HISTORY MATTERS - PUBLIKATIONEN

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HISTORY MATTERS - PUBLIKATIONEN
Nachrichten der ARL _ 01 / 2021 _ 51. Jahrgang

                                     history matters

Der l ange Weg zur Aufarbeitung der NS -Zeit
Peter Steinbach                                   
Wie viel National sozialismus steck te nach 1945
in der ARL?
Oliver Werner 
Aufarbeitung der Geschichte von R aumpl anung
und R aumforschung in der ARL
Axel Priebs 
Zur Geschichte der Zeitschrif t „ R aumforschung
und R aumordnung“
Andreas Klee 
R aumordnung im National sozialismus:
der „Gener alpl an Ost “
Isabel Heinemann 
Geschichte der R aumordnung in der BRD
(1949–1989)
Hans Heinrich Blotevogel 
30 Jahre später: R aument wicklung und
R aumpl anung in Deutschl and nach 1989/ 90
Thomas Weith 

HISTORY MATTERS - PUBLIKATIONEN
Nachrichten der ARL

Herausgeber:
ARL – Akademie für Raumentwicklung
in der Leibniz-Gemeinschaft
Vahrenwalder Straße 247
30179 Hannover
Tel. +49 511 34842-0
Fax +49 511 34842-41
arl@arl-net.de
www.arl-net.de

Redaktion:
Dr. Tanja Ernst (v.i.S.d.P.)
Sprachliches Lektorat:
Heike Wegner
Satz und Layout:
Gabriela Rojahn, Oliver Rose
Cover:
© pexels/Andrew Neel
Druck:
Linden-Druck Verlagsgesellschaft mbH
30453 Hannover

Die Nachrichten der ARL
erscheinen dreimal im Jahr.
Die PDF-Version ist unter shop.arl-net.de
frei verfügbar (Open Access).
CC_BY_SA 4.0 International

Heft 01/2021
51. Jahrgang
Auflage: 2250

ISSN 1612-3891 (Print-Version)
ISSN 1612-3905 (PDF-Version)

Inhalt gedruckt auf
100% Recyclingpapier
HISTORY MATTERS - PUBLIKATIONEN
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L                                                                 i n h a lt   1

Editorial                                                Krisen als Chance?
                                                         Martina Hülz                                            48
Tanja Ernst                                         2
                                                         AK „Klimaangepasste Stadt- und Regionalentwicklung“
                                                         gestartet
Ak tuell                                                 Barbara Warner                                     49

75 Jahre ARL – Vergangenheit und Zukunft im Blick        Exzellenzorientierte Nachwuchsförderung im Rückblick
Sabine Baumgart                                     5   Lena Greinke                                        50

                                                         Auftakt Digitales BarCamp des Jungen Forums der ARL
Thema                                                    Dajana Esch                                        54

Der lange Weg zur Aufarbeitung der NS-Zeit               ÜBER UNS – die Geschäftsstelle der ARL stellt sich vor  56
Peter Steinbach                                     9
                                                         Corona-Pandemie und raumwirksame Folgen
Wie viel Nationalsozialismus steckte nach 1945 		        Martina Hülz                                            59
in der ARL?
                                                         Daseinsvorsorge zwischen Sozialstaatstheorie
Oliver Werner                                    14
                                                         und -praxis
Aufarbeitung der Geschichte von Raumplanung 		           Jan Matthias Stielike, Thomas Lindemann,
und Raumforschung in der ARL                             Theo Kötter                                    61
Axel Priebs                                   18
                                                         Neuerscheinungen                                        64
Zur Geschichte der Zeitschrift
                                                         Personen                                                66
„Raumforschung und Raumordnung“
Andreas Klee                                       22

Raumordnung im Nationalsozialismus:
                                                         Aus R aumforschung
Der „Generalplan Ost“                                    und -pl anung
Isabel Heinemann                                   25
                                                         Erweiterter Vorstand des FRU stärkt Verbindung
 eschichte der Raumordnung in der BRD (1949–1989)
G                                                        Wissenschaft – Praxis und Nachwuchsförderung
Interview mit Hans Heinrich Blotevogel            30    Ulrike Weiland                                          68

30 Jahre später: Raumentwicklung und Raumplanung 		      Mentoring-Programm von ARL und FRU
in Deutschland nach 1989/90                              Martha Pohl                                             69
Thomas Weith                                       33
                                                         Virtuelle Konferenz zu Planung, Recht und Eigentum
                                                         Thomas Hartmann, Andreas Hengstermann                   71
Aus der ARL
                                                         Neues Leibniz-Forschungsnetzwerk unterstützt
Sabine Baumgart erneut zur Präsidentin der Akademie      Forschung für nachhaltige Entwicklung
für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft 		       Rainer Danielzyk, Lena Greinke                 73
gewählt
Carolin Pleines                                    40   Co-Working Spaces im ländlichen Raum
                                                         Peter Wittmann                                          74
Ad-hoc-Arbeitskreis der ARL veröffentlicht
Positionspapier zu Pandemie und Raumentwicklung          Energy Futures – Emerging Pathways in an Uncertain
Carolin Pleines                                    42   World!
                                                         Felix Claus Müller                                      75
München als 8. Bayerischer Regierungsbezirk?!
Hans-Martin Zademach                               43   Flächensparende Siedlungsentwicklung in deutschen
                                                         Stadtregionen
„Metropolregion Mitteldeutschland“ aus 			               Stefan Siedentop                                        76
raumwissenschaftlicher Sicht
Julian Gick                               44            Interdisziplinäre Konferenz zu nachhaltiger
                                                         Landwirtschaft: Landscape 2021
International Conference on Sustainable Spatial 		       Hendrik Schneider                                        77
Development in the Alpine Space
Maximiliane Seitz                                 45    Ausschreibung des Reinhard-Baumeister-Preises 2021  78

Erste digitale Mitgliederversammlung der ARL             Ausgewählte Zeitschriftenbeiträge                       80
Andreas Klee                                       46
                                                         Neuerscheinungen aus anderen Verlagen                   83
HISTORY MATTERS - PUBLIKATIONEN
2   ED I TO R I A L                                                                      01/ 2 021 _ N ac h ri c h ten der A R L

