Winter 2020 - Was sind unsere Grundlagen? - Rudolf Steiner Schule Zürcher Oberland
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Was sind unsere Grundlagen? Winter 2020 1
Die Rudolf Steiner Schule Zürcher Oberland wurde 1976 als politisch und konfessionell unabhängige Schule begrün- det und steht als solche allen Bevölkerungskreisen offen. Das Lehrerkol- legium, als im pädagogischen Bereich autonomes Gremium, orientiert sich in seinen erzieherischen Zielsetzungen an der geisteswissenschaft- lichen Welt- und Menschenerkenntnis Rudolf Steiners – an der An- throposophie. Die Aufnahme von Kindern erfolgt nach pädagogischen Gesichtspunkten und liegt in der Verantwortung des Lehrerkollegiums. Die Freie Schulvereinigung Zürcher Oberland ist der rechtliche und wirtschaftliche Träger der Schule. Mitglied kann werden, wer den Bestand und weiteren Ausbau einer Rudolf Steiner Schule im Zürcher Oberland in freier Trägerschaft mitunterstützen will. Die Statuten der Vereinigung sowie eine Beitrittserklärung sendet Ihnen gerne der Vorstand der Freien Schulvereinigung Usterstrasse 141, 8620 Wetzikon Die Mitteilungen erscheinen zweimal im Jahr und wollen der Bildung eines gemeinsamen Bewusstseins aller an der Schule Beteiligten sowie dem für das Leben unserer Schule unerlässlichen Informationsfluss dienen. Sie werden auch an Interessenten abgegeben. Beiträge zur Deckung der Druck- und Versandkosten erbitten wir auf das Postcheckkonto 87-3246-9. 2
Nr. 179 / 45. Jahrgang Erscheint neu 2x jährlich Themen in unseren Mitteilungen Redaktionelles Vera Hoffmann Hintergründe unserer Pädagogik Jonathan Keller Pädagogische Umsetzung allgemein und Blick auf die 1./2. Klasse Vera Hoffmann Umsetzung in der 3./4. Klasse Nicole Deschwanden Das Zauberflötenprojekt Schülerinnen der 6. Klasse Geometrie in der 6. Klasse Martin Heiss Biographiearbeit und Temperamentsepoche 8. Klasse – Ein Arbeitsgespräch mit Marion Mühlebach Entwicklungspsychologische Gesichtspunkte zur OST Erfahrungen in der Parzivalepoche 11. Klasse Vera Putman Bericht aus dem Schulführungsteam Franziska Zuppiger Bericht aus dem Vorstand Vorstellung neuer Mitarbeiter Jonathan Keller Lea Keller Erin Day Hannah Götte Yasmin Widmer Lukas Wissler Florian Wepfer Verabschiedung Astrid Furger Michèle Truog Mitteilungen der Rudolf Steiner Schule Zürcher Oberland Herausgeber: Lehrerkollegium der Rudolf Steiner Schule, Vorstand der Freien Schulvereinigung Zürcher Oberland und Eltern Usterstrasse 141, CH–8620 Wetzikon Tel. 044 933 06 20, Fax 044 933 06 24 E-Mail: info@rsszo.ch, www.rsszo.ch Redaktion: Vera Hoffmann Layout: Lisa Küenzi, Alinéa AG Druck: Alinéa AG, Oetwil am See Redaktionsschluss: Sommer 2021: 14. Mai 2021 Inhaltliche Verantwortung für die Beiträge und alle Rechte bei den Autoren. 3
Wir brauchen nicht so fortzufahren ... Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Machen wir uns von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein. Christian Morgenstern 4
Redaktionelles Liebe Freunde, liebe Eltern, liebe Ehemalige Sicherlich haben Sie sich gewundert, wo denn die Weihnachtspost der RSSZO mit den Mitteilungen bleibt. Nun, dieses bewegte Jahr hat auch dazu geführt, dass aufgrund von diversen Umstellungen der Druck der Mitteilungen verschoben werden musste. Wir sind aber insgesamt wirklich gut durch dieses letzte Quartal gekommen, ohne Lockdown, mit wenigen Quarantänefällen und ohne ernstere Krankheitsfälle. Gerade in bewegten Zeiten ist es umso wichtiger, sich auf die Grundlagen zu besin- nen, – die Grundlagen dessen, was unsere Schule und unsere Pädagogik ausmachen. Wir erleben, dass die Existenz vieler Waldorfschulen im Ausland durch die gegenwär- tige Situation in Frage gestellt ist – und dies am Ende der 100 Jahre Waldorf Feiern. So kann nun dieses Heft ein besinnlicher, teils freudiger, teils fragender Blick in das inhaltliche Fundament unserer Schule sein, während am physischen Erweiterungs- bau schon weit mehr als dessen Fundament in Arbeit ist (siehe einzelne Fotos von OST-Schülern bei der Mithilfe am Bau). Mit positiver und zukünftiger Blickrichtung, wie dies zu Beginn eines neuen Jahres gut tut, wollen wir an diese Grundlagen erin- nern. Was sind diese Grundlagen? Wie werden sie methodisch und bezüglich Unterrichts inhalte in den verschiedenen Stufen umgesetzt? Sie finden in dieser Ausgabe einen sehr grundlegenden Leitartikel und auf die Stufen bezogene, exemplarische Einblicke zu diesen Fragen. Gerne möchten wir Sie auch auf den schönen Film von Valentino Vigniti über unsere Schule aufmerksam machen. Auf ganz andere und sehr lebendige Art ermöglicht er einen Einblick in unser Schulleben und ebenfalls in dessen Grundlagen. Dieses Heft und der Film ergänzen sich sehr gut. Sie finden ihn bei You Tube unter «Rudolf Steiner Schule Zürcher Oberland». Gerne möchten wir auch – zum Weitersagen – aufmerksam machen auf unseren In- formationstag am 23. Januar. Er wird unter allen Umständen stattfinden, – im Notfall auch virtuell. Auf unserer Website kann man sich darüber informieren und anmelden. Zum Schluss noch etwas in eigener Sache. Mit den Sommermitteilungen werde ich nach doch einigen Jahren die Redaktion der Mitteilungen abgeben. Ein neues Team wird sich finden und es wird die Frage bewegt werden, die heute in vielen Zusam- menhängen gestellt wird: Sind Printmedien noch aktuell? Werden sie gelesen? Und welche Inhalte werden gerne gelesen? Schätzen Sie als LeserInnen eigentlich diese langen Texte? Oder wäre es Ihnen lieber kürzer und knackiger? Sehr gerne erhalten wir Feedback für diesen anstehenden personellen und inhaltlichen Umstrukturie- rungsprozess. Gerne an vera.hoffmann@rsszo.ch oder lukas.wunderlich@rsszo.ch. Und zum guten Schluss: wir freuen uns immer sehr über Ihre Unterstützung für die Druckkosten der Mitteilungen oder für die Schule allgemein. Dafür ist der Einzah- lungsschein beigelegt. Nun wünschen wir Ihnen von Herzen «Äs guets Nois»! Für das Kollegium Vera Hoffmann 5
