Winter 2020 - Was sind unsere Grundlagen? - Rudolf Steiner Schule Zürcher Oberland

Die Seite wird erstellt Wolfger Noack
 
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Was sind unsere Grundlagen?

              Winter 2020

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Die Rudolf Steiner Schule Zürcher Oberland
    wurde 1976 als politisch und konfessionell unabhängige Schule begrün-
    det und steht als solche allen Bevölkerungskreisen offen. Das Lehrerkol-
     legium, als im pädagogischen Bereich autonomes Gremium, orientiert
    sich in seinen erzieherischen Zielsetzungen an der geisteswissenschaft-
         lichen Welt- und Menschenerkenntnis Rudolf Steiners – an der An-
      throposophie. Die Aufnahme von Kindern erfolgt nach pä­da­go­­gischen
     Gesichtspunkten und liegt in der Verantwortung des Lehrer­kollegiums.

               Die Freie Schulvereinigung Zürcher Oberland
      ist der rechtliche und wirtschaftliche Träger der Schule. Mitglied kann
        werden, wer den Bestand und weiteren Ausbau einer Rudolf Steiner
     Schule im Zürcher Oberland in freier Trägerschaft mitunterstützen will.
     Die Statuten der Vereinigung sowie eine Beitrittserklärung sendet Ihnen
                             gerne der Vorstand der Freien Schulvereinigung
                                            Usterstrasse 141, 8620 Wetzikon

                                                     Die Mitteilungen
     erscheinen zweimal im Jahr und wollen der Bildung eines gemeinsamen
        Bewusstseins aller an der Schule Beteiligten sowie dem für das Leben
          unserer Schule unerlässlichen Informationsfluss dienen. Sie werden
                                           auch an Interessenten abgegeben.
     Beiträge zur Deckung der Druck- und Versandkosten erbitten wir auf das
                                                 Postcheckkonto 87-3246-9.

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Nr. 179 / 45. Jahrgang        				                                 Erscheint neu 2x jährlich

Themen in unseren Mitteilungen

Redaktionelles						Vera Hoffmann
Hintergründe unserer Pädagogik				                Jonathan Keller
Pädagogische Umsetzung allgemein
und Blick auf die 1./2. Klasse				                Vera Hoffmann
Umsetzung in der 3./4. Klasse				                 Nicole Deschwanden
Das Zauberflötenprojekt					                      Schülerinnen der 6. Klasse
Geometrie in der 6. Klasse				                    Martin Heiss
Biographiearbeit und Temperamentsepoche 8. Klasse
         – Ein Arbeitsgespräch mit			             Marion Mühlebach
Entwicklungspsychologische Gesichtspunkte zur OST
Erfahrungen in der Parzivalepoche 11. Klasse		    Vera Putman
Bericht aus dem Schulführungsteam			              Franziska Zuppiger
Bericht aus dem Vorstand
Vorstellung neuer Mitarbeiter
							Jonathan Keller
							Lea Keller
							Erin Day
							Hannah Götte
							Yasmin Widmer
							Lukas Wissler
							Florian Wepfer
Verabschiedung Astrid Furger				Michèle Truog

Mitteilungen der Rudolf Steiner Schule Zürcher Oberland
Herausgeber:         Lehrerkollegium der Rudolf Steiner Schule, Vorstand der
                     Freien Schulvereinigung Zürcher Oberland und Eltern
                     Usterstrasse 141, CH–8620 Wetzikon
                     Tel. 044 933 06 20, Fax 044 933 06 24
                     E-Mail: info@rsszo.ch, www.rsszo.ch
Redaktion:           Vera Hoffmann
Layout:              Lisa Küenzi, Alinéa AG
Druck:               Alinéa AG, Oetwil am See
Redaktionsschluss:   Sommer 2021: 14. Mai 2021
Inhaltliche Verantwortung für die Beiträge und alle Rechte bei den Autoren.
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Wir brauchen nicht so fortzufahren ...

       Wir brauchen nicht so fortzuleben,
          wie wir gestern gelebt haben.
    Machen wir uns von dieser Anschauung los,
          und tausend Möglichkeiten
         laden uns zu neuem Leben ein.

                 Christian Morgenstern

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Redaktionelles
 Liebe Freunde, liebe Eltern, liebe Ehemalige
 Sicherlich haben Sie sich gewundert, wo denn die Weihnachtspost der RSSZO mit den
 Mitteilungen bleibt. Nun, dieses bewegte Jahr hat auch dazu geführt, dass aufgrund
 von diversen Umstellungen der Druck der Mitteilungen verschoben werden musste.
 Wir sind aber insgesamt wirklich gut durch dieses letzte Quartal gekommen, ohne
 Lockdown, mit wenigen Quarantänefällen und ohne ernstere Krankheitsfälle.
 Gerade in bewegten Zeiten ist es umso wichtiger, sich auf die Grundlagen zu besin-
 nen, – die Grundlagen dessen, was unsere Schule und unsere Pädagogik ausmachen.
 Wir erleben, dass die Existenz vieler Waldorfschulen im Ausland durch die gegenwär-
 tige Situation in Frage gestellt ist – und dies am Ende der 100 Jahre Waldorf Feiern.
 So kann nun dieses Heft ein besinnlicher, teils freudiger, teils fragender Blick in das
 inhaltliche Fundament unserer Schule sein, während am physischen Erweiterungs-
 bau schon weit mehr als dessen Fundament in Arbeit ist (siehe einzelne Fotos von
 OST-Schülern bei der Mithilfe am Bau). Mit positiver und zukünftiger Blickrichtung,
 wie dies zu Beginn eines neuen Jahres gut tut, wollen wir an diese Grundlagen erin-
 nern.
 Was sind diese Grundlagen? Wie werden sie methodisch und bezüglich Unterrichts­
 inhalte in den verschiedenen Stufen umgesetzt? Sie finden in dieser Ausgabe einen
 sehr grundlegenden Leitartikel und auf die Stufen bezogene, exemplarische Einblicke
 zu diesen Fragen.
 Gerne möchten wir Sie auch auf den schönen Film von Valentino Vigniti über unsere
 Schule aufmerksam machen. Auf ganz andere und sehr lebendige Art ermöglicht er
 einen Einblick in unser Schulleben und ebenfalls in dessen Grundlagen. Dieses Heft
 und der Film ergänzen sich sehr gut.
 Sie finden ihn bei You Tube unter «Rudolf Steiner Schule Zürcher Oberland».
 Gerne möchten wir auch – zum Weitersagen – aufmerksam machen auf unseren In-
 formationstag am 23. Januar. Er wird unter allen Umständen stattfinden, – im Notfall
 auch virtuell. Auf unserer Website kann man sich darüber informieren und anmelden.
 Zum Schluss noch etwas in eigener Sache. Mit den Sommermitteilungen werde ich
 nach doch einigen Jahren die Redaktion der Mitteilungen abgeben. Ein neues Team
 wird sich finden und es wird die Frage bewegt werden, die heute in vielen Zusam-
 menhängen gestellt wird: Sind Printmedien noch aktuell? Werden sie gelesen? Und
 welche Inhalte werden gerne gelesen? Schätzen Sie als LeserInnen eigentlich diese
 langen Texte? Oder wäre es Ihnen lieber kürzer und knackiger? Sehr gerne erhalten
 wir Feedback für diesen anstehenden personellen und inhaltlichen Umstrukturie-
 rungsprozess. Gerne an vera.hoffmann@rsszo.ch oder lukas.wunderlich@rsszo.ch.
 Und zum guten Schluss: wir freuen uns immer sehr über Ihre Unterstützung für die
 Druckkosten der Mitteilungen oder für die Schule allgemein. Dafür ist der Einzah-
 lungsschein beigelegt.

