HISTORY MATTERS - PUBLIKATIONEN
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Nachrichten der ARL _ 01 / 2021 _ 51. Jahrgang history matters Der l ange Weg zur Aufarbeitung der NS -Zeit Peter Steinbach Wie viel National sozialismus steck te nach 1945 in der ARL? Oliver Werner Aufarbeitung der Geschichte von R aumpl anung und R aumforschung in der ARL Axel Priebs Zur Geschichte der Zeitschrif t „ R aumforschung und R aumordnung“ Andreas Klee R aumordnung im National sozialismus: der „Gener alpl an Ost “ Isabel Heinemann Geschichte der R aumordnung in der BRD (1949–1989) Hans Heinrich Blotevogel 30 Jahre später: R aument wicklung und R aumpl anung in Deutschl and nach 1989/ 90 Thomas Weith
Nachrichten der ARL Herausgeber: ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft Vahrenwalder Straße 247 30179 Hannover Tel. +49 511 34842-0 Fax +49 511 34842-41 arl@arl-net.de www.arl-net.de Redaktion: Dr. Tanja Ernst (v.i.S.d.P.) Sprachliches Lektorat: Heike Wegner Satz und Layout: Gabriela Rojahn, Oliver Rose Cover: © pexels/Andrew Neel Druck: Linden-Druck Verlagsgesellschaft mbH 30453 Hannover Die Nachrichten der ARL erscheinen dreimal im Jahr. Die PDF-Version ist unter shop.arl-net.de frei verfügbar (Open Access). CC_BY_SA 4.0 International Heft 01/2021 51. Jahrgang Auflage: 2250 ISSN 1612-3891 (Print-Version) ISSN 1612-3905 (PDF-Version) Inhalt gedruckt auf 100% Recyclingpapier
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L i n h a lt 1 Editorial Krisen als Chance? Martina Hülz 48 Tanja Ernst 2 AK „Klimaangepasste Stadt- und Regionalentwicklung“ gestartet Ak tuell Barbara Warner 49 75 Jahre ARL – Vergangenheit und Zukunft im Blick Exzellenzorientierte Nachwuchsförderung im Rückblick Sabine Baumgart 5 Lena Greinke 50 Auftakt Digitales BarCamp des Jungen Forums der ARL Thema Dajana Esch 54 Der lange Weg zur Aufarbeitung der NS-Zeit ÜBER UNS – die Geschäftsstelle der ARL stellt sich vor 56 Peter Steinbach 9 Corona-Pandemie und raumwirksame Folgen Wie viel Nationalsozialismus steckte nach 1945 Martina Hülz 59 in der ARL? Daseinsvorsorge zwischen Sozialstaatstheorie Oliver Werner 14 und -praxis Aufarbeitung der Geschichte von Raumplanung Jan Matthias Stielike, Thomas Lindemann, und Raumforschung in der ARL Theo Kötter 61 Axel Priebs 18 Neuerscheinungen 64 Zur Geschichte der Zeitschrift Personen 66 „Raumforschung und Raumordnung“ Andreas Klee 22 Raumordnung im Nationalsozialismus: Aus R aumforschung Der „Generalplan Ost“ und -pl anung Isabel Heinemann 25 Erweiterter Vorstand des FRU stärkt Verbindung eschichte der Raumordnung in der BRD (1949–1989) G Wissenschaft – Praxis und Nachwuchsförderung Interview mit Hans Heinrich Blotevogel 30 Ulrike Weiland 68 30 Jahre später: Raumentwicklung und Raumplanung Mentoring-Programm von ARL und FRU in Deutschland nach 1989/90 Martha Pohl 69 Thomas Weith 33 Virtuelle Konferenz zu Planung, Recht und Eigentum Thomas Hartmann, Andreas Hengstermann 71 Aus der ARL Neues Leibniz-Forschungsnetzwerk unterstützt Sabine Baumgart erneut zur Präsidentin der Akademie Forschung für nachhaltige Entwicklung für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft Rainer Danielzyk, Lena Greinke 73 gewählt Carolin Pleines 40 Co-Working Spaces im ländlichen Raum Peter Wittmann 74 Ad-hoc-Arbeitskreis der ARL veröffentlicht Positionspapier zu Pandemie und Raumentwicklung Energy Futures – Emerging Pathways in an Uncertain Carolin Pleines 42 World! Felix Claus Müller 75 München als 8. Bayerischer Regierungsbezirk?! Hans-Martin Zademach 43 Flächensparende Siedlungsentwicklung in deutschen Stadtregionen „Metropolregion Mitteldeutschland“ aus Stefan Siedentop 76 raumwissenschaftlicher Sicht Julian Gick 44 Interdisziplinäre Konferenz zu nachhaltiger Landwirtschaft: Landscape 2021 International Conference on Sustainable Spatial Hendrik Schneider 77 Development in the Alpine Space Maximiliane Seitz 45 Ausschreibung des Reinhard-Baumeister-Preises 2021 78 Erste digitale Mitgliederversammlung der ARL Ausgewählte Zeitschriftenbeiträge 80 Andreas Klee 46 Neuerscheinungen aus anderen Verlagen 83
2 ED I TO R I A L 01/ 2 021 _ N ac h ri c h ten der A R L Editorial Liebe Interessierte, die ARL besteht in diesem Jahr seit 75 Jahren. Das ist ein Doch Geschichte zählt und prägt, deshalb erscheint Grund zum Feiern, zum Innehalten, zur rückblickenden Re- die Jubiläumsausgabe der Nachrichten der ARL zum 75-jäh- flexion und zur Bestandsaufnahme aber auch zum Ausblick: rigen Bestehen unter dem Titel „History matters“. Weshalb Was hat die Akademie erreicht und was sind nächste Ziele? und wie „History matters“, hat Charles Tilly einst dezidiert Dazu äußert sich die für zwei weitere Jahre im Amt erläutert. Der US-amerikanische Wissenschaftler gilt als bestätigte ARL-Präsidentin Sabine Baumgart in der Rubrik Grenzgänger zwischen den Fachdisziplinen Geschichte, So- „Aktuell“. Zum 75-jährigen Bestehen spannt sie im Jubilä- ziologie und Politikwissenschaften. Er befasste sich stets umsjahr den Bogen von der Vergangenheit bis in die Zu- mit den Wechselwirkungen zwischen Politik und Gesell- kunft. schaft und lenkte so den analytischen Blick auf historisch Das Jubiläum ist aber zugleich auch ein Anlass, um entstandene und gewachsene Kontinuitäten sowie Pfad- zurückzuschauen und sich kritisch mit den historischen An- abhängigkeiten. fängen der Raumordnung und der Gründungsgeschichte Da eine umfassende Aufarbeitung und externe Be- der Akademie für Raumforschung und Landesplanung aus- wertung der Gründungs- und Frühzeit der Akademie nach einanderzusetzen. Maßstäben der historisch-kritischen Geschichtswissen- „In Wahrheit haben weder Raumordnung noch Raum- schaft bis dato ausstand, vergab das Präsidium der Akade- forschung mit dem Nationalsozialismus auch nur das ge- mie 2016 den Forschungsauftrag „Von der RAG zur ARL: ringste zu tun.“ Dieser Satz entstammt der Festschrift der Personelle, institutionelle, konzeptionelle und raumplane- Akademie für Raumforschung und Landesplanung aus dem rische (Dis-)Kontinuitäten“ zur Aufarbeitung und Bewer- Jahre 1960. Faktisch zeigt die aktuelle Aufarbeitung der tung der „Übergangsjahre“. NS-Geschichte, dass der Satz jeglicher sachlichen Grundla- Der Forschungsauftrag wurde auf der Basis des Vo- ge entbehrt, denn Raumordnung und Raumforschung wa- tums einer unabhängigen Fachjury an Dr. Oliver Werner ren sehr eng mit den menschenverachtenden national- (IDD – Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz sozialistischen Umsiedlungs-, Vertreibungs- und Vernich- Universität Hannover) vergeben. Das Projekt wurde bis zu tungsplänen des „Dritten Reiches“ verbunden. seinem Abschluss von den renommierten, unabhängigen Doch es gab lange Zeit große Zurückhaltung, ja eine Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirates zum For- Tendenz zur Vermeidung, sich mit diesem Thema in der schungsauftrag fachlich begleitet. Die ARL dankt deshalb Akademie zu befassen. Offizielles Gründungsjahr der Aka- allen Beiratsmitgliedern für die engagierte und exzellente demie ist das Jahr 1946. Zugleich sah sich die ARL ohne fachliche Begleitung des Projektes. Zugleich gilt der Dank Einschränkung oder Erläuterung als „Rechtsnachfolgerin dem Initiator des Forschungsauftrages und ehemaligen der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ (ARL Präsidenten der ARL (2013 bis 2015), Prof. Dr.-Ing. Klaus J. 1961: 10) und feierte bereits im Jahr 1960 das 25-jährige Beckmann, sowie dem damals amtierenden Präsidium für (!) Bestehen der Raumforschung. das besondere Engagement in dieser Sache. Ein (selbst)kritisches Wort zur politischen Ausrich- Warum die Auseinandersetzung mit der Geschichte tung der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung der Akademie und den Anfängen der Raumforschung und (RAG) fehlte 1960 ebenso wie eine Auseinandersetzung Raumordnung als Disziplin und Praxis so wichtig ist und nie mit den nationalsozialistischen Verstrickungen von Akade- abgeschlossen sein wird, verdeutlichen die Themenbeiträ- miemitgliedern, von denen viele der RAG angehört hatten ge des vorliegenden Jubiläumsheftes noch einmal ein- und einige zudem aktiv oder führend – wie Konrad Meyer drücklich. – an der Erarbeitung des „Generalplan Ost“ beteiligt gewe- sen waren.