Aspekte der anthroposophischen Pädagogik Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen: die eine hält, in derber Liebeslust, sich an die Welt mit klammernden Organen; die andre hebt gewaltsam sich vom Dust zu den Gefilden hoher Ahnen. J.W. Goethe Stiefmutter, Jüngling und König Unser seelisches Erleben kann von zwei Seiten her bestimmt sein, vom Leib oder vom Geist her. Das vom Leib her bestimmte Seelenerleben geschieht wie naturgemäss. Es taucht auf als Freude, Leid, Angst, Bequemlichkeit, Sympathie, Ärger, Eitelkeit, Be- gehren, Vorstellung und vieles mehr.1 Das vom Geist her bestimmte Seelenerleben geschieht nicht naturgemäss, sondern muss vom Menschen aus seiner Selbstbestim- mung heraus geschaffen werden. Der Antrieb dazu, seinem Seelenerleben, also den Willensregungen, Gefühlen und Vorstellungen nicht einfach ausgeliefert zu sein, entspringt unserem Geistanteil. Ihm verdanken wir das Bedürfnis, Tugenden wie Geduld, Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit, Mitleid, Selbstlosigkeit und andere zu entwickeln. Und im Erringen dieser Tugenden gelingt es uns dann immer mehr unser Denken, Fühlen und Handeln nach den Not- wendigkeiten der Welt und der anderen Menschen zu richten, anstatt nach unseren eigenen Bedürfnissen. In den Märchen ist die vom Leib her bestimmte Seele oft im Bild der Stiefmutter dar- gestellt, die nach dem Geist strebende Seele als Jüngling oder Jungfrau, die durch den Geist veredelte und vom Geist geleitete Seele als König.2 Menschenbild Die anthroposophische Pädagogik beruht auf einem Menschen- und Weltbild, wel- ches davon ausgeht, dass jeder Mensch durch viele menschliche Inkarnationen hin- durch auf dem Weg ist, dieses Königtum zu erreichen. Vereinfacht gesagt verkörpert sich der Jüngling oder die Jungfrau nach diesem Weltbild meistens abwechslungswei- se einmal in einen weiblichen, dann wieder in einen männlichen Leib. Der Leib und die Familie, sowie alles, was dem Menschen zustösst als Umgebung, Begebenheiten und Begegnungen gehören dabei zur Aussenwelt, welche sich die Geistseele aufgrund der vergangenen Erdenleben für ihre Weiterentwicklung zurechtlegt. Bei der Konzeption verbindet sich, gemäss diesem Verständnis, das von den Eltern herrührende Leibliche mit der von Inkarnation zu Inkarnation wandernden Geistseele. Die Geistseele muss dann das Leibliche3 ergreifen und dieses nach den der Geistseele innewohnenden Impulsen umgestalten, beherrschen und das Vererbte überwinden lernen. Je mehr uns diese Beherrschung der «Aussenwelt» gelingt, desto mehr lassen wir uns von der Einsicht in die Zusammenhänge leiten, desto freier werden wir. 6
Methodik Die anthroposophische Pädagogik will aus Einsicht in dieses Zusammenwirken von Geistseele und Leib den jungen Menschen auf seinem Weg zur inneren Freiheit unter- stützen. Denn, ohne hier näher darauf eingehen zu können, kann dieser Weg auf zwei Arten erschwert werden. Die Geistseele kann sich zu stark oder zu wenig mit dem Leiblichen verbinden. Im ersten Fall steht das Denken ganz im Dienste der leiblichen Bedürfnisse, im zweiten Fall werden leibgesteuerte Handlungen ausgeführt, ohne dass das Denken involviert ist. Jegliche zu frühe und einseitig kognitive Denktätigkeit begünstigt das zu starke Verbinden der Geistseele mit dem Leiblichen, das Erlernen automatisierter, unkünstlerischer Bewegungsabläufe auf der anderen Seite begüns- tigt das Loslösen des Leiblichen vom Geistig-Seelischen. Bei aller Denktätigkeit hingegen, die mit innerer Anteilnahme, mit Interesse ausge- führt wird, wird der ganze Mensch, also auch das Leibliche, in Anspruch genommen. Bei jeder durch den Leib getätigten Bewegung, die bewusst ausgeführt wird und in einem Sinnzusammenhang steht, ist die Geistseele ins Leibliche integriert. Ziel des Unterrichts ist es, die Inhalte so aufzubereiten und zu vermitteln, dass immer einer dieser Aspekte oder beide abwechslungsweise zum Tragen kommen. Indem die Lehrperson sich mit diesen vielschichtigen Entwicklungszusammenhängen beschäf- tigt, eignet sie sich mit der Zeit das Gespür für die richtige Methodik im beschriebenen Sinne an. Sie begibt sich selbst auf den Weg zum inneren Königtum und kann so die nach geistiger Herrschaft strebende Kinderindividualität unterstützen. Jonathan Keller 1) Unsere heutigen Zustände in sozialer, politischer und ökologischer Hinsicht haben ihre Ursache in diesen naturgemäss sich einstellenden Seelenregungen. 2) n den Märchen wird für den geistigen Anteil der Seele das männliche (je nach Entwicklungsstufe Knabe, Jüngling, Mann, Greis) und für den gefühlsmässigen Anteil das weibliche Bild (Mädchen, Jungfrau, Frau) verwendet. 3) Es kann hier aufgrund der Kürze des Textes nicht berücksichtigt werden, dass das anthroposophische Menschenbild nicht nur vom phy- sischen Leib, sondern zusätzlich noch von unsichtbaren Leibern ausgeht. 7
Pädagogische Umsetzung allgemein und Blick auf die 1./2. Klasse Unser Lehrplan ist hundert Jahre alt. Kann das den heutigen Kindern gerecht werden? Dies sind Fragen, die häufig an die Rudolf-Steiner-Pädagogik gestellt werden. Mal ganz abgesehen davon, dass dies so faktisch nicht ganz stimmt, da stets Neuerungen in den Lehrplan eingeflossen sind, stellen wir Lehrpersonen uns doch immer wieder ähnliche Fragen. Wir versuchen zu unterscheiden, wo liebgewordene Traditionen eben nur alte Traditionen sind, die heute zu neuen Wegen aufrufen. Und gleichzeitig machen wir mit sehr vielen Inhalten dieses Lehrplanes die Erfahrung, dass ihre Wirkung so zeitlos positiv die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen anregt, dass wir sie gerne beibe- halten. Im Leitartikel beschrieb Jonathan Keller: «Jegliche zu frühe und einseitig kognitive Denktätigkeit begünstigt das zu starke Verbinden der Geistseele mit dem Leiblichen, das Erlernen automatisierter, unkünstlerischer Bewegungsabläufe auf der anderen Seite begünstigt das Loslösen des Leiblichen vom Geistig-Seelischen.» Es gilt also, in jeder Altersstufe immer neu die sich stets verändernde, bewegliche Mit- te zu finden zwischen zu früher Intellektualität und zu unkünstlerischer stereotyper Einübung des Lernstoffes. Das Zaubermittel, das auch die natürlich vorhandene Lern- freude erhält und weiter fördert, ist die Frage des Lehrers «Welche Unterrichtsinhalte vermittle ich, und wie vermittle ich den Lernstoff jeweils altersgemäss so, dass die Schülerinnen und Schüler sich sowohl gedanklich als auch mit ganzem Herzen damit verbinden können?» Rudolf Steiner gab den Lehrern den Tipp, darauf zu achten ob die Kinder und Jugendlichen im Unterricht rote Backen und glänzende (beim Jugendlichen interessierte) Augen bekommen oder ob sie eher blass werden. Dies gilt sowohl für die Methode des Unterrichtens wie für die Inhalte. Beides ändert sich natürlich deutlich im Laufe der vierzehn (Kindergarten eingeschlossen) Schuljahre. 8
Wenn in der ersten Klasse die Kinder in die «richtige» Schule kommen, ist ihre Lern- freude, sind ihre Erwartungen gross. Ebenso gross sind die Unterschiede in ihren kognitiven Kenntnissen und sozialen Fähigkeiten. Es bedarf eines wirklichen Erzie- hungs-KÜNSTLERS, diese bunte Schar zu einer freudig arbeitenden Klassengemein- schaft zusammenzufügen. Nach der ersten Formenzeichnenepoche beginnt die erste, sehnlich erwartete Schrei- bepoche. In ihrer bunten Schar findet die Lehrerin Kinder vor, die schon lesen können und andere, die mit grosser Sorgfalt langsam ihren Namen schreiben können. Hier gibt der Steinerschullehrplan nun eine grosse Hilfestellung, so dass alle Kinder mitge- nommen werden können auf die Entdeckungsreise des Schreiben- und Lesen-Lernens, – eine Reise, die wohlgemerkt auch für die Schülerinnen und Schüler spannend ist, die schon etwas lesen können. In der ersten und zweiten Klasse sind die Kinder noch in dem magischen Alter, in dem Märchen eine innere Realität sein können. Auch wenn der eine oder die andere zwei- felt, so lassen sich doch alle Erstklässler gerne in grosse märchenhafte oder erzählende Bilder ein. Diese altersgemässe Neigung greift nun der Lehrplan der ersten Klasse im Prozess des Schreiben- und im Anschluss dann des Lesen-Lernens auf. 9