 Nun wünschen wir Ihnen von Herzen «Äs guets Nois»!
 Für das Kollegium 						                                                Vera Hoffmann
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Aspekte der anthroposophischen Pädagogik

     Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der andern trennen:
     die eine hält, in derber Liebeslust, sich an die Welt mit klammernden Organen; die
     andre hebt gewaltsam sich vom Dust zu den Gefilden hoher Ahnen.
     								J.W. Goethe

     Stiefmutter, Jüngling und König

     Unser seelisches Erleben kann von zwei Seiten her bestimmt sein, vom Leib oder vom
     Geist her. Das vom Leib her bestimmte Seelenerleben geschieht wie naturgemäss.
     Es taucht auf als Freude, Leid, Angst, Bequemlichkeit, Sympathie, Ärger, Eitelkeit, Be-
     gehren, Vorstellung und vieles mehr.1 Das vom Geist her bestimmte Seelenerleben
     geschieht nicht naturgemäss, sondern muss vom Menschen aus seiner Selbstbestim-
     mung heraus geschaffen werden.
     Der Antrieb dazu, seinem Seelenerleben, also den Willensregungen, Gefühlen und
     Vorstellungen nicht einfach ausgeliefert zu sein, entspringt unserem Geistanteil. Ihm
     verdanken wir das Bedürfnis, Tugenden wie Geduld, Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit,
     Mitleid, Selbstlosigkeit und andere zu entwickeln. Und im Erringen dieser Tugenden
     gelingt es uns dann immer mehr unser Denken, Fühlen und Handeln nach den Not-
     wendigkeiten der Welt und der anderen Menschen zu richten, anstatt nach unseren
     eigenen Bedürfnissen.
     In den Märchen ist die vom Leib her bestimmte Seele oft im Bild der Stiefmutter dar-
     gestellt, die nach dem Geist strebende Seele als Jüngling oder Jungfrau, die durch den
     Geist veredelte und vom Geist geleitete Seele als König.2

     Menschenbild

     Die anthroposophische Pädagogik beruht auf einem Menschen- und Weltbild, wel-
     ches davon ausgeht, dass jeder Mensch durch viele menschliche Inkarnationen hin-
     durch auf dem Weg ist, dieses Königtum zu erreichen. Vereinfacht gesagt verkörpert
     sich der Jüngling oder die Jungfrau nach diesem Weltbild meistens abwechslungswei-
     se einmal in einen weiblichen, dann wieder in einen männlichen Leib. Der Leib und die
     Familie, sowie alles, was dem Menschen zustösst als Umgebung, Begebenheiten und
     Begegnungen gehören dabei zur Aussenwelt, welche sich die Geistseele aufgrund der
     vergangenen Erdenleben für ihre Weiterentwicklung zurechtlegt.
     Bei der Konzeption verbindet sich, gemäss diesem Verständnis, das von den Eltern
     herrührende Leibliche mit der von Inkarnation zu Inkarnation wandernden Geistseele.
     Die Geistseele muss dann das Leibliche3 ergreifen und dieses nach den der Geistseele
     innewohnenden Impulsen umgestalten, beherrschen und das Vererbte überwinden
     lernen. Je mehr uns diese Beherrschung der «Aussenwelt» gelingt, desto mehr lassen
     wir uns von der Einsicht in die Zusammenhänge leiten, desto freier werden wir.

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Methodik

Die anthroposophische Pädagogik will aus Einsicht in dieses Zusammenwirken von
Geistseele und Leib den jungen Menschen auf seinem Weg zur inneren Freiheit unter-
stützen. Denn, ohne hier näher darauf eingehen zu können, kann dieser Weg auf zwei
Arten erschwert werden. Die Geistseele kann sich zu stark oder zu wenig mit dem
Leiblichen verbinden. Im ersten Fall steht das Denken ganz im Dienste der leiblichen
Bedürfnisse, im zweiten Fall werden leibgesteuerte Handlungen ausgeführt, ohne
dass das Denken involviert ist. Jegliche zu frühe und einseitig kognitive Denktätigkeit
begünstigt das zu starke Verbinden der Geistseele mit dem Leiblichen, das Erlernen
automatisierter, unkünstlerischer Bewegungsabläufe auf der anderen Seite begüns-
tigt das Loslösen des Leiblichen vom Geistig-Seelischen.
Bei aller Denktätigkeit hingegen, die mit innerer Anteilnahme, mit Interesse ausge-
führt wird, wird der ganze Mensch, also auch das Leibliche, in Anspruch genommen.
Bei jeder durch den Leib getätigten Bewegung, die bewusst ausgeführt wird und in
einem Sinnzusammenhang steht, ist die Geistseele ins Leibliche integriert.
Ziel des Unterrichts ist es, die Inhalte so aufzubereiten und zu vermitteln, dass immer
einer dieser Aspekte oder beide abwechslungsweise zum Tragen kommen. Indem die
Lehrperson sich mit diesen vielschichtigen Entwicklungszusammenhängen beschäf-
tigt, eignet sie sich mit der Zeit das Gespür für die richtige Methodik im beschriebenen
Sinne an. Sie begibt sich selbst auf den Weg zum inneren Königtum und kann so die
nach geistiger Herrschaft strebende Kinderindividualität unterstützen.

                                                                                                                   Jonathan Keller

1) Unsere heutigen Zustände in sozialer, politischer und ökologischer Hinsicht haben ihre Ursache in diesen naturgemäss sich einstellenden
Seelenregungen.
2) n den Märchen wird für den geistigen Anteil der Seele das männliche (je nach Entwicklungsstufe Knabe, Jüngling, Mann, Greis) und für
den gefühlsmässigen Anteil das weibliche Bild (Mädchen, Jungfrau, Frau) verwendet.
3) Es kann hier aufgrund der Kürze des Textes nicht berücksichtigt werden, dass das anthroposophische Menschenbild nicht nur vom phy-
sischen Leib, sondern zusätzlich noch von unsichtbaren Leibern ausgeht.

                                                                                                                                             7
Pädagogische Umsetzung allgemein
        und Blick auf die 1./2. Klasse
     Unser Lehrplan ist hundert Jahre alt. Kann das den heutigen Kindern gerecht werden?
     Dies sind Fragen, die häufig an die Rudolf-Steiner-Pädagogik gestellt werden. Mal ganz
     abgesehen davon, dass dies so faktisch nicht ganz stimmt, da stets Neuerungen in den
     Lehrplan eingeflossen sind, stellen wir Lehrpersonen uns doch immer wieder ähnliche
     Fragen. Wir versuchen zu unterscheiden, wo liebgewordene Traditionen eben nur alte
     Traditionen sind, die heute zu neuen Wegen aufrufen. Und gleichzeitig machen wir
     mit sehr vielen Inhalten dieses Lehrplanes die Erfahrung, dass ihre Wirkung so zeitlos
     positiv die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen anregt, dass wir sie gerne beibe-
     halten.

     Im Leitartikel beschrieb Jonathan Keller: «Jegliche zu frühe und einseitig kognitive
     Denktätigkeit begünstigt das zu starke Verbinden der Geistseele mit dem Leiblichen,
     das Erlernen automatisierter, unkünstlerischer Bewegungsabläufe auf der anderen
     Seite begünstigt das Loslösen des Leiblichen vom Geistig-Seelischen.»

     Es gilt also, in jeder Altersstufe immer neu die sich stets verändernde, bewegliche Mit-
     te zu finden zwischen zu früher Intellektualität und zu unkünstlerischer stereotyper
     Einübung des Lernstoffes. Das Zaubermittel, das auch die natürlich vorhandene Lern-
     freude erhält und weiter fördert, ist die Frage des Lehrers «Welche Unterrichtsinhalte
     vermittle ich, und wie vermittle ich den Lernstoff jeweils altersgemäss so, dass die
     Schülerinnen und Schüler sich sowohl gedanklich als auch mit ganzem Herzen damit
     verbinden können?» Rudolf Steiner gab den Lehrern den Tipp, darauf zu achten ob die
     Kinder und Jugendlichen im Unterricht rote Backen und glänzende (beim Jugendlichen
     interessierte) Augen bekommen oder ob sie eher blass werden. Dies gilt sowohl für die
     Methode des Unterrichtens wie für die Inhalte. Beides ändert sich natürlich deutlich
     im Laufe der vierzehn (Kindergarten eingeschlossen) Schuljahre.

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Wenn in der ersten Klasse die Kinder in die «richtige» Schule kommen, ist ihre Lern-
freude, sind ihre Erwartungen gross. Ebenso gross sind die Unterschiede in ihren
kognitiven Kenntnissen und sozialen Fähigkeiten. Es bedarf eines wirklichen Erzie-
hungs-KÜNSTLERS, diese bunte Schar zu einer freudig arbeitenden Klassengemein-
schaft zusammenzufügen.