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR LE d i to r i a l 3 Eröffnet wird der Themenschwerpunkt von Peter Die Rubrik „Aus der ARL“ stellt das neue, seit Anfang Steinbach, einem sehr erfahrenen und renommierten Ex- 2021 amtierende Präsidium der ARL näher vor. Wir möch- perten für die Aufarbeitung der NS-Zeit, der Mitglied des ten an dieser Stelle noch einmal die Gelegenheit nutzen, Beirates des o. g. Forschungsprojektes war. Er zeichnet den um uns ganz herzlich bei den beiden ausgeschiedenen Prä- langen Weg der Aufarbeitung der NS-Zeit in Ministerien, sidiumsmitgliedern, Prof. Dr. Rolf Dieter Postlep und Prof. Justiz und Behörden in den beiden deutschen Staaten der Dr. Susann Grotefels, für ihr großes und langjähriges En- Nachkriegszeit nach und zeigt, dass und warum Gesell- gagement zu bedanken! schafts- und Organisationsgeschichte in aller Regel Konti- Auf Anregung unserer Präsidentin starten wir in die- nuitätsgeschichte ist. sem Heft zudem eine neue „Reihe“, in der wir die Ge- Es folgt der Beitrag „Wie viel Nationalsozialismus schäftsstelle bzw. sukzessive die einzelnen Personen und steckte nach 1945 in der ARL?“, in dem Oliver Werner wich- ihre Aufgaben näher vorstellen werden. tige Erkenntnisse des Forschungsprojekts zur Geschichte der „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ und Wir hoffen, Sie mit unserem Jubiläumsheft zu einem der „Akademie für Raumforschung und Landesplanung“ – aus unserer Sicht wichtigen – Blick zurück anzuregen, (1935 bis 1955) zusammenfasst. aber auch für die aktuellen Aktivitäten der ARL interessie- Hier schließt Andreas Klee an, indem er sich mit der ren zu können – bleiben Sie gesund! Geschichte der Fachzeitschrift „Raumforschung und Raum- ordnung“ beschäftigt und darauf verweist, dass sich ein Themenheft im 80. Jahrgang der Zeitschrift „Raumfor- Literatur schung und Raumordnung | Spatial Research and Planning“ ARL – Akademie für Raumforschung und Landesplanung (1961): 2022 vertiefend mit der Aufarbeitung der Geschichte der Festsitzung anläßlich des 25jährigen Bestehens der Raumforschung Zeitschrift befassen wird. in Deutschland am 27. Oktober 1960 im Alten Rathaus zu Hannover. Hannover. Axel Priebs stellt im Folgenden das laufende Zeitzeu- gen-Projekt der ARL vor, das persönliche Erinnerungen und Erfahrungen zu sichern sucht, um die Aufarbeitung der Ge- schichte von Raumplanung und Raumforschung sowie der D r . Ta n j a E r n s t ARL durch Oral History zu erweitern. Stabsstelle Wissenschaftskommunikation Über die ARL und ihre Geschichte hinausgehend Tel. +49 511 34842-56 ernst@arl-net.de zeichnet der Beitrag von Isabel Heinemann, einer bekann- ten Neuzeit-Historikerin mit umfangreicher Forschungser- fahrung zur NS-Zeit, am Beispiel des „Generalplan Ost“ nach, wie eng die raumwissenschaftliche Forschung und die Anfänge der Raumordnung mit den verbrecherischen und menschenverachtenden Raumordnungs- und Umsied- lungskonzepten des Nationalsozialismus und damit auch der Vertreibung und Ermordung jüdischer und osteuropäi- scher Bevölkerung verknüpft waren. Es folgt ein Interview mit Hans Heinrich Blotevogel, der sich seit langem um die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der ARL sowie der Raumplanung und Raumwissenschaften insgesamt verdient gemacht hat. Die Fragen von Rainer Danielzyk nehmen dabei – ergänzend zu den anderen Themenbeiträgen – die Geschichte der Raum- ordnung in der BRD zwischen 1949 und 1989 in den Blick. Abschließend wirft Thomas Weith einen ganz ande- ren Blick zurück. Er beleuchtet Raumentwicklung und Raumplanung in Deutschland nach 1989/90. Aber auch für diese Zeit gilt, dass geschichtliche Auseinandersetzungen notwendig sind, um längerfristige Entwicklungen und Brü- che besser zu verstehen und die fachlichen „Erzählungen“ einordnen zu können.