    Editorial

    Liebe Interessierte,

    die ARL besteht in diesem Jahr seit 75 Jahren. Das ist ein         Doch Geschichte zählt und prägt, deshalb erscheint
    Grund zum Feiern, zum Innehalten, zur rückblickenden Re-     die Jubiläumsausgabe der Nachrichten der ARL zum 75-jäh-
    flexion und zur Bestandsaufnahme aber auch zum Ausblick:     rigen Bestehen unter dem Titel „History matters“. Weshalb
    Was hat die Akademie erreicht und was sind nächste Ziele?    und wie „History matters“, hat Charles Tilly einst dezidiert
          Dazu äußert sich die für zwei weitere Jahre im Amt     erläutert. Der US-amerikanische Wissenschaftler gilt als
    bestätigte ARL-Präsidentin Sabine Baumgart in der Rubrik     Grenzgänger zwischen den Fachdisziplinen Geschichte, So-
    „Aktuell“. Zum 75-jährigen Bestehen spannt sie im Jubilä-    ziologie und Politikwissenschaften. Er befasste sich stets
    umsjahr den Bogen von der Vergangenheit bis in die Zu-       mit den Wechselwirkungen zwischen Politik und Gesell-
    kunft.                                                       schaft und lenkte so den analytischen Blick auf historisch
          Das Jubiläum ist aber zugleich auch ein Anlass, um     entstandene und gewachsene Kontinuitäten sowie Pfad-
    zurückzuschauen und sich kritisch mit den historischen An-   abhängigkeiten.
    fängen der Raumordnung und der Gründungsgeschichte                 Da eine umfassende Aufarbeitung und externe Be-
    der Akademie für Raumforschung und Landesplanung aus-        wertung der Gründungs- und Frühzeit der Akademie nach
    einanderzusetzen.                                            Maßstäben der historisch-kritischen Geschichtswissen-
          „In Wahrheit haben weder Raumordnung noch Raum-        schaft bis dato ausstand, vergab das Präsidium der Akade-
    forschung mit dem Nationalsozialismus auch nur das ge-       mie 2016 den Forschungsauftrag „Von der RAG zur ARL:
    ringste zu tun.“ Dieser Satz entstammt der Festschrift der   Personelle, institutionelle, konzeptionelle und raumplane-
    Akademie für Raumforschung und Landesplanung aus dem         rische (Dis-)Kontinuitäten“ zur Aufarbeitung und Bewer-
    Jahre 1960. Faktisch zeigt die aktuelle Aufarbeitung der     tung der „Übergangsjahre“.
    NS-Geschichte, dass der Satz jeglicher sachlichen Grundla-         Der Forschungsauftrag wurde auf der Basis des Vo-
    ge entbehrt, denn Raumordnung und Raumforschung wa-          tums einer unabhängigen Fachjury an Dr. Oliver Werner
    ren sehr eng mit den menschenverachtenden national-          (IDD – Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz
    sozialistischen Umsiedlungs-, Vertreibungs- und Vernich-     Universität Hannover) vergeben. Das Projekt wurde bis zu
    tungsplänen des „Dritten Reiches“ verbunden.                 seinem Abschluss von den renommierten, unabhängigen
          Doch es gab lange Zeit große Zurückhaltung, ja eine    Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirates zum For-
    Tendenz zur Vermeidung, sich mit diesem Thema in der         schungsauftrag fachlich begleitet. Die ARL dankt deshalb
    Akademie zu befassen. Offizielles Gründungsjahr der Aka-     allen Beiratsmitgliedern für die engagierte und exzellente
    demie ist das Jahr 1946. Zugleich sah sich die ARL ohne      fachliche Begleitung des Projektes. Zugleich gilt der Dank
    Einschränkung oder Erläuterung als „Rechtsnachfolgerin       dem Initiator des Forschungsauftrages und ehemaligen
    der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ (ARL        Präsidenten der ARL (2013 bis 2015), Prof. Dr.-Ing. Klaus J.
    1961: 10) und feierte bereits im Jahr 1960 das 25-jährige    Beckmann, sowie dem damals amtierenden Präsidium für
    (!) Bestehen der Raumforschung.                              das besondere Engagement in dieser Sache.
          Ein (selbst)kritisches Wort zur politischen Ausrich-         Warum die Auseinandersetzung mit der Geschichte
    tung der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung         der Akademie und den Anfängen der Raumforschung und
    (RAG) fehlte 1960 ebenso wie eine Auseinandersetzung         Raumordnung als Disziplin und Praxis so wichtig ist und nie
    mit den nationalsozialistischen Verstrickungen von Akade-    abgeschlossen sein wird, verdeutlichen die Themenbeiträ-
    miemitgliedern, von denen viele der RAG angehört hatten      ge des vorliegenden Jubiläumsheftes noch einmal ein-
    und einige zudem aktiv oder führend – wie Konrad Meyer       drücklich.
    – an der Erarbeitung des „Generalplan Ost“ beteiligt gewe-
    sen waren.
HISTORY MATTERS - PUBLIKATIONEN
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR LE d i to r i a l                                                                      3

      Eröffnet wird der Themenschwerpunkt von Peter                 Die Rubrik „Aus der ARL“ stellt das neue, seit Anfang
Steinbach, einem sehr erfahrenen und renommierten Ex-         2021 amtierende Präsidium der ARL näher vor. Wir möch-
perten für die Aufarbeitung der NS-Zeit, der Mitglied des     ten an dieser Stelle noch einmal die Gelegenheit nutzen,
Beirates des o. g. Forschungsprojektes war. Er zeichnet den   um uns ganz herzlich bei den beiden ausgeschiedenen Prä-
langen Weg der Aufarbeitung der NS-Zeit in Ministerien,       sidiumsmitgliedern, Prof. Dr. Rolf Dieter Postlep und Prof.
Justiz und Behörden in den beiden deutschen Staaten der       Dr. Susann Grotefels, für ihr großes und langjähriges En-
Nachkriegszeit nach und zeigt, dass und warum Gesell-         gagement zu bedanken!
schafts- und Organisationsgeschichte in aller Regel Konti-          Auf Anregung unserer Präsidentin starten wir in die-
nuitätsgeschichte ist.                                        sem Heft zudem eine neue „Reihe“, in der wir die Ge-
      Es folgt der Beitrag „Wie viel Nationalsozialismus      schäftsstelle bzw. sukzessive die einzelnen Personen und
steckte nach 1945 in der ARL?“, in dem Oliver Werner wich-    ihre Aufgaben näher vorstellen werden.
tige Erkenntnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte
der „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ und               Wir hoffen, Sie mit unserem Jubiläumsheft zu einem
der „Akademie für Raumforschung und Landesplanung“            – aus unserer Sicht wichtigen – Blick zurück anzuregen,
(1935 bis 1955) zusammenfasst.                                aber auch für die aktuellen Aktivitäten der ARL interessie-
      Hier schließt Andreas Klee an, indem er sich mit der    ren zu können – bleiben Sie gesund!
Geschichte der Fachzeitschrift „Raumforschung und Raum-
ordnung“ beschäftigt und darauf verweist, dass sich ein
Themenheft im 80. Jahrgang der Zeitschrift „Raumfor-          Literatur
schung und Raumordnung | Spatial Research and Planning“       ARL – Akademie für Raumforschung und Landesplanung (1961):
2022 vertiefend mit der Aufarbeitung der Geschichte der       Festsitzung anläßlich des 25jährigen Bestehens der Raumforschung
Zeitschrift befassen wird.                                    in Deutschland am 27. Oktober 1960 im Alten Rathaus zu Hannover.
                                                              Hannover.
      Axel Priebs stellt im Folgenden das laufende Zeitzeu-
gen-Projekt der ARL vor, das persönliche Erinnerungen und
Erfahrungen zu sichern sucht, um die Aufarbeitung der Ge-
schichte von Raumplanung und Raumforschung sowie der                                D r . Ta n j a E r n s t
ARL durch Oral History zu erweitern.                                                Stabsstelle Wissenschaftskommunikation
      Über die ARL und ihre Geschichte hinausgehend                                 Tel. +49 511 34842-56
                                                                                    ernst@arl-net.de
zeichnet der Beitrag von Isabel Heinemann, einer bekann-
ten Neuzeit-Historikerin mit umfangreicher Forschungser-
fahrung zur NS-Zeit, am Beispiel des „Generalplan Ost“
nach, wie eng die raumwissenschaftliche Forschung und
die Anfänge der Raumordnung mit den verbrecherischen
und menschenverachtenden Raumordnungs- und Umsied-
lungskonzepten des Nationalsozialismus und damit auch
der Vertreibung und Ermordung jüdischer und osteuropäi-
scher Bevölkerung verknüpft waren.
      Es folgt ein Interview mit Hans Heinrich Blotevogel,
der sich seit langem um die kritische Auseinandersetzung
mit der Geschichte der ARL sowie der Raumplanung und
Raumwissenschaften insgesamt verdient gemacht hat. Die
Fragen von Rainer Danielzyk nehmen dabei – ergänzend zu
den anderen Themenbeiträgen – die Geschichte der Raum-
ordnung in der BRD zwischen 1949 und 1989 in den Blick.
      Abschließend wirft Thomas Weith einen ganz ande-
ren Blick zurück. Er beleuchtet Raumentwicklung und
Raumplanung in Deutschland nach 1989/90. Aber auch für
diese Zeit gilt, dass geschichtliche Auseinandersetzungen
notwendig sind, um längerfristige Entwicklungen und Brü-
che besser zu verstehen und die fachlichen „Erzählungen“
einordnen zu können.
HISTORY MATTERS - PUBLIKATIONEN
aktuell
4   a k t u el l    01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er ARL
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01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L                                                                       a k t u e ll   5