Nach der ersten Formenzeichnenepoche beginnt die erste, sehnlich erwartete Schrei-
bepoche. In ihrer bunten Schar findet die Lehrerin Kinder vor, die schon lesen können
und andere, die mit grosser Sorgfalt langsam ihren Namen schreiben können. Hier
gibt der Steinerschullehrplan nun eine grosse Hilfestellung, so dass alle Kinder mitge-
nommen werden können auf die Entdeckungsreise des Schreiben- und Lesen-Lernens,
– eine Reise, die wohlgemerkt auch für die Schülerinnen und Schüler spannend ist, die
schon etwas lesen können.

In der ersten und zweiten Klasse sind die Kinder noch in dem magischen Alter, in dem
Märchen eine innere Realität sein können. Auch wenn der eine oder die andere zwei-
felt, so lassen sich doch alle Erstklässler gerne in grosse märchenhafte oder erzählende
Bilder ein. Diese altersgemässe Neigung greift nun der Lehrplan der ersten Klasse im
Prozess des Schreiben- und im Anschluss dann des Lesen-Lernens auf.

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Der Lehrer erzählt eine märchenhafte Geschichte, in der eine Gestalt besonders her-
     vortritt. Dann öffnet er die Tafel, auf der ein buntes Tafelbild mit Motiven der Ge-
     schichte zu sehen ist. Die Kinder staunen und zeichnen nun dieses Bild in das eigene
     Epochenheft. Die Gestalt, die in der Geschichte besonders hervorgetreten ist, – ein
     Tier, eine Märchengestalt, ein Mensch, ist natürlich an zentraler Stelle abgebildet. Der
     Charakter dieser Gestalt passt im Idealfall zum Buchstaben. Am nächsten Tag erleben
     die Kinder, wie aus dieser Gestalt der Buchstabe hervortritt: aus dem K wird der klare
     König, aus dem B wird der runde Brummbär und so weiter. Jeden Tag oder jeden zwei-
     ten Tag erscheint nun ein neuer Teil der Geschichte und ein neues Bild, aus dem am
     darauffolgenden Tag ein neuer Buchstabe erscheint.

     Mit Hingabe lauschen die Kinder der Geschichte und mit der Zeit wird mit Spannung
     geraten, welcher Buchstabe denn nun erscheinen wird. Auch die Kinder, die schon et-
     was lesen können, verfolgen mit Hingabe die Geschichten und das bildhafte Erschei-
     nen der Buchstaben, die auf diese Art ganz lebendig werden, zum Beispiel im Raum
     gehend, auf dem Boden liegend oder mit Wachs geformt.

     Das Üben der Buchstaben im Heft findet auf künstlerische Art statt: in vielen Farben
     und Grössen erscheinen das K oder das B im Heft im Anschluss an die jeweilige Zeich-
     nung. Die Buchstaben werden später auch in allen möglichen Varianten dargestellt
     und für die Kinder erlebbar gemacht.

     So finden wir hier ein Beispiel, wo Inhalt und Methode deutlich am Entwicklungsstand
     der Kinder abgelesen werden, wo aber dennoch viel Raum für die individuelle innere
     Beteiligung der ErstklässlerInnen und für die ebenso individuelle Gestaltungsmöglich-
     keit eines jeden Kindes vorhanden ist.

     Die im Leitartikel beschriebene und am Anfang des Artikels zitierte doppelte Gefahr
     des zu starken kognitiven Ansprechens der Schülerinnen und Schüler auf der einen
     Seite und des automatisierten Einübens der Buchstabengestalt z.B. durch Nachfahren
     von Pünktchen ist erfolgreich umschifft. Und alle Kinder sind von dem gesamten Ge-
     schehen erfüllt, unabhängig von ihren Vorkenntnissen.

                                                                              Vera Hoffmann

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Entwicklungspsychologie und Unterrichtsinhalte
    in der dritten und vierten Klasse
 Dritte Klasse

 Um das neunte Lebensjahr herum findet bei den Kindern ein grosser Umbruch in ihrer
 Entwicklung statt. Waren sie bis jetzt noch seelisch eingebettet in das Gefühl, eins mit
 der Welt zu sein und in paradiesischer Weise genährt, umsorgt und geleitet zu wer-
 den, ohne etwas dafür tun zu müssen, so ändert sich dies nun. Das biblische Bild von
 Adam und Eva im Paradies und ihrer Austreibung aus demselben führt uns symbolisch
 vor, was bei jedem Menschen im Alter von ungefähr neun Jahren geschieht. Das Kind
 wird hier von einem Aufwachmoment, von einer neuen Sicht auf die Welt und auf sich
 selbst ergriffen, die dem Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis gleichkommt. Und
 so wie für Adam und Eva mit dem Biss in den Apfel ein neuer Bewusstseinszustand
 eintritt, so schwindet auch für die Kinder in diesem Alter das Paradies ihrer Kindheit
 dahin. Nicht selten durchleben sie in diesem Prozess Gefühle von Trauer, Verlust und
 Einsamkeit. Adam und Eva gleich, fühlen sie sich wie verstossen in eine Welt, die sie
 plötzlich ganz anders wahrnehmen als noch kurze Zeit zuvor.

 Der Lehrplan der Waldorfschule greift diesen Entwicklungsschritt der Kinder auf, in-
 dem er sie durch entsprechende Epochen, Tätigkeiten und Geschichten auf ihrem Weg
 in die Welt hinein begleitet. Das Ergreifen der Erde in all seiner Vielfalt, vom Bear-
 beiten des Bodens über den Bau von Behausungen bis hin zur Herstellung von Ge-
 brauchsgegenständen, Werkzeugen und vielem anderen mehr, was zum Leben und
 zur Arbeitserleichterung dient, steht jetzt im Vordergrund allen Tuns. Und die Kinder
 erleben dabei wieder einen neuen Zusammenhang zwischen sich selbst und der Welt,
 zwischen sich und den anderen Menschen, zwischen Himmel und Erde. Durch ihre
 eigenen Schöpferkräfte, die sie ab jetzt immer bewusster wahrzunehmen, zu schulen
 und einzusetzen imstande sein werden, spüren sie, dass sie doch nicht so «gottver-
 lassen» sind, wie sie es zeitweilig empfunden hatten. Wenn die Kinder zu Beginn der
 3. Klasse von der Erschaffung der Welt, von Adam und Eva und von ihrer Vertreibung
 aus dem Paradies gehört haben, schliesst sich folgerichtig die Ackerbauepoche an. Die
 Kinder erfahren zunächst einiges theoretisch durch die Erzählungen und Darstellun-
 gen des Lehrers, die so lebendig und befeuernd durchgeführt sein sollten, dass sie zu
 Erwartung und Schaffensdrang führen und es alle hinaus auf den Acker drängt, um
 selber tätig zu werden.

 Was in der Ackerbauepoche durch das eigene Schaffen an Willens-, Gefühls- und Ge-
 dankenkräften angeregt wird, kann keine theoretische Darstellung alleine bewirken.
 Es zeigt sich hier wieder einmal deutlich, dass durch das eigene Tätigwerden der gan-
 ze Mensch angesprochen wird, wobei bei den Handwerksberufen und der Landwirt-
 schaft vor allem der Willensbereich gefragt und geschult wird. Aber auch der seelische
 Bereich des Fühlens wird angesprochen: Wie dankbar und erfüllt ist man doch, wenn
 nach harter Arbeit etwas Schönes und Gutes entstanden ist, wenn man etwas ge-
                                                                                            11
schafft hat. Ehrfurcht vor den Kräften der Natur, Dankbarkeit ihr gegenüber, das Ge-
     fühl, ein Teil der Welt, ein Mitschaffender zu sein – all das entsteht durch das eigene
     Tätigwerden. Und auch das Denken wird angeregt, indem man seine Arbeit beob-
     achtet, nachsinnt, wie sie besser gemacht, wie sie erleichtert werden kann, wie Be-
     dingungen des Materials, des Bodens, des Wetters, der Jahreszeiten, der Landschaft
     etc. in die Planung mit aufgenommen werden können oder müssen. Gerade heute,
     wo sich doch viele Bereiche des Lebens von der Natur und vom Ursprung entfernen,
     ist es umso wichtiger, Kinder nicht nur im neunten Lebensjahr Wirkliches, Wahres
     und Ursprüngliches erfahren zu lassen, um ihnen dadurch Halt und Sicherheit fürs
     Leben zu geben.