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L a k t u e ll 5 Sabine Baumgart 75 Jahre ARL – Vergangenheit und Zukunft im Blick In diesem Jahr besteht die ARL – Akademie für Raument- „Diese Untersuchungsperspektive, die sich auf wicklung in der Leibniz-Gemeinschaft seit 75 Jahren. Dies »das Führungspersonal, die Verwaltungskultur ist sicherlich ein Grund zum Feiern. Dabei sollten wir uns und die Politikfelder« einzelner Regierungsstellen jedoch vergegenwärtigen, dass die Anfänge der ARL, die konzentriert und auch auf Länderebene nach dem Zweiten Weltkrieg aus der 1935 gegründeten vielversprechend eingenommen wird […], Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (RAG) her- analysiert die komplexen Zusammenhänge vorging, mit einer höchst problematischen Vergangenheit von übergreifenden politischen Traditionslinien, verbunden sind. Auch wenn 1947 die Umbenennung in individuellen Karriereverläufen im »Dritten Reich« „Akademie für Raumforschung und Landesplanung“ erfolg- und inhaltlichen Neuansätzen nach dem te, sind doch neben der formellen und organisatorischen »Zusammenbruch« des Deutschen Reiches.“ Rechtsnachfolge vor allem personell deutliche politisch- ideologische Kontinuitäten eines größeren Teils ihrer frü- Dass die ARL diesen Forschungsauftrag im Jahr 2016 hen Mitglieder mit dem Nationalsozialismus sichtbar ge- vergeben hat, ist vor allem Klaus Beckmann als vormaligem worden. Diese lagen nicht nur in der Mitgliedschaft bedeu- Präsidenten der ARL zu verdanken. Die Bearbeitung des tender Wissenschaftler und einer „Schlüsselfigur der deut- Forschungsprojekts wurde von einem hochkarätig besetz- schen Ostraum- und Germanisierungsplanungen“ (DFG ten Beirat wissenschaftlich begleitet, um jeden Anschein 2006: 16) wie Konrad Meyer begründet. von inhaltlicher Einflussnahme auf den Arbeitsprozess und seine Ergebnisse konsequent zu vermeiden. Die For- „Der ‚Generalplan Ost‘ steht für eine enge schungsarbeit wurde 2020 inhaltlich durch den Beirat und Verbindung von akademischer Forschung, formal vonseiten des Präsidiums abgenommen und wird rationaler Planung und nationalsozialistischer Ende 2021 in einem externen Verlag veröffentlicht. Eroberungs- und Vernichtungspolitik. Am 7. November 2019 wurden zentrale Ergebnisse Detailkenntnisse über den zu gestaltenden der Forschungsarbeit zudem im Rahmen der öffentlichen osteuropäischen Raum lieferten den Planern Tagung „Von der RAG zur ARL: Personelle, institutionelle, unter anderem Agrar- und Raumforscher, konzeptionelle und raumplanerische (Dis-)Kontinuitäten“ Soziologen, Geographen, Historiker, im Alten Rathaus in Hannover von Oliver Werner vorge- Demographen wie Rassenforscher.“ stellt und mit den Perspektiven auf andere raumwissen- (DFG 2006: 13) schaftlich relevante Institutionen gespiegelt. Die Beiträge dieser Veranstaltung wurden 2020 unter dem Titel „Raum- Personelle Kontinuitäten bestanden mit Heinrich forschung zwischen Nationalsozialismus und Demo- Hunke als Generalsekretär von 1949 bis 1954 und später als kratie. Das schwierige Erbe der Reichsarbeitsgemein- Vizepräsident der ARL von 1960 bis 1964 auch auf der Lei- schaft“ als Arbeitsbericht der ARL 29 veröffentlicht und tungsebene. sind damit Open Access zugänglich. Eine systematische wissenschaftliche Untersuchung So notwendig und wichtig die Aufarbeitung der Grün- der „Kontinuitäten, Brüche und Neuorientierungen“ in der dungsgeschichte der ARL ist, so wollen wir künftig unseren Raumforschung und mit Blick auf die ARL wurde erst in den Blick auch auf die weitere Entwicklung der ARL in den ver- letzten Jahren von Dr. Oliver Werner (IDD – Institut für Di- gangenen Jahrzehnten richten. In den 75 Jahren ihres Be- daktik der Demokratie, Leibniz Universität Hannover) vor- stehens hat sich die ARL sowohl als unverzichtbares perso- gelegt. Der Abschlussbericht des von der ARL beauftragten nelles Netzwerk als auch als leistungsfähige wissen- Forschungsprojektes trägt den Titel „Wissenschaft »in schaftliche Einrichtung bewährt und unzählige Impulse für jedem Gewand«? Von der »Reichsarbeitsgemeinschaft die Raumwissenschaft und die praktische Raumentwick- für Raumforschung« zur »Akademie für Raumfor- lung gegeben. Die Aufarbeitung der ersten fünf Jahrzehnte schung und Landesplanung« 1935 bis 1955“. Oliver der ARL steht aber erst in ihren Anfängen. Wichtige Fakten Werner schreibt zum wissenschaftlichen Zugang seines wurden in den beiden 1996 herausgegebenen Jubiläums- noch unveröffentlichten Abschlussberichts: bänden der ARL anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens fest-
6 a k t u el l 01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er ARL gehalten (ARL 1996a; ARL 1996b). Aber es fehlt eine le- Pandemie für ökologisch, wirtschaftlich und sozial relevan- bendige Aufarbeitung der damaligen Akademiearbeit im te Entwicklungen sichtbar und zu diskutieren sein, denkt Kontext raumwissenschaftlicher Forschung und raumpla- man an die gegenwärtige Diskussion über die Zukunft des nerischer Praxis. In diesem Sinne ist es ein Anliegen des am- Einfamilienhausbaus, die Zunahme des motorisierten Indi- tierenden Präsidiums, das Erfahrungswissen älterer ARL- vidualverkehrs oder auch an die ungleichen Lebensbedin- Mitglieder aufzugreifen und für die Forschung dauerhaft zu gungen in den Stadtteilen und Quartieren mit Folgen für sichern sowie zugänglich zu machen. Um die Quellenlage Bildungs- und Teilhabechancen. Diesen und damit verbun- zur Geschichte von Raumforschung und Raumordnung dener Fragestellungen hat sich 2020 ein Ad-hoc-Arbeits- nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur aus schriftlichen Do- kreis der ARL gewidmet und das Positionspapier 118 kumenten zu erschließen, sondern auch um persönliche „SARS-CoV-2-Pandemie: Was lernen wir daraus für die Perspektiven zu bereichern, werden aktuell mit dem Pro- Raumentwicklung?“ erarbeitet. jekt „Zeitzeugen“ Erinnerungen und persönliche Bewer- Fragen der raumbezogenen Ungleichheit und Ge- tungen älterer ARL-Mitglieder im Rahmen von leitfadenge- rechtigkeit mit ihren Folgen für die Umwelt und die Gesell- stützten Interviews zur Nachkriegsgeschichte von Raum- schaft werden in der ARL auch im Rahmen ihrer Internatio- forschung und Raumordnung sowie zur Entwicklung der nalisierungsstrategie mit Blick auf die Raumentwicklung vor ARL geführt. Ich verweise auf den ausführlichen Beitrag allem in Europa, aber auch auf vergleichbare Planungskul- von Axel Priebs in diesem Heft, der das Vorhaben konzi- turen weltweit bearbeitet. Dabei werden die Impulse, die piert hat und federführend betreibt. von der im letzten Jahr verabschiedeten Territorialen So notwendig und wichtig die Aufarbeitung der Grün- Agenda 2030 für ein gerechteres und grüneres Europa und dungsgeschichte der ARL war und ist, so wollen wir den der Neuen Leipzig-Charta 2020 als Grundlage einer integ- Anlass des 75-jährigen Bestehens auch nutzen, um den rierten Stadtentwicklung in Europa sowie dem European Blick auf die weitere Entwicklung der ARL zu richten. Green Deal (2019) mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 ausgehen, aufgegriffen. Diesbezüglich langfristig an- „Macht findet im Raum statt. Die Territorialisierung gelegte Zielsetzungen zu verfolgen wird durch die aktuelle von Macht wird auf Karten abgebildet, ob es sich Pandemie erheblich erschwert. Die wirtschaftlichen, sozia- um Entwürfe für die Idealstadt der Renaissance len und technologischen Vernetzungen und deren Auswir- und Aufklärung handelt, um die Abgrenzung von kungen beeinflussen unsere Lebensorganisation massiv, Einflußsphären der Supermächte oder den zumindest temporär. Der regional orientierte Handlungs- Geltungsbereich von Einreisebestimmungen. raum ist wieder zum räumlich begrenzten Container Karten bilden Macht ab. Kartenwissen ist sogar geworden. Aber wir erfahren auch die Notwendigkeit der selbst Macht. Wer Karten hat, weiß mehr über Überprüfung unserer Konzepte, Strategien und Maßnah- die Organisation eines Raumes.