Sabine Baumgart

75 Jahre ARL – Vergangenheit
und Zukunft im Blick

In diesem Jahr besteht die ARL – Akademie für Raument-                       „Diese Untersuchungsperspektive, die sich auf
wicklung in der Leibniz-Gemeinschaft seit 75 Jahren. Dies                    »das Führungspersonal, die Verwaltungskultur
ist sicherlich ein Grund zum Feiern. Dabei sollten wir uns                und die Politikfelder« einzelner Regierungsstellen
jedoch vergegenwärtigen, dass die Anfänge der ARL, die                              konzentriert und auch auf Länderebene
nach dem Zweiten Weltkrieg aus der 1935 gegründeten                              vielversprechend eingenommen wird […],
Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) her-                           analysiert die komplexen Zusammenhänge
vorging, mit einer höchst problematischen Vergangenheit                     von übergreifenden politischen Traditionslinien,
verbunden sind. Auch wenn 1947 die Umbenennung in                        individuellen Karriereverläufen im »Dritten Reich«
„Akademie für Raumforschung und Landesplanung“ erfolg-                              und inhaltlichen Neuansätzen nach dem
te, sind doch neben der formellen und organisatorischen                        »Zusammenbruch« des Deutschen Reiches.“
Rechtsnachfolge vor allem personell deutliche politisch-
ideologische Kontinuitäten eines größeren Teils ihrer frü-              Dass die ARL diesen Forschungsauftrag im Jahr 2016
hen Mitglieder mit dem Nationalsozialismus sichtbar ge-          vergeben hat, ist vor allem Klaus Beckmann als vormaligem
worden. Diese lagen nicht nur in der Mitgliedschaft bedeu-       Präsidenten der ARL zu verdanken. Die Bearbeitung des
tender Wissenschaftler und einer „Schlüsselfigur der deut-       Forschungsprojekts wurde von einem hochkarätig besetz-
schen Ostraum- und Germanisierungsplanungen“ (DFG                ten Beirat wissenschaftlich begleitet, um jeden Anschein
2006: 16) wie Konrad Meyer begründet.                            von inhaltlicher Einflussnahme auf den Arbeitsprozess und
                                                                 seine Ergebnisse konsequent zu vermeiden. Die For-
                    „Der ‚Generalplan Ost‘ steht für eine enge   schungsarbeit wurde 2020 inhaltlich durch den Beirat und
                    Verbindung von akademischer Forschung,       formal vonseiten des Präsidiums abgenommen und wird
                rationaler Planung und nationalsozialistischer   Ende 2021 in einem externen Verlag veröffentlicht.
                        Eroberungs- und Vernichtungspolitik.            Am 7. November 2019 wurden zentrale Ergebnisse
                   Detailkenntnisse über den zu gestaltenden     der Forschungsarbeit zudem im Rahmen der öffentlichen
                 osteuropäischen Raum lieferten den Planern      Tagung „Von der RAG zur ARL: Personelle, institutionelle,
                    unter anderem Agrar- und Raumforscher,       konzeptionelle und raumplanerische (Dis-)Kontinuitäten“
                         Soziologen, Geographen, Historiker,     im Alten Rathaus in Hannover von Oliver Werner vorge-
                          Demographen wie Rassenforscher.“       stellt und mit den Perspektiven auf andere raumwissen-
                                              (DFG 2006: 13)     schaftlich relevante Institutionen gespiegelt. Die Beiträge
                                                                 dieser Veranstaltung wurden 2020 unter dem Titel „Raum-
      Personelle Kontinuitäten bestanden mit Heinrich            forschung zwischen Nationalsozialismus und Demo-
Hunke als Generalsekretär von 1949 bis 1954 und später als       kratie. Das schwierige Erbe der Reichsarbeitsgemein-
Vizepräsident der ARL von 1960 bis 1964 auch auf der Lei-        schaft“ als Arbeitsbericht der ARL 29 veröffentlicht und
tungsebene.                                                      sind damit Open Access zugänglich.
      Eine systematische wissenschaftliche Untersuchung                 So notwendig und wichtig die Aufarbeitung der Grün-
der „Kontinuitäten, Brüche und Neuorientierungen“ in der         dungsgeschichte der ARL ist, so wollen wir künftig unseren
Raumforschung und mit Blick auf die ARL wurde erst in den        Blick auch auf die weitere Entwicklung der ARL in den ver-
letzten Jahren von Dr. Oliver Werner (IDD – Institut für Di-     gangenen Jahrzehnten richten. In den 75 Jahren ihres Be-
daktik der Demokratie, Leibniz Universität Hannover) vor-        stehens hat sich die ARL sowohl als unverzichtbares perso-
gelegt. Der Abschlussbericht des von der ARL beauftragten        nelles Netzwerk als auch als leistungsfähige wissen-
Forschungsprojektes trägt den Titel „Wissenschaft »in            schaftliche Einrichtung bewährt und unzählige Impulse für
jedem Gewand«? Von der »Reichsarbeitsgemeinschaft                die Raumwissenschaft und die praktische Raumentwick-
für Raumforschung« zur »Akademie für Raumfor-                    lung gegeben. Die Aufarbeitung der ersten fünf Jahrzehnte
schung und Landesplanung« 1935 bis 1955“. Oliver                 der ARL steht aber erst in ihren Anfängen. Wichtige Fakten
Werner schreibt zum wissenschaftlichen Zugang seines             wurden in den beiden 1996 herausgegebenen Jubiläums-
noch unveröffentlichten Abschlussberichts:                       bänden der ARL anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens fest-
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6   a k t u el l                                                                             01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er ARL

    gehalten (ARL 1996a; ARL 1996b). Aber es fehlt eine le-          Pandemie für ökologisch, wirtschaftlich und sozial relevan-
    bendige Aufarbeitung der damaligen Akademiearbeit im             te Entwicklungen sichtbar und zu diskutieren sein, denkt
    Kontext raumwissenschaftlicher Forschung und raumpla-            man an die gegenwärtige Diskussion über die Zukunft des
    nerischer Praxis. In diesem Sinne ist es ein Anliegen des am-    Einfamilienhausbaus, die Zunahme des motorisierten Indi-
    tierenden Präsidiums, das Erfahrungswissen älterer ARL-          vidualverkehrs oder auch an die ungleichen Lebensbedin-
    Mitglieder aufzugreifen und für die Forschung dauerhaft zu       gungen in den Stadtteilen und Quartieren mit Folgen für
    sichern sowie zugänglich zu machen. Um die Quellenlage           Bildungs- und Teilhabechancen. Diesen und damit verbun-
    zur Geschichte von Raumforschung und Raumordnung                 dener Fragestellungen hat sich 2020 ein Ad-hoc-Arbeits-
    nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur aus schriftlichen Do-       kreis der ARL gewidmet und das Positionspapier 118
    kumenten zu erschließen, sondern auch um persönliche             „SARS-CoV-2-Pandemie: Was lernen wir daraus für die
    Perspektiven zu bereichern, werden aktuell mit dem Pro-          Raumentwicklung?“ erarbeitet.
    jekt „Zeitzeugen“ Erinnerungen und persönliche Bewer-                   Fragen der raumbezogenen Ungleichheit und Ge-
    tungen älterer ARL-Mitglieder im Rahmen von leitfadenge-         rechtigkeit mit ihren Folgen für die Umwelt und die Gesell-
    stützten Interviews zur Nachkriegsgeschichte von Raum-           schaft werden in der ARL auch im Rahmen ihrer Internatio-
    forschung und Raumordnung sowie zur Entwicklung der              nalisierungsstrategie mit Blick auf die Raumentwicklung vor
    ARL geführt. Ich verweise auf den ausführlichen Beitrag          allem in Europa, aber auch auf vergleichbare Planungskul-
    von Axel Priebs in diesem Heft, der das Vorhaben konzi-          turen weltweit bearbeitet. Dabei werden die Impulse, die
    piert hat und federführend betreibt.                             von der im letzten Jahr verabschiedeten Territorialen
          So notwendig und wichtig die Aufarbeitung der Grün-        Agenda 2030 für ein gerechteres und grüneres Europa und
    dungsgeschichte der ARL war und ist, so wollen wir den           der Neuen Leipzig-Charta 2020 als Grundlage einer integ-
    Anlass des 75-jährigen Bestehens auch nutzen, um den             rierten Stadtentwicklung in Europa sowie dem European
    Blick auf die weitere Entwicklung der ARL zu richten.            Green Deal (2019) mit dem Ziel der Klimaneutralität bis
                                                                     2050 ausgehen, aufgegriffen. Diesbezüglich langfristig an-
              „Macht findet im Raum statt. Die Territorialisierung   gelegte Zielsetzungen zu verfolgen wird durch die aktuelle
                von Macht wird auf Karten abgebildet, ob es sich     Pandemie erheblich erschwert. Die wirtschaftlichen, sozia-
                 um Entwürfe für die Idealstadt der Renaissance      len und technologischen Vernetzungen und deren Auswir-
                und Aufklärung handelt, um die Abgrenzung von        kungen beeinflussen unsere Lebensorganisation massiv,
                      Einflußsphären der Supermächte oder den        zumindest temporär. Der regional orientierte Handlungs-
                    Geltungsbereich von Einreisebestimmungen.        raum ist wieder zum räumlich begrenzten Container
                  Karten bilden Macht ab. Kartenwissen ist sogar     geworden. Aber wir erfahren auch die Notwendigkeit der
                  selbst Macht. Wer Karten hat, weiß mehr über       Überprüfung unserer Konzepte, Strategien und Maßnah-
                                die Organisation eines Raumes.“      men hinsichtlich ihrer Resilienz gegenüber solchen Ereig-
                                           (Schlögel 2006: 249)      nissen.
                                                                            Mit Blick auf die inzwischen seit mehr als einem Jahr
          Die Konfigurationen von Machtstrukturen, die den           andauernde Krisensituation der Pandemie gilt es auch für
    Raum mit seinen sozialen und wirtschaftlichen Beziehun-          die ARL Wege zu finden, wie man von der akuten Krisenbe-
    gen prägen, ist in diesen Tagen wieder aktueller denn je,        wältigung zu einer vorsorgenden Planung kommt, die
    und dies auf allen räumlichen Ebenen. Raumbezogene Aus-          ebenfalls die drängenden Problemlagen der Klimakrise und
    sagen zu visualisieren und damit potenzielle Konflikte für       der Ressourcenknappheit aufgreift. Diesen Fragestellun-
    Kommunikationsprozesse und gesellschaftspolitische Ab-           gen widmete sich der ARL-Kongress 2021 „Im Zeichen
    wägungs- und Entscheidungsprozesse offenzulegen, ist ei-         der Pandemie – Raumentwicklung zwischen Unsicher-
    nes der zentralen Tätigkeitsfelder räumlicher Planung.           heit und Resilienz“. Er fand am 1./2. Juli 2021 als On-
          Aktuell sind es die globalen Auswirkungen der SARS-        line-Veranstaltung statt. Damit wurden auch zentrale As-
    CoV-2-Pandemie, die zu konfliktreichen Aushandlungspro-          pekte des 2020 aufgrund der Pandemie ausgefallenen
    zessen über erforderliche Einschränkungen von Grund-             ARL-Kongresses erneut aufgenommen. Leitfragen des
    rechten führen. Diese meist räumlich konkret abgegrenzten        diesjährigen ARL-Kongresses bezogen sich auf den Umgang
    Einschränkungen betreffen geschlossene Grenzen und die           mit Unsicherheiten, Resilienz und Vulnerabilität, räumliche
    Zerschneidung von Lebensräumen in Europa, aber ebenso            Gerechtigkeit und räumliche Maßnahmen sowie auf Akteu-
    die regional unterschiedlichen Inzidenzwerte und den Um-         re und Prozesse. Ebenso wurden die unterschiedliche zeit-
    gang mit ihnen in der Pandemie. Deren Darstellungen              liche Skalierung von Problemstellungen und grundsätzlich
    führen auf nationalstaatlicher Ebene von den Landkreis-          die Chancen und Herausforderungen für Gesellschaft, Um-
    grenzen bis hinunter zur Stadtteilebene zu intensiven Dis-       welt und Politik diskutiert. Thematische Fachsitzungen be-
    kussionen über Geltungsbereiche von ordnungsrechtlichen          fassten sich mit Gesellschaft und sozialer Gerechtigkeit,
    Regelungen versus gewachsenen regionalen Austauschbe-            Mobilität und Wirtschaft, Öffentlicher Gesundheit, Ökolo-
    ziehungen. Politisch-administrative Grenzen haben durch          gie und Umweltgerechtigkeit sowie mit den dafür erforder-
    die Pandemie in der öffentlichen Debatte wieder an Bedeu-        lichen Transformationsprozessen für eine nachhaltige Zu-
    tung gewonnen. Zugleich werden die Konsequenzen der              kunft.
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01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L                                                                                                a k t u e ll   7