     Deutsch Grammatik 4. Klasse

     Auch in der vierten Klasse greift der Lehrplan den neuen Entwicklungsschritt der
     Kinder immer wieder auf.

     In der Menschenkunde Rudolf Steiners wird das neunte Lebensjahr als ein bedeut-
     samer Wendepunkt in der kindlichen Entwicklung geschildert. War das Kind bis zu
     diesem Zeitpunkt mit seiner Umwelt so verwoben, dass es sich als Teil dieser Welt
     empfand und dankbar und vertrauensvoll alles in sich aufnahm, was von aussen in es
     hineinwirkte, so wendet sich das Kind jetzt in ein bewussteres Sich- der- Welt- Gegen-
     überstellen. Es ist ein Ich-Erlebnis, das die Kinder in diesem Alter haben. Das Kind be-
     zieht es jetzt einen neuen Standpunkt. Die ganze Welt erhält von diesem neuen Platz
     aus eine andere Ansicht. Aufgabe der Eltern und der Lehrer ist es dem Kind zu helfen,
     Ordnung in das neue Weltbild zu bringen, um sich in neuer Weise mit Sicherheit in der
     Welt bewegen zu können. Auch den zeitlichen Ablauf der Geschehnisse nehmen die
     Kinder nun anders wahr. Aus diesem Grund beschäftigen wir uns genau zu diesem
     Zeitpunkt in der Grammatikepoche mit den verschiedenen Zeiten. Es ist wichtig, dass
     die Kinder nicht nur das grammatikalische Wissen erlernen, sondern dass sie auch ihr
     Lebensgefühl mit den verschiedenen Zeiten verbinden können.

     Unendlich gross ist die Zukunft. Die Kinder sollen ein Blick auf ihr kommendes Leben
     richten. Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, die noch vor ihnen liegen, sollen
     geweckt werden, damit sie mutig ins Leben hinausgehen können. Wie anders ist da
     die Vergangenheit. Auch das Leben der Kinder ist schon ein Teil der grossen Mensch-
     heitsgeschichte geworden. Doch müssen wir zwischen zwei verschiedenen Vergan-
     genheitsformen unterscheiden. Im Imperfekt/Präteritum sind wir nicht mehr unmit-
     telbar mit dem Ereignis verbunden. Wir haben uns von dem Geschehenen distanziert
     und können es frei schildern. Hingegen beim Perfekt schwingen Schmerz oder Freude
     bis in die Gegenwart hinein nach. Wir sind von dem Erlebnis noch betroffen.
12
In der Gegenwart aber sind wir mit unseren Gedanken im Hier und Jetzt. Nur einen
Augenblick, ein Nadelöhr zwischen Künftigem und Vergangenem. Da wo wir uns
innerlich befinden, ist immer Gegenwart.

Formenzeichnen 4. Klasse:

Das Formenzeichnen gestaltet die einzelnen Formen aus der kontrollierten Bewegung
und dem Schwung der Zeichenhand. Die Linien sollen nicht gestrichelt werden, son-
dern entstehen aus dem Fluss der sich immer neu wiederholenden Bewegung. Farbin-
tensität und die Breite der Linie ergeben sich im besten Fall aus dem gleichmässigen
Nachfahren der Formen.

In der 4. Klasse kommt mit den Flechtbändern ein neues Element in das Formen­
zeichnen. Das Drunter und Drüber der Linien muss beachtet werden. Der Schwung
wird in regelmässiger Form unterbrochen, um immer wieder erneut aufgenommen
zu werden. Man kann sich nicht einfach mehr dem reinen Genuss der Bewegung
überlassen, sondern hinzu kommt ein Bewusstseinsmoment: das Einhalten an der
richtigen Stelle. Fährt man die Linie entlang, so wechselt das Drunter und Drüber
ganz regelmässig ab. Äusserst befriedigend ist es für die Kinder zu bemerken, dass
dies bei geschlossenen Formen am Ende immer aufgeht. Wenn nicht, so hat man
irgendwo selbst den Fehler gemacht.

                                                                                       13
Bei den Flechtbändern wird also in das schöne Träumen der Bewegung das Element
     des Aufwachens gleichsam eingeflochten. Diese Qualität trifft genau die innere Ent-
     wicklungssituation des 9 –10 jährigen Kindes. In der Waldorfpädagogik bezeichnet
     man den Entwicklungssprung, den die Kinderseele in diesem Alter vollbringt, mit dem
     Begriff des Rubikons. Das Verhältnis von Welt und ICH wird vom Kind von nun ab in
     ganz neuer Weise empfunden.
     Geschichtlich tauchen die Flechtbänder in zahlreichen Variationen bei den Kelten,
     aber natürlich auch an vielen Kathedralen und Kirchen auf.

                                                                      Nicole Deschwanden

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Das Zauberflötenprojekt

 Hier geben drei Schülerinnen einen persönlichen Einblick, wie sie die
 Zauberflöten-Zeit erlebten:

 Die Zauberflöte hatten wir schon in der 5.Klasse angefangen. Wir hatten viel mehr
 Musik als sonst, denn die Zauberflöte ist eine Oper. Da ich Musik mag, habe ich mich
 darauf gefreut.
 Bald kam jedoch der Lock-Down und wir konnten nicht mehr zur Schule gehen, also
 auch nicht mehr an der Oper weiterarbeiten. Als wir in der 6.Klasse wieder intensiver
 angefangen hatten an der Zauberflöte zu arbeiten, merkte ich erst, wie viel Geduld
 es brauchte, den einzelnen Stimmen zuzuhören (beim Singen).
 Bald kam die Rollenverteilung. Ich war gespannt, was ich für eine Rolle bekommen
 würde. Ich habe meinen ersten Wunsch bekommen. Darüber habe ich mich gefreut.
 Ich bin Papagena geworden. Bald kam die Intensivwoche. Wir übten und übten. Zu-
 erst ohne Kostüme. Sechs Mütter arbeiteten an Kostümen. Bald kam auch das Licht
 hinzu. Da wurde es heiss und stickig. Wir mussten immer wieder in die Kostüme
 hineinschlüpfen und anprobieren, was ging und was nicht. Mir zum Beispiel war das
 Kostüm viel zu eng, Wenn wir nicht singen, nicht Kostüme anprobieren und nicht
 spielen mussten, durften wir im Saal zuschauen gehen und Tipps geben. Oft war es
 auch schwierig, sich zu konzentrieren und ich wusste manchmal nicht mehr, wo mir
 der Kopf stand. Bald mussten wir im Saal singen und merkten, dass es viel schwie-
 riger war als im Musikzimmer, denn es hallte. Nach langem Üben kam endlich alles
 zusammen. Das Singen, das Licht, das Schauspiel, die Kostüme und das Orchester.
 Die Aufführung rückte näher und näher. Es kam Hauptprobe und Generalprobe.
 Jeden Tag wurde ich aufgeregter, doch kurz davor war ich es gar nicht mehr. Und
 dann war sie da. Es machte Spass und ich genoss beide Aufführungen!!!
 									                                                                        L ara

                                                                                          15
Wir probten schon fast ein ganzes Jahr für die Zauberflöte, die Vorführung war Ende
     5.Klasse geplant, doch dann kam der Corona-Lock-Down und wir mussten alles ver-
     schieben. So wurde die Aufführung auf den 1. Oktober angesetzt. Anfangs 6. Klas-
     se und vor den Sommerferien wurde je eine Woche intensiv geprobt, das war sehr
     anstrengend. Doch vorher wurden die Rollen verteilt, kurzum, die Rolle der Königin
     der Nacht war sehr beliebt. So stürzten wir uns mit der ersten Intensivwoche hinter
     uns in die Sommerferien. Nun hatten wir regelmässig Zauberflötenproben im Mu-
     sik- und Epochenunterricht. Die Zeit ging im Hui vorbei und schon war die Auffüh-
     rungswoche. Jetzt wurden nur noch die Bühnenbilder (Beleuchtung), die Kostüme
     und einzelne Szenen geprobt. Dann kam die erste Aufführung. Der Saal war voller
     Leute als wir eintraten. Die Ouvertüre begann und das ganze Stück lief so gut wie
     fehlerfrei durch bis am Ende. Als wir wieder in den Musiksaal kamen und das Licht
     anmachten, sahen wir eine Fledermaus, die kreuz und quer durch das ganze Zimmer
     flog. Wir machten das Licht wieder aus, es war stockdunkel, und so kam die Fleder-
     maus wieder aus dem Zimmer.
     Das Zauberflötenprojekt war sehr schön.
     									 Miara