“ men hinsichtlich ihrer Resilienz gegenüber solchen Ereig- (Schlögel 2006: 249) nissen. Mit Blick auf die inzwischen seit mehr als einem Jahr Die Konfigurationen von Machtstrukturen, die den andauernde Krisensituation der Pandemie gilt es auch für Raum mit seinen sozialen und wirtschaftlichen Beziehun- die ARL Wege zu finden, wie man von der akuten Krisenbe- gen prägen, ist in diesen Tagen wieder aktueller denn je, wältigung zu einer vorsorgenden Planung kommt, die und dies auf allen räumlichen Ebenen. Raumbezogene Aus- ebenfalls die drängenden Problemlagen der Klimakrise und sagen zu visualisieren und damit potenzielle Konflikte für der Ressourcenknappheit aufgreift. Diesen Fragestellun- Kommunikationsprozesse und gesellschaftspolitische Ab- gen widmete sich der ARL-Kongress 2021 „Im Zeichen wägungs- und Entscheidungsprozesse offenzulegen, ist ei- der Pandemie – Raumentwicklung zwischen Unsicher- nes der zentralen Tätigkeitsfelder räumlicher Planung. heit und Resilienz“. Er fand am 1./2. Juli 2021 als On- Aktuell sind es die globalen Auswirkungen der SARS- line-Veranstaltung statt. Damit wurden auch zentrale As- CoV-2-Pandemie, die zu konfliktreichen Aushandlungspro- pekte des 2020 aufgrund der Pandemie ausgefallenen zessen über erforderliche Einschränkungen von Grund- ARL-Kongresses erneut aufgenommen. Leitfragen des rechten führen. Diese meist räumlich konkret abgegrenzten diesjährigen ARL-Kongresses bezogen sich auf den Umgang Einschränkungen betreffen geschlossene Grenzen und die mit Unsicherheiten, Resilienz und Vulnerabilität, räumliche Zerschneidung von Lebensräumen in Europa, aber ebenso Gerechtigkeit und räumliche Maßnahmen sowie auf Akteu- die regional unterschiedlichen Inzidenzwerte und den Um- re und Prozesse. Ebenso wurden die unterschiedliche zeit- gang mit ihnen in der Pandemie. Deren Darstellungen liche Skalierung von Problemstellungen und grundsätzlich führen auf nationalstaatlicher Ebene von den Landkreis- die Chancen und Herausforderungen für Gesellschaft, Um- grenzen bis hinunter zur Stadtteilebene zu intensiven Dis- welt und Politik diskutiert. Thematische Fachsitzungen be- kussionen über Geltungsbereiche von ordnungsrechtlichen fassten sich mit Gesellschaft und sozialer Gerechtigkeit, Regelungen versus gewachsenen regionalen Austauschbe- Mobilität und Wirtschaft, Öffentlicher Gesundheit, Ökolo- ziehungen. Politisch-administrative Grenzen haben durch gie und Umweltgerechtigkeit sowie mit den dafür erforder- die Pandemie in der öffentlichen Debatte wieder an Bedeu- lichen Transformationsprozessen für eine nachhaltige Zu- tung gewonnen. Zugleich werden die Konsequenzen der kunft.
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L a k t u e ll 7 75 Jahre ARL – „Wir sind, was wir erinnern“ (Ullrich 2005), dieser Aufgabe wird sich die ARL auch in der Zu- Band 78 kunft widmen und sich ihrer Vergangenheit stellen. Sie Heft 6 sieht sich mit ihrem facettenreichen Netzwerk aus Wissen- Dezember 2020 schaft und Praxis in der Verantwortung, aktiv eine nachhal- tige Raumentwicklung in der Zukunft mitzugestalten. „Vielleicht gibt es schönere Zeiten; Papierausgabe: aber diese ist die unsere.“ ISSN 0034-0111 (Jean-Paul Sartre) Elektronische Ausgabe: ISSN 1869-4179 All manuscripts are published Literatur open access: CC BY-NC-ND 4.0 ARL – Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.) (1996a): 50 Jahre ARL in Fakten. Hannover. ARL – Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.) (1996b): Bibliographie der ARL. Hannover. DFG – Deutsche Forschungsgemeinschaft (2006): Katalog zur Aus- stellung „Wissenschaft, Planung, Vertreibung“. Der Generalplan Ost Beitrag / Article der Nationalsozialisten. Bonn. Schlögel, K. (2006): Im Raum lesen wir die Zeit. Frankfurt am Main. Henning Boeth Ullrich, S. (2005): Wir sind, was wir erinnern. In: DIE ZEIT Geschichte Steuerungsmöglichkeiten öffentlicher Akteure zur (1), Teil 1, 27-34. Reurbanisierung von Mittelstädten. Eine Analyse am Beispiel Bambergs P ro f. D r . - I ng . S a b ine Bau m gar t Philipp Gareis / Antonia Milbert Präsidentin der ARL – Akademie für Raument- wicklung in der Leibniz-Gemeinschaft Funktionale Klassifizierung von Kleinstädten in Deutschland. Ein methodischer Vergleich Tel. +49 511 34842-0 praesident@arl-net.de Michael Kolocek / Andreas Hengstermann Der Mythos der Drohkulisse. Eine diskursanalytische Untersuchung der Instrumente Baugebot und städte- bauliche Enteignung in der responsiven Bodenpolitik Susanne Krings Doppelt relevant: Kritische Infrastrukturen der Da- seinsvorsorge Uwe Blien / Franziska Hirschenauer Arbeitskräfteangebot und regionale Arbeitsmarktlage Printausgaben können über die Website der Zeitschrift bestellt werden: https://content.sciendo.com/view/journals/raraoverview.xml
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L thema 9 Peter Steinbach Der l ange Weg zur Aufarbeitung der NS-Zeit Die Entscheidung des ehemaligen Außenministers Joschka zwischen Opfern und Täterinnen/Tätern vor (Schwan Fischer, einem als verdient geltenden, 1951 in das Auswär- 1997). Gesellschaften gehen in der Regel in der Tat nicht tige Amt übernommenen verstorbenen deutschen Diplo- unter; sie reagieren auf einen politischen Nullpunkt, denn maten wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP und sei- Menschen, die eine Gesellschaft bilden, müssen nach dem ner Tätigkeit während der NS-Zeit in der hauseigenen „Untergang“ oder dem Zusammenbruch eines Staates wei- Zeitschrift den Nachruf zu verweigern, hatte weitreichende terleben, sie sind nicht – wie die NSDAP – einfach zu verbie- Folgen für die zeitgeschichtliche Verwaltungsforschung ten, sie können nicht, wie die Wehrmacht, entwaffnet und (Conze/Frei/Hayes et al. 2010). Verwaltungsforschung war für aufgelöst erklärt werden. Auch Bürokratien und Organi- in der politischen Soziologie fest etabliert und analysierte sationen vergehen nicht mit den Regimen. Oft werden ihre Verwaltungshandeln (Seibel 2016). Die Erweiterung um Angehörigen weiterbeschäftigt. eine historische Dimension veränderte die Fragestellung Gesellschaftsgeschichte ist deshalb ebenso wie Büro- und zielte auf Kontinuitäten des Personals und ihre Karri- kratiegeschichte