      75 Jahre ARL – „Wir sind, was wir erinnern“ (Ullrich
2005), dieser Aufgabe wird sich die ARL auch in der Zu-                                                           Band 78
kunft widmen und sich ihrer Vergangenheit stellen. Sie                                                            Heft 6
sieht sich mit ihrem facettenreichen Netzwerk aus Wissen-                                                         Dezember 2020
schaft und Praxis in der Verantwortung, aktiv eine nachhal-
tige Raumentwicklung in der Zukunft mitzugestalten.

                             „Vielleicht gibt es schönere Zeiten;                                                 Papierausgabe:
                                       aber diese ist die unsere.“                                                ISSN 0034-0111
                                              (Jean-Paul Sartre)                                                  Elektronische Ausgabe:
                                                                                                                  ISSN 1869-4179
                                                                                                                  All manuscripts are published
Literatur                                                                                                         open access: CC BY-NC-ND 4.0
ARL – Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.)
(1996a): 50 Jahre ARL in Fakten. Hannover.
ARL – Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.)
(1996b): Bibliographie der ARL. Hannover.
DFG – Deutsche Forschungsgemeinschaft (2006): Katalog zur Aus-
stellung „Wissenschaft, Planung, Vertreibung“. Der Generalplan Ost        Beitrag / Article
der Nationalsozialisten. Bonn.
Schlögel, K. (2006): Im Raum lesen wir die Zeit. Frankfurt am Main.       Henning Boeth
Ullrich, S. (2005): Wir sind, was wir erinnern. In: DIE ZEIT Geschichte   Steuerungsmöglichkeiten öffentlicher Akteure zur
(1), Teil 1, 27-34.
                                                                          Reurbanisierung von Mittelstädten. Eine Analyse am
                                                                          Beispiel Bambergs

                        P ro f. D r . - I ng . S a b ine Bau m gar t      Philipp Gareis / Antonia Milbert
                        Präsidentin der ARL – Akademie für Raument-
                        wicklung in der Leibniz-Gemeinschaft              Funktionale Klassifizierung von Kleinstädten in
                                                                          Deutschland. Ein methodischer Vergleich
                        Tel. +49 511 34842-0
                        praesident@arl-net.de                             Michael Kolocek / Andreas Hengstermann
                                                                          Der Mythos der Drohkulisse. Eine diskursanalytische
                                                                          Untersuchung der Instrumente Baugebot und städte-
                                                                          bauliche Enteignung in der responsiven Bodenpolitik

                                                                          Susanne Krings
                                                                          Doppelt relevant: Kritische Infrastrukturen der Da-
                                                                          seinsvorsorge

                                                                          Uwe Blien / Franziska Hirschenauer
                                                                          Arbeitskräfteangebot und regionale Arbeitsmarktlage

                                                                          Printausgaben können über die Website der Zeitschrift bestellt werden:
                                                                          https://content.sciendo.com/view/journals/raraoverview.xml
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thema
8   thema    01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L                                                                         thema      9