Der Lehrer erzählt eine märchenhafte Geschichte, in der eine Gestalt besonders her- vortritt. Dann öffnet er die Tafel, auf der ein buntes Tafelbild mit Motiven der Ge- schichte zu sehen ist. Die Kinder staunen und zeichnen nun dieses Bild in das eigene Epochenheft. Die Gestalt, die in der Geschichte besonders hervorgetreten ist, – ein Tier, eine Märchengestalt, ein Mensch, ist natürlich an zentraler Stelle abgebildet. Der Charakter dieser Gestalt passt im Idealfall zum Buchstaben. Am nächsten Tag erleben die Kinder, wie aus dieser Gestalt der Buchstabe hervortritt: aus dem K wird der klare König, aus dem B wird der runde Brummbär und so weiter. Jeden Tag oder jeden zwei- ten Tag erscheint nun ein neuer Teil der Geschichte und ein neues Bild, aus dem am darauffolgenden Tag ein neuer Buchstabe erscheint. Mit Hingabe lauschen die Kinder der Geschichte und mit der Zeit wird mit Spannung geraten, welcher Buchstabe denn nun erscheinen wird. Auch die Kinder, die schon et- was lesen können, verfolgen mit Hingabe die Geschichten und das bildhafte Erschei- nen der Buchstaben, die auf diese Art ganz lebendig werden, zum Beispiel im Raum gehend, auf dem Boden liegend oder mit Wachs geformt. Das Üben der Buchstaben im Heft findet auf künstlerische Art statt: in vielen Farben und Grössen erscheinen das K oder das B im Heft im Anschluss an die jeweilige Zeich- nung. Die Buchstaben werden später auch in allen möglichen Varianten dargestellt und für die Kinder erlebbar gemacht. So finden wir hier ein Beispiel, wo Inhalt und Methode deutlich am Entwicklungsstand der Kinder abgelesen werden, wo aber dennoch viel Raum für die individuelle innere Beteiligung der ErstklässlerInnen und für die ebenso individuelle Gestaltungsmöglich- keit eines jeden Kindes vorhanden ist. Die im Leitartikel beschriebene und am Anfang des Artikels zitierte doppelte Gefahr des zu starken kognitiven Ansprechens der Schülerinnen und Schüler auf der einen Seite und des automatisierten Einübens der Buchstabengestalt z.B. durch Nachfahren von Pünktchen ist erfolgreich umschifft. Und alle Kinder sind von dem gesamten Ge- schehen erfüllt, unabhängig von ihren Vorkenntnissen. Vera Hoffmann 10
Entwicklungspsychologie und Unterrichtsinhalte in der dritten und vierten Klasse Dritte Klasse Um das neunte Lebensjahr herum findet bei den Kindern ein grosser Umbruch in ihrer Entwicklung statt. Waren sie bis jetzt noch seelisch eingebettet in das Gefühl, eins mit der Welt zu sein und in paradiesischer Weise genährt, umsorgt und geleitet zu wer- den, ohne etwas dafür tun zu müssen, so ändert sich dies nun. Das biblische Bild von Adam und Eva im Paradies und ihrer Austreibung aus demselben führt uns symbolisch vor, was bei jedem Menschen im Alter von ungefähr neun Jahren geschieht. Das Kind wird hier von einem Aufwachmoment, von einer neuen Sicht auf die Welt und auf sich selbst ergriffen, die dem Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis gleichkommt. Und so wie für Adam und Eva mit dem Biss in den Apfel ein neuer Bewusstseinszustand eintritt, so schwindet auch für die Kinder in diesem Alter das Paradies ihrer Kindheit dahin. Nicht selten durchleben sie in diesem Prozess Gefühle von Trauer, Verlust und Einsamkeit. Adam und Eva gleich, fühlen sie sich wie verstossen in eine Welt, die sie plötzlich ganz anders wahrnehmen als noch kurze Zeit zuvor. Der Lehrplan der Waldorfschule greift diesen Entwicklungsschritt der Kinder auf, in- dem er sie durch entsprechende Epochen, Tätigkeiten und Geschichten auf ihrem Weg in die Welt hinein begleitet. Das Ergreifen der Erde in all seiner Vielfalt, vom Bear- beiten des Bodens über den Bau von Behausungen bis hin zur Herstellung von Ge- brauchsgegenständen, Werkzeugen und vielem anderen mehr, was zum Leben und zur Arbeitserleichterung dient, steht jetzt im Vordergrund allen Tuns. Und die Kinder erleben dabei wieder einen neuen Zusammenhang zwischen sich selbst und der Welt, zwischen sich und den anderen Menschen, zwischen Himmel und Erde. Durch ihre eigenen Schöpferkräfte, die sie ab jetzt immer bewusster wahrzunehmen, zu schulen und einzusetzen imstande sein werden, spüren sie, dass sie doch nicht so «gottver- lassen» sind, wie sie es zeitweilig empfunden hatten. Wenn die Kinder zu Beginn der 3. Klasse von der Erschaffung der Welt, von Adam und Eva und von ihrer Vertreibung aus dem Paradies gehört haben, schliesst sich folgerichtig die Ackerbauepoche an. Die Kinder erfahren zunächst einiges theoretisch durch die Erzählungen und Darstellun- gen des Lehrers, die so lebendig und befeuernd durchgeführt sein sollten, dass sie zu Erwartung und Schaffensdrang führen und es alle hinaus auf den Acker drängt, um selber tätig zu werden. Was in der Ackerbauepoche durch das eigene Schaffen an Willens-, Gefühls- und Ge- dankenkräften angeregt wird, kann keine theoretische Darstellung alleine bewirken. Es zeigt sich hier wieder einmal deutlich, dass durch das eigene Tätigwerden der gan- ze Mensch angesprochen wird, wobei bei den Handwerksberufen und der Landwirt- schaft vor allem der Willensbereich gefragt und geschult wird. Aber auch der seelische Bereich des Fühlens wird angesprochen: Wie dankbar und erfüllt ist man doch, wenn nach harter Arbeit etwas Schönes und Gutes entstanden ist, wenn man etwas ge- 11