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Anfangs 5. Klasse fingen wir an die ersten Stücke von der Zauberflöte zu proben, im
Frühling und Sommer übten wir noch intensiver am Singen, es machte immer mehr
Spass. Eines Tages sagten Frau Brang und Frau Furrer, wir dürften unsere belieb-
testen Rollen aufschreiben. Ich schrieb natürlich als Erstes Papageno auf, als Zwei-
tes Papagena und als Drittes die Königin der Nacht. Die ganze Klasse konnte es fast
nicht aushalten solange zu warten, denn Frau Brang sagte immer, wenn wir sie frag-
ten, sie brauche noch eine Weile bis sie ganz sicher sei, wer welche Rolle bekommt.
Endlich kam dieser Tag bei dem wir es wissen durften, wer welche Rolle bekommt.
Mein Herz raste sehr fest als sie sagte, Annik, Lorin, Nell und Raquel sind Papageno.
Ich freute mich natürlich sehr darüber. Langsam rückten die Sommerferien näher
und wir bekamen ein Text-Büchlein geschenkt. Denn über die Sommerferien durf-
ten wir den Text lernen. Nach den Ferien hatten wir etwa noch 7 Wochen bis zu der
Aufführung. Ich übte viel, bis dann auch noch das Lager dazwischenkam. Nach dem
Geologie-Lager ging es wieder weiter mit dem Proben. Etwa 2 Wochen vor der Auf-
führung spielten wir den ersten Durchlauf auf der Bühne (ohne Kostüm). Es war sehr
stressig und zum Teil konnte ich mich fast nicht mehr konzentrieren, weil wir nur
noch jeden Tag Zauberflöte hatten. Eine Woche vor der Aufführung wussten schon
fast alle Kinder wo auftreten und wo abgehen, und auch die Kostüme waren bereit
für den ersten richtigen Durchlauf. Der Durchlauf klappte fast ohne Unterbrechung.
Ich freute mich schon auf den Montag, denn dann sollte auch noch das grosse Or-
chester dazu kommen und das Licht. Es kamen auch die Oberstufen-Schülerinnen
dazu. Wir probten täglich von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr, und auch am Nachmittag
probten wir noch einzeln oder auch gruppenweise.

                                                                                        17
Die Vorführung rückte immer näher, ich freute mich immer mehr darauf, zum Glück
     bin ich jetzt bei allem sicher, dachte ich. Es war Donnerstagmorgen vor der letzten
     Probe, die wir noch hatten, ich sagte meinen Text immer wieder vor mich hin, denn
     ich hatte Angst, dass ich ihn vergessen werde. Ich schaute noch ganz schnell nach,
     ob alle meine Gegenstände am richtigen Ort waren, und danach konnte es losge-
     hen. Nach der letzten Probe hatte ich ein gutes Gefühl und auch als ich wieder um
     16.15 Uhr in die Schule kam, hatte ich noch immer ein gutes Gefühl. Aber 10 min.
     vor der Aufführung, als ich meinen Trauben-Zucker ass, kam die Aufregung. Ich war
     noch nie so fest aufgeregt wie heute, dachte ich. Als wir auf die Bühne liefen, hatte
     ich ein gemischtes Gefühl von Stolz und Aufregung. Als auch schon die zweite, das
     heisst die allerletzte Aufführung vor der Tür stand, fand ich es ein bisschen traurig,
     denn wir werden diese Lieder nur noch einmal singen. Auch noch heute kommen
     mir diese Lieder wieder in den Sinn, wenn ich zum Beispiel am Morgen aufwache.
     Es war sehr, sehr cool.
                                                                                     Raquel

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Spagetti mit den Füssen essen?
... zum Geometrieunterricht ohne Wandtafel ...
 Wer hat es gemerkt? Bei der provokativen Überschrift geht es um einige Erfahrun-
 gen mit Heimunterricht oder `Homeschooling´ im März 2020. Als ich mir Gedanken
 machte, wie ich diese Epoche beschreiben könnte, kam mir ein Erlebnis in den Sinn,
 welches mich tief beeindruckt hatte: Bei meinem Lieblingsitaliener kamen drei junge
 Männer ins Lokal und nahmen am Nachbartisch Platz, zwei auf Stühlen, der dritte auf
 der durchgehenden Sitzbank beim Fenster. Als die drei sich hinsetzten, erkannte ich
 erst, dass dem Mann auf der Sitzbank die Arme fehlten. Beide Schultern endeten mit
 einem kurzen Stumpf des Oberarmes. Als dieser jedoch seine Spaghetti bekam, zog er
 elegant die Schuhe und Socken aus, legte in gelenkiger Manier seine Waden auf den
 Tisch und nahm das Besteck in seine Füsse. Mit zielsicheren, präzisen Zehenbewe-
 gungen versetzte er mich in ein Staunen. Er genoss seine Mahlzeit mit einer Anmut
 und Gelassenheit, als hätte er nie etwas anderes getan. Zweifellos konnten sich die
 Füsse dieses Mannes aus einem starken Bedürfnis nach Selbstständigkeit zu solchen
 feinmotorischen Präzisionswerkzeugen entwickeln.

 Diese kleine Geschichte kann als Metapher gelten für das Gefühl, welches man als
 Lehrer hat, wenn man sein Handwerk nicht mehr direkt an der Wandtafel, sondern
 nur über Umwege ausführen darf. Sie führt uns aber auch zu einem Kernthema der
 6. Klasse. Durch präzises Aneinanderreihen von sorgfältig gezeichneten Absichten
 erarbeiten wir uns neue feinmotorische Fähigkeiten.

                                                                                       19
Die gezeichneten Konstruktionen können wir auch beurteilen und unsere Urtei-
     le schlüssig beweisen. Ein Wahrheitserlebnis für die Schüler! Die Kinder wollen in
     diesem Alter logische Zusammenhänge selbst erkennen lernen. Linientreue ist hier
     ebenso wichtig wie den Punkt zu treffen. Einen Startpunkt zu definieren, dafür aber
     vorausschauend genügend Platz zu reservieren, wird zur Herausforderung. So kann
     der Blattrand auch einmal zur lehrreichen Grenzerfahrung werden. Hier bietet der
     Geometrieunterricht ein weites Lernfeld – ein sicheres, verlässliches Land voller
     Wahrheiten, welches sich nicht willkürlich durch Sympathie oder Antipathie manipu-
     lieren lässt. Beim Zeichnen kann sich der Unterrichtsstoff, im Gegensatz zu den sel-
     ten geliebten Textaufgaben, nun Schritt für Schritt allmählich in ein Bild verwandeln,
     welches neben der Wahrheit auch noch dem Schönheitssinn gerecht werden kann. In
     diesem Alter sollte man sich nicht scheuen, den Kindern Aufgaben zu geben, welche
     sie als schwer empfinden, man darf sie aber auch nicht alleine damit stehen lassen,
     denn die oft sehr niedrige Frustrationsschwelle will behutsam angehoben werden.
     Ist ein Kind überzeugt: «Das kann ich nicht!», kann man eine Türe öffnen, indem man
     das Wörtchen ´noch´ in seinen Satz einfügen lässt. Besonders in diesem Fach stellt
     eine weitere Hürde die unterschiedliche Arbeitsgeschwindigkeit und Feinmotorik der
     einzelnen Schüler dar. Dies war ein wesentlicher Vorteil des Heimunterrichtes, denn