Peter Steinbach

Der l ange Weg zur
Aufarbeitung der NS-Zeit

Die Entscheidung des ehemaligen Außenministers Joschka         zwischen Opfern und Täterinnen/Tätern vor (Schwan
Fischer, einem als verdient geltenden, 1951 in das Auswär-     1997). Gesellschaften gehen in der Regel in der Tat nicht
tige Amt übernommenen verstorbenen deutschen Diplo-            unter; sie reagieren auf einen politischen Nullpunkt, denn
maten wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP und sei-        Menschen, die eine Gesellschaft bilden, müssen nach dem
ner Tätigkeit während der NS-Zeit in der hauseigenen           „Untergang“ oder dem Zusammenbruch eines Staates wei-
Zeitschrift den Nachruf zu verweigern, hatte weitreichende     terleben, sie sind nicht – wie die NSDAP – einfach zu verbie-
Folgen für die zeitgeschichtliche Verwaltungsforschung         ten, sie können nicht, wie die Wehrmacht, entwaffnet und
(Conze/Frei/Hayes et al. 2010). Verwaltungsforschung war       für aufgelöst erklärt werden. Auch Bürokratien und Organi-
in der politischen Soziologie fest etabliert und analysierte   sationen vergehen nicht mit den Regimen. Oft werden ihre
Verwaltungshandeln (Seibel 2016). Die Erweiterung um           Angehörigen weiterbeschäftigt.
eine historische Dimension veränderte die Fragestellung              Gesellschaftsgeschichte ist deshalb ebenso wie Büro-
und zielte auf Kontinuitäten des Personals und ihre Karri-     kratiegeschichte unausweichlich Kontinuitätsgeschichte.
erepfade während und nach den erfolgten Regimewech-            Kontinuitäten kritisch aufzuarbeiten bedeutet, dass Um-
seln (Mentel/Weise 2016).                                      brüche, oft erst nach Jahren, neu thematisiert werden.
                                                               Manche sehen darin eine Störung des gesellschaftlichen
Wege und Umwege einer Aufarbeitung                             Friedens, andere eine Art gesellschaftliche „Hygiene“, wie
der Vergangenheit                                              der Leitende Oberstaatsanwalt Adalbert Rückert der Lud-
Der neue historische Ansatz hatte geschichtspolitische und     wigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialisti-
legitimatorische Konsequenzen. Beide deutsche Staaten          scher Verbrechen einmal im Zusammenhang mit der zwei-
beanspruchten, postnationalsozialistisch bzw. antifaschis-     ten Verjährungsdebatte sagte. Dies ist so oder so der
tisch zu sein. Was aber bedeutete das für die staatlich Be-    Gegenstand einer aufklärerischen Geschichtsforschung,
schäftigten? Mit Blick auf die Verwaltungskarrieren über       die man „Vergangenheitsbewältigung“, „Abarbeitung“,
das Epochenjahr 1945 hinweg spitzten sich die deutsch-         „Wiedergutmachung“ oder „Aufarbeitung“ nennt. Sie ist
deutschen Legitimitätsprobleme auf die Frage nach „belas-      schwierig, denn „im Hause des Henkers redet man nicht
teten“ Bediensteten zu. Noch brisanter wurden diese nach       vom Strick“ (Adorno 1963: 125). Historisch betrachtet, ist
der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, weil nun         die Beleuchtung der Vorgeschichte ebenso wie die der
„Säuberungen“ (Henke/Woller 1991) nach 1945 und nach           Nachgeschichte eines Regimewechsels nur eine Phase fort-
1989 miteinander verglichen wurden. Bis zur Vereinigung        schreitender Transformation einer postdiktatorischen Ge-
1989 war der westdeutsche „Bonner Staat“ von der SED-          sellschaft, die sich demokratisch zu festigen sucht und sich
Führung verdächtigt worden, einige ehemalige Nationalso-       neu zu Normen eines zivilisierten Umgangs bekennt.
zialistinnen und weitaus mehr schwer belastete Nationalso-
zialisten gedeckt oder weiterbeschäftigt zu haben, wäh-        Von der Norm zum Maßstab
rend die bundesdeutsche Politik nicht müde wurde, die          Aus Normen erwächst bald ein kritischer Maßstab zur Be-
totalitäre Kontinuität zu betonen, die sich vor allem in ge-   wertung vergangenen Verhaltens. Denn mit der neuen Ver-
sellschaftlichen und politischen Mobilisierungs- und Diszi-    fassungsordnung, die eine Diktatur ablöst, werden in der
plinierungsbestrebungen des „Pankow-Regimes“ ausdrü-           Auseinandersetzung mit der im Bewusstsein absinkenden
cken sollten.                                                  Vergangenheit neue Wertvorstellungen eines zivilisierten
       Es handelte sich jedoch nicht nur um ein Problem des    Zusammenlebens entwickelt. So wird rückblickend ein
Systemvergleichs, gilt doch immer: „Staaten mögen verge-       Maßstab für die Beurteilung des vergangenen Verhaltens
hen, Gesellschaften aber bleiben bestehen“. Diese doppel-      entwickelt und Institutionen wie Behörden, Organisatio-
sinnig anmutende Bemerkung gehört zu den Feststellun-          nen, aber auch Wirtschaftsunternehmen (Brünger 2017)
gen, die nach Zusammenbrüchen von Staaten und Re-              werden manchmal erst nach Jahrzehnten mit den langfris-
gimewechseln oft zu hören sind.                                tigen Folgen ihres Fehlverhaltens konfrontiert. Mehr noch,
       Was aber folgt daraus für Verwaltungen, Gerichte        sie werden nach dem Umgang mit der eigenen Vergangen-
und Verbände an Personaldebatten, Entlassungen, Ver-           heit befragt und vor allem an gegenwärtigen Normen und
setzungen und selbstkritischen Erklärungen? Zunächst           Verhaltensmaßstäben gemessen.
herrschte der Wille zum Beschweigen, zum Kompromiss
10   thema                                                                                    01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L

            Wenn dabei die vordemokratische Geschichte von           die vor allem die Nachkriegsgeschichte beleuchten (vgl.
     Organisationen und Behörden ihre Mitarbeiter/innen „ein-        Wolf 2018). Einzelne Studien über das Reichsarbeitsminis-
     holt“, beginnt die eigentlich kritische Phase der Auseinan-     terium (Nützenadel 2017), verbunden mit einer bemer-
     dersetzung um die Deutung der Zeitgeschichte. Entweder          kenswerten Ausstellung über das Bundeswirtschaftsminis-
     die Nachlebenden klagen das Fehlverhalten der Vorgänger/        terium (Ritschl 2016), fanden wie die Studie über das
     innen an, begnügen sich also nicht mit der kritischen Re-       Justizministerium im Moment ihrer öffentlichen Präsenta-
     konstruktion von Geschichte, sondern moralisieren sie.          tion Aufmerksamkeit, die sich aber regelmäßig rasch er-
     Oder sie sind in der Lage, gegenwärtiges Verhalten auf das      schöpfte.
     vergangene Fehlverhalten zu beziehen und entwickeln da-
     mit selbstkritisch Verhaltensnormen, die sie selbst ver-        Politische Ziele und Widerstände
     pflichten. Dietrich Bonhoeffer brachte das auf den Begriff,     Die Forderung nach der Bewältigung oder Aufarbeitung
     als er feststellte: „Nichts von dem was wir im anderen ver-     der Vergangenheit verlagerte sich nach den Fünfzigerjah-
     achten, ist uns selbst ganz fremd“ (Bonhoeffer 1943/1951:       ren allmählich und erschloss immer neue Bereiche. Dabei
     17).                                                            kam der Geschichte der Verfolgung und Entrechtung eine
            Die kritische Befragung der Vorgänger/innen durch        besondere Rolle zu. So wurde als Reaktion auf die Ermor-
     Nachlebende berührte deren Verhalten als Mitläufer/innen,       dung Kranker und die Sterilisationspraxis die Rolle der Me-
     Angepasste oder Täter/innen und in ihrer Funktion als           dizin im NS-Staat erforscht, die Verfolgung der Sinti und
     Amtsträger/innen – auch dann, wenn es um Institutionen,         Roma lenkte den Blick auf die Beteiligung der Polizei, die
     Behörden oder Verbände ging, denn verantwortlich ist im-        Zwangsarbeit warf Fragen nach der Mitwirkung der Ar-
     mer die Einzelperson, die in diesen Institutionen handelt,      beitsämter auf. Augenblicklich steht die längst überfällige
     oftmals, ohne ihre Handlungsspielräume wahrzunehmen             kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus im
     und zu nutzen. Vielmehr wurde versucht, sich durch Beru-        Vordergrund der historischen Aufarbeitung.
     fung auf den damaligen Zeitgeist sowie auf Befehl und Ge-              Das Interesse an einer Purifizierung der gesellschaftli-
     horsam zu entlasten.                                            chen Erinnerung im öffentlichen Raum ist jedoch ungebro-
            Früheres politisches Fehlverhalten und menschliches      chen. So weitete sich das Interesse auf Straßennamen, Mu-
     Versagen belasten immer auch die Institutionen und Tradi-       seumsbestände und die Provenienzen von Kunstgegen-
     tionen, die sie verkörpern. Aus dieser Einsicht wurden seit     ständen aus. Auch die Nominationen von Ehrenpreisen er-
     der Jahrtausendwende mit beträchtlichen staatlichen Mit-        weisen sich zunehmend als problematisch. Dies zeigt:
     teln viele kritische Studien über zentrale Behörden und ihr     Längst geht es nicht mehr um das Fehlverhalten von Insti-
     Personal beauftragt, oft nach einem Ausschreibungsver-          tutionen und Individuen, sondern um deren Geschichte im
     fahren. Inzwischen liegen zahlreiche Studien vor, die nicht     größeren gesellschaftlichen Zusammenhang.
     immer schmeichelhaft sind. Selbst das Bundeskanzleramt                 Die „Bewältigung“ der Vergangenheit verbindet sich
     und das Bundespräsidialamt blieben nicht unberücksich-          mit einer proklamierten gesellschaftlichen, politischen und
     tigt. Die inzwischen vorliegenden Arbeiten belegen vor al-      pädagogischen Verpflichtung zur umfassenden histo-
     lem eine belastende Personalkontinuität. Sie fragen nach        risch-politischen Aufklärung, die mehr sein soll als Politik-
     dem Anteil ehemaliger Nationalsozialisten* an den jeweils       folgenbewältigung im Sinne Claus Offes. Immer häufiger
     in den Ämtern Beschäftigten, untersuchen die Fortwirkung        wird individuelles Verhalten, aber auch bündisches Verhal-
     ehemaliger Denkvorstellungen und können in Einzelfällen         ten reflektierend problematisiert. Diese Bestrebung schlägt
     auch den Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten auf Geset-     sich oft in der Frage nieder: „Wie hätte ich mich selbst ver-
     zesvorhaben der Bundesrepublik nachweisen (vgl. Görte-          halten?“. Die Antwort ist in der Regel defensiv, entschuldi-
     maker/Safferling 2016).                                         gend, entlastend. Angesichts der Probleme unserer Gegen-
            Auch die Unternehmensgeschichte hat sich zuneh-          wart wird zunehmend aber auch die selbstkritische Frage
     mend der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ge-           gestellt: „Wie verhältst Du Dich? Hier, jetzt, morgen?“. Die-
     öffnet, nachdem im Zusammenhang mit der Entschädi-              ser Zugang entspricht der Position Adornos im Geiste der
     gung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern die            Aufklärung. Er war überzeugt, dass die Aufarbeitung von
     Verstrickungen zwischen NS-Staat, KZ-System und Unter-          Fehlverhalten in der NS-Zeit Einsichten in aktuelle Verhal-
     nehmen offensichtlich wurden.                                   tensweisen eröffnen müsste.
            Der methodische Ertrag vieler dieser Studien ist rela-
     tiv gering, weil die Ermittlung der Anteile ehemaliger Natio-   Aufarbeitung – alternativlos?
     nalsozialisten am Personalschlüssel wenig über die Wirk-        Nach Revolutionen und Restaurationen, vor allem aber
     samkeit dieser bei anstehenden politischen Entscheidungen,      nach dem Untergang von Diktaturen muss Vergangenheit
     bei Gerichtsverfahren oder Gesetzesvorhaben aussagt.            immer bewältigt werden (Steinbach 1993). Es lassen sich,
     Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt die Studie über die         mit Blick auf Deutschland, verschiedene Wege nach dem
     Innenministerien der BRD und der DDR dar, weil sie das          Ende eines menschenverachtenden Unrechtsstaates und
     Verhalten des Personals am Beispiel konkreter Maßnahmen         seiner Besatzungsherrschaft unterscheiden:
     analysiert (Bösch/Wirsching 2018).
            Inzwischen ist die Anzahl entsprechender Arbeiten zu     a Es hätte eine kurze Phase der „Säuberung“, gleichsam
     fast unüberschaubaren Spezialbibliotheken angewachsen.            eine „Nacht der langen Messer“ geben können, um Kol-
     So liegen allein für den BND weit mehr als zehn Bände vor,        laborateure unmittelbar zu bestrafen. Dagegen hatte
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L                                                                           thema      11