schafft hat. Ehrfurcht vor den Kräften der Natur, Dankbarkeit ihr gegenüber, das Ge- fühl, ein Teil der Welt, ein Mitschaffender zu sein – all das entsteht durch das eigene Tätigwerden. Und auch das Denken wird angeregt, indem man seine Arbeit beob- achtet, nachsinnt, wie sie besser gemacht, wie sie erleichtert werden kann, wie Be- dingungen des Materials, des Bodens, des Wetters, der Jahreszeiten, der Landschaft etc. in die Planung mit aufgenommen werden können oder müssen. Gerade heute, wo sich doch viele Bereiche des Lebens von der Natur und vom Ursprung entfernen, ist es umso wichtiger, Kinder nicht nur im neunten Lebensjahr Wirkliches, Wahres und Ursprüngliches erfahren zu lassen, um ihnen dadurch Halt und Sicherheit fürs Leben zu geben. Deutsch Grammatik 4. Klasse Auch in der vierten Klasse greift der Lehrplan den neuen Entwicklungsschritt der Kinder immer wieder auf. In der Menschenkunde Rudolf Steiners wird das neunte Lebensjahr als ein bedeut- samer Wendepunkt in der kindlichen Entwicklung geschildert. War das Kind bis zu diesem Zeitpunkt mit seiner Umwelt so verwoben, dass es sich als Teil dieser Welt empfand und dankbar und vertrauensvoll alles in sich aufnahm, was von aussen in es hineinwirkte, so wendet sich das Kind jetzt in ein bewussteres Sich- der- Welt- Gegen- überstellen. Es ist ein Ich-Erlebnis, das die Kinder in diesem Alter haben. Das Kind be- zieht es jetzt einen neuen Standpunkt. Die ganze Welt erhält von diesem neuen Platz aus eine andere Ansicht. Aufgabe der Eltern und der Lehrer ist es dem Kind zu helfen, Ordnung in das neue Weltbild zu bringen, um sich in neuer Weise mit Sicherheit in der Welt bewegen zu können. Auch den zeitlichen Ablauf der Geschehnisse nehmen die Kinder nun anders wahr. Aus diesem Grund beschäftigen wir uns genau zu diesem Zeitpunkt in der Grammatikepoche mit den verschiedenen Zeiten. Es ist wichtig, dass die Kinder nicht nur das grammatikalische Wissen erlernen, sondern dass sie auch ihr Lebensgefühl mit den verschiedenen Zeiten verbinden können. Unendlich gross ist die Zukunft. Die Kinder sollen ein Blick auf ihr kommendes Leben richten. Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, die noch vor ihnen liegen, sollen geweckt werden, damit sie mutig ins Leben hinausgehen können. Wie anders ist da die Vergangenheit. Auch das Leben der Kinder ist schon ein Teil der grossen Mensch- heitsgeschichte geworden. Doch müssen wir zwischen zwei verschiedenen Vergan- genheitsformen unterscheiden. Im Imperfekt/Präteritum sind wir nicht mehr unmit- telbar mit dem Ereignis verbunden. Wir haben uns von dem Geschehenen distanziert und können es frei schildern. Hingegen beim Perfekt schwingen Schmerz oder Freude bis in die Gegenwart hinein nach. Wir sind von dem Erlebnis noch betroffen. 12
In der Gegenwart aber sind wir mit unseren Gedanken im Hier und Jetzt. Nur einen Augenblick, ein Nadelöhr zwischen Künftigem und Vergangenem. Da wo wir uns innerlich befinden, ist immer Gegenwart. Formenzeichnen 4. Klasse: Das Formenzeichnen gestaltet die einzelnen Formen aus der kontrollierten Bewegung und dem Schwung der Zeichenhand. Die Linien sollen nicht gestrichelt werden, son- dern entstehen aus dem Fluss der sich immer neu wiederholenden Bewegung. Farbin- tensität und die Breite der Linie ergeben sich im besten Fall aus dem gleichmässigen Nachfahren der Formen. In der 4. Klasse kommt mit den Flechtbändern ein neues Element in das Formen zeichnen. Das Drunter und Drüber der Linien muss beachtet werden. Der Schwung wird in regelmässiger Form unterbrochen, um immer wieder erneut aufgenommen zu werden. Man kann sich nicht einfach mehr dem reinen Genuss der Bewegung überlassen, sondern hinzu kommt ein Bewusstseinsmoment: das Einhalten an der richtigen Stelle. Fährt man die Linie entlang, so wechselt das Drunter und Drüber ganz regelmässig ab. Äusserst befriedigend ist es für die Kinder zu bemerken, dass dies bei geschlossenen Formen am Ende immer aufgeht. Wenn nicht, so hat man irgendwo selbst den Fehler gemacht. 13
Bei den Flechtbändern wird also in das schöne Träumen der Bewegung das Element des Aufwachens gleichsam eingeflochten. Diese Qualität trifft genau die innere Ent- wicklungssituation des 9 –10 jährigen Kindes. In der Waldorfpädagogik bezeichnet man den Entwicklungssprung, den die Kinderseele in diesem Alter vollbringt, mit dem Begriff des Rubikons. Das Verhältnis von Welt und ICH wird vom Kind von nun ab in ganz neuer Weise empfunden. Geschichtlich tauchen die Flechtbänder in zahlreichen Variationen bei den Kelten, aber natürlich auch an vielen Kathedralen und Kirchen auf. Nicole Deschwanden 14
Das Zauberflötenprojekt Hier geben drei Schülerinnen einen persönlichen Einblick, wie sie die Zauberflöten-Zeit erlebten: Die Zauberflöte hatten wir schon in der 5.Klasse angefangen. Wir hatten viel mehr Musik als sonst, denn die Zauberflöte ist eine Oper. Da ich Musik mag, habe ich mich darauf gefreut. Bald kam jedoch der Lock-Down und wir konnten nicht mehr zur Schule gehen, also auch nicht mehr an der Oper weiterarbeiten. Als wir in der 6.Klasse wieder intensiver angefangen hatten an der Zauberflöte zu arbeiten, merkte ich erst, wie viel Geduld es brauchte, den einzelnen Stimmen zuzuhören (beim Singen). Bald kam die Rollenverteilung. Ich war gespannt, was ich für eine Rolle bekommen würde. Ich habe meinen ersten Wunsch bekommen. Darüber habe ich mich gefreut. Ich bin Papagena geworden. Bald kam die Intensivwoche. Wir übten und übten. Zu- erst ohne Kostüme. Sechs Mütter arbeiteten an Kostümen. Bald kam auch das Licht hinzu. Da wurde es heiss und stickig. Wir mussten immer wieder in die Kostüme hineinschlüpfen und anprobieren, was ging und was nicht. Mir zum Beispiel war das Kostüm viel zu eng, Wenn wir nicht singen, nicht Kostüme anprobieren und nicht spielen mussten, durften wir im Saal zuschauen gehen und Tipps geben. Oft war es auch schwierig, sich zu konzentrieren und ich wusste manchmal nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Bald mussten wir im Saal singen und merkten, dass es viel schwie- riger war als im Musikzimmer, denn es hallte. Nach langem Üben kam endlich alles zusammen. Das Singen, das Licht, das Schauspiel, die Kostüme und das Orchester. Die Aufführung rückte näher und näher. Es kam Hauptprobe und Generalprobe. Jeden Tag wurde ich aufgeregter, doch kurz davor war ich es gar nicht mehr. Und dann war sie da. Es machte Spass und ich genoss beide Aufführungen!!! L ara 15
Wir probten schon fast ein ganzes Jahr für die Zauberflöte, die Vorführung war Ende 5.Klasse geplant, doch dann kam der Corona-Lock-Down und wir mussten alles ver- schieben. So wurde die Aufführung auf den 1. Oktober angesetzt. Anfangs 6. Klas- se und vor den Sommerferien wurde je eine Woche intensiv geprobt, das war sehr anstrengend. Doch vorher wurden die Rollen verteilt, kurzum, die Rolle der Königin der Nacht war sehr beliebt. So stürzten wir uns mit der ersten Intensivwoche hinter uns in die Sommerferien. Nun hatten wir regelmässig Zauberflötenproben im Mu- sik- und Epochenunterricht. Die Zeit ging im Hui vorbei und schon war die Auffüh- rungswoche. Jetzt wurden nur noch die Bühnenbilder (Beleuchtung), die Kostüme und einzelne Szenen geprobt. Dann kam die erste Aufführung. Der Saal war voller Leute als wir eintraten. Die Ouvertüre begann und das ganze Stück lief so gut wie fehlerfrei durch bis am Ende. Als wir wieder in den Musiksaal kamen und das Licht anmachten, sahen wir eine Fledermaus, die kreuz und quer durch das ganze Zimmer flog. Wir machten das Licht wieder aus, es war stockdunkel, und so kam die Fleder- maus wieder aus dem Zimmer. Das Zauberflötenprojekt war sehr schön. Miara 16