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vermutlich hat die Schulschliessung im letzten März viele Menschen kalt erwischt.,
auch mich als Geometrielehrer. Eine Woche vor Epochenbeginn wurde die Schule ge-
schlossen und es mussten die Fragen gestellt werden: «Wie soll am nächsten Montag
Geometrie von zuhause aus unterrichtet werden? Welche pädagogischen Kernele-
mente dürfen nicht fehlen und auf was kann verzichtet werden?»
Wichtig war für mich, durch die Art der Gestaltung des Heimunterrichtes ein sicheres
und vertrautes Umfeld zu schaffen und dabei immer wieder die Möglichkeit anzu-
bieten, Versäumtes aufzuholen – Niemand sollte den Zug verpassen, auch wenn er
mal ein paar Tage pausiert hatte. Ein weitere, selbstauferlegte Regel war, dass alle Ar-
beitsanweisungen zeitlosen Charakter bekommen sollen, also sozusagen `virenfrei´
sind – nur Geometrie!
Also zeichnete ich die Aufgaben in erklärender Weise Schritt für Schritt in mein Epo-
chenheft und filmte das Ganze von oben mit einem Stativ. So konnten die Schüler
meine Stimme hören und meine zeichnenden Hände sehen. Jede Lektion solle in
möglichst gleicher Kamereinstellung starten, mit einem kurzen Rückblick und einer
kleinen Vorausschau was noch kommt. Die Eltern bekamen pro Lektion eine eMail mit
den aktuellen und vergangenen Web-Links zu den Aufgabenvideos und den Übungs-
blättern zum Ausdrucken. Zudem gab es auch einen Link zu einem Ordner mit Zu-
satzaufgaben, was von einigen Schülern auch genutzt wurde. Gemachte Arbeiten
konnten per Foto oder Scan an mich zurückgesendet werden. Jeweils bei der nächs-
ten Lektion bedankte ich mich für alle bisherigen Einsendungen. Zudem konnten alle
ihre Arbeitsfortschritte täglich per Online-Umfrage rapportieren und so entstand für
alle Beteiligten ein recht guter Überblick vom ´Klassenfortschritt´ und befriedigte
nebenbei den für dieses Alter typischen Wettbewerbswunsch. Viele Schüler nannten
die flexible Arbeitszeit als deutlichen Vorteil des Heimunterrichtes. Es war toll, den
Lehrer einfach anhalten zu können, wenn es zu schnell ging, aber das Vermissen der
Klassengemeinschaft wurde von den meisten Schülern als der grösste Nachteil dieser
Unterrichtsform genannt. Zudem sind andere Fächer nicht so gut ´online-tauglich´
und ich froh bin, wieder in der Schule unterrichten zu können.

                                                                            Martin Heiss

                                                                                           21
Links oben die Overhead-Kamera                   … und rechts der Videoschnittplatz

     Zum Epocheninhalt: Zuerst freundeten wir uns beim Zeichnen einfacher Kreisfiguren
     mit dem Zirkel an und weckten dann unsere Vorstellungskräfte anhand einfacher
     räumlicher Darstellungsübungen mit gleichzeitigem Einsatz von zwei Geodreiecken.
     Dies übten wir ausführlich. Zudem begannen wir mit der Gestaltung eines Deckblat-
     tes für das neu angelegte Epochenheft. Dann übten wir das vorausschauende Platzie-
     ren der herzustellenden Zeichnung und das präzise Anlegen einer Hilfskonstruktion.
     Begriffe wie Radius, Durchmesser, Sehne, Tangente, Sekante, Segment und Sektor
     wurden eingeführt. Ebenso erforschten wir den Zusammenhang zwischen Radius und
     Kreisumfang. Danach lernten wir die richtige Benennung der Seiten, Ecken und Win-
     kel von Dreiecken kennen und erinnerten uns auch an deren Sonderformen. Winkel
     mit 60° und 90° wurden mit dem Zirkel konstruiert, also auch die Winkelhalbierende.
     Es folgte die Inkreis- und Umkreiskonstruktion am Dreieck und der Satz des Thales.
     Neben der 6er- bzw. 12er-Kreisteilung lernten wir abschliessend auch die 5er- und
     7er-Kreisteilung mit dem Zirkel kennen. Ein Üben verschiedener Strategien zur Be-
     rechnung von Gesamtflächen aus mehreren zusammengesetzten Teilflächen rundete
     diese Epoche ab und leitete wieder über zum Wochenrechnen.

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Arbeiten aus dem Geometrieunterricht, 6.Klasse

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Biographiearbeit und Temperamentsepoche
     in der 8. Klasse – ein kollegialier Austausch zwischen

     Marion Mühlebach und Vera Hoffmann

      Vera: Marion, du hast als 8.-Klasslehrerin die Aufgabe bekommen, mit den Achtkläss-
      lern die Biographiearbeit vorzubereiten. Wie ist es dir damit gegangen?

      Marion: Es ist für die Schülerinnen und Schüler in diesem Alter eine gute und wohltu-
      ende Aufgabe, sich mit der Biografie eines Menschen zu befassen, der eine Vorbild-
      funktion hat und der etwas Herausragendes für seine Zeit und die Menschen getan
      hat. Ich finde es eine tolle Aufgabe und habe es gerne in die Klasse getragen, auch die
      gemeinsame Suche danach, welche Menschen geeignet sind für diese Arbeit, weil die
      Lernenden sich doch sehr mit diesen Menschen auseinandersetzen.
      Sie lesen das Buch, sie schreiben darüber, sie zeichnen – also es ist eine intensive Aus-
      einandersetzung mit dem jeweiligen Menschen.

      Hat es Fragen gegeben, ob Schüler eine Biografie bearbeiten können von Menschen,
      die du vielleicht nicht so vorbildhaft erlebst?

      Ja, da hat es wenige gegeben. Ich habe das aber im Gespräch mit den Schülerinnen
      und Schülern klären und eine Alternative finden können, die jetzt auch zufriedenstel-
      lend ist für die betreffenden Schülerinnen und Schüler.

      Wie erlebst du 14-Jährige? Man könnte ja diese Biographiearbeit auch in der sechsten
      Klasse machen oder in der zehnten… Hast du den Eindruck, dass sie für die Achtklässler
      besonders bedeutsam ist?

      Es ist ein Alter, in dem die Schüler sich sehr um sich selber drehen, sehr beschäftigt
      sind mit sich selber und ihrem näheren Umfeld, ihrer Peergroup. Es kann sehr hilfreich
      sein, wenn ihnen in dieser Situation jemand den Horizont erweitert – vielleicht auch
      in ein Gebiet hinein, was sie gar nicht so kennen, ihnen einfach neue Optionen und
      Welten öffnet auf eine positive Art und Weise, die wirklich inspirierend und kräftigend
      für sie sein kann.

      In der englischen Sprache nennt man das «Rolemodel», also ein Vorbild, das in der
      Pädagogik den Jugendlichen helfen kann zu sehen, dass man sich auch stark für das
      Wohl Anderer einsetzen kann. Ich fand das als Klassenlehrerin immer sehr hilfreich.

      Ich habe mit den Schülerinnen und Schülern wenig darüber gesprochen, warum wir
      diese Aufgabe stellen. Ich hatte aber am Ende der Deutschepoche über die mensch-
      lichen Temperamente die Frage gestellt, was sie meinen, warum die Temperamen-
      tenepoche in der achten Klasse sinnvoll ist. Und einige Schüler hatten geantwortet,
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dass sie glauben, dass wir das machen, weil man jetzt sich selber und sein Umfeld
besser kennenlernen und einschätzen könne. Dass man besser verstehen könne, wa-
rum manche Menschen auf welche Art reagieren, wenn man darüber Bescheid wisse.

Was hast du unterrichtet in der Temperamentenepoche?

Das Ziel war, die vier Temperamente gut kennenzulernen. Es ist eine sehr humorvolle
und spielerische Epoche gewesen. Wir haben die Temperamente auch schauspiele-
risch dargestellt und dabei nach und nach herausgeschält, worum es bei diesen vier
Temperamenten geht. Und wir haben dann auch weiter gefragt, – zum Beispiel: wie
ist denn der Schreibstil des Vertreters eines jeweiligen Temperamentes. Ich habe ver-
schiedene Aufgaben gestellt, wo sie dann in ein Temperament hineinschlüpfen muss-
ten, sich hineinfühlen mussten und aus dieser Perspektive heraus argumentieren
mussten. Oder sie mussten Texte daraufhin analysieren, welcher Schreibstil das ist.
Wie ist der Satzbau? Wie wird eine Begebenheit geschildert von Vetretern des jewei-
ligen Temperamentes?

Haben die Schüler sich auch ein bisschen selber erkannt, etwas gemerkt, wohin sie
gehören?