unausweichlich Kontinuitätsgeschichte. erepfade während und nach den erfolgten Regimewech- Kontinuitäten kritisch aufzuarbeiten bedeutet, dass Um- seln (Mentel/Weise 2016). brüche, oft erst nach Jahren, neu thematisiert werden. Manche sehen darin eine Störung des gesellschaftlichen Wege und Umwege einer Aufarbeitung Friedens, andere eine Art gesellschaftliche „Hygiene“, wie der Vergangenheit der Leitende Oberstaatsanwalt Adalbert Rückert der Lud- Der neue historische Ansatz hatte geschichtspolitische und wigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialisti- legitimatorische Konsequenzen. Beide deutsche Staaten scher Verbrechen einmal im Zusammenhang mit der zwei- beanspruchten, postnationalsozialistisch bzw. antifaschis- ten Verjährungsdebatte sagte. Dies ist so oder so der tisch zu sein. Was aber bedeutete das für die staatlich Be- Gegenstand einer aufklärerischen Geschichtsforschung, schäftigten? Mit Blick auf die Verwaltungskarrieren über die man „Vergangenheitsbewältigung“, „Abarbeitung“, das Epochenjahr 1945 hinweg spitzten sich die deutsch- „Wiedergutmachung“ oder „Aufarbeitung“ nennt. Sie ist deutschen Legitimitätsprobleme auf die Frage nach „belas- schwierig, denn „im Hause des Henkers redet man nicht teten“ Bediensteten zu. Noch brisanter wurden diese nach vom Strick“ (Adorno 1963: 125). Historisch betrachtet, ist der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, weil nun die Beleuchtung der Vorgeschichte ebenso wie die der „Säuberungen“ (Henke/Woller 1991) nach 1945 und nach Nachgeschichte eines Regimewechsels nur eine Phase fort- 1989 miteinander verglichen wurden. Bis zur Vereinigung schreitender Transformation einer postdiktatorischen Ge- 1989 war der westdeutsche „Bonner Staat“ von der SED- sellschaft, die sich demokratisch zu festigen sucht und sich Führung verdächtigt worden, einige ehemalige Nationalso- neu zu Normen eines zivilisierten Umgangs bekennt. zialistinnen und weitaus mehr schwer belastete Nationalso- zialisten gedeckt oder weiterbeschäftigt zu haben, wäh- Von der Norm zum Maßstab rend die bundesdeutsche Politik nicht müde wurde, die Aus Normen erwächst bald ein kritischer Maßstab zur Be- totalitäre Kontinuität zu betonen, die sich vor allem in ge- wertung vergangenen Verhaltens. Denn mit der neuen Ver- sellschaftlichen und politischen Mobilisierungs- und Diszi- fassungsordnung, die eine Diktatur ablöst, werden in der plinierungsbestrebungen des „Pankow-Regimes“ ausdrü- Auseinandersetzung mit der im Bewusstsein absinkenden cken sollten. Vergangenheit neue Wertvorstellungen eines zivilisierten Es handelte sich jedoch nicht nur um ein Problem des Zusammenlebens entwickelt. So wird rückblickend ein Systemvergleichs, gilt doch immer: „Staaten mögen verge- Maßstab für die Beurteilung des vergangenen Verhaltens hen, Gesellschaften aber bleiben bestehen“. Diese doppel- entwickelt und Institutionen wie Behörden, Organisatio- sinnig anmutende Bemerkung gehört zu den Feststellun- nen, aber auch Wirtschaftsunternehmen (Brünger 2017) gen, die nach Zusammenbrüchen von Staaten und Re- werden manchmal erst nach Jahrzehnten mit den langfris- gimewechseln oft zu hören sind. tigen Folgen ihres Fehlverhaltens konfrontiert. Mehr noch, Was aber folgt daraus für Verwaltungen, Gerichte sie werden nach dem Umgang mit der eigenen Vergangen- und Verbände an Personaldebatten, Entlassungen, Ver- heit befragt und vor allem an gegenwärtigen Normen und setzungen und selbstkritischen Erklärungen? Zunächst Verhaltensmaßstäben gemessen. herrschte der Wille zum Beschweigen, zum Kompromiss
10 thema 01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L Wenn dabei die vordemokratische Geschichte von die vor allem die Nachkriegsgeschichte beleuchten (vgl. Organisationen und Behörden ihre Mitarbeiter/innen „ein- Wolf 2018). Einzelne Studien über das Reichsarbeitsminis- holt“, beginnt die eigentlich kritische Phase der Auseinan- terium (Nützenadel 2017), verbunden mit einer bemer- dersetzung um die Deutung der Zeitgeschichte. Entweder kenswerten Ausstellung über das Bundeswirtschaftsminis- die Nachlebenden klagen das Fehlverhalten der Vorgänger/ terium (Ritschl 2016), fanden wie die Studie über das innen an, begnügen sich also nicht mit der kritischen Re- Justizministerium im Moment ihrer öffentlichen Präsenta- konstruktion von Geschichte, sondern moralisieren sie. tion Aufmerksamkeit, die sich aber regelmäßig rasch er- Oder sie sind in der Lage, gegenwärtiges Verhalten auf das schöpfte. vergangene Fehlverhalten zu beziehen und entwickeln da- mit selbstkritisch Verhaltensnormen, die sie selbst ver- Politische Ziele und Widerstände pflichten. Dietrich Bonhoeffer brachte das auf den Begriff, Die Forderung nach der Bewältigung oder Aufarbeitung als er feststellte: „Nichts von dem was wir im anderen ver- der Vergangenheit verlagerte sich nach den Fünfzigerjah- achten, ist uns selbst ganz fremd“ (Bonhoeffer 1943/1951: ren allmählich und erschloss immer neue Bereiche. Dabei 17). kam der Geschichte der Verfolgung und Entrechtung eine Die kritische Befragung der Vorgänger/innen durch besondere Rolle zu. So wurde als Reaktion auf die Ermor- Nachlebende berührte deren Verhalten als Mitläufer/innen, dung Kranker und die Sterilisationspraxis die Rolle der Me- Angepasste oder Täter/innen und in ihrer Funktion als dizin im NS-Staat erforscht, die Verfolgung der Sinti und Amtsträger/innen – auch dann, wenn es um Institutionen, Roma lenkte den Blick auf die Beteiligung der Polizei, die Behörden oder Verbände ging, denn verantwortlich ist im- Zwangsarbeit warf Fragen nach der Mitwirkung der Ar- mer die Einzelperson, die in diesen Institutionen handelt, beitsämter auf. Augenblicklich steht die längst überfällige oftmals, ohne ihre Handlungsspielräume wahrzunehmen kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus im und zu nutzen. Vielmehr wurde versucht, sich durch Beru- Vordergrund der historischen Aufarbeitung. fung auf den damaligen Zeitgeist sowie auf Befehl und Ge- Das Interesse an einer Purifizierung der gesellschaftli- horsam zu entlasten. chen Erinnerung im öffentlichen Raum ist jedoch ungebro- Früheres politisches Fehlverhalten und menschliches chen. So weitete sich das Interesse auf Straßennamen, Mu- Versagen belasten immer auch die Institutionen und Tradi- seumsbestände und die Provenienzen von Kunstgegen- tionen, die sie verkörpern. Aus dieser Einsicht wurden seit ständen aus. Auch die Nominationen von Ehrenpreisen er- der Jahrtausendwende mit beträchtlichen staatlichen Mit- weisen sich zunehmend als problematisch. Dies zeigt: teln viele kritische Studien über zentrale Behörden und ihr Längst geht es nicht mehr um das Fehlverhalten von Insti- Personal beauftragt, oft nach einem Ausschreibungsver- tutionen und Individuen, sondern um deren Geschichte im fahren. Inzwischen liegen zahlreiche Studien vor, die nicht größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. immer schmeichelhaft sind. Selbst das Bundeskanzleramt Die „Bewältigung“ der Vergangenheit verbindet sich und das Bundespräsidialamt blieben nicht unberücksich- mit einer proklamierten gesellschaftlichen, politischen und tigt. Die inzwischen vorliegenden Arbeiten belegen vor al- pädagogischen Verpflichtung zur umfassenden histo- lem eine belastende Personalkontinuität. Sie fragen nach risch-politischen Aufklärung, die mehr sein soll als Politik- dem Anteil ehemaliger Nationalsozialisten* an den jeweils folgenbewältigung im Sinne Claus Offes. Immer häufiger in den Ämtern Beschäftigten, untersuchen die Fortwirkung wird individuelles Verhalten, aber auch bündisches Verhal- ehemaliger Denkvorstellungen und können in Einzelfällen ten reflektierend problematisiert. Diese Bestrebung schlägt auch den Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten auf Geset- sich oft in der Frage nieder: „Wie hätte ich mich selbst ver- zesvorhaben der Bundesrepublik nachweisen (vgl. Görte- halten?