Anfangs 5. Klasse fingen wir an die ersten Stücke von der Zauberflöte zu proben, im Frühling und Sommer übten wir noch intensiver am Singen, es machte immer mehr Spass. Eines Tages sagten Frau Brang und Frau Furrer, wir dürften unsere belieb- testen Rollen aufschreiben. Ich schrieb natürlich als Erstes Papageno auf, als Zwei- tes Papagena und als Drittes die Königin der Nacht. Die ganze Klasse konnte es fast nicht aushalten solange zu warten, denn Frau Brang sagte immer, wenn wir sie frag- ten, sie brauche noch eine Weile bis sie ganz sicher sei, wer welche Rolle bekommt. Endlich kam dieser Tag bei dem wir es wissen durften, wer welche Rolle bekommt. Mein Herz raste sehr fest als sie sagte, Annik, Lorin, Nell und Raquel sind Papageno. Ich freute mich natürlich sehr darüber. Langsam rückten die Sommerferien näher und wir bekamen ein Text-Büchlein geschenkt. Denn über die Sommerferien durf- ten wir den Text lernen. Nach den Ferien hatten wir etwa noch 7 Wochen bis zu der Aufführung. Ich übte viel, bis dann auch noch das Lager dazwischenkam. Nach dem Geologie-Lager ging es wieder weiter mit dem Proben. Etwa 2 Wochen vor der Auf- führung spielten wir den ersten Durchlauf auf der Bühne (ohne Kostüm). Es war sehr stressig und zum Teil konnte ich mich fast nicht mehr konzentrieren, weil wir nur noch jeden Tag Zauberflöte hatten. Eine Woche vor der Aufführung wussten schon fast alle Kinder wo auftreten und wo abgehen, und auch die Kostüme waren bereit für den ersten richtigen Durchlauf. Der Durchlauf klappte fast ohne Unterbrechung. Ich freute mich schon auf den Montag, denn dann sollte auch noch das grosse Or- chester dazu kommen und das Licht. Es kamen auch die Oberstufen-Schülerinnen dazu. Wir probten täglich von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr, und auch am Nachmittag probten wir noch einzeln oder auch gruppenweise. 17
Die Vorführung rückte immer näher, ich freute mich immer mehr darauf, zum Glück bin ich jetzt bei allem sicher, dachte ich. Es war Donnerstagmorgen vor der letzten Probe, die wir noch hatten, ich sagte meinen Text immer wieder vor mich hin, denn ich hatte Angst, dass ich ihn vergessen werde. Ich schaute noch ganz schnell nach, ob alle meine Gegenstände am richtigen Ort waren, und danach konnte es losge- hen. Nach der letzten Probe hatte ich ein gutes Gefühl und auch als ich wieder um 16.15 Uhr in die Schule kam, hatte ich noch immer ein gutes Gefühl. Aber 10 min. vor der Aufführung, als ich meinen Trauben-Zucker ass, kam die Aufregung. Ich war noch nie so fest aufgeregt wie heute, dachte ich. Als wir auf die Bühne liefen, hatte ich ein gemischtes Gefühl von Stolz und Aufregung. Als auch schon die zweite, das heisst die allerletzte Aufführung vor der Tür stand, fand ich es ein bisschen traurig, denn wir werden diese Lieder nur noch einmal singen. Auch noch heute kommen mir diese Lieder wieder in den Sinn, wenn ich zum Beispiel am Morgen aufwache. Es war sehr, sehr cool. Raquel 18
Spagetti mit den Füssen essen? ... zum Geometrieunterricht ohne Wandtafel ... Wer hat es gemerkt? Bei der provokativen Überschrift geht es um einige Erfahrun- gen mit Heimunterricht oder `Homeschooling´ im März 2020. Als ich mir Gedanken machte, wie ich diese Epoche beschreiben könnte, kam mir ein Erlebnis in den Sinn, welches mich tief beeindruckt hatte: Bei meinem Lieblingsitaliener kamen drei junge Männer ins Lokal und nahmen am Nachbartisch Platz, zwei auf Stühlen, der dritte auf der durchgehenden Sitzbank beim Fenster. Als die drei sich hinsetzten, erkannte ich erst, dass dem Mann auf der Sitzbank die Arme fehlten. Beide Schultern endeten mit einem kurzen Stumpf des Oberarmes. Als dieser jedoch seine Spaghetti bekam, zog er elegant die Schuhe und Socken aus, legte in gelenkiger Manier seine Waden auf den Tisch und nahm das Besteck in seine Füsse. Mit zielsicheren, präzisen Zehenbewe- gungen versetzte er mich in ein Staunen. Er genoss seine Mahlzeit mit einer Anmut und Gelassenheit, als hätte er nie etwas anderes getan. Zweifellos konnten sich die Füsse dieses Mannes aus einem starken Bedürfnis nach Selbstständigkeit zu solchen feinmotorischen Präzisionswerkzeugen entwickeln. Diese kleine Geschichte kann als Metapher gelten für das Gefühl, welches man als Lehrer hat, wenn man sein Handwerk nicht mehr direkt an der Wandtafel, sondern nur über Umwege ausführen darf. Sie führt uns aber auch zu einem Kernthema der 6. Klasse. Durch präzises Aneinanderreihen von sorgfältig gezeichneten Absichten erarbeiten wir uns neue feinmotorische Fähigkeiten. 19
Die gezeichneten Konstruktionen können wir auch beurteilen und unsere Urtei- le schlüssig beweisen. Ein Wahrheitserlebnis für die Schüler! Die Kinder wollen in diesem Alter logische Zusammenhänge selbst erkennen lernen. Linientreue ist hier ebenso wichtig wie den Punkt zu treffen. Einen Startpunkt zu definieren, dafür aber vorausschauend genügend Platz zu reservieren, wird zur Herausforderung. So kann der Blattrand auch einmal zur lehrreichen Grenzerfahrung werden. Hier bietet der Geometrieunterricht ein weites Lernfeld – ein sicheres, verlässliches Land voller Wahrheiten, welches sich nicht willkürlich durch Sympathie oder Antipathie manipu- lieren lässt. Beim Zeichnen kann sich der Unterrichtsstoff, im Gegensatz zu den sel- ten geliebten Textaufgaben, nun Schritt für Schritt allmählich in ein Bild verwandeln, welches neben der Wahrheit auch noch dem Schönheitssinn gerecht werden kann. In diesem Alter sollte man sich nicht scheuen, den Kindern Aufgaben zu geben, welche sie als schwer empfinden, man darf sie aber auch nicht alleine damit stehen lassen, denn die oft sehr niedrige Frustrationsschwelle will behutsam angehoben werden. Ist ein Kind überzeugt: «Das kann ich nicht!», kann man eine Türe öffnen, indem man das Wörtchen ´noch´ in seinen Satz einfügen lässt. Besonders in diesem Fach stellt eine weitere Hürde die unterschiedliche Arbeitsgeschwindigkeit und Feinmotorik der einzelnen Schüler dar. Dies war ein wesentlicher Vorteil des Heimunterrichtes, denn 20