Das habe ich während der Epoche weniger wahrgenommen, mehr so, dass sie das
Umfeld beobachteten. Sie kamen dann und bemerkten, welcher Lehrer zum Beispiel
mehr cholerisch ist. Sie haben weniger sich selbst erkannt – höchstens sich gegen-
seitig. Wo stehen eigentlich die anderen und wieso sind die so, – das waren mehr die
Fragen.

Ich glaube, dass das auch noch ein bisschen früh wäre, ein solcher Selbsterkenntnis-
prozess. Der kommt wirklich – meine ich – später. In der 8. Klasse geht es hauptsäch-
lich darum, dass sie eben die Perspektive auf die Welt und auf das Leben erweitern.

Ich habe deshalb auch nicht angeregt bei den Schülern, dass sie sich selbst reflek-
tieren. Ich gab mehr so Aufgaben, wo sie am Bahnhof beobachten sollten, wie Men-
schen gehen, um anschliessend zu überlegen, welches Temperament das sein könnte.
Ich habe also – wie gesagt – mehr den Blick nach aussen angeregt. Und das könnte ich
mir eben vorstellen, dass dies bei der Biografiearbeit auch geschieht, dass sie einen
wichtigen Impuls von aussen bekommen, zum Beispiel für die Frage welchen Berufs-
weg sie eines Tages gehen. Und dass sie in diesem Alter wichtige Anregungen bekom-
men für den nächsten Entwicklungsschritt und auch Empathie entwickeln können,
wenn sie sich so stark mit der Biografie eines Menschen verbinden.

                                                                                        25
Rudolf Steiner hat ja gesagt – und das erleben wir auch, dass dieses Alter eigentlich
     das Alter ist, in dem die grossen Jugendideale geboren werden. Und es solle dann
     die Aufgabe sein von uns Lehrern, diese zu pflegen und in die richtigen Bahnen zu
     lenken. Steiner hat als Alternative dazu gestellt, dass diese Jugendideale schnell in
     verschiedene, eher schwierige Richtungen entgleisen können, wenn sie keine erfül-
     lende Nahrung finden.

     Ja, und ich finde sie haben jetzt ganz spannende und vorbildhafte Biografien gewählt.
     Ich bin ganz glücklich mit dem Angebot, was sie wahrgenommen haben. Es gibt sogar
     einige, bei denen ich das Gefühl habe, sie müssen sorgfältig mit diesem, teils belas-
     tenden Material umgehen, zum Beispiel bei der Biografie von Sophie Scholl oder Graf
     Stauffenberg, der das Attentat auf Hitler gemacht hat. Ich habe auch die Eltern gebe-
     ten, sie sollen darauf achten, wie es dem Kind damit geht. Es sind ja sehr dramatische
     Biografien, von denen ich denke, dass es auch sehr ans Eingemachte gehen kann. Man
     liest es ja nicht nur, sondern man schreibt es und zeichnet dazu.

     Aber gerade die Beispiele Graf Stauffenberg und Sophie Scholl sind stellvertretend für
     die Geschichte der neueren Zeit. Es ist ja Teil des Lehrplanes, mit dem Geschichtsun-
     terricht bis in das 20. Jahrhundert zu kommen. Man wird dann auch das Dritte Reich
     behandeln und für die achte Klasse ist es eigentlich ein sehr toller Ansatz, wenn man
     die Geschichte anhand von Biografien bearbeitet. Es handelt sich dann eher um Stim-
     mungsbilder, der detailliertere Überblick kommt dann in der Oberstufe.

     Ich habe in meinen achten Klassen die mündlichen Darstellungen der Referate zu den
     Biografiearbeiten als wesentlichen Teil der Geschichtsepoche integriert. Ich habe da-
     bei die Geschichtsepoche bis in die Moderne geführt anhand dieser Biografiearbeiten
     der Schülerinnen und Schüler. Ich erinnere einen Schüler, der dabei eine ganze Stun-
     de lang die Biografie des Indianerhäuptlings Geronimo erzählte. Daran konnten wir
     dann die ganze Geschichte der indigenen Bevölkerung Nordamerikas aufgleisen. Es
     war immer interessant, zu sehen, wen sich die Schülerinnen und Schüler auswählten.

     Ja, ich habe den Achtklässlern in der Vorbereitung Kurzbiographien vorgelesen und
     einen Büchertisch mit entsprechenden Biografien vorbereitet. Es ist für mich selbst
     auch spannend gewesen, wie sie so in ein Staunen gekommen sind und bei jeder
     Kurzbiographie ist wieder eine Diskussion entstanden …

     was Menschsein alles bedeuten kann …

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Oh ja, was es alles für spannende Biografien gibt. Sehr interessant fanden sie auch
Temple Grandin, eine Frau mit Autismus Spektrum Störung, die eine extrem span-
nende Biografie hat. Temple Grandin hatte sich schon als Kind eine Maschine gebaut,
die ihren ganzen Körper gedrückt hat, weil sie gemerkt hat, dass sie sich dann wieder
entspannen kann. Menschen mit Autismus Störung können ja die ganzen Sinnesein-
drücke nicht filtern und sind einfach total überwältigt, kommen dann in einen Stress.

Kannst du abschliessend sagen, was du sonst noch als so richtig gute Epoche für die
Achtklässler erlebst?

Ich kann da nur von meinen Fächern reden. Martin Heiss unterrichtet ja die naturwis-
senschaftlichen Fächer. Ich habe den Eindruck gehabt, dass die Temperamentenepo-
che wirklich genial ist für dieses Alter und die Schüler selbst haben auch erlebt, dass
sie eine sehr gute Vorbereitung für das Achtklasstheater ist. Ich denke, dass auch das
Achtklassspiel in diesem Alter sehr wichtig ist, das Sich- Einfühlen in eine andere
Figur, das sich Hereindenken und persönliche Hemmungen überwinden …

Danke, Marion, für diesen anregenden Austausch. Ich freue mich auf euer Acht-
klasstheater.

                                                  Marion Mühlebach und Vera Hoffmann

                                                                                          27
7. Klasse Eurythmietheater, die Schildbürger, die jetzige 8. Klasse

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Entwicklungspsychologische
    Gesichtspunkte zur OST
 Ein wesentliches Anliegen der Oberstufenpädagogik ist es, die Entwicklung der
 Urteilskraft des jungen Menschen zu begleiten und mit passenden Inhalten zu un-
 terstützen, sodass er am Ende der zwölf Schuljahre zu einem eigenständigen Urteil
 findet, unabhängig vom Urteil Anderer.

 Während der Neuntklässler in der Urteilsbildung noch ganz praktisch und sehr an sei-
 ner eigenen Befindlichkeit und der der Peergroup orientiert ist, strebt der Zehntkläss-
 ler mehr nach Orientierung an den grossen Zusammenhängen der Welt.

 Die urteilende Bewegung des Elftklässlers richtet sich im nächsten Entwicklungs-
 schritt zunehmend nach innen. Immer wichtiger werden die Fragen nach der eigenen
 Identität und dem individuellen Lebensweg. Grössere Objektivität im Fühlen möch-
 te nun geübt werden. Geeignete Unterrichtsinhalte und eine passende Darstellung
 können die Beweglichkeit im Denken fördern.

 In der 12. Klasse verdichten sich die Fragen und Themen des Elftklässlers immer
 mehr zur Beziehung zwischen diesen Urbildern des Lebens und der eigenen Aufgabe.
 Wie wirke ich als Einzelner auf die Welt? Was und wo ist mein eigener Standpunkt?
 Welches Urbild des Menschseins möchte ich leben? Die Unterrichtsinhalte sind
 direkt oder indirekt eine als Überschau und integrierende Zusammenfassung der
 zwölf vergangenen Schuljahre.

 Wie begleitet man in der heutigen Zeit die Bildung einer unabhängigen und selbst­
 reflektierten Urteilsfähigkeit? Immer wieder bewegen uns Lehrer die Suche nach
 passenden und unterstützenden Lehrplaninhalten und die Frage, inwiefern die klas-
 sischen OST-Lehrplaninhalte noch für heutige Oberstufenschülerinnen und -schüler
 passen oder Ergänzung benötigen?