  sich der deutsche Widerstand früh ausgesprochen und            weigerung und abweichendes Verhalten wurden nun als
  Gerichtsverfahren „gegen Rechtsschänder“ geplant.              Versuch gewürdigt, sich den Zumutungen und Zwängen
                                                                 des NS-Staates zu entziehen.
b Es gibt die Möglichkeit einer strafrechtlichen Ahndung,
  wie dies mit den Nürnberger Prozessen versucht wurde.        4. Mit der Verlängerung 1965/69 und schließlich der Auf-
  Strafverfahren gegen NS-Täter/innen erstreckten sich            hebung der Verjährungsfrist 1979 wurde der verbreche-
  über viele Jahrzehnte und sind noch nicht abgeschlos-           rische Charakter des NS-Unrechtsstaates von der Bevöl-
  sen.                                                            kerung zunehmend akzeptiert.

c Unmittelbar nach 1945 gingen die Alliierten andere                  Wenn in den fünfziger Jahren die Vergangenheit in ei-
  Wege. Sie hatten die Entnazifizierung der deutschen Ge-      nem heute schwer verständlichen Maße beschwiegen wur-
  sellschaft zu einem ihrer Kriegsziele erklärt. Fragebögen    de, so trifft dies heute nicht mehr zu. Dies ist eine Folge der
  sollten Licht in Biografien bringen, Entnazifizierungsver-   historisch-politischen gesellschaftlichen Selbstaufklärung,
  fahren das Fehlverhalten klassifizieren, NS-Verbrechen       wie sie Fritz Bauer forderte, der den Auschwitz-Prozess
  und NS-Gewalttaten sollten von Belasteten, von Mitläu-       1962/64 vorbereitet hatte. Auch politische Verwerfungen
  ferinnen und Mitläufern sowie Unbelasteten getrennt          und gesellschaftliche, kulturelle und internationale Verän-
  werden. Viele Beschuldigte besorgten sich „Persilschei-      derungen wirkten sich aus und veränderten den Blick auf
  ne“, um sich eine „reine Weste“ bescheinigen zu lassen.      die deutsche Geschichte. Weil die SED-Führung immer wie-
                                                               der auf Belastete in politischen Funktionen der Bundesre-
d Mit den Jahren schwächte sich das zunächst konsequen-        publik hinwies, gelang es den Beschuldigten, sich als Opfer
  te Vorgehen gegen Schuldige und Belastete ab, entwi-         einer neuen politischen Diffamierung und Verfolgung zu
  ckelten sich Entnazifizierungsverfahren zur „Mitläufer-      bezeichnen. Erst nach vielen Anläufen gelang es Engagier-
  fabrik“ (Niethammer 1982). Es fanden sich viele Grün-        ten der deutschen Justiz, Akten aus Polen, später aus der
  de, um Fehlverhalten, Bereicherung und Willkür zu rela-      Sowjetunion sichten zu können und so Licht in die Verbre-
  tivieren. Eine Schlussstrichforderung wurde immer un-        chen zu bringen, die von Deutschen vor allem in Ost- und
  überhörbarer. Mit Art. 131 des Grundgesetzes bot sich        Ostmitteleuropa begangen worden waren. So wurden erst
  eine Möglichkeit, ehemalige Angehörige des öffentli-         spät die Verbrechen der Einsatzgruppen, die polnischen
  chen Dienstes, die „am 8. Mai 1945 versorgungsberech-        Vertreibungen aus dem Warthegau und die Politik einer
  tigt“ waren, wieder als Beamte zu übernehmen.                ethnischen Säuberung bekannt, an der konzeptionell viele
                                                               Wissenschaftler beteiligt waren, die sich als willige Vollstre-
Kurzer Blick auf die Geschichte 		                             cker einer nationalsozialistischen Lebensraumpolitik be-
der Aufarbeitung                                               zeichnen lassen.
Obwohl die juristische Strafverfolgung im Westen Deutsch-             Die gesellschaftliche Akzeptanz einer kritischen Auf-
lands in den fünfziger Jahren also fast zum Erliegen gekom-    arbeitung der nationalsozialistischen Raum-, Vertreibungs-
men war und politische Parteien ehemalige Nationalsozia-       und Vernichtungspolitik veränderte sich mit der zuneh-
listen umworben hatten, weil sie deren Stimmen wollten,        menden Kenntnis der nationalsozialistischen Gewalt-
oder diese sogar in ihre Parteiführungen integriert hatten,    verbrechen seit dem Ende der siebziger und den frühen
waren es rückblickend vor allem vier Entwicklungen, die        achtziger Jahren. Belastete konnten sich nun nicht mehr
das westdeutsche Selbst- und Geschichtsbild wandelten          durch die Behauptung verteidigen, in Pankow herrschten
und die Forderung einer umfassenden Aufarbeitung der           „rotlackierte Nazis“, die die Legitimität der Bonner Repub-
Vergangenheit gesellschaftlich breit verankerten:              lik erschüttern wollten.
                                                                      Innerhalb eines Jahrzehnts hatten sich die Kriterien
1. Ende der fünfziger Jahre kam es in Ulm zu einem der         zur Bewertung des Verhaltens derjenigen grundlegend ge-
   ersten Einsatzgruppenprozesse. Er führte 1958/59 zur        wandelt, die sich als Mitläufer bezeichneten und so ver-
   Gründung einer Zentralen Stelle aller Landesjustizver-      brämten, dass sie innerhalb von Staat, Justiz, Verwaltung
   waltungen in Ludwigsburg, die die Aufgabe hatte, Tat-       und Wehrmacht kooperiert hatten.
   orte, Täter und Verbrechen systematisch zu ermitteln               Historisch-politische Bildung, Filme und publizisti-
   und Strafverfahren vorzubereiten.                           sche Debatten haben seit den Sechzigerjahren das zeithis-
                                                               torische Bewusstsein beeinflusst und geprägt. Die bis dahin
2. Nach der Entführung Eichmanns 1960 konnte Israel            unüberhörbare Forderung eines Schlussstrichs wurde
   durch den nachfolgenden Prozess das Ausmaß der              durch die Aufforderung zur Aufarbeitung der Vergangen-
   NS-Verbrechen verdeutlichen. Dies wiederum war die          heit ersetzt. Dabei wirkte sich nicht zuletzt die akribische
   Voraussetzung für den Auschwitz-Prozess, der das Bild       Suche nach NS-Belasteten durch Ermittlungen von DDR-Be-
   der Deutschen von der NS-Zeit grundlegend veränderte        hörden aus. Diese hatten bereits 1965, also rechtzeitig zur
   und die Frage nach den Tätern zuspitzte.                    ersten deutschen Verjährungsdebatte des Bundestags ein
                                                               hochgradig kompromittierendes „Braunbuch“ zum Neona-
3. Mit der Anpassung und Folgebereitschaft vieler Mit-         zismus erstellt, welches 1967 um ein entsprechendes Grau-
   läufer/innen rückte zugleich der Widerstand in vielen       buch erweitert wurde. Es enthielt hunderte Namen west-
   Schattierungen stärker ins öffentliche Interesse. Ver-      deutscher Juristen, Verwaltungsbeamter und Militärs, die
12   thema                                                                                    01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L