“. Die Antwort ist in der Regel defensiv, entschuldi- maker/Safferling 2016). gend, entlastend. Angesichts der Probleme unserer Gegen- Auch die Unternehmensgeschichte hat sich zuneh- wart wird zunehmend aber auch die selbstkritische Frage mend der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ge- gestellt: „Wie verhältst Du Dich? Hier, jetzt, morgen?“. Die- öffnet, nachdem im Zusammenhang mit der Entschädi- ser Zugang entspricht der Position Adornos im Geiste der gung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern die Aufklärung. Er war überzeugt, dass die Aufarbeitung von Verstrickungen zwischen NS-Staat, KZ-System und Unter- Fehlverhalten in der NS-Zeit Einsichten in aktuelle Verhal- nehmen offensichtlich wurden. tensweisen eröffnen müsste. Der methodische Ertrag vieler dieser Studien ist rela- tiv gering, weil die Ermittlung der Anteile ehemaliger Natio- Aufarbeitung – alternativlos? nalsozialisten am Personalschlüssel wenig über die Wirk- Nach Revolutionen und Restaurationen, vor allem aber samkeit dieser bei anstehenden politischen Entscheidungen, nach dem Untergang von Diktaturen muss Vergangenheit bei Gerichtsverfahren oder Gesetzesvorhaben aussagt. immer bewältigt werden (Steinbach 1993). Es lassen sich, Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt die Studie über die mit Blick auf Deutschland, verschiedene Wege nach dem Innenministerien der BRD und der DDR dar, weil sie das Ende eines menschenverachtenden Unrechtsstaates und Verhalten des Personals am Beispiel konkreter Maßnahmen seiner Besatzungsherrschaft unterscheiden: analysiert (Bösch/Wirsching 2018). Inzwischen ist die Anzahl entsprechender Arbeiten zu a Es hätte eine kurze Phase der „Säuberung“, gleichsam fast unüberschaubaren Spezialbibliotheken angewachsen. eine „Nacht der langen Messer“ geben können, um Kol- So liegen allein für den BND weit mehr als zehn Bände vor, laborateure unmittelbar zu bestrafen. Dagegen hatte
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L thema 11 sich der deutsche Widerstand früh ausgesprochen und weigerung und abweichendes Verhalten wurden nun als Gerichtsverfahren „gegen Rechtsschänder“ geplant. Versuch gewürdigt, sich den Zumutungen und Zwängen des NS-Staates zu entziehen. b Es gibt die Möglichkeit einer strafrechtlichen Ahndung, wie dies mit den Nürnberger Prozessen versucht wurde. 4. Mit der Verlängerung 1965/69 und schließlich der Auf- Strafverfahren gegen NS-Täter/innen erstreckten sich hebung der Verjährungsfrist 1979 wurde der verbreche- über viele Jahrzehnte und sind noch nicht abgeschlos- rische Charakter des NS-Unrechtsstaates von der Bevöl- sen. kerung zunehmend akzeptiert. c Unmittelbar nach 1945 gingen die Alliierten andere Wenn in den fünfziger Jahren die Vergangenheit in ei- Wege. Sie hatten die Entnazifizierung der deutschen Ge- nem heute schwer verständlichen Maße beschwiegen wur- sellschaft zu einem ihrer Kriegsziele erklärt. Fragebögen de, so trifft dies heute nicht mehr zu. Dies ist eine Folge der sollten Licht in Biografien bringen, Entnazifizierungsver- historisch-politischen gesellschaftlichen Selbstaufklärung, fahren das Fehlverhalten klassifizieren, NS-Verbrechen wie sie Fritz Bauer forderte, der den Auschwitz-Prozess und NS-Gewalttaten sollten von Belasteten, von Mitläu- 1962/64 vorbereitet hatte. Auch politische Verwerfungen ferinnen und Mitläufern sowie Unbelasteten getrennt und gesellschaftliche, kulturelle und internationale Verän- werden. Viele Beschuldigte besorgten sich „Persilschei- derungen wirkten sich aus und veränderten den Blick auf ne“, um sich eine „reine Weste“ bescheinigen zu lassen. die deutsche Geschichte. Weil die SED-Führung immer wie- der auf Belastete in politischen Funktionen der Bundesre- d Mit den Jahren schwächte sich das zunächst konsequen- publik hinwies, gelang es den Beschuldigten, sich als Opfer te Vorgehen gegen Schuldige und Belastete ab, entwi- einer neuen politischen Diffamierung und Verfolgung zu ckelten sich Entnazifizierungsverfahren zur „Mitläufer- bezeichnen. Erst nach vielen Anläufen gelang es Engagier- fabrik“ (Niethammer 1982). Es fanden sich viele Grün- ten der deutschen Justiz, Akten aus Polen, später aus der de, um Fehlverhalten, Bereicherung und Willkür zu rela- Sowjetunion sichten zu können und so Licht in die Verbre- tivieren. Eine Schlussstrichforderung wurde immer un- chen zu bringen, die von Deutschen vor allem in Ost- und überhörbarer. Mit Art. 131 des Grundgesetzes bot sich Ostmitteleuropa begangen worden waren. So wurden erst eine Möglichkeit, ehemalige Angehörige des öffentli- spät die Verbrechen der Einsatzgruppen, die polnischen chen Dienstes, die „am 8. Mai 1945 versorgungsberech- Vertreibungen aus dem Warthegau und die Politik einer tigt“ waren, wieder als Beamte zu übernehmen. ethnischen Säuberung bekannt, an der konzeptionell viele Wissenschaftler beteiligt waren, die sich als willige Vollstre- Kurzer Blick auf die Geschichte cker einer nationalsozialistischen Lebensraumpolitik be- der Aufarbeitung zeichnen lassen. Obwohl die juristische Strafverfolgung im Westen Deutsch- Die gesellschaftliche Akzeptanz einer kritischen Auf- lands in den fünfziger Jahren also fast zum Erliegen gekom- arbeitung der nationalsozialistischen Raum-, Vertreibungs- men war und politische Parteien ehemalige Nationalsozia- und Vernichtungspolitik veränderte sich mit der zuneh- listen umworben hatten, weil sie deren Stimmen wollten, menden Kenntnis der nationalsozialistischen Gewalt- oder diese sogar in ihre Parteiführungen integriert hatten, verbrechen seit dem Ende der siebziger und den frühen waren es rückblickend vor allem vier Entwicklungen, die achtziger Jahren. Belastete konnten sich nun nicht mehr das westdeutsche Selbst- und Geschichtsbild wandelten durch die Behauptung verteidigen, in Pankow herrschten und die Forderung einer umfassenden Aufarbeitung der „rotlackierte Nazis“, die die Legitimität der Bonner Repub- Vergangenheit gesellschaftlich breit verankerten: lik erschüttern wollten. Innerhalb eines Jahrzehnts hatten sich die Kriterien 1. Ende der fünfziger Jahre kam es in Ulm zu einem der zur Bewertung des Verhaltens derjenigen grundlegend ge- ersten Einsatzgruppenprozesse. Er führte 1958/59 zur wandelt, die sich als Mitläufer bezeichneten