vermutlich hat die Schulschliessung im letzten März viele Menschen kalt erwischt., auch mich als Geometrielehrer. Eine Woche vor Epochenbeginn wurde die Schule ge- schlossen und es mussten die Fragen gestellt werden: «Wie soll am nächsten Montag Geometrie von zuhause aus unterrichtet werden? Welche pädagogischen Kernele- mente dürfen nicht fehlen und auf was kann verzichtet werden?» Wichtig war für mich, durch die Art der Gestaltung des Heimunterrichtes ein sicheres und vertrautes Umfeld zu schaffen und dabei immer wieder die Möglichkeit anzu- bieten, Versäumtes aufzuholen – Niemand sollte den Zug verpassen, auch wenn er mal ein paar Tage pausiert hatte. Ein weitere, selbstauferlegte Regel war, dass alle Ar- beitsanweisungen zeitlosen Charakter bekommen sollen, also sozusagen `virenfrei´ sind – nur Geometrie! Also zeichnete ich die Aufgaben in erklärender Weise Schritt für Schritt in mein Epo- chenheft und filmte das Ganze von oben mit einem Stativ. So konnten die Schüler meine Stimme hören und meine zeichnenden Hände sehen. Jede Lektion solle in möglichst gleicher Kamereinstellung starten, mit einem kurzen Rückblick und einer kleinen Vorausschau was noch kommt. Die Eltern bekamen pro Lektion eine eMail mit den aktuellen und vergangenen Web-Links zu den Aufgabenvideos und den Übungs- blättern zum Ausdrucken. Zudem gab es auch einen Link zu einem Ordner mit Zu- satzaufgaben, was von einigen Schülern auch genutzt wurde. Gemachte Arbeiten konnten per Foto oder Scan an mich zurückgesendet werden. Jeweils bei der nächs- ten Lektion bedankte ich mich für alle bisherigen Einsendungen. Zudem konnten alle ihre Arbeitsfortschritte täglich per Online-Umfrage rapportieren und so entstand für alle Beteiligten ein recht guter Überblick vom ´Klassenfortschritt´ und befriedigte nebenbei den für dieses Alter typischen Wettbewerbswunsch. Viele Schüler nannten die flexible Arbeitszeit als deutlichen Vorteil des Heimunterrichtes. Es war toll, den Lehrer einfach anhalten zu können, wenn es zu schnell ging, aber das Vermissen der Klassengemeinschaft wurde von den meisten Schülern als der grösste Nachteil dieser Unterrichtsform genannt. Zudem sind andere Fächer nicht so gut ´online-tauglich´ und ich froh bin, wieder in der Schule unterrichten zu können. Martin Heiss 21
Links oben die Overhead-Kamera … und rechts der Videoschnittplatz Zum Epocheninhalt: Zuerst freundeten wir uns beim Zeichnen einfacher Kreisfiguren mit dem Zirkel an und weckten dann unsere Vorstellungskräfte anhand einfacher räumlicher Darstellungsübungen mit gleichzeitigem Einsatz von zwei Geodreiecken. Dies übten wir ausführlich. Zudem begannen wir mit der Gestaltung eines Deckblat- tes für das neu angelegte Epochenheft. Dann übten wir das vorausschauende Platzie- ren der herzustellenden Zeichnung und das präzise Anlegen einer Hilfskonstruktion. Begriffe wie Radius, Durchmesser, Sehne, Tangente, Sekante, Segment und Sektor wurden eingeführt. Ebenso erforschten wir den Zusammenhang zwischen Radius und Kreisumfang. Danach lernten wir die richtige Benennung der Seiten, Ecken und Win- kel von Dreiecken kennen und erinnerten uns auch an deren Sonderformen. Winkel mit 60° und 90° wurden mit dem Zirkel konstruiert, also auch die Winkelhalbierende. Es folgte die Inkreis- und Umkreiskonstruktion am Dreieck und der Satz des Thales. Neben der 6er- bzw. 12er-Kreisteilung lernten wir abschliessend auch die 5er- und 7er-Kreisteilung mit dem Zirkel kennen. Ein Üben verschiedener Strategien zur Be- rechnung von Gesamtflächen aus mehreren zusammengesetzten Teilflächen rundete diese Epoche ab und leitete wieder über zum Wochenrechnen. 22
Arbeiten aus dem Geometrieunterricht, 6.Klasse 23
Biographiearbeit und Temperamentsepoche in der 8. Klasse – ein kollegialier Austausch zwischen Marion Mühlebach und Vera Hoffmann Vera: Marion, du hast als 8.-Klasslehrerin die Aufgabe bekommen, mit den Achtkläss- lern die Biographiearbeit vorzubereiten. Wie ist es dir damit gegangen? Marion: Es ist für die Schülerinnen und Schüler in diesem Alter eine gute und wohltu- ende Aufgabe, sich mit der Biografie eines Menschen zu befassen, der eine Vorbild- funktion hat und der etwas Herausragendes für seine Zeit und die Menschen getan hat. Ich finde es eine tolle Aufgabe und habe es gerne in die Klasse getragen, auch die gemeinsame Suche danach, welche Menschen geeignet sind für diese Arbeit, weil die Lernenden sich doch sehr mit diesen Menschen auseinandersetzen. Sie lesen das Buch, sie schreiben darüber, sie zeichnen – also es ist eine intensive Aus- einandersetzung mit dem jeweiligen Menschen. Hat es Fragen gegeben, ob Schüler eine Biografie bearbeiten können von Menschen, die du vielleicht nicht so vorbildhaft erlebst? Ja, da hat es wenige gegeben. Ich habe das aber im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern klären und eine Alternative finden können, die jetzt auch zufriedenstel- lend ist für die betreffenden Schülerinnen und Schüler. Wie erlebst du 14-Jährige? Man könnte ja diese Biographiearbeit auch in der sechsten Klasse machen oder in der zehnten… Hast du den Eindruck, dass sie für die Achtklässler besonders bedeutsam ist? Es ist ein Alter, in dem die Schüler sich sehr um sich selber drehen, sehr beschäftigt sind mit sich selber und ihrem näheren Umfeld, ihrer Peergroup. Es kann sehr hilfreich sein, wenn ihnen in dieser Situation jemand den Horizont erweitert – vielleicht auch in ein Gebiet hinein, was sie gar nicht so kennen, ihnen einfach neue Optionen und Welten öffnet auf eine positive Art und Weise, die wirklich inspirierend und kräftigend für sie sein kann. In der englischen Sprache nennt man das «Rolemodel», also ein Vorbild, das in der Pädagogik den Jugendlichen helfen kann zu sehen, dass man sich auch stark für das Wohl Anderer einsetzen kann. Ich fand das als Klassenlehrerin immer sehr hilfreich. Ich habe mit den Schülerinnen und Schülern wenig darüber gesprochen, warum wir diese Aufgabe stellen. Ich hatte aber am Ende der Deutschepoche über die mensch- lichen Temperamente die Frage gestellt, was sie meinen, warum die Temperamen- tenepoche in der achten Klasse sinnvoll ist. Und einige Schüler hatten geantwortet, 24
dass sie glauben, dass wir das machen, weil man jetzt sich selber und sein Umfeld besser kennenlernen und einschätzen könne. Dass man besser verstehen könne, wa- rum manche Menschen auf welche Art reagieren, wenn man darüber Bescheid wisse. Was hast du unterrichtet in der Temperamentenepoche? Das Ziel war, die vier Temperamente gut kennenzulernen. Es ist eine sehr humorvolle und spielerische Epoche gewesen. Wir haben die Temperamente auch schauspiele- risch dargestellt und dabei nach und nach herausgeschält, worum es bei diesen vier Temperamenten geht. Und wir haben dann auch weiter gefragt, – zum Beispiel: wie ist denn der Schreibstil des Vertreters eines jeweiligen Temperamentes. Ich habe ver- schiedene Aufgaben gestellt, wo sie dann in ein Temperament hineinschlüpfen muss- ten, sich hineinfühlen mussten und aus dieser Perspektive heraus argumentieren mussten. Oder sie mussten Texte daraufhin analysieren, welcher Schreibstil das ist. Wie ist der Satzbau? Wie wird eine Begebenheit geschildert von Vetretern des jewei- ligen Temperamentes? Haben die Schüler sich auch ein bisschen selber erkannt, etwas gemerkt, wohin sie gehören? Das habe ich während der Epoche weniger wahrgenommen, mehr so, dass sie das Umfeld beobachteten. Sie kamen dann und bemerkten, welcher Lehrer zum Beispiel mehr cholerisch ist. Sie haben weniger sich selbst