     bereits im NS-Staat tätig gewesen waren, unter ihnen eini-      sowie Entschädigungszahlungen. Sogar die Bundeswehr
     ge besonders profilierte Persönlichkeiten wie Hans Globke,      problematisierte ihr Verhältnis zur Wehrmacht von Traditi-
     Chef des Bundeskanzleramtes unter Konrad Adenauer so-           onserlass zu Traditionserlass. Immer drängender wurde zu-
     wie Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rasse-          gleich die Frage nach der Rolle von Justiz und Verwaltun-
     gesetze von 1935.                                               gen gestellt. H. G. Adler richtete 1974 mit der Analyse des
           Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stan-          KZ-Systems als eigenem Verwaltungssystem den Blick der
     den allerdings weiter die großen NS-Strafverfahren gegen        Behörden auf die von der Zwangsarbeit begünstigte Indus-
     das KZ-Personal. So verlagerte sich die vergangenheitspoli-     trie, die die Ziele der NS-Politik fraglos akzeptiert und reali-
     tische Auseinandersetzung zunächst vor allem in die Ge-         siert hatte.
     richtssäle. In der Publizistik, langsam auch in der zeitge-            Neu war, dass seit den siebziger Jahren nicht mehr
     schichtlichen Forschung, die damals als junge historische       über Konzerne und Banken diskutiert wurde, mit denen
     Bindestrichdisziplin wegen ihrer großen zeitlichen Nähe         durch die Nürnberger Nachfolgeprozesse abgerechnet
     zur NS-Zeit innerhalb der Geschichtswissenschaft keines-        worden war, sondern die breite Anpassungs- und Folgebe-
     wegs akzeptiert war, sondern als das Produkt alliierter         reitschaft vor allem der „Staatsbediensteten“ und der Nutz-
     „Umerziehung“ diffamiert wurde, wurde die kritische, nicht      nießer von „Arisierungsmaßnahmen“ im Wirtschaftsleben
     mehr auf Entlastung zielende Auseinandersetzung mit der         thematisiert wurde. Menschen im Staatsdienst übten im
     NS-Zeit immer wichtiger.                                        NS-Staat eine Doppelfunktion aus, die ihnen lange gestatte-
                                                                     te, ihre Beteiligung an der NS-Politik zu verharmlosen. Des-
     Versuch einer Erklärung unbestreitbarer                         halb beriefen sie sich auf Befehle und Ordnungen, denen sie
     Versäumnisse                                                    sich nicht hätten widersetzen können, versuchten sogar,
     Aus heutiger Perspektive ist erstaunlich, wie stark die NS-     sich dadurch zu schützen, dass sie behaupteten, überzeugt
     Zeit auch die Nachkriegszeit geprägt hat. Mit zunehmen-         gewesen zu sein, rechtsstaatlich zu handeln. „Was damals
     dem Abstand wurde jedoch immer deutlicher, dass die             Recht war“ könne nun nicht als Unrecht geahndet werden.
     „Mörder … unter uns“ lebten. Filme wie der von Wolfgang         Sie nutzten also zu ihrer Rechtfertigung den Wandel des
     Staudte brachen das Eis des Schweigens. Mit dem Ho-             Verfassungs- in einen „Doppelstaat“, um sich als Werkzeuge
     locaust-Film von 1978/79 veränderte sich nicht nur das ge-      einer nicht beeinflussbaren Politik zu bezeichnen und sich
     sellschaftspolitische Klima, sondern auch der Versuch,          gleichsam zu Opfern des NS-Staates zu erklären.
     Rede und Antwort zu fordern und zunehmend auch die Be-                 Der in die Emigration gezwungene Politikwissen-
     reitschaft, diese zu geben. Im Zuge des Generationswan-         schaftler Ernst Fraenkel hatte schon 1938 den Maßnah-
     dels wurde es zudem immer leichter, frühere Entschei-           men- vom Normenstaat (Fraenkel 1938/1999) unterschie-
     dungsträger, die in den sechziger Jahren noch Vorgesetzte       den und das Verwaltungshandeln und die Rechtsprechung
     waren und nun pensioniert und damit einflusslos wurden,         in den Blick gerückt. Der „Maßnahmenstaat“ setzte politi-
     zu kritisieren. Das machte sich an der Sprache, aber auch       sche Ziele des NS-Systems um, der Normenstaat hingegen
     an Bewertungen der Vergangenheit und vor allem an               stützte sich weiterhin auf bestehende Rechtsnormen. Bei-
     Selbsterklärungen von Belasteten bemerkbar. Ob Bundes-          de Bereiche verschränkten sich, weil die Praxis und Willkür
     kanzler (wie Kurt Georg Kiesinger) oder Ministerpräsiden-       von politischen Maßnahmen die Normen aushöhlten und
     ten (wie Hans Karl Filbinger), ob Bundesminister (wie           rechtsstaatliche Maßnahmen zunehmend dann obsolet
     Theodor Oberländer), sie alle wurden wegen ihrer Tätig-         werden ließen, wenn sie Menschen betrafen, die aufgrund
     keit und ihres Verhaltens in der NS-Zeit kritisiert und gaben   ihrer „Rasse“ oder politischen Haltung als „Feinde“ des Rei-
     schließlich ihr Amt auf.                                        ches galten. Wenn der Führer das Recht setzte, wurde der
           Mit dem Historikerstreit (1986) und der Auseinan-         Rechtsstaat ausgehöhlt. Viele Zeitgenossen akzeptierten
     dersetzung um die Wehrmachtsausstellung (1995) brach            dies und verletzten Grundsätze der Mitmenschlichkeit und
     das Eis des Beschweigens endgültig. Immer deutlicher wur-       wurden zu „Rädchen im Getriebe“ eines Unrechtsstaates,
     de eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangen-         der Richter, Militärs und Verwaltungsbeamte zu Mitschuldi-
     heit verlangt, erschienen kritische Studien, wurden Selbst-     gen machte.
     entlastungen derjenigen bezweifelt, die sich als gute                  1943 machte sich Fraenkel Gedanken über den „Neu-
     Demokraten bezeichneten, ihre eigene Vergangenheit aber         aufbau des Rechtsstaats im nach-Hitlerischen Deutsch-
     verdrängt hatten.                                               land“ (1943/1999) und kam zu der Erkenntnis, dass man
           Manifest wurden die gesellschaftlichen Debatten in        die Einführung des Rechtsstaats „nicht diktieren könne“,
     der Auseinandersetzung mit Strafverfahren, die den ver-         und staatlicher Neuaufbau den „Willen und die Kraft zur Er-
     brecherischen Charakter des Regimes nicht nur entlarvten,       neuerung seines Rechtsstaates“ voraussetze. Dies kam den
     sondern auch die bis dahin immer wieder auf Selbstentlas-       Alliierten entgegen, die bald einsahen, dass sie die neuen,
     tung der „Schreibtischtäter“ (van Laak/Rose 2018) zielen-       aus dem Krieg hervorgehendenden Gemeinden und Länder
     den Erklärungen ihrer Anpassung und NS-Kooperation ob-          nicht ohne Rückgriff auf „bewährte Kräfte“ des NS-Staates
     solet, ja als verlogen erscheinen ließen. Der NS-Staat galt     verwalten konnten. Das war aus damaliger Sicht verständ-
     nun als Unrechtsstaat, nicht mehr als Vorgänger der Bun-        lich, denn Daseinssicherung und Leistungsverwaltung ließ
     desrepublik. Die Diskussionen über „Belastete“, über Wie-       sich nur mit den vorhandenen Kräften und örtlichen Struk-
     dergutmachung, Entschädigung und Restitutionen münde-           turen sichern.
     ten in die Aufhebung von Unrechtsurteilen der NS-Zeit
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L                                                                                     thema        13