und so ver- Gründung einer Zentralen Stelle aller Landesjustizver- brämten, dass sie innerhalb von Staat, Justiz, Verwaltung waltungen in Ludwigsburg, die die Aufgabe hatte, Tat- und Wehrmacht kooperiert hatten. orte, Täter und Verbrechen systematisch zu ermitteln Historisch-politische Bildung, Filme und publizisti- und Strafverfahren vorzubereiten. sche Debatten haben seit den Sechzigerjahren das zeithis- torische Bewusstsein beeinflusst und geprägt. Die bis dahin 2. Nach der Entführung Eichmanns 1960 konnte Israel unüberhörbare Forderung eines Schlussstrichs wurde durch den nachfolgenden Prozess das Ausmaß der durch die Aufforderung zur Aufarbeitung der Vergangen- NS-Verbrechen verdeutlichen. Dies wiederum war die heit ersetzt. Dabei wirkte sich nicht zuletzt die akribische Voraussetzung für den Auschwitz-Prozess, der das Bild Suche nach NS-Belasteten durch Ermittlungen von DDR-Be- der Deutschen von der NS-Zeit grundlegend veränderte hörden aus. Diese hatten bereits 1965, also rechtzeitig zur und die Frage nach den Tätern zuspitzte. ersten deutschen Verjährungsdebatte des Bundestags ein hochgradig kompromittierendes „Braunbuch“ zum Neona- 3. Mit der Anpassung und Folgebereitschaft vieler Mit- zismus erstellt, welches 1967 um ein entsprechendes Grau- läufer/innen rückte zugleich der Widerstand in vielen buch erweitert wurde. Es enthielt hunderte Namen west- Schattierungen stärker ins öffentliche Interesse. Ver- deutscher Juristen, Verwaltungsbeamter und Militärs, die
12 thema 01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L bereits im NS-Staat tätig gewesen waren, unter ihnen eini- sowie Entschädigungszahlungen. Sogar die Bundeswehr ge besonders profilierte Persönlichkeiten wie Hans Globke, problematisierte ihr Verhältnis zur Wehrmacht von Traditi- Chef des Bundeskanzleramtes unter Konrad Adenauer so- onserlass zu Traditionserlass. Immer drängender wurde zu- wie Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rasse- gleich die Frage nach der Rolle von Justiz und Verwaltun- gesetze von 1935. gen gestellt. H. G. Adler richtete 1974 mit der Analyse des Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stan- KZ-Systems als eigenem Verwaltungssystem den Blick der den allerdings weiter die großen NS-Strafverfahren gegen Behörden auf die von der Zwangsarbeit begünstigte Indus- das KZ-Personal. So verlagerte sich die vergangenheitspoli- trie, die die Ziele der NS-Politik fraglos akzeptiert und reali- tische Auseinandersetzung zunächst vor allem in die Ge- siert hatte. richtssäle. In der Publizistik, langsam auch in der zeitge- Neu war, dass seit den siebziger Jahren nicht mehr schichtlichen Forschung, die damals als junge historische über Konzerne und Banken diskutiert wurde, mit denen Bindestrichdisziplin wegen ihrer großen zeitlichen Nähe durch die Nürnberger Nachfolgeprozesse abgerechnet zur NS-Zeit innerhalb der Geschichtswissenschaft keines- worden war, sondern die breite Anpassungs- und Folgebe- wegs akzeptiert war, sondern als das Produkt alliierter reitschaft vor allem der „Staatsbediensteten“ und der Nutz- „Umerziehung“ diffamiert wurde, wurde die kritische, nicht nießer von „Arisierungsmaßnahmen“ im Wirtschaftsleben mehr auf Entlastung zielende Auseinandersetzung mit der thematisiert wurde. Menschen im Staatsdienst übten im NS-Zeit immer wichtiger. NS-Staat eine Doppelfunktion aus, die ihnen lange gestatte- te, ihre Beteiligung an der NS-Politik zu verharmlosen. Des- Versuch einer Erklärung unbestreitbarer halb beriefen sie sich auf Befehle und Ordnungen, denen sie Versäumnisse sich nicht hätten widersetzen können, versuchten sogar, Aus heutiger Perspektive ist erstaunlich, wie stark die NS- sich dadurch zu schützen, dass sie behaupteten, überzeugt Zeit auch die Nachkriegszeit geprägt hat. Mit zunehmen- gewesen zu sein, rechtsstaatlich zu handeln. „Was damals dem Abstand wurde jedoch immer deutlicher, dass die Recht war“ könne nun nicht als Unrecht geahndet werden. „Mörder … unter uns“ lebten. Filme wie der von Wolfgang Sie nutzten also zu ihrer Rechtfertigung den Wandel des Staudte brachen das Eis des Schweigens. Mit dem Ho- Verfassungs- in einen „Doppelstaat“, um sich als Werkzeuge locaust-Film von 1978/79 veränderte sich nicht nur das ge- einer nicht beeinflussbaren Politik zu bezeichnen und sich sellschaftspolitische Klima, sondern auch der Versuch, gleichsam zu Opfern des NS-Staates zu erklären. Rede und Antwort zu fordern und zunehmend auch die Be- Der in die Emigration gezwungene Politikwissen- reitschaft, diese zu geben. Im Zuge des Generationswan- schaftler Ernst Fraenkel hatte schon 1938 den Maßnah- dels wurde es zudem immer leichter, frühere Entschei- men- vom Normenstaat (Fraenkel 1938/1999) unterschie- dungsträger, die in den sechziger Jahren noch Vorgesetzte den und das Verwaltungshandeln und die Rechtsprechung waren und nun pensioniert und damit einflusslos wurden, in den Blick gerückt. Der „Maßnahmenstaat“ setzte politi- zu kritisieren. Das machte sich an der Sprache, aber auch sche Ziele des NS-Systems um, der Normenstaat hingegen an Bewertungen der Vergangenheit und vor allem an stützte sich weiterhin auf bestehende Rechtsnormen. Bei- Selbsterklärungen von Belasteten bemerkbar. Ob Bundes- de Bereiche verschränkten sich, weil die Praxis und Willkür kanzler (wie Kurt Georg Kiesinger) oder Ministerpräsiden- von politischen Maßnahmen die Normen aushöhlten und ten (wie Hans Karl Filbinger), ob Bundesminister (wie rechtsstaatliche Maßnahmen zunehmend dann obsolet Theodor Oberländer), sie alle wurden wegen ihrer Tätig- werden ließen, wenn sie Menschen betrafen, die aufgrund keit und ihres Verhaltens in der NS-Zeit kritisiert und gaben ihrer „Rasse“ oder politischen Haltung als „Feinde“ des Rei- schließlich ihr Amt auf. ches galten. Wenn der Führer das Recht setzte, wurde der Mit dem Historikerstreit (1986) und der Auseinan- Rechtsstaat ausgehöhlt. Viele Zeitgenossen akzeptierten dersetzung um die Wehrmachtsausstellung (1995) brach dies und verletzten Grundsätze der Mitmenschlichkeit und das Eis des Beschweigens endgültig. Immer deutlicher wur- wurden zu „Rädchen im Getriebe“ eines Unrechtsstaates, de eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangen- der Richter, Militärs und Verwaltungsbeamte zu Mitschuldi- heit verlangt, erschienen kritische Studien, wurden Selbst- gen machte. entlastungen derjenigen bezweifelt, die sich als gute 1943 machte sich Fraenkel Gedanken über den „Neu- Demokraten bezeichneten, ihre eigene Vergangenheit aber aufbau des Rechtsstaats im nach-Hitlerischen Deutsch- verdrängt hatten. land“ (1943/1999) und kam zu der Erkenntnis, dass man Manifest wurden die gesellschaftlichen Debatten in die Einführung des Rechtsstaats „nicht diktieren könne“, der Auseinandersetzung mit Strafverfahren, die den ver- und staatlicher Neuaufbau den „Willen und die Kraft zur Er- brecherischen Charakter des Regimes nicht nur entlarvten, neuerung seines Rechtsstaates“ voraussetze. Dies kam den sondern auch die bis dahin immer wieder auf Selbstentlas- Alliierten entgegen, die bald einsahen, dass sie die neuen, tung der „Schreibtischtäter“ (van Laak/Rose 2018) zielen- aus dem Krieg hervorgehendenden Gemeinden und Länder den Erklärungen ihrer Anpassung und NS-Kooperation ob- nicht ohne Rückgriff auf „bewährte Kräfte“ des NS-Staates solet, ja als verlogen erscheinen ließen. Der NS-Staat galt verwalten konnten. Das war aus damaliger Sicht verständ- nun als Unrechtsstaat, nicht mehr als Vorgänger der Bun- lich, denn Daseinssicherung und Leistungsverwaltung ließ desrepublik. Die Diskussionen über „Belastete“, über Wie- sich nur mit den vorhandenen Kräften und örtlichen Struk- dergutmachung, Entschädigung und Restitutionen münde- turen sichern. ten in die Aufhebung von Unrechtsurteilen der NS-Zeit