erkannt – höchstens sich gegen- seitig. Wo stehen eigentlich die anderen und wieso sind die so, – das waren mehr die Fragen. Ich glaube, dass das auch noch ein bisschen früh wäre, ein solcher Selbsterkenntnis- prozess. Der kommt wirklich – meine ich – später. In der 8. Klasse geht es hauptsäch- lich darum, dass sie eben die Perspektive auf die Welt und auf das Leben erweitern. Ich habe deshalb auch nicht angeregt bei den Schülern, dass sie sich selbst reflek- tieren. Ich gab mehr so Aufgaben, wo sie am Bahnhof beobachten sollten, wie Men- schen gehen, um anschliessend zu überlegen, welches Temperament das sein könnte. Ich habe also – wie gesagt – mehr den Blick nach aussen angeregt. Und das könnte ich mir eben vorstellen, dass dies bei der Biografiearbeit auch geschieht, dass sie einen wichtigen Impuls von aussen bekommen, zum Beispiel für die Frage welchen Berufs- weg sie eines Tages gehen. Und dass sie in diesem Alter wichtige Anregungen bekom- men für den nächsten Entwicklungsschritt und auch Empathie entwickeln können, wenn sie sich so stark mit der Biografie eines Menschen verbinden. 25
Rudolf Steiner hat ja gesagt – und das erleben wir auch, dass dieses Alter eigentlich das Alter ist, in dem die grossen Jugendideale geboren werden. Und es solle dann die Aufgabe sein von uns Lehrern, diese zu pflegen und in die richtigen Bahnen zu lenken. Steiner hat als Alternative dazu gestellt, dass diese Jugendideale schnell in verschiedene, eher schwierige Richtungen entgleisen können, wenn sie keine erfül- lende Nahrung finden. Ja, und ich finde sie haben jetzt ganz spannende und vorbildhafte Biografien gewählt. Ich bin ganz glücklich mit dem Angebot, was sie wahrgenommen haben. Es gibt sogar einige, bei denen ich das Gefühl habe, sie müssen sorgfältig mit diesem, teils belas- tenden Material umgehen, zum Beispiel bei der Biografie von Sophie Scholl oder Graf Stauffenberg, der das Attentat auf Hitler gemacht hat. Ich habe auch die Eltern gebe- ten, sie sollen darauf achten, wie es dem Kind damit geht. Es sind ja sehr dramatische Biografien, von denen ich denke, dass es auch sehr ans Eingemachte gehen kann. Man liest es ja nicht nur, sondern man schreibt es und zeichnet dazu. Aber gerade die Beispiele Graf Stauffenberg und Sophie Scholl sind stellvertretend für die Geschichte der neueren Zeit. Es ist ja Teil des Lehrplanes, mit dem Geschichtsun- terricht bis in das 20. Jahrhundert zu kommen. Man wird dann auch das Dritte Reich behandeln und für die achte Klasse ist es eigentlich ein sehr toller Ansatz, wenn man die Geschichte anhand von Biografien bearbeitet. Es handelt sich dann eher um Stim- mungsbilder, der detailliertere Überblick kommt dann in der Oberstufe. Ich habe in meinen achten Klassen die mündlichen Darstellungen der Referate zu den Biografiearbeiten als wesentlichen Teil der Geschichtsepoche integriert. Ich habe da- bei die Geschichtsepoche bis in die Moderne geführt anhand dieser Biografiearbeiten der Schülerinnen und Schüler. Ich erinnere einen Schüler, der dabei eine ganze Stun- de lang die Biografie des Indianerhäuptlings Geronimo erzählte. Daran konnten wir dann die ganze Geschichte der indigenen Bevölkerung Nordamerikas aufgleisen. Es war immer interessant, zu sehen, wen sich die Schülerinnen und Schüler auswählten. Ja, ich habe den Achtklässlern in der Vorbereitung Kurzbiographien vorgelesen und einen Büchertisch mit entsprechenden Biografien vorbereitet. Es ist für mich selbst auch spannend gewesen, wie sie so in ein Staunen gekommen sind und bei jeder Kurzbiographie ist wieder eine Diskussion entstanden … was Menschsein alles bedeuten kann … 26
Oh ja, was es alles für spannende Biografien gibt. Sehr interessant fanden sie auch Temple Grandin, eine Frau mit Autismus Spektrum Störung, die eine extrem span- nende Biografie hat. Temple Grandin hatte sich schon als Kind eine Maschine gebaut, die ihren ganzen Körper gedrückt hat, weil sie gemerkt hat, dass sie sich dann wieder entspannen kann. Menschen mit Autismus Störung können ja die ganzen Sinnesein- drücke nicht filtern und sind einfach total überwältigt, kommen dann in einen Stress. Kannst du abschliessend sagen, was du sonst noch als so richtig gute Epoche für die Achtklässler erlebst? Ich kann da nur von meinen Fächern reden. Martin Heiss unterrichtet ja die naturwis- senschaftlichen Fächer. Ich habe den Eindruck gehabt, dass die Temperamentenepo- che wirklich genial ist für dieses Alter und die Schüler selbst haben auch erlebt, dass sie eine sehr gute Vorbereitung für das Achtklasstheater ist. Ich denke, dass auch das Achtklassspiel in diesem Alter sehr wichtig ist, das Sich- Einfühlen in eine andere Figur, das sich Hereindenken und persönliche Hemmungen überwinden … Danke, Marion, für diesen anregenden Austausch. Ich freue mich auf euer Acht- klasstheater. Marion Mühlebach und Vera Hoffmann 27
7. Klasse Eurythmietheater, die Schildbürger, die jetzige 8. Klasse 28
Entwicklungspsychologische Gesichtspunkte zur OST Ein wesentliches Anliegen der Oberstufenpädagogik ist es, die Entwicklung der Urteilskraft des jungen Menschen zu begleiten und mit passenden Inhalten zu un- terstützen, sodass er am Ende der zwölf Schuljahre zu einem eigenständigen Urteil findet, unabhängig vom Urteil Anderer. Während der Neuntklässler in der Urteilsbildung noch ganz praktisch und sehr an sei- ner eigenen Befindlichkeit und der der Peergroup orientiert ist, strebt der Zehntkläss- ler mehr nach Orientierung an den grossen Zusammenhängen der Welt. Die urteilende Bewegung des Elftklässlers richtet sich im nächsten Entwicklungs- schritt zunehmend nach innen. Immer wichtiger werden die Fragen nach der eigenen Identität und dem individuellen Lebensweg. Grössere Objektivität im Fühlen möch- te nun geübt werden. Geeignete Unterrichtsinhalte und eine passende Darstellung können die Beweglichkeit im Denken fördern. In der 12. Klasse verdichten sich die Fragen und Themen des Elftklässlers immer mehr zur Beziehung zwischen diesen Urbildern des Lebens und der eigenen Aufgabe. Wie wirke ich als Einzelner auf die Welt? Was und wo ist mein eigener Standpunkt? Welches Urbild des Menschseins möchte ich leben? Die Unterrichtsinhalte sind direkt oder indirekt eine als Überschau und integrierende Zusammenfassung der zwölf vergangenen Schuljahre. Wie begleitet man in der heutigen Zeit die Bildung einer unabhängigen und selbst reflektierten Urteilsfähigkeit? Immer wieder bewegen uns Lehrer die Suche nach passenden und unterstützenden Lehrplaninhalten und die Frage, inwiefern die klas- sischen OST-Lehrplaninhalte noch für heutige Oberstufenschülerinnen und -schüler passen oder Ergänzung benötigen? Im Folgenden finden Sie ein Beispiel aus dem Deutschunterricht der 11. Klasse. Unsere Deutschlehrerin trat einerseits mit dieser Frage an das klassische Elftklassthema des «PARZIVAL» heran und schildert ihre Erfahrungen. Sie integrierte anschliessend auch Gegenwärtiges in das Parzival-Thema des Ringens mit seelischen Fragen, zum Beispiel der Empathie, des Mutes und der Wahrheit. 29