 Im Folgenden finden Sie ein Beispiel aus dem Deutschunterricht der 11. Klasse. Unsere
 Deutschlehrerin trat einerseits mit dieser Frage an das klassische Elftklassthema des
 «PARZIVAL» heran und schildert ihre Erfahrungen. Sie integrierte anschliessend auch
 Gegenwärtiges in das Parzival-Thema des Ringens mit seelischen Fragen, zum Beispiel
 der Empathie, des Mutes und der Wahrheit.

                                                                                           29
Erfahrungen in der Parzivalepoche
          11. Klasse
      Bericht aus der Deutschepoche Parzival 11. Klasse

      Heftigen Protest gegen diesen mittelalterlichen Text des Parzival als Gegenstand un-
      serer Deutschepoche in der 11. Klasse erwartend, betrat ich am Montagmorgen nach
      den Herbstferien das Klassenzimmer. Gewappnet mit einem Arsenal an Argumenten
      für diesen nicht gerade einfach zugänglichen Text, begannen wir die Epoche zunächst
      damit, bekannte Motive aus der Grals- und Artusepik zu besprechen. Dank der Viel-
      falt der Sagen, Märchen und Legenden, die den Schülern und Schülerinnen noch aus
      der Unterstufe bekannt waren, konnten wir recht schnell Anknüpfungspunkte finden
      und dann in den Entstehungszusammenhang des Versepos aus dem Jahre 1210 von
      Wolfram von Eschenbach eintauchen. Die Revolte blieb aus: Ich konnte getrost meine
      Waffen einpacken und wir fanden unseren ersten gemeinsamen Einstieg in den Text
      anhand der welt- und geistesgeschichtlichen Einflüsse, die ihn mitgestaltet haben.
      Weltgeschichtlich prägen ihn die Kreuzzüge und das höfische Leben zu Zeiten der
      Stauferdynastie, geistesgeschichtlich die verschiedenen Einflüsse aus vorchristlichen
      Mythologien sowie aus Grundmotiven der christlichen Religion, die hier verwebt
      und in Form der Lebensgeschichte des «tumben Tors», des anti-Helden Parzivals auf-
      treten. Als naiver junger Mann, der von seiner Mutter von den Realitäten der Welt
      behütet und ferngehalten worden ist, beschliesst Parzival, die Geborgenheit aber
      auch die Enge der mütterlichen Welt zu verlassen und Ritter zu werden. Bekleidet in
      einem Narrenkostüm als Ritterrüstung beginnt er seine von Rückschlägen, Fehlern
      und Versäumnissen geprägte Entwicklung von kindlicher Naivität und Unwissen zum
      Hüter und Herrscher des Grals, des Repräsentanten der Kraft geistigen Lebens, aber
      geistigen Lebens durch sozial motivierte Handlung. In der von strengen Verhaltens-
      normen geprägten Welt der Kreuzritter und des höfischen Lebens wendet Parzival
      das äusserlich Gelernte zunächst unreflektiert an und scheitert kläglich. Aber genau
      das Scheitern, das Zweifeln und das Suchen befähigt ihn zur Selbstreflexion. Somit
      gelingt es ihm, den kranken Gralshüter Anfortas durch Empathie zu erlösen. Diese
      soziale Haltung der Zugewandtheit, ausgedrückt durch die simple Frage, an was er
      leide, heilt Anfortas und er übergibt das Amt des Gralskönigs an Parzival. Individuelle
      Selbstreflexion auf der geistigen Ebene und soziale Zugewandtheit in der materiellen
      Welt sind also die nährenden Kräfte, die Parzival durch seinen Weg findet.
      Im Anschluss an Parzivals Geschichte befassten wir uns mit einer 800 Jahre jüngeren
      Geschichte: dem Film «Die Matrix» aus dem Jahre 1999. Er zeigt die Zukunftsvision
      einer Welt, in der sich die von den Menschen angelegte künstliche Intelligenz ver-
      selbstständigt hat. Die als Batterien für die Maschinen benutzten Menschen haben
      jedoch kein Bewusstsein ihres wahren Lebens, da ihr Bewusstsein eine computerge-
      nerierte Simulation des Lebens ist. Diese Simulation ist die «Matrix», eine Hyperreali-
      tät. Parzival ähnlich geht ein junger Computerhacker seinen Fragen nach und schafft
      es nach vielen Versuchen, die Matrix zu manipulieren und somit die Menschheit von
      der Herrschaft der Maschinen zu erlösen.
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Daraufhin entstanden interessante Fragen: Ist die Matrix vielleicht ein «Anti-Gral»?
Ist Neo, der Hacker, ein moderner Parzival? Was unterscheidet die beiden Helden?
Sind sie eigentlich Helden, oder sind sie einfach Menschen, die ihren inneren Fragen
nachgehen und sie handelnd umsetzen? Hat also jeder Mensch seinen «Gral»?
Alle Fragen sind noch nicht beantwortet, die Epochenhefte sind noch nicht fertigge-
stellt, aber sicher ist, dass selbst eine mittelalterliche Geschichte aktuell sein kann
und viel Stoff zum Nachdenken liefert!

                                                                           Vera Putman

Die Oberstufenschüler auf dem Bau

                                                                                          31
Aus dem Schulführungsteam

     Nachdem im vergangenen Herbstbrief drei Mitglieder des Schulführungsteams aus
     den Ressorts Pädagogik, Organisation und Administration und PR/Zukunft berichte-
     ten, folgt nun der Bericht aus dem vierten und fünften Ressort Personal und Finanzen.
     Wie schon im Herbstbrief wird auch hier der frische Wind spürbar, der unsere Schule
     aktuell trotz Corona durchweht.

     Aus dem Ressort Personal
     Im Ressort Personal zu arbeiten, heisst zur Zeit vor allem das Schuljahr 21/22 in An-
     griff nehmen. Welche Stellen sind neu zu besetzen? Wo steht ein Wechsel an? Wie
     werden wir die 11. und 12. Klasse führen? Welche Fächer können zusammengelegt
     werden, welche nicht? Ebenso dazu gehört die Planung des 13. Schuljahres zur Ma-
     turavorbereitung für das SJ 22/23. Es ist eine äusserst komplexe Angelegenheit, die
     viele Gespräche und Abklärungen erfordert, da Pensen, Lehrpersonen, Stufen, Fächer,
     Stunden- und Epochenplan sich gegenseitig bedingen und in einem rollenden Pro-
     zess fortwährend einander angepasst werden müssen.
     Quasi vom Himmel sind uns zwei junge Kolleginnen gefallen, kaum haben wir den
     Wunsch nur leise gedacht. Sie unterstützen uns nun als Assistenzen und als Springe-
     rin für Vertretungen und stellen sich in diesem Heft auch vor.
     Überhaupt hat sich das Kollegium verjüngt und mit Elan und frischem Enthusiasmus
     packen alle die Aufgaben an. Die jungen Kolleginnen und Kollegen bringen neue Kom-
     petenzen mit, die in die pädagogische Arbeit einfliessen und uns Alte staunen lassen.
     Wir freuen uns über die jugendlichen Kräfte, die neuen Schwung und eine freudige
     Aufbruchsstimmung verbreiten. Die neuen Impulse machen Mut und tragen weit in
     die Zukunft hinein.

     Aus dem Ressort Finanzen
     Zu der Komplexität der verschiedenen Ebenen aus dem Ressort Personal, kommt
     im Ressort Finanzen noch die pekuniäre Ebene dazu. Das Budget für das Schuljahr
     21/22 ist in der Planung. In enger Zusammenarbeit mit Michael Hoffmann aus der
     Geschäftsstelle und Karen Peterka aus dem Bereich Elternfinanzen werden die Zahlen
     aufgestellt und abgewogen.
     Dabei müssen Wünsche und Bedürfnisse seitens der Schule, des Einzelnen und der
     Möglichkeiten der Eltern abgewogen und in ein gutes Gleichgewicht gebracht wer-
     den.
     Durch die hohe Professionalität, die beide – Karen und Mike – mitbringen, gestal-
     tet sich unsere Zusammenarbeit äusserst fruchtbar und produktiv. Der Blick in die
     fernere Zukunft wird in einem Fünfjahresplan soweit wie möglich sichtbar gemacht.
     Momentan zeichnet sich erfreulicherweise eine positive Entwicklung in Richtung
     eines Wachstums von Eltern und Schüler ab. Das macht ebenfalls Mut.

     							                                                              Franziska Zippiger
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