.
     Welt bei ca. einem Prozent der Bevölkerung zu fin-    Vor allem das Erleben, dass für den Betroffenen ne-
     den. Die Schizophrenie kann leicht oder schwer,       ben der von der Mehrheit wahrgenommenen Wirk-
     akut oder schleichend sein. Sie kann ausheilen, in    lichkeit zusätzlich eine andere Realität existiert, ver-
     einer einmaligen Episode verlaufen oder chronisch     unsichert Angehörige, Freunde und Kollegen sehr
     werden. Der Beginn einer Schizophrenieerkrankung      stark. Für den Umgang mit Betroffenen ist es wich-
     liegt häufig zwischen der Pubertät und dem 30. Le-    tig zu wissen, dass diese aufgrund ihrer veränder-
     bensjahr. Oft sind junge Menschen in sich verän-      ten Wahrnehmung oft von starken Ängsten geplagt
     dernden Lebenssituationen betroffen, z. B. am Be-     sind. Die Ängste können sich auf alle Lebensbe-
     ginn einer Ausbildung, am Ende des Studiums oder      reiche beziehen. Es kann sich Angst vor Personen,
     in der Wehrdienstzeit.                                Gegenständen, Stimmen, Geräuschen oder Angst
                                                           vor Verfolgung entwickeln. Die Intelligenz ist bei der
     Symptome                                              Schizophrenie nicht beeinträchtigt, allerdings kann
     Psychosen beginnen in der Regel schleichend. Die      die Fähigkeit, das intellektuelle Potential zu aktivie-
     ersten Anzeichen treten oft über Jahre auf und        ren, gemindert sein.
     werden häufig nicht als Symptome einer Erkran-
     kung erkannt. In einer akuten Phase unterscheidet     Die Schizophrenie im Arbeitsbereich
     man Negativ- und Positivsymptome. Bei den Ne-         Bei einsetzender Positivsymptomatik wird im Ar-
     gativsymptomen kommt es zu Aktivitätsverlust in       beitsbereich wie im privaten Umfeld meist schnell
     bestimmten Bereichen, z. B. Antriebsarmut und         offensichtlich, dass mit dem Betroffenen etwas nicht
     Gefühlsveränderungen wie Gereiztheit, Niederge-       in Ordnung ist. Da psychotische Erkrankungen sich
     schlagenheit oder Abschwächung aller Gefühls-         bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich
     empfindungen. Im sozialen Bereich erschwert die       darstellen, können die Betroffenen auch mit sehr
     Beeinträchtigung des Denkens den Kontakt mit          unterschiedlichen Frühwarnzeichen reagieren. Als
     anderen. Der Erkrankte wird – auch aufgrund des       „Frühwarnzeichen“ werden individuelle Anzeichen
     Nichtverstehens des Verhaltens – häufig von seiner    einer drohenden Überforderung bzw. eines Rück-
     Umwelt isoliert oder er zieht sich selbst zurück.     falls bezeichnet. Für die Betroffenen und das Umfeld
                                                           ist es wichtig, diese frühzeitig zu erkennen und da-
     Positivsymptome werden so genannt, weil ein Mehr      rauf rechtzeitig und angemessen zu reagieren. Ne-
     an Merkmalen hinzukommt. Dies können z. B. sein:      ben körperlicher Symptomatik wie Schlafstörungen,
     Wahnwahrnehmungen und Wahnvorstellungen wie           Kopfschmerzen, Herzproblemen, die der Betroffene
Krankheitsbilder und Auswirkungen im Arbeitsleben                                             23

bei sich wahrnehmen kann, können im Arbeitsum-          man vermutet eine Stoffwechselstörung im Gehirn.
feld folgende sichtbare Veränderungen auftreten:        Beim Ungleichgewicht bestimmter informations-
vermehrtes Fehlen und häufigere Pausen, der Über-       leitender Botenstoffe (wie z. B. Dopamin, Serotonin,
blick über die Arbeitsbereiche geht verloren, der       Glutamat) kann eine Schizophrenie auftreten. Auch
Betroffene wirkt bei seiner Tätigkeit teilnahmslos,     psychosoziale Faktoren wie Familienerfahrung,
unkonzentriert und unstrukturiert. Häufig werden        Schule, Ausbildung und Beruf können den Verlauf
strenge Arbeitsrituale eingeführt. Bei Abweichung       der Erkrankung beeinflussen. Organische Verände-
wird der Betroffene in starke Unruhe versetzt.          rungen oder Veränderungen durch Unfälle können
                                                        ebenfalls das Auslösen einer Schizophrenie begüns-
Bei steigendem psychischem Druck kann der Kon-          tigen. Bei der Stabilisierung nach Eintritt der Erkran-
sum von Alkohol und Drogen zunehmen. Regeln             kung spielt ein positives soziales Umfeld eine wich-
und Vorschriften, auch Sicherheitsvorschriften, kön-    tige Rolle. Als gesichert gilt, dass der Gebrauch von
nen missachtet werden. Kollegen und Mitarbeiter         Drogen, auch von weichen Drogen und auch von
nehmen bei dem Betroffenen mitunter ein unerklär-       geringen Mengen, das Auftreten einer Schizophre-
liches, plötzlich auftretendes Misstrauen bzw. eine     nie begünstigen oder auslösen kann.
Feindseligkeit wahr, die nicht durch Vorkommnisse
am Arbeitsplatz erklärt werden kann. Der betroffe-      Behandlung und Prognose
ne Mitarbeiter scheint wie ausgewechselt, vermutet      Bei der Schizophrenie steht die medikamentöse Be-
hinter jedem Kollegengespräch eine Verschwörung.        handlung mit Neuroleptika im Vordergrund der The-
Gelegentlich führt dies auch zu nicht erklärbarem,      rapie. Die Medikamente lindern die Symptome und
aggressivem Verhalten des Betroffenen. Menschen         erleichtern die weitere Begleitung und Behandlung
mit depressiver Struktur ziehen sich eher aus sozi-     der Erkrankung.
alen Kontakten zurück. Insgesamt fällt der Betrof-
fene mehr und mehr durch das Nachlassen seiner          Eine psychotherapeutische Behandlung als unter-
Arbeitsleistungen und durch Veränderung seines          stützende Therapie versucht das Selbstbewusstsein
Verhaltens auf, das krankheitsbedingt seiner willkür-   des Betroffenen zu stabilisieren und die Persönlich-
lichen Steuerung entzogen ist.                          keit zu stärken.

Bei einem frühzeitigen Erkennen von Frühwarnsig-        Eine Schizophrenie verläuft häufig in mehreren Epi-
nalen kann eine Verschlimmerung verhindert bzw.         soden, wobei sie bei einem Drittel der Erkrankten
einem Rückfall vorgebeugt werden.                       nur einmalig auftritt. Bei zwei Dritteln der Betroffe-
                                                        nen treten mehrmalige Episoden mit bleibenden Be-
Ursachen                                                einträchtigungen auf. Die Krankheit kann aber auf-
Die Ursachen der Schizophrenie sind bis heute un-       grund des therapeutischen Fortschrittes der letzten
geklärt. Wie bei anderen psychischen Erkrankun-         Jahrzehnte heute vielfach gut behandelt werden.
gen kommt zu einer vermuteten angeborenen Ver-
letzlichkeit und einer besonderen Sensibilität eine
genetische Disposition hinzu. Es ist bekannt, dass
Schizophrenie familiär gehäuft auftreten kann. Wei-
terhin spielen biochemische Einflüsse eine Rolle,
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