Erfahrungen in der Parzivalepoche 11. Klasse Bericht aus der Deutschepoche Parzival 11. Klasse Heftigen Protest gegen diesen mittelalterlichen Text des Parzival als Gegenstand un- serer Deutschepoche in der 11. Klasse erwartend, betrat ich am Montagmorgen nach den Herbstferien das Klassenzimmer. Gewappnet mit einem Arsenal an Argumenten für diesen nicht gerade einfach zugänglichen Text, begannen wir die Epoche zunächst damit, bekannte Motive aus der Grals- und Artusepik zu besprechen. Dank der Viel- falt der Sagen, Märchen und Legenden, die den Schülern und Schülerinnen noch aus der Unterstufe bekannt waren, konnten wir recht schnell Anknüpfungspunkte finden und dann in den Entstehungszusammenhang des Versepos aus dem Jahre 1210 von Wolfram von Eschenbach eintauchen. Die Revolte blieb aus: Ich konnte getrost meine Waffen einpacken und wir fanden unseren ersten gemeinsamen Einstieg in den Text anhand der welt- und geistesgeschichtlichen Einflüsse, die ihn mitgestaltet haben. Weltgeschichtlich prägen ihn die Kreuzzüge und das höfische Leben zu Zeiten der Stauferdynastie, geistesgeschichtlich die verschiedenen Einflüsse aus vorchristlichen Mythologien sowie aus Grundmotiven der christlichen Religion, die hier verwebt und in Form der Lebensgeschichte des «tumben Tors», des anti-Helden Parzivals auf- treten. Als naiver junger Mann, der von seiner Mutter von den Realitäten der Welt behütet und ferngehalten worden ist, beschliesst Parzival, die Geborgenheit aber auch die Enge der mütterlichen Welt zu verlassen und Ritter zu werden. Bekleidet in einem Narrenkostüm als Ritterrüstung beginnt er seine von Rückschlägen, Fehlern und Versäumnissen geprägte Entwicklung von kindlicher Naivität und Unwissen zum Hüter und Herrscher des Grals, des Repräsentanten der Kraft geistigen Lebens, aber geistigen Lebens durch sozial motivierte Handlung. In der von strengen Verhaltens- normen geprägten Welt der Kreuzritter und des höfischen Lebens wendet Parzival das äusserlich Gelernte zunächst unreflektiert an und scheitert kläglich. Aber genau das Scheitern, das Zweifeln und das Suchen befähigt ihn zur Selbstreflexion. Somit gelingt es ihm, den kranken Gralshüter Anfortas durch Empathie zu erlösen. Diese soziale Haltung der Zugewandtheit, ausgedrückt durch die simple Frage, an was er leide, heilt Anfortas und er übergibt das Amt des Gralskönigs an Parzival. Individuelle Selbstreflexion auf der geistigen Ebene und soziale Zugewandtheit in der materiellen Welt sind also die nährenden Kräfte, die Parzival durch seinen Weg findet. Im Anschluss an Parzivals Geschichte befassten wir uns mit einer 800 Jahre jüngeren Geschichte: dem Film «Die Matrix» aus dem Jahre 1999. Er zeigt die Zukunftsvision einer Welt, in der sich die von den Menschen angelegte künstliche Intelligenz ver- selbstständigt hat. Die als Batterien für die Maschinen benutzten Menschen haben jedoch kein Bewusstsein ihres wahren Lebens, da ihr Bewusstsein eine computerge- nerierte Simulation des Lebens ist. Diese Simulation ist die «Matrix», eine Hyperreali- tät. Parzival ähnlich geht ein junger Computerhacker seinen Fragen nach und schafft es nach vielen Versuchen, die Matrix zu manipulieren und somit die Menschheit von der Herrschaft der Maschinen zu erlösen. 30
Daraufhin entstanden interessante Fragen: Ist die Matrix vielleicht ein «Anti-Gral»? Ist Neo, der Hacker, ein moderner Parzival? Was unterscheidet die beiden Helden? Sind sie eigentlich Helden, oder sind sie einfach Menschen, die ihren inneren Fragen nachgehen und sie handelnd umsetzen? Hat also jeder Mensch seinen «Gral»? Alle Fragen sind noch nicht beantwortet, die Epochenhefte sind noch nicht fertigge- stellt, aber sicher ist, dass selbst eine mittelalterliche Geschichte aktuell sein kann und viel Stoff zum Nachdenken liefert! Vera Putman Die Oberstufenschüler auf dem Bau 31
Aus dem Schulführungsteam Nachdem im vergangenen Herbstbrief drei Mitglieder des Schulführungsteams aus den Ressorts Pädagogik, Organisation und Administration und PR/Zukunft berichte- ten, folgt nun der Bericht aus dem vierten und fünften Ressort Personal und Finanzen. Wie schon im Herbstbrief wird auch hier der frische Wind spürbar, der unsere Schule aktuell trotz Corona durchweht. Aus dem Ressort Personal Im Ressort Personal zu arbeiten, heisst zur Zeit vor allem das Schuljahr 21/22 in An- griff nehmen. Welche Stellen sind neu zu besetzen? Wo steht ein Wechsel an? Wie werden wir die 11. und 12. Klasse führen? Welche Fächer können zusammengelegt werden, welche nicht? Ebenso dazu gehört die Planung des 13. Schuljahres zur Ma- turavorbereitung für das SJ 22/23. Es ist eine äusserst komplexe Angelegenheit, die viele Gespräche und Abklärungen erfordert, da Pensen, Lehrpersonen, Stufen, Fächer, Stunden- und Epochenplan sich gegenseitig bedingen und in einem rollenden Pro- zess fortwährend einander angepasst werden müssen. Quasi vom Himmel sind uns zwei junge Kolleginnen gefallen, kaum haben wir den Wunsch nur leise gedacht. Sie unterstützen uns nun als Assistenzen und als Springe- rin für Vertretungen und stellen sich in diesem Heft auch vor. Überhaupt hat sich das Kollegium verjüngt und mit Elan und frischem Enthusiasmus packen alle die Aufgaben an. Die jungen Kolleginnen und Kollegen bringen neue Kom- petenzen mit, die in die pädagogische Arbeit einfliessen und uns Alte staunen lassen. Wir freuen uns über die jugendlichen Kräfte, die neuen Schwung und eine freudige Aufbruchsstimmung verbreiten. Die neuen Impulse machen Mut und tragen weit in die Zukunft hinein. Aus dem Ressort Finanzen Zu der Komplexität der verschiedenen Ebenen aus dem Ressort Personal, kommt im Ressort Finanzen noch die pekuniäre Ebene dazu. Das Budget für das Schuljahr 21/22 ist in der Planung. In enger Zusammenarbeit mit Michael Hoffmann aus der Geschäftsstelle und Karen Peterka aus dem Bereich Elternfinanzen werden die Zahlen aufgestellt und abgewogen. Dabei müssen Wünsche und Bedürfnisse seitens der Schule, des Einzelnen und der Möglichkeiten der Eltern abgewogen und in ein gutes Gleichgewicht gebracht wer- den. Durch die hohe Professionalität, die beide – Karen und Mike – mitbringen, gestal- tet sich unsere Zusammenarbeit äusserst fruchtbar und produktiv. Der Blick in die fernere Zukunft wird in einem Fünfjahresplan soweit wie möglich sichtbar gemacht. Momentan zeichnet sich erfreulicherweise eine positive Entwicklung in Richtung eines Wachstums von Eltern und Schüler ab. Das macht ebenfalls Mut. Franziska Zippiger 32
Sie können auch lesen