       Wohin das aber führen konnte, war schon 1918 ver-
hängnisvoll deutlich geworden, als die Generäle gingen, die         * Die ARL bemüht sich um geschlechterneutrale bzw.
Geheimräte aber in Amt und Würden blieben. Die Kontinu-             -gerechte Schreibweisen. Tatsächlich gab es zahllose
ität des Behördenapparates wurde durch den Erhalt der da-           (Mit-)Täterinnen im Dritten Reich, einige standen
maligen Beamtenprivilegien gesichert. Dies hatte fatale             auch vor Gericht und wurden viel härter und konse-
Folgen für die Weimarer Republik, die sich bestenfalls auf          quenter bestraft als Männer – von Männern. Gleich-
Vernunftrepublikaner/innen, weniger auf Herzensrepubli-             zeitig war der Anteil der Frauen insbesondere in den
kaner/innen stützen konnte. Beide verhinderten den Zivili-          Führungsriegen und Entscheidungspositionen der
sationsbruch 1933 nicht.                                            Justiz, der Bürokratie und der Unternehmen zu dieser
       Nach 1945 gelang es den Alliierten zunächst, Gesell-         Zeit verschwindend gering. Insofern steht an vielen
schaft, Staat und Wehrmacht weitgehend zu entnazifizie-             Stellen und in Absprache mit dem Autor im Beitrag
ren. Fragebögen, Entnazifizierungsverfahren und das Vor-            ganz bewusst nur die männliche Form.
gehen gegen nationalsozialistische Hauptkriegsverbrecher
vor dem Nürnberger Tribunal sowie mehr als zehn Nachfol-
geprozesse mündeten schließlich in Entlastungsverfahren,
                                                                 Literatur
die umso weniger ausrichteten, als das Grundgesetz mit
                                                                 Adler, H. G. (1974): Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation
Art. 131 GG die „wohlerworbenen Rechte“ der Beamten              der Juden aus Deutschland. Tübingen.
bestätigte.                                                      Adorno, T. W. (1963): Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt.
       Die Befürchtung, dass sich nun eine ähnliche Entwick-     Bösch, F.; Wirsching, A. (Hrsg.) (2018): Hüter der Ordnung. Die In-
lung wie in der Weimarer Republik ergeben könnte, erfüllte       nenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus.
sich aber nicht. Denn der verbrecherische Charakter des          Göttingen.
NS-Staates wurde immer offensichtlicher und konnte auch          Bonhoeffer, D. (1943/1951): Widerstand und Ergebung. München.
von ehemaligen Nationalsozialistinnen und Nationalsozia-         Brünger, S. (2017): Geschichte und Gewinn. Der Umgang deutscher
                                                                 Konzerne mit ihrer NS-Vergangenheit. Göttingen.
listen nicht bestritten werden. Viele passten sich an, hielten
                                                                 Conze, E.; Frei, N.; Hayes, P.; Zimmermann, M. (2010): Das Amt und
aber Kontakt zu den früheren Netzwerken, unterstützen            die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der
sich und sperrten sich gegen die Aufarbeitung ihrer eige-        Bundesrepublik Deutschland. München.
nen Vergangenheit. Die organisationskritische Analyse von        Fraenkel, E. (1974/1999): Der Doppelstaat. Gesammelte Schriften
Institutionen, die sich zu Gehilfen der nationalsozialisti-      Bd. 2: Nationalsozialismus und Widerstand. Baden-Baden.
schen Rassen-, Arisierungs-, Euthanasie- und Raumpolitik         Görtemaker, M.; Safferling, C. (2016): Die Akte Rosenburg. Das Bun-
                                                                 desjustizministerium der Justiz und die NS-Zeit. München.
gemacht hatten, setzte so vielfach erst nach der Pensionie-
                                                                 Henke, K. D.; Woller, H. (Hrsg.) (1991): Politische Säuberungen in
rung der bis dahin bestimmenden Persönlichkeiten ein.            Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem
Und mit der verwaltungsgeschichtlichen Erforschung setz-         Zweiten Weltkrieg. München.
te erst sehr spät, wie wir heute wissen, eine Erforschung        Mentel, C.; Weise, N. (2016): Die zentralen deutschen Behörden und
der Verwaltungen, Organisationen, Verbände und „Arbeits-         der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung. Mün-
gemeinschaften“ ein. Sie ist bis heute nicht abgeschlossen.      chen/Potsdam 2016.
                                                                 Niethammer, L. (1982): Die Mitläuferfabrik – Die Entnazifizierung am
                                                                 Beispiel Bayerns. Berlin/Bonn.
Ausblick: oder „Alles klar?“                                     Nützenadel, A. (Hrsg.) (2017): Das Reichsarbeitsministerium im
Die Verspätung erklärte Ulrike Poppe, die sich vor 1989 in       Nationalsozialismus. Verwaltung, Politik, Verbrechen. Göttingen.
der oppositionellen Bürgerbewegung der DDR engagiert             Ritschl, A. (Hrsg.) (2016): Das Reichswirtschaftsministerium in der
hatte, mir gegenüber einmal mit einem biblischen Beispiel:       NS-Zeit. Wirtschaftsordnung und Verbrechenskomplex. Berlin.
Vierzig Jahre seien die Juden durch die Halbinsel Sinai ge-      Schwan, G. (1997): Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des
zogen, ehe sie das gelobte Land erreicht hätten. Vierzig         Schweigens. Frankfurt am Main.
                                                                 Steinbach, P. (1993): Vergangenheitsbewältigung in vergleichender
Jahre, das sei ein Lebensalter gewesen. Vielleicht könne
                                                                 Perspektive. Politische Säuberung, Wiedergutmachung, Integration.
sich erst eine auf die Tätergeneration folgende Generation       Berlin.
den Taten und ihrer Erklärung zuwenden, vielleicht brau-         Seibel, W. (2016): Verwaltung verstehen. Frankfurt.
che es vierzig Jahre, bis eine Sklavengesinnung überwun-         van Laak, D.; Rose, D. (Hrsg.) (2018): Schreibtischtäter. Begriff-Ge-
den worden sei. Mich hat das damals überrascht und beim          schichte-Typologie. Göttingen.
nochmaligen Nachdenken überzeugt. In einem demokrati-            Wolf, T. (2018): Die Entstehung des BND. Aufbau, Finanzierung, Kon-
                                                                 trolle. Berlin.
schen Rechtsstaat wäre es eigentlich einfacher gewesen.
Viele der Angehörigen der Folgegeneration waren aber                                    P r o f. em . D r . P e t e r S t e i nbac h ,
eventuell zu sehr geprägt von Karriereüberlegungen. Denn                                Historiker und Politikwissenschaftler, leitet seit
mancher Täter war Vorgesetzter und sie bildeten weiter                                  1989 die Gedenkstätte Deutscher Widerstand
                                                                                        in Berlin. Er forscht zur Geschichte des 19. und
Netzwerke, entschieden über Zeugnisse, Empfehlungen
                                                                                        20. Jahrhunderts und war Mitglied des Wissen-
und Gutachten. Vielleicht brauchte es den Umbruch der                                   schaftlichen Beirates zum Forschungsauftrag
Generationen, um kritischen Fragen wirklich nachzugehen.                                „Von der RAG zur ARL: Personelle, institutio-
Spätere Nachfragen waren dann aber kein Zeichen von                                     nelle, konzeptionelle und raumplanerische
Mut, sondern nutzten einfach die verringerte Gefahr, die                                (Dis-)Kontinuitäten“, der sich kritisch mit der
eine kritische Nachfrage in den Fünfzigerjahren für die ei-                             Geschichte der ARL auseinandergesetzt hat.
gene Karriere bedeutet hätte.
                                                                                        Tel. +49 30 91531401
                                                                                        polhist1@gmx.de
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