01/ 2 021 _ N ac h r i c h t e n d er AR L thema 13 Wohin das aber führen konnte, war schon 1918 ver- hängnisvoll deutlich geworden, als die Generäle gingen, die * Die ARL bemüht sich um geschlechterneutrale bzw. Geheimräte aber in Amt und Würden blieben. Die Kontinu- -gerechte Schreibweisen. Tatsächlich gab es zahllose ität des Behördenapparates wurde durch den Erhalt der da- (Mit-)Täterinnen im Dritten Reich, einige standen maligen Beamtenprivilegien gesichert. Dies hatte fatale auch vor Gericht und wurden viel härter und konse- Folgen für die Weimarer Republik, die sich bestenfalls auf quenter bestraft als Männer – von Männern. Gleich- Vernunftrepublikaner/innen, weniger auf Herzensrepubli- zeitig war der Anteil der Frauen insbesondere in den kaner/innen stützen konnte. Beide verhinderten den Zivili- Führungsriegen und Entscheidungspositionen der sationsbruch 1933 nicht. Justiz, der Bürokratie und der Unternehmen zu dieser Nach 1945 gelang es den Alliierten zunächst, Gesell- Zeit verschwindend gering. Insofern steht an vielen schaft, Staat und Wehrmacht weitgehend zu entnazifizie- Stellen und in Absprache mit dem Autor im Beitrag ren. Fragebögen, Entnazifizierungsverfahren und das Vor- ganz bewusst nur die männliche Form. gehen gegen nationalsozialistische Hauptkriegsverbrecher vor dem Nürnberger Tribunal sowie mehr als zehn Nachfol- geprozesse mündeten schließlich in Entlastungsverfahren, Literatur die umso weniger ausrichteten, als das Grundgesetz mit Adler, H. G. (1974): Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation Art. 131 GG die „wohlerworbenen Rechte“ der Beamten der Juden aus Deutschland. Tübingen. bestätigte. Adorno, T. W. (1963): Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt. Die Befürchtung, dass sich nun eine ähnliche Entwick- Bösch, F.; Wirsching, A. (Hrsg.) (2018): Hüter der Ordnung. Die In- lung wie in der Weimarer Republik ergeben könnte, erfüllte nenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus. sich aber nicht. Denn der verbrecherische Charakter des Göttingen. NS-Staates wurde immer offensichtlicher und konnte auch Bonhoeffer, D. (1943/1951): Widerstand und Ergebung. München. von ehemaligen Nationalsozialistinnen und Nationalsozia- Brünger, S. (2017): Geschichte und Gewinn. Der Umgang deutscher Konzerne mit ihrer NS-Vergangenheit. Göttingen. listen nicht bestritten werden. Viele passten sich an, hielten Conze, E.; Frei, N.; Hayes, P.; Zimmermann, M. (2010): Das Amt und aber Kontakt zu den früheren Netzwerken, unterstützen die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der sich und sperrten sich gegen die Aufarbeitung ihrer eige- Bundesrepublik Deutschland. München. nen Vergangenheit. Die organisationskritische Analyse von Fraenkel, E. (1974/1999): Der Doppelstaat. Gesammelte Schriften Institutionen, die sich zu Gehilfen der nationalsozialisti- Bd. 2: Nationalsozialismus und Widerstand. Baden-Baden. schen Rassen-, Arisierungs-, Euthanasie- und Raumpolitik Görtemaker, M.; Safferling, C. (2016): Die Akte Rosenburg. Das Bun- desjustizministerium der Justiz und die NS-Zeit. München. gemacht hatten, setzte so vielfach erst nach der Pensionie- Henke, K. D.; Woller, H. (Hrsg.) (1991): Politische Säuberungen in rung der bis dahin bestimmenden Persönlichkeiten ein. Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Und mit der verwaltungsgeschichtlichen Erforschung setz- Zweiten Weltkrieg. München. te erst sehr spät, wie wir heute wissen, eine Erforschung Mentel, C.; Weise, N. (2016): Die zentralen deutschen Behörden und der Verwaltungen, Organisationen, Verbände und „Arbeits- der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung. Mün- gemeinschaften“ ein. Sie ist bis heute nicht abgeschlossen. chen/Potsdam 2016. Niethammer, L. (1982): Die Mitläuferfabrik – Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns. Berlin/Bonn. Ausblick: oder „Alles klar?“ Nützenadel, A. (Hrsg.) (2017): Das Reichsarbeitsministerium im Die Verspätung erklärte Ulrike Poppe, die sich vor 1989 in Nationalsozialismus. Verwaltung, Politik, Verbrechen. Göttingen. der oppositionellen Bürgerbewegung der DDR engagiert Ritschl, A. (Hrsg.) (2016): Das Reichswirtschaftsministerium in der hatte, mir gegenüber einmal mit einem biblischen Beispiel: NS-Zeit. Wirtschaftsordnung und Verbrechenskomplex. Berlin. Vierzig Jahre seien die Juden durch die Halbinsel Sinai ge- Schwan, G. (1997): Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des zogen, ehe sie das gelobte Land erreicht hätten. Vierzig Schweigens. Frankfurt am Main. Steinbach, P. (1993): Vergangenheitsbewältigung in vergleichender Jahre, das sei ein Lebensalter gewesen. Vielleicht könne Perspektive. Politische Säuberung, Wiedergutmachung, Integration. sich erst eine auf die Tätergeneration folgende Generation Berlin. den Taten und ihrer Erklärung zuwenden, vielleicht brau- Seibel, W. (2016): Verwaltung verstehen. Frankfurt. che es vierzig Jahre, bis eine Sklavengesinnung überwun- van Laak, D.; Rose, D. (Hrsg.) (2018): Schreibtischtäter. Begriff-Ge- den worden sei. Mich hat das damals überrascht und beim schichte-Typologie. Göttingen. nochmaligen Nachdenken überzeugt. In einem demokrati- Wolf, T. (2018): Die Entstehung des BND. Aufbau, Finanzierung, Kon- trolle. Berlin. schen Rechtsstaat wäre es eigentlich einfacher gewesen. Viele der Angehörigen der Folgegeneration waren aber P r o f. em . D r . P e t e r S t e i nbac h , eventuell zu sehr geprägt von Karriereüberlegungen. Denn Historiker und Politikwissenschaftler, leitet seit mancher Täter war Vorgesetzter und sie bildeten weiter 1989 die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Er forscht zur Geschichte des 19. und Netzwerke, entschieden über Zeugnisse, Empfehlungen 20. Jahrhunderts und war Mitglied des Wissen- und Gutachten. Vielleicht brauchte es den Umbruch der schaftlichen Beirates zum Forschungsauftrag Generationen, um kritischen Fragen wirklich nachzugehen. „Von der RAG zur ARL: Personelle, institutio- Spätere Nachfragen waren dann aber kein Zeichen von nelle, konzeptionelle und raumplanerische Mut, sondern nutzten einfach die verringerte Gefahr, die (Dis-)Kontinuitäten“, der sich kritisch mit der eine kritische Nachfrage in den Fünfzigerjahren für die ei- Geschichte der ARL auseinandergesetzt hat. gene Karriere bedeutet hätte. Tel. +49 30 91531401 polhist1